• Suche
  • Lerntipps
    • Examensvorbereitung
    • Fallbearbeitung und Methodik
    • Für die ersten Semester
    • Mündliche Prüfung
  • Examensreport
    • 2. Staatsexamen
    • Baden-Württemberg
    • Bayern
    • Berlin
    • Brandenburg
    • Bremen
    • Hamburg
    • Hessen
    • Lösungsskizzen
    • Mecklenburg-Vorpommern
    • Niedersachsen
    • Nordrhein-Westfalen
    • Rheinland-Pfalz
    • Saarland
    • Sachsen
    • Sachsen-Anhalt
    • Schleswig-Holstein
    • Thüringen
    • Zusammenfassung Examensreport
  • Interviewreihe
    • Alle Interviews
  • Rechtsgebiete
    • Strafrecht
      • Klassiker des BGHSt und RGSt
      • StPO
      • Strafrecht AT
      • Strafrecht BT
    • Zivilrecht
      • AGB-Recht
      • Arbeitsrecht
      • Arztrecht
      • Bereicherungsrecht
      • BGB AT
      • BGH-Klassiker
      • Deliktsrecht
      • Erbrecht
      • Familienrecht
      • Gesellschaftsrecht
      • Handelsrecht
      • Insolvenzrecht
      • IPR
      • Kaufrecht
      • Kreditsicherung
      • Mietrecht
      • Reiserecht
      • Sachenrecht
      • Schuldrecht
      • Verbraucherschutzrecht
      • Werkvertragsrecht
      • ZPO
    • Öffentliches Recht
      • BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker
      • Baurecht
      • Europarecht
      • Europarecht Klassiker
      • Kommunalrecht
      • Polizei- und Ordnungsrecht
      • Staatshaftung
      • Verfassungsrecht
      • Versammlungsrecht
      • Verwaltungsrecht
      • Völkerrrecht
  • Rechtsprechungsübersicht
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Karteikarten
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Suche
  • Menü Menü
Du bist hier: Startseite1 > Rechtsprechungsüberblick

Schlagwortarchiv für: Rechtsprechungsüberblick

Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 2: Verwaltungsrecht

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerwG (Urt. V. 30.10.2019 – 6 C 18.18): Einstufung von Bushido-Album als jugendgefährdend rechtmäßig
 Das BVerwG hat entschieden, dass die Einstufung des Bushido-Albums „Sonny Black“ als jugendgefährdend rechtmäßig ist:

„Zum einen erfüllt das Album die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Jugendgefährdung im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 JuSchG. Zum anderen ist dem berechtigten Interesse an der Indizierung aus Gründen des Jugendschutzes der Vorrang vor dem durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Interesse des Klägers an der uneingeschränkten Verbreitung des Albums einzuräumen. Die Kunstfreiheit rechtfertigt nicht, Minderjährigen das Album trotz seiner nachteiligen Auswirkungen auf deren Persönlichkeitsentwicklung ungehindert zugänglich zu machen.“

Denn § 18 I JuSchG soll im Rahmen des Möglichen die äußeren Bedingungen für eine charakterliche Entwicklung von Minderjährigen schaffen, die zu Einstellungen und Verhaltensweisen führt, die sich am Menschenbild des Grundgesetzes orientieren, was allerdings durch Medien gefährdet wird, die ein damit in Widerspruch stehendes Wertebild vermitteln. Es genügt, dass eine solche Gefährdung Minderjähriger zumindest ernsthaft möglich erscheint, was auf Grundlage der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ermitteln ist. Maßstab sind insofern nicht sämtliche Minderjährige, sondern nur solche, die aufgrund ihrer Veranlagung, ihres Geschlechts ihrer Erziehung oder Lebensumstände als tatsächlich gefährdungsgeeignet erscheinen. Dennoch genügt die Erfüllung der Voraussetzungen des § 18 I JuSchG nicht, wenn es sich bei den Inhalten des Mediums um Kunstwerke handelt, wobei der Kunstbegriff des Art. 5 III 1 GG maßgeblich ist. Allerdings folgt aus der Kunstfreiheit kein generelles Indizierungsverbot, erforderlich ist vielmehr eine Abwägung von Jugendschutz und Kunstfreiheit. Da das fragliche Album „durch die offene Begehung schwerer Straftaten wie etwa Drogenhandel in Schulen, eine uneingeschränkte Gewaltbereitschaft und den skrupellosen Einsatz brutaler Gewalt aus beliebigen Anlässen gekennzeichnet“ sowie frauenfeindlich und homophob ist und insbesondere von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten gehört wird, die in der Hauptfigur „Sonny Black“ ein Vorbild erkennen könnten, hat das Album erheblich jugendgefährdende Wirkung. Es weist zudem keinen gesteigerten Kunstgehalt auf, sondern dient vorrangig der Unterhaltung. Daher kommt dem Jugendschutz eindeutig der Vorrang zu, sodass die Einstufung des Albums als jugendgefährdend rechtmäßig ist.
 
VGH München (Beschl. v. 5.11.2019 – 11 B 19.703): Kein Anspruch auf Entfernung von Parkmarkierungen
Das Recht auf Anliegergebrauch öffentlicher Straßen wird von  Art. 14 I GG nur in seinem Kernbereich geschützt und reicht daher nur so weit, wie die angemessene Nutzung des Grundeigentums eine Benutzung der Straße auch erfordert. Dies bestimmt sich stets anhand der konkreten Gegebenheiten, wobei grundsätzlich auch die Möglichkeit geschützt ist, das Grundstück mit Kraftfahrzeugen zu erreichen. Dabei genügt es aber regelmäßig – insbesondere in städtischen Gebieten –, dass die Zugänglichkeit für Lieferungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs erhalten bleibt. Können insbesondere Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen das Grundstück problemlos erreichen, wird durch eine Parkregelung regelmäßig nicht in das Recht auf Anliegergebrauch eingegriffen. Soweit nur Lastkraftwagen das Grundstück nicht erreichen können, fehlt i.d.R. es an einer Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte des Anliegers.

 „§ 12 Abs. 1 Nr. 1 StVO regelt das Verhalten der Verkehrsteilnehmer an engen Straßenstellen, enthält aber keine Vorgabe an die Straßenverkehrsbehörde, durch Verkehrsregelungen die Entstehung von Engstellen durch parkende Fahrzeuge in schmalen Wohnstraßen zu verhindern. Erst wenn durch das Parkverhalten Gefahren für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO entstehen, muss die Straßenverkehrsbehörde Maßnahmen erwägen.“

 
OVG Hamburg (Beschl. v. 29.1.2020 – 1 Bs 6/20): Verbot der Vollverschleierung in der Schule
 Das OVG Hamburg hat festgestellt, dass eine an die Mutter einer vollverschleierten Schülerin gerichtete Anordnung, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter nur noch unverschleiert zum Unterricht erscheint, einer eindeutigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, da es sich um einen grundrechtsrelevante Maßnahme handelt: Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. Dies ist bei einem Verschleierungsverbot der Fall:

 „Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird […] dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“

 Nicht ausreichend ist daher eine Regelung, die es lediglich ermöglicht, gegenüber den Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht, eine Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Zwar spricht viel dafür, dass die „Teilnahme am Unterricht“ (i.S.v. §§ 28 II, 41 I 1 HMbSG) über die rein physische Anwesenheit hinaus auch die Kommunikationsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler meint. Es kann jedoch nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass das Tragen eines Gesichtsschleiers im Unterricht die Kommunikation mit der Schülerin unmöglich macht.  Dazu führt das Gericht aus:

 „Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich […]. Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“

S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
 

15.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-15 09:18:052020-04-15 09:18:05Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 2: Verwaltungsrecht
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16): Minderung von Hartz IV bei unterbliebener Mitwirkung teilweise verfassungswidrig
 Die Regelungen zur Minderung bzw. zum Entzug der Sozialhilfe nach § 31a I SGB II und § 31b SGB II, welche die Mitwirkungspflichten nach § 31 I SGB II durchsetzen sollen, sind in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 IGG) vereinbar: Zwar sind Mitwirkungspflichten – ebenso wie Sanktionen bei unterlassener Mitwirkung – im Rahmen der Gewährung existenzsichernder Leistungen grundsätzlich zulässig, jedoch müssen sie in ihrer konkreten Ausgestaltung auch verhältnismäßig sein. Denn die Minderung existenzsichernder Leistungen steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur aus Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG abgeleiteten Existenzsicherungspflicht des Staates. Daher gilt ein strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab:

„Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt. Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.“

Zwar dienen die Sanktionsregelungen in § 31a I SGB II sowie § 31b SGB II mit der Durchsetzung dieser Mitwirkungspflichten einem legitimen Ziel, da nur durch ein „Fördern und Fordern“ die dauerhafte Finanzierbarkeit der Sozialhilfe gewährleistet werden kann. Allerdings sind die konkreten Regelungen unverhältnismäßig, da sie Leistungskürzungen in unzumutbarer Höhe – einschließlich des vollständigen Wegfalls existenzsichernder Leistungen – ermöglichen. Zudem können auch nur geringe Kürzungen gegenwärtig ohne weitere Prüfung, beispielsweise von besonderen Härten, erfolgen. Letztlich endet die Leistungskürzung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls stets nach einer starren Frist, sodass auch eine Nachholung der Mitwirkung unbeachtlich ist. Aufgrund vorstehender Erwägungen verstoßen die Sanktionen bei Unterlassen einer Mitwirkungshandlung in ihrer konkreten Ausgestaltung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
 
 BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13): Recht auf Vergessen I
Das BVerfG räumt der Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG nunmehr einen Vorrang ein, sofern sich die Anwendungsbereiche von GG und GRCh überschneiden. Grundsätzlich prüft das Gericht nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, weshalb es die GRCh – bislang – nicht als Prüfungsmaßstab heranziehen konnte. Um dadurch nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gefährden, treten die Grundrechte des GG grundsätzlich zurück, sofern der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist, d.h. wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (Art. 51 I 1 GRCh). Dies gilt jedenfalls, solange der europäische Grundrechtsstandard im Wesentlichen mit dem Schutzniveau des Grundgesetzes vergleichbar ist.  Soweit den Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsspielräume verbleiben, bleiben die Grundrechte des GG jedoch anwendbar. Denn in einem solchen Fall ist wegen der verbleibenden mitgliedstaatlichen Spielräume eine vollständig einheitliche Anwendung des Unionsrechts gar nicht intendiert. Die Grundrechte des GG treten damit – wie das BVerfG nunmehr ausdrücklich feststellt – neben die Grundrechte der GRCh. Bei paralleler Anwendbarkeit mehrerer Grundrechtskataloge gilt grundsätzlich das jeweils höhere Schutzniveau (Art. 53 GRCh). In diesem Zusammenhang stellt das BVerfG fest, dass zu vermuten ist, dass das Schutzniveau der Grundrechte des GG demjenigen der GRCh zumindest entspricht oder dieses sogar übersteigt.

„Wenn danach regelmäßig anzunehmen ist, dass das Fachrecht, soweit es den Mitgliedstaaten Spielräume eröffnet, auch für die Gestaltung des Grundrechtsschutzes auf Vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass insoweit die Grundrechte-Charta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17): Recht auf Vergessen II
Enthält das durch die Mitgliedstaaten umzusetzende und zu vollziehende Unionsrecht keine Gestaltungsspielräume, finden die Grundrechte des GG keine Anwendung; sie treten hinter der GRCh zurück. Allerdings hat das BVerfG nunmehr klargestellt, dass es sich berechtigt sieht, die Grundrechte der GRCh selbst anzuwenden und als Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde heranzuziehen. So heißt es ausdrücklich:

„Soweit das BVerfG die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH aus.“

Nur so könne das BVerfG einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten. Da die Grundrechte der GRCh letztlich ein Funktionsäquivalent der Grundrechte des GG seien und auf unionsrechtlicher Ebene kein effektiver Individualrechtsbehelf bestehe, komme dem BVerfG die Aufgabe zu, den effektiven Schutz auch der Grundrechte der GRCh im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sicherzustellen:

„Die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes gehört zu den zentralen Aufgaben des BVerfG. […]Auch die Unionsgrundrechte gehören heute zu dem gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsschutz. Sie sind nach Maßgabe des Art. 51 I GRCh innerstaatlich anwendbar und bilden zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent. […] Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechtezum Prüfungsmaßstab nimmt.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18): Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt Blinde unangemessen
Ein gegenüber blinden Menschen ausgesprochenes Verbot, mit einem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, stellt eine mit Art. 3 III 2 GG – der jede Benachteiligung wegen der Behinderung verbietet – nicht zu vereinbarende Benachteiligung dar. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur ausnahmsweise zulässig, sofern sie durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann. Dies gilt auch im Rechtsverhältnis zwischen Privaten, denn das Benachteiligungsverbot ist zugleich eine objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers und hat daher auch Einfluss auf Anwendung und Auslegung des Zivilrechts. Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt blinde Menschen in besonderem Maße, soweit es ihnen dadurch insgesamt verwehrt wird, die Praxisräume selbstständig zu durchqueren. Unerheblich ist dabei, dass die betroffenen blinden Personen selbst nicht daran gehindert werden, die Praxisräume zu betreten, sondern sich daran lediglich deshalb gehindert fühlen, weil sie ihren Blindenführhund nicht mitnehmen können. Denn Art. 3 III 2 GG möchte jede Bevormundung behinderter Menschen verhindern und ihnen Autonomie ermöglichen. Wird einem Blinden jedoch verwehrt, seinen Blindenführhund mit in die Praxis zu nehmen, so folgt daraus zugleich, dass er sich von anderen Menschen helfen lassen und sich damit von anderen abhängig machen muss, um die Praxisräume zu durchqueren. Die betroffene Person muss sich – ohne dies zu wollen – anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen, was einer Bevormundung gleichkommt und daher mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar ist. Diese erhebliche Beeinträchtigung überwiegt die entgegenstehende Berufsausübungsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit das Praxisinhabers. Denn es bestehen keine sachlichen Gründe für ein Verbot, Blindenhunde mitzuführen: Dies gelte insbesondere soweit auf die Gewährleistung der nötigen Hygiene verwiesen werde. Denn sofern die blinde Person mit ihrem Blindenführhund lediglich den Wartebereich durchqueren möchte – den auch andere Menschen mit Straßenschuhe und Straßenkleidung betreten – sei keine nennenswerte Beeinträchtigung der Hygiene durch den Hund zu erkennen.
 
BVerfG (Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a.): Grundrecht auf Suizid
Das BVerfG hat § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärt und damit zugleich ein Grundrecht auf Suizid geschaffen. § 217 StGB hatte bislang jede Form der geschäftsmäßigen Sterbehilfe unter Strafe gestellt, wobei Geschäftsmäßigkeit in diesem Zusammenhang keine Gewinnerzielungsabsicht erforderte, sondern es allein auf eine Wiederholungsabsicht, die auch bei Ärzten angenommen werden konnte, ankam. Die Norm verletzt das Grundrecht der betroffenen Sterbewilligen auf selbstbestimmtes Sterben, das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) herleiten lässt und in jeder Phase menschlicher Existenz besteht. Zwar verfolgt die Norm das legitime Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes. Indes führte das BVerfG aus:

„Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht.“

Weitergehend setzte sich das Gericht auch mit einer möglichen Verletzung der Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine auseinander, die sich ihrerseits auf Art. 12 I GG und subsidiär auf Art. 2 I GG berufen können. Denn die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit sind, diese zu leisten. Nur wenn Dritte Sterbehilfe straffrei durchführen können, kann auch das Grundrecht auf Suizid tatsächlich verwirklicht werden.
 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 27.2.2020 – 2 BvR 1333/17): Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen
Das BVerfG hat das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, das es ihnen untersagt, Tätigkeiten, bei denen sie von Bürgern als Repräsentanten der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können, mit Kopftuch auszuüben, als verfassungsgemäß eingestuft. Das Verbot stelle keine Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) dar. Im Schwerpunkt setzte das BVerfG sich mit der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin auseinander: Die Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen die Beschwerdeführerin als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden könnte, gegen ihre religiös begründeten Bekleidungsregeln zu verstoßen, stellt zwar einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit dar, da sie dadurch vor die Wahl gestellt werde, „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.“ Allerdings ist dieser Eingriff nach Auffassung des BVerfG gerechtfertigt, da der Staat seinerseits zur Neutralität verpflichtet sei.

„Hierbei entspricht die Verpflichtung des Staates zur Neutralität einer Verpflichtung seiner Amtsträger: Der Staat kann nur durch seine Amtsträger handeln, sodass diese das Neutralitätsgebot zu wahren haben, soweit ihr Handeln dem Staat zugerechnet wird.
Hier ist eine besondere Betrachtung des Einzelfalls erforderlich. Nicht jede Handlung eines staatlich Bediensteten ist dem Staat in gleicher Weise zuzurechnen. […] Die Situation vor Gericht ist indes besonders dadurch geprägt, dass der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich gegenübertritt. Auch ist eine besondere Formalität und Konformität dadurch gegeben, dass die Richter eine Amtstracht tragen.
[…] Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“

Weitere Erwägungen für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Kopftuchverbotes sind zudem das Vertrauen des Bürgers in die Rechtspflege und die Justiz sowie sie negative Religionsfreiheit Dritter, die durch den unausweichlichen Anblick des Kopftuchs im Gerichtssaal verletzt sein kann. Unter Berufung auf diese Argumente lehnte das BVerfG daher auch eine Verletzung der Berufsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin ab.
S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.

08.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-08 10:00:122020-04-08 10:00:12Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht
Gastautor

Rechtsprechungsüberblick Strafrecht und Strafprozessrecht 2019

Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, StPO, Strafrecht, Strafrecht AT, Strafrecht BT

Wir freuen uns, heute einen Beitrag von Charlotte Schippers veröffentlichen zu können. Die Autorin hat an der Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn (Lehrstuhl Thüsing).
 
Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung unbedingt erforderlich. Neue Urteile und Beschlüsse werden immer wieder als ein Teil der Prüfung herangezogen oder bei besonders wichtigen Entscheidungen ausdrücklich abgefragt. Der folgende Überblick soll für die examensrelevanten Entscheidungen in Strafsachen des Jahres 2019 als Stütze dienen und Ausgangspunkt für eine tiefere Auseinandersetzung sein.
 
Strafrecht
 
BGH, Beschl. v. 8.1.2019 – 1 StR 356/18: Bestätigung der Verurteilung gegen Waffenverkäufer im Fall des Amoklaufs in Münchener Olympia-Einkaufszentrum
Der BGH hat Anfang des Jahres das Urteil des LG München (19.1.2018 – 12 KLs 111 Js 239798/16) gegen den Verkäufer der Waffe, die der Amokläufer im Münchener Olympia-Einkaufszentrum verwendete, bestätigt, indem er die Rechtsmittel von Verteidigung und Nebenklage zurückwies: Der Verkäufer wurde durch das LG München wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen verurteilt. Eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord, wie sie auch die Nebenkläger forderten, lehnte das LG München ab, denn der notwendige doppelte Beihilfevorsatz fehle. Es liege aber eine Sorgfaltspflichtverletzung durch den illegalen Verkauf von Schusswaffen und Munition, der sogar selbst den Straftatbestand des § 52 Abs. 1 Nr. 2c WaffG verwirklicht, vor. Darüber hinaus sei der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs erkennbar und vorhersehbar. Das Dazwischentreten eines Dritten, also des Täters, stehe der Strafbarkeit nicht entgegen:

„[E]ine Mitverantwortung Dritter [führt] nur dann zum Wegfall des Zurechnungszusammenhangs zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten des Täters und dem eingetretenen Erfolg, wenn das für den Erfolg ebenfalls kausale Verhalten des Dritten außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt. Erforderlich ist demnach, dass die vom Täter ursprünglich gesetzte Ursache trotz des in den Kausalverlauf eingreifenden Verhaltens des Dritten wesentlich fortwirkt, der Dritte also hieran anknüpft. Hiervon ist jedenfalls in solchen Fallgestaltungen auszugehen, in denen sich in dem pflichtwidrigen Handeln des Dritten gerade das Risiko der Pflichtwidrigkeit des Täters selbst verwirklicht.“

Vgl. hier unsere ausführliche Besprechung.
 
Raserfälle: Relevant waren dieses Jahr auch die Verurteilungen von Rasern. Dies ist gerade mit Blick auf die Neueinführung des § 315d StGB ein hoch examensrelevantes Themengebiet, aber auch das mediale Interesse um die Verurteilungen wegen Mordes rückt entsprechende Urteile auch in den Fokus der Examensprüfer.
BGH, Beschl. v. 16.1.2019 – 4 StR 345/18: Bestätigung des Mordurteils gegen einen Raser
Anfang des Jahres hat der BGH ein Mordurteil gegen einen Raser bestätigt. Vorangegangen war die Entscheidung des LG Hamburg (Az.: 621 Ks 12/17) zu folgendem Sachverhalt: Bei einer Verfolgungsfahrt mit der Polizei in einem gestohlenen Taxi und fuhr der alkoholisierte A in der Innenstadt bewusst auf die Gegenfahrbahn. Diese war leicht kurvig und baulich von der übrigen Fahrbahn abgetrennt. A fuhr mit einer Geschwindigkeit von bis zu 155 km/h, bis er wegen Kollisionen mit dem Kantstein der Fahrbahn und einer Verkehrsinsel die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und nach Überqueren einer Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h frontal mit einem ihm mit nur ca. 20 km/h entgegenkommenden Taxi zusammenstieß. Einer der Insassen verstarb, zwei weitere wurden schwer verletzt.
Das LG ging bei seiner Entscheidung davon aus, dass A mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe, was auch der BGH bestätigte:

„[A war] bewusst, ,dass es mit hoher, letztlich unkalkulierbarer und nur vom Zufall abhängender Wahrscheinlichkeit zu einem frontalen Zusammenstoß mit entgegenkommenden Fahrzeugen kommen würde.‘ Ihm war auch ,bewusst, dass ein Frontalunfall mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod eines oder mehrerer direkter Unfallbeteiligter sowie eventuell zur Schädigung weiterer Personen führen würde.‘ All dies, auch der eigene Tod, wurde vom Angekl. gebilligt, weil er ,kompromisslos das Ziel, der Polizei zu entkommen‘, verfolgte.“

Das Vorliegen eines Mordmerkmals mag mit Blick auf die Verwendung eines gemeingefährlichen Mittels einschlägig sein, das ließ der BGH aber offen. Erfüllt sei vorliegend jedenfalls die Verdeckungsabsicht, da es A maßgeblich darauf ankam, zu entkommen.
Zu mehr Einzelheiten vgl. auch unsere Besprechung.
 
LG Berlin, Urt. v. 26.3.2019 – 532 Ks 9/18: Bedingter Tötungsvorsatz bei Autorennen
Im medialen Fokus stand bereits letztes Jahr das Urteil des LG Berlin, mit dem es zwei Raser, die bei einem illegalen Autorennen einen unbeteiligten Verkehrsteilnehmer getötet hatten, wegen Mordes verurteilte. Dieses erste Urteil hatte der BGH zwar aufgehoben, sodass das LG Berlin erneut entscheiden musste. Es blieb aber dabei, die Angeklagten wegen Mordes zu verurteilen: Zunächst maßgeblich war der Vorsatz. Die Angeklagten hätten das Risiko des Todes anderer Verkehrsteilnehmer erkannt, hätten aber – aus Gleichgültigkeit – dennoch entsprechend gehandelt. Dieses Bewusstsein habe schon in dem Zeitpunkt vorgelegen, in dem die volle Kontrolle über das Fahrzeug noch vorhanden gewesen sei – zur Erinnerung: Der BGH war davon ausgegangen, dass der Tötungsvorsatz erst nach der Tat gegeben sei und demnach unbeachtlich war.
An Mordmerkmalen bejahte das LG das Auto als gemeingefährliches Mittel, die Heimtücke, da das Opfer die Ampel bei Grün überquert habe und damit arglos gewesen sei, sowie niedrige Beweggründe.
Zu weiteren Details sei auf unsere ausführliche Besprechung verwiesen.
 
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.1.2019 – 2 Ws 341/18: Beendigung einer Beziehung als empfindliches Übel
Das OLG Karlsruhe hatte dieses Jahr darüber zu entscheiden, ob die Ankündigung der Beendigung einer Beziehung als ein empfindliches Übel bei der Strafbarkeit wegen (sexueller) Nötigung verstanden werden kann. Nachdem der Täter T die 17 Jahre alte O über ein soziales Netzwerk kennengelernt und mit dem falschen Profil X eine Internet-Beziehung aufgenommen hatte, traf er sich selbst als T mit O und kündigte an, dass, sollte sie sich weigern, mit ihm in sexuellen Kontakt zu treten, die Internet-Beziehung mit X beendet werde.
Das OLG entschied, dass T hierdurch den Tatbestand der sexuellen Nötigung gem. § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB verwirklicht habe, da bei der Frage, ob eine Drohung mit einem empfindlichen Übel vorliege, ein individuell-objektiver Maßstab zugrunde zu legen sei:

„Danach ist das angedrohte Übel dann empfindlich, wenn der in Aussicht gestellte Nachteil von solcher Erheblichkeit ist, dass seine Ankündigung geeignet erscheint, den Bedrohten im Sinn des Täterverlangens zu motivieren, und von dem Bedrohten in seiner Lage nicht erwartet werden kann, dass er der Bedrohung in besonnener Selbstbehauptung standhält. Mithin kommt es auf eine den Opferhorizont berücksichtigende Sichtweise und nicht auf einen besonnenen Durchschnittsmenschen an. Auch unter Berücksichtigung des Schutzgutes der Nötigungsdelikte – die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung – kommt deshalb der Individualität des Bedrohten und der Frage, weshalb gerade von ihm in seiner konkreten Situation ein Standhalten gegenüber der Drohung erwartet werden kann, entscheidende Bedeutung. Danach kann auch ein angedrohter Beziehungsabbruch ein empfindliches Übel darstellen, wenn dieser Beziehung für den Bedrohten ein hoher Stellenwert zukommt.“

Das OLG Karlsruhe ging mithin im Ergebnis von der Strafbarkeit des T wegen sexueller Nötigung aus, s. auch unsere Besprechung.
 
OLG Köln, Beschl. v. 4.4.2019 – 2 Ws 122/19: Strafbarkeit eines gedopten Profiboxers nach § 223 StGB
Das OLG Köln beschäftigte sich im April mit der Strafbarkeit eines gedopten Profiboxers wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB. Profiboxer T besiegte in einem Boxkampf seinen Kontrahenten; allerdings war die nachfolgende Dopingprobe im Hinblick auf das synthetische anabole Steroid Stanozolol positiv. Nach Bejahung des objektiven Tatbestandes der einfachen Körperverletzung – ein Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs wegen der eingesetzten Boxhandschuhe lehnte des OLG ausdrücklich ab – ist maßgeblich nach der rechtfertigenden Einwilligung zu fragen, die bei einem Sportwettkampf regelmäßig konkludent vorliegt. Hierbei ist ein Irrtum des Einwilligenden denkbar, denn der Gegner geht regelmäßig von einem anderen Leistungsniveau aus, als von dem, welches erst durch das Doping erzielt wird. So führt das OLG Köln aus:

„Die vom Teilnehmer eines Boxkampfes zumindest konkludent erteilte Einwilligung erstreckt sich ausschließlich auf solche Verletzungen, die bei regelkonformem Verhalten des Gegners üblich und zu erwarten sind. Doping als schwere Missachtung der anerkannten Sport- und Wettkampfregeln, die der Gegner nicht zu erwarten braucht, kann der wirksamen Einwilligung entgegenstehen.“

All dies steht unter dem Vorbehalt, dass das Doping dem Täter sicher nachgewiesen wird, was im konkreten Fall noch aussteht. Sollte dies jedenfalls der Fall sein, handelte er ohne Rechtfertigung und hat sich mithin wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Vgl. hierzu unsere ausführlichere Besprechung.
 
BGH, Urt. v. 6.4.2019 – 5 StR 593/18: Konkretisierung des Gewahrsamswechsels bei kleinen, leicht transportablen Sachen
Im Frühjahr dieses Jahres hat der BGH eine Konkretisierung des Gewahrsamswechsels beim Diebstahl vorgenommen, wobei es insbesondere um die examensrelevante Frage der Begründung neuen Gewahrsams durch Verbringen der Sache in eine Gewahrsamsenklave ging. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Es ging um die Mitnahme von sechs Flaschen Alkohol, die der Täter T in einen Einkaufskorb und dann in seine Sporttasche legte, welche er verschloss, um die Flaschen ohne Bezahlung für sich zu behalten. Er wurde aber vor Verlassen des Ladens vom Ladendetektiv aufgehalten.
Zur Bestimmung, ob eine Wegnahme vorliegt, stellt der BGH auf die Gesamtumstände des konkreten Falls unter Berücksichtigung von Größe, Gewicht und Transportmöglichkeit der jeweiligen Sache ab:

„Danach macht es einen entscheidenden Unterschied, ob es sich bei dem Diebesgut um umfangreiche, namentlich schwere Sachen handelt, deren Abtransport mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, oder ob es nur um kleine, leicht transportable Gegenstände geht. Bei unauffälligen, leicht beweglichen Sachen […] lässt die Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache genügen. Steckt der Täter einen Gegenstand in Zueignungsabsicht in seine Kleidung, so schließt er allein durch diesen tatsächlichen Vorgang die Sachherrschaft des Bestohlenen aus und begründet eigenen ausschließlichen Gewahrsam.“

Das gilt unabhängig davon, wenn sich die handelnde Person noch im Gewahrsamsbereich des Berechtigten – hier des Supermarktes befindet. Für Fälle wie den Vorliegenden gilt daher:

„Für ohne Weiteres transportable, handliche und leicht bewegliche Sachen kann jedenfalls dann nichts anders gelten, wenn der Täter sie in einem Geschäft – wie hier – in Zueignungsabsicht in eine von ihm mitgeführte Hand-, Einkaufs-, Akten- oder ähnliche Tasche steckt; hierdurch bringt er sie in ebensolcher Weise in seinen ausschließlichen Herrschaftsbereich wie beim Einstecken in seine Kleidung.“

Die Strafbarkeit wegen vollendeten Diebstahls ist im vorliegenden Fall somit gegeben. S. zu diesem Urteil unsere Besprechung.
 
BGH, Beschl. v. 7.5.2019 – 1 StR 150/19: Niedrige Beweggründe bei Tötung des Intimpartners
Zu folgendem Fall (gekürzt) erging im Mai dieses Jahres ein Beschluss des BGH: Zwischen T und seiner Ehefrau F kam es vor allem wegen des täglichen Alkoholkonsums des T zu Streit, wobei sich F von T trennte und ihn aufforderte, aus ihrer Wohnung auszuziehen. Auch am nächsten Morgen beharrte sie auf ihrem Entschluss. Als sie das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, folgte T ihr mit einem Messer in der Jackentasche und dem Vorhaben, sie zu töten, sollte sie ihm keine weitere Chance geben. F verneinte das Ansinnen des T und wandte sich von ihm ab, sodass T ihr, die sich keines Angriffs versah, von hinten vier Mal in den Rücken stach. F drehte sich überrascht um und ging infolge weiterer gegen die Brust geführter Stiche zu Boden. T setzte sich sodann auf die auf dem Rücken liegende F und stach weiter wuchtig auf ihren Brustbereich ein, wobei ihre Versuche, die Stiche abzuwehren, erfolglos blieben. T ließ erst von ihr ab, als sie regungslos liegenblieb. F starb durch die Blutungen.
Die Überlegungen des LG München, es handle sich um einen Mord, bei welchem die Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe vorliegen, stimmte der BGH nur teilweise zu: Während das Merkmal der Heimtücke gegeben sei, sei hinsichtlich der niedrigen Beweggründe, anders als vom LG vorgenommen, weder maßgeblich darauf abzustellen,

„ob der Täter tatsachenfundiert auf den Fortbestand der Verbindung zum Opfer vertrauen durfte, noch darauf, wie der Zustand der Beziehung war, ob sich das Tatopfer aus nachvollziehbaren Gründen zur Trennung entschlossen hat, ob der Täter seinerseits maßgeblich verantwortlich für eine etwaige Zerrüttung der Partnerschaft war und ob er – dies ist ohnehin stets der Fall – ,die Trennungsentscheidung‘ des Partners ,hinzunehmen‘ hatte. Derartige Erwägungen sind zwar für die entscheidende Frage, ob die – stets als verwerflich anzusehende – vorsätzliche und rechtswidrige Tötung eines Menschen jeglichen nachvollziehbaren Grundes entbehrt, nicht ohne jede Bedeutung; allein der Umstand, dass sich die Trennung des Partners wegen des Vorverhaltens des Täters und des Zustands der Beziehung als „völlig normaler Prozess“ darstellt und (daher) von diesem hinzunehmen ist, ist aber nicht geeignet, die Tötung des Partners, die wie jede vorsätzliche und rechtswidrige Tötung verwerflich ist, als völlig unbegreiflich erscheinen zu lassen.“

Zu beachten ist bei der Prüfung auch, dass nach Auffassung des BGH der Umstand, dass die Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden darf.
 
BGH, Urt. v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18: Grundsatzurteile zur Sterbehilfe
Medial auch im Fokus standen zwei Urteile zur Sterbehilfe, die der BGH diesen Sommer erlassen hat. Es ging um die Strafbarkeit zweier Ärzte: Der im Hamburger Verfahren angeklagte Facharzt erstellte für zwei Frauen, die sich an einen Sterbehilfeverein gewandt hatten, neurologisch-psychiatrische Gutachten zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Hierbei hatte er an der Festigkeit und Wohlerwogenheit ihrer Suizidwünsche keine Zweifel. Auf ihr Verlangen wohnte er auch der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente bei und unterließ Rettungsmaßnahmen. Eine Strafbarkeit nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB und nach § 323c StGB wurde bereits in der Vorinstanz aufgrund der Tatherrschaft der Frauen über die Todesherbeiführung verneint. Der andere Arzt, um dessen Strafbarkeit es im Berliner Verfahren ging, war Hausarzt der Suizidwilligen, die an einer nicht lebensbedrohlichen, aber stark krampfartige Schmerzen verursachenden Krankheit litt und bereits mehrere Suizidversuche unternommen hatte. Er besorgte ihr ein tödlich wirkendes Medikament und betreute sie, als sie nach der Einnahme des Medikaments bewusstlos wurde. Auch er nahm keine Rettungsmaßnahmen vor. Auch hier wurde die Strafbarkeit abgelehnt, denn die Beschaffung des Medikaments eine straflose Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung.
Zwar lagen die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit durch Unterlassen im Grundsatz wohl vor, wenn auch die Frage nach der Garantenstellung weitestgehend offen gelassen wurde. Allerdings verneinte der BGH die Pflicht zur Abwendung des Todeserfolgs:

„Beide Angeklagte waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet. Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon nicht die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen übernommen, was ihn zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Auch die Erstellung des seitens des Sterbehilfevereins für die Erbringung der Suizidhilfe geforderten Gutachtens sowie die vereinbarte Sterbebegleitung begründeten keine Schutzpflicht für deren Leben. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden.“ (Pressemitteilung Nr. 90/2019)

Konsequenterweise war daher auch nicht von einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB auszugehen. Im Ergebnis verneinte der BGH daher insgesamt die Strafbarkeit der Ärzte. Da sich im Rahmen der Sterbehilfe jedenfalls komplizierte Fälle stellen lassen, sind diese Entscheidungen besonders (examens-)relevant.
Vgl. hierzu auch unsere umfassende Besprechung.
 
Strafprozessrecht
 
BVerfG, Beschl. v. 5.7.2019 – 2 BvR 167/18: Neues zur Wahlfeststellung
Das BVerfG hat sich im Sommer mit der echten Wahlfeststellung beschäftigt. Zur Erinnerung: Die echte Wahlfeststellung kommt infrage, wenn sicher ist, dass der Täter einen von mehreren möglichen Straftatbeständen erfüllt hat, aber nicht klar ist, welches Delikt er tatsächlich vorliegt. Daher erfolgt nach Auffassung der Rechtsprechung bei rechtsethischer und physiologischer Vergleichbarkeit oder nach der h. L. bei Identität des Unrechtskerns eine wahlweise Bestrafung. Teilweise bestehen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Wahlfeststellung, insbesondere da es an einer gesetzlichen Grundlage fehle, die aber wegen ihrer strafbarkeitsbegründenden Wirkung erforderlich sei, vgl. Art. 103 Abs. 2 GG. Das BVerfG hat nun jedoch die Verfassungsmäßigkeit bejaht. Zunächst stellte es heraus, dass es sich um eine Entscheidungsregel des Strafverfahrens handle, die nicht den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berühre. Darüber hinaus sei auch kein Verstoß gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ festzustellen:

„In der Wahlfeststellungssituation hat das Tatgericht aufgrund des jeweils anwendbaren Straftatbestands zu prüfen, auf welche Strafe zu erkennen wäre, wenn eindeutig die eine oder die andere strafbare Handlung nachgewiesen wäre. Von den so ermittelten Strafen ist dann zugunsten des Angeklagten die mildeste zu verhängen. Dass sich hiernach die zu verhängende Strafe durch einen Vergleich (der für jede Sachverhaltsvariante konkret ermittelten Strafen) bestimmt, ändert nichts daran, dass das Tatgericht Art und Maß der Bestrafung einem gesetzlich normierten Straftatbestand entnimmt, genauer dem Gesetz, das für den konkreten Fall die mildeste Bestrafung zulässt.“

Auch der Unschuldsvermutung sei Genüge getan: Zwar könne dem Angeklagten eine konkrete, schuldhaft begangene Straftat nicht nachgewiesen werden, dennoch stünde zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte sicher einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen schuldhaft verwirklicht habe. Demnach ist die echte Wahlfeststellung als verfassungsgemäß zu betrachten.
Diesen Beschluss haben wir ebenfalls ausführlich besprochen.
 
 

11.11.2019/2 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-11-11 09:51:002019-11-11 09:51:00Rechtsprechungsüberblick Strafrecht und Strafprozessrecht 2019
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 2: Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Staatshaftung, Startseite, Verwaltungsrecht

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
I. Verwaltungsrecht
BVerwG (Urt. v. 13.6.2019 – 3 C 28.16, 3 C 29.16) zur Rechtmäßigkeit des sog. „Kükenschredderns“
Das BVerwG hat sich mit einer rechtlich, aber auch gesellschaftlich brisanten Thematik beschäftigt, nämlich der Frage nach der Rechtmäßigkeit des „Schredderns“ männlicher Küken unmittelbar nach dem Schlüpfvorgang. Diese beurteilt sich anhand von § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG i.V.m. § 1 S. 2 TierSchG: Das Töten männlicher Küken ist nur dann zulässig, wenn es nicht gegen das Tierschutzgesetz verstößt. Ein solcher Verstoß liegt allerdings vor, wenn einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Inwiefern ein solcher „vernünftiger Grund“ für das Töten der Küken vorliegt, ergibt sich aus einer Abwägung zwischen dem menschlichen Nutzungsinteresses und dem Tierschutz. Dabei können rein wirtschaftliche Interessen allerdings nicht ausreichen, um ein überwiegendes menschliches Nutzungsinteresse zu begründen. So heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts:

„Vernünftig im Sinne dieser Regelung ist ein Grund, wenn das Verhalten gegenüber dem Tier einem schutzwürdigen Interesse dient, das unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse am Schutz des Tieres. Im Lichte des im Jahr 2002 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken für sich betrachtet nach heutigen Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten.“

Trotz der damit anzunehmenden grundsätzlichen Unzulässigkeit des „Kükentötens“ bleibt das Verfahren indes zumindest vorübergehend weiterhin zulässig:

„Ohne eine Übergangszeit wären die Brutbetriebe gezwungen, zunächst mit hohem Aufwand eine Aufzucht der männlichen Küken zu ermöglichen, um dann voraussichtlich wenig später ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei einzurichten oder ihren Betrieb auf das Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien umzustellen. Die Vermeidung einer solchen doppelten Umstellung ist in Anbetracht der besonderen Umstände ein vernünftiger Grund für die vorübergehende Fortsetzung der bisherigen Praxis.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
OVG Koblenz (Beschl. v. 12.6.2019 – 10 B 10515/19.OVG) zur Gleichbehandlung bei der Benutzung einer kommunalen Einrichtung
Das OVG Koblenz hatte die Rechtmäßigkeit einer Regelung in der Badeordnung eines gemeindlichen Schwimmbads zu beurteilen, die das Tragen von sog. Burkinis im Schwimmbad untersagte. Betreibt eine Gemeinde ein Schwimmbad als öffentliche Einrichtung, so hat sie grundsätzlich zugleich die Befugnis, das Benutzungsverhältnis durch Sonderverordnung zu regeln. Allerdings findet diese Regelungsbefugnis ihre Grenze einerseits in den verfassungsrechtlichen Rechten der Nutzer, andererseits darin, dass die jeweilige Nutzungsvorschrift der Erfüllung des bestimmungsgemäßen Anstaltszweck dienen muss. Zwar mag dabei das Burkiniverbot als solches – das eine Kontrolle ermöglichen soll, ob bei den Nutzern des Schwimmbads gesundheitsgefährdende Krankheiten bestehen – dem Anstaltszweck dienen, da es zum Schutz der übrigen Badegäste zumindest beiträgt. Allerdings verstößt die Regelung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, denn: Sie belastet Trägerinnen von Burkinis stärker als andere Badegäste, deren Badebekleidung den Körper ebenfalls weitgehend bedeckt. Dazu führt das Gericht aus:

„Neoprenanzüge können ebenso wie Burkinis den ganzen Körper bedecken und haben unter Umständen auch eine Kopfhaube, lassen daher zur Kontrolle durch das Badepersonal nicht weniger Körperteile frei als Burkinis. Dass Neoprenanzüge nur während des Schwimmtrainings zugelassen sind, vermag daran nichts zu ändern. Dadurch dürfte zwar die Zahl der Badegäste, die in einem solchen schwimmen (und folglich auch die von ihnen ausgehenden potentiellen Gesundheitsgefahren), eher gering sein. Dies gilt aber in gleicher Weise für die Trägerinnen von Burkinis, weil nach den Angaben der Antragsgegnerin die städtischen Schwimmbäder zur Zeit von nur fünf Burkini-Trägerinnen besucht werden. […] Nach alledem ist die ungleiche Behandlung von Burkini-Trägerinnen einerseits und Trägerinnen und Träger von Neoprenanzügen andererseits nach dem Regelungsprogramm der Antragsgegnerin sachlich nicht gerechtfertigt und verstößt gegen den Anspruch der Antragstellerin auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
II. Staatshaftungsrecht
BGH (Urt. v. 6.6.2019 – III ZR 124/18) zur Stellung als Verwaltungshelfer
Der BGH hat sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern Mitarbeiter eines privaten Unternehmens, die zur Ausführung einer verkehrsbeschränkenden Anordnung der Straßenbaubehörde und des der Anordnung beigefügten Verkehrszeichenplans Verkehrsschilder nicht ordnungsgemäß befestigen, als Verwaltungshelfer und damit Beamte im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen sind. Dabei legte es folgende Kriterien zugrunde:

 „[Es] ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen […]. Hiernach können auch Mitarbeiter eines privaten Unternehmens Amtsträger im haftungsrechtlichen Sinne sein. Dies kommt neben den Fällen der Beleihung eines Privatunternehmens mit hoheitlichen Aufgaben auch dann in Betracht, wenn Private als Verwaltungshelfer bei der Erledigung hoheitlicher Aufgaben tätig werden […] Dafür ist erforderlich, dass ein innerer Zusammenhang und eine engere Beziehung zwischen der Betätigung des Privaten und der hoheitlichen Aufgabe bestehen, wobei die öffentliche Hand in so weitgehendem Maße auf die Durchführung der Arbeiten Einfluss nimmt, dass der Private gleichsam als bloßes „Werkzeug“ oder „Erfüllungsgehilfe“ des Hoheitsträgers handelt und dieser die Tätigkeit des Privaten deshalb wie eine eigene gegen sich gelten lassen muss […].“.

Vor diesem Hintergrund wurde der mit der Anbringung des Verkehrsschildes betraute Mitarbeiter als Verwaltungshelfer eingeordnet: Die getroffene Verkehrsregelung (§ 45 StVO) stellt eine Maßnahme der Eingriffsverwaltung dar: Das durch sie angeordnete Ge- oder Verbot ist ein für die Verkehrsteilnehmer bindender Verhaltensbefehl. Indes ist die Regelung ohne das Aufstellen des entsprechenden Verkehrsschildes nicht wirksam, sodass es sich auch bei dieser rein tatsächlichen Tätigkeit um eine hoheitliche Aufgabe handelt. Dabei hatte der Mitarbeiter die vorgegebene Verkehrsregelung an der vorgegebenen Stelle umzusetzen, einen eigenen Entscheidungs- oder Ermessensspielraum hatte er daher nicht, er war allein „verlängerter Arm“ der zuständigen Behörde.

02.10.2019/0 Kommentare/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-10-02 10:00:292019-10-02 10:00:29Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 2: Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht
Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 2

Lerntipps, Startseite, Verschiedenes

Dieser Beitrag setzt den Rechtsprechungsüberblick im Zivilrecht von Oktober 2018 bis März 2019 fort. Teil 1 des Beitrags findet ihr hier.
 
BGH, Beschluss v. 08.01.2019 – VIII ZR 225/17
„VW-Abgasskandal“: Abschalteinrichtung als Sachmangel
Zunächst stellte der BGH fest, dass der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung ein Mangel i.S.d. § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ist:

„Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn bei Übergabe an den Käufer eine – den Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduzierende – Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 VO 715/2007/EG installiert ist, die gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO 715/2007/EG unzulässig ist.
Dies hat zur Folge, dass dem Fahrzeug die Eignung für die gewöhnliche Verwendung im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB fehlt, weil die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde (§ 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung – FZV) besteht und somit bei Gefahrübergang der weitere (ungestörte) Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr nicht gewährleistet ist.“ (Leitsätze 1a und 1b)

Eine Nacherfüllung durch Nachlieferung eines gleichwertigen Neuwagens nach § 439 Abs. 1, 2. Alt BGB soll grundsätzlich möglich sein. Auch ein Modellwechsel (im konkreten Fall von einem VW Tiguan I auf einen VW Tiguan II) steht dem nicht entgegen:

„Bei der durch interessengerechte Auslegung des Kaufvertrags (§§ 133, 157 BGB) vorzunehmenden Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der vom Verkäufer übernommenen Beschaffungspflicht ist zu berücksichtigen, dass die Pflicht zur Ersatzbeschaffung gleichartige und gleichwertige Sachen erfasst. Denn der Anspruch des Käufers auf Ersatzlieferung gemäß § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB richtet sich darauf, dass anstelle der ursprünglich gelieferten mangelhaften Kaufsache nunmehr eine mangelfreie, im Übrigen aber gleichartige und – funktionell sowie vertragsmäßig – gleichwertige Sache zu liefern ist.
Die Lieferung einer identischen Sache ist nicht erforderlich. Vielmehr ist insoweit darauf abzustellen, ob die Vertragsparteien nach ihrem erkennbaren Willen und dem Vertragszweck die konkrete Leistung als austauschbar angesehen haben.
Für die Beurteilung der Austauschbarkeit der Leistung ist ein mit einem Modellwechsel einhergehender, mehr oder weniger großer Änderungsumfang des neuen Fahrzeugmodells im Vergleich zum Vorgängermodell nach der Interessenlage des Verkäufers eines Neufahrzeugs in der Regel nicht von Belang. Insoweit kommt es – nicht anders als sei ein Fahrzeug der vom Käufer erworbenen Modellreihe noch lieferbar – im Wesentlichen auf die Höhe der Ersatzbeschaffungskosten an. Diese führen nicht zum Ausschluss der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 BGB, sondern können den Verkäufer gegebenenfalls unter den im Einzelfall vom Tatrichter festzustellenden Voraussetzungen des § 439 Abs. 4 BGB berechtigen, die Ersatzlieferung zu verweigern, sofern diese nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist.“ (Leitsätze 2b und 2c).

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die Besprechung von Sebastian Rombey.
 
BGH, Beschluss v. 09.01.2019 – VIII ZB 26/17
Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses und analoge Anwendung des § 566 BGB auf den Erwerb eines Miteigentumsanteils
Die Eheleute M und F waren Miteigentümer einer Mietwohnung. Diese vermieteten sie an den Mieter X. Später übertrug M seinen Miteigentumsanteil auf die F, sodass F nun Alleineigentümerin der Mitwohnung war. Im Februar 2016 kündigte F das Mietverhältnis mit X. Fraglich war nun, ob die Kündigung auch durch den M hätte ausgesprochen werden müssen oder ob § 566 Abs. 1 BGB zur Anwendung komme, mit der Folge, dass die Kündigung allein durch den Erwerber des Miteigentumsanteils ausgesprochen werden konnte. Der BGH verneinte eine direkte Anwendung des § 566 Abs. 1 BGB:

„Nach dem Wortlaut des § 566 Abs. 1 BGB muss die Veräußerung an einen Dritten erfolgen, das heißt, der veräußernde Eigentümer und der Erwerber müssen personenverschieden sein, der Erwerber darf bis zum Erwerb nicht Vermieter gewesen sein. Eine direkte Anwendung des § 566 BGB kommt damit […] nicht in Betracht.“

Auch eine analoge Anwendung komme nicht in Betracht. Für eine Analogie bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke sowie einer vergleichbaren Interessenlage. Solch eine vergleichbare Interessenlage lehnte der BGH im vorliegenden Fall ab:

„Sinn und Zweck des § 566 BGB ist der Schutz des Mieters vor einem Verlust des Besitzes an der Wohnung gegenüber einem neuem Erwerber im Falle der Veräußerung der Mietsache. Dieser Schutzzweck ist von vornherein nicht berührt, wenn […] einer von zwei vermietenden Miteigentümern seinen Eigentumsanteil auf den anderen überträgt, so dass dieser Alleineigentümer der Mietsache wird. Denn der nunmehrige Alleineigentümer ist (weiter) an den Mietvertrag gebunden und ein Verlust des Besitzes auf Seiten des Mieters infolge des Veräußerungsvorgangs ist somit nicht zu besorgen. Damit scheidet eine analoge Anwendung des § 566 BGB auf einen solchen Fall aus.“

 
BGH, Urteil v. 15.01.2019 – II ZR 392/17
Vertretung einer Gesellschaft durch den Aufsichtsrat

„Der Aufsichtsrat vertritt die Aktiengesellschaft nicht nur bei Rechtsgeschäften, die mit einem Vorstandsmitglied selbst geschlossen werden, sondern auch bei Rechtsgeschäften mit einer Gesellschaft, deren alleiniger Gesellschafter ein Vorstandsmitglied ist.“ (Leitsatz)
„Für eine entsprechende Erweiterung des Anwendungsbereichs spricht insbesondere der Schutzzweck der Norm. § 112 Satz 1 AktG soll Interessenkollisionen vorbeugen und eine unbefangene, von sachfremden Erwägungen unbeeinflusste Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern sicherstellen. Dabei ist es im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ausreichend, dass aufgrund der gebotenen und typisierenden Betrachtung in den von § 112 Satz 1 AktG geregelten Fällen regelmäßig die abstrakte Gefahr einer nicht unbefangenen Vertretung der Gesellschaft vorhanden ist.
Hierbei kann es keinen entscheidenden Unterschied machen, ob das Vorstandsmitglied einen Vertrag im eigenen Namen mit der Gesellschaft abschließt, oder ob Vertragspartner der Gesellschaft eine Gesellschaft ist, deren alleiniger Gesellschafter das Vorstandsmitglied ist.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BAG, Urteil v. 23.01.2019 – 7 AZR 733/16
Änderung der Rechtsprechung zur Auslegung einer Vorbeschäftigung nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG  
Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG (Urteil v. 06.05.2011 – 7 AZR 716/09) waren Arbeitsverhältnisse, die länger als drei Jahre zurücklagen, nicht als Vorbeschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG anzusehen. Nun nimmt die Rechtsprechung Abstand von einer rein zeitlichen Betrachtung:

„Allerdings können und müssen die Fachgerichte auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken, soweit das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar ist, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung kann danach insbesondere unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist.“

Siehe zu dieser Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Yannik Beden, M.A.
 
BAG, Urteil v. 07.02.2019 – VII ZR 63/18
Abgrenzung Schadensersatz statt und neben der Leistung im Werkvertragsrecht
Die Klägerin ließ ihr Kfz (Volvo V 70) beim Beklagten, der eine Kfz-Werkstatt betreibt, warten. Im Rahmen dieser Wartungsarbeiten tauschte der Beklagte u.a. den Keilrippenriemen, den Riemenspanner und den Zahnriemen aus. Aufgrund von Problemen mit der Lenkung bring die Klägerin circa einen Monat später ihr Kfz in die Werkstatt des L – der Beklagte hatte zu diesem Zeitpunkt Betriebsferien. In der Werkstatt des L wird festgestellt, dass der Beklagte den Keilrippenriemen nicht richtig gespannt hatte und dieser daher gerissen war. Infolgedessen sind Schäden am Riemenspanner, am Zahnriemen, der Servolenkungspumpe sowie der Lichtmaschine entstanden. Die Klägerin ließ die beschädigten Teile in der Werkstatt des L austauschen und verlangte nun von der Beklagten Schadensersatz. Es stellte sich somit die Frage, ob die entstandenen Schäden unter den Voraussetzungen des Schadensersatz statt der Leistung (§§ 634 Nr. 4, 280, 281 BGB) oder als Mangelfolgeschäden unter den Voraussetzungen des Schadensersatz neben der Leistung (§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB) ersatzfähig seien.
Der BGH differenzierte insoweit zwischen dem Austausch von Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen und dem Austausch von Servolenkungspumpe und Lichtmaschine.

„Liegt eine Pflichtverletzung in Form einer mangelhaften Werkleistung vor, ist danach zwischen dem Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB und dem Schadensersatzanspruch neben der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB zu unterscheiden. Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB tritt an die Stelle der geschuldeten Werkleistung und erfasst damit das Leistungsinteresse des Bestellers. Er erfordert zunächst – vorbehaltlich der geregelten Ausnahmen – eine Fristsetzung zur Nacherfüllung, um dem Unternehmer eine letzte Gelegenheit zur Erbringung der geschuldeten Werkleistung, also zur Herstellung des mangelfreien Werks, zu geben. Demgegenüber sind gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB die über das Leistungsinteresse hinausgehenden Vermögensnachteile, insbesondere Folgeschäden an anderen Rechtsgütern des Bestellers als dem Werk selbst oder an dessen Vermögen, zu ersetzen:“

Die Schäden an Servolenkungspumpe und Lichtmaschine (diese Teile waren nicht Gegenstand der Wartungsarbeiten des Beklagten) qualifizierte er dabei als Mangelfolgeschäden, die als Schadensersatz neben der Leistung zu ersetzen sind. Das heißt: Eine Fristsetzung war insoweit nicht erforderlich:

„Mit dem Schadensersatzanspruch neben der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB kann Ersatz für Schäden verlangt werden, die aufgrund eines Werkmangels entstanden sind und durch eine Nacherfüllung der geschuldeten Werkleistung nicht beseitigt werden können. Hiervon erfasst sind mangelbedingte Folgeschäden, die an anderen Rechtsgütern des Bestellers oder an dessen Vermögen eintreten. […]
Von […] Schäden, die im Zuge der Nacherfüllung zwangsläufig entstehen, sind diejenigen Schäden an anderen Rechtsgütern des Bestellers oder an dessen Vermögen zu unterscheiden, die durch die mangelhafte Werkleistung verursacht wurden. Sie werden von der Nacherfüllung nicht erfasst, sondern können nur Gegenstand des – verschuldensabhängigen – Schadensersatzanspruchs gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB sein.“

Die Nacherfüllung auch auf Mangelfolgeschäden zu erstrecken – und in der Folge einen Schadensersatzanspruch als Schadensersatz statt der Leistung zu qualifizieren – würde „zu einer nicht gerechtfertigten Einschränkung des Bestellers führen, wenn er bei mangelbedingten (engen) Folgeschäden nicht mehr entscheiden könnte, durch wen sie beseitigt werden sollen. […]Den Interessen des Unternehmers wird in Bezug auf Folgeschäden durch das in § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB geregelte Verschuldenserfordernis hinreichend Rechnung getragen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)
Die Kosten für den Austausch des Keilrippenriemens, des Riemenspanners und des Zahnriemens qualifizierte das Gericht als Schadensersatz statt der Leistung.

„Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB tritt an die Stelle der geschuldeten Werkleistung und erfasst das Leistungsinteresse des Bestellers. Er knüpft daran an, dass eine ordnungsgemäße Nacherfüllung nicht erfolgt ist. Sein Anwendungsbereich bestimmt sich damit nach der Reichweite der Nacherfüllung. Da die Nacherfüllung gemäß § 634 Nr. 1, § 635 BGB auf Herstellung des geschuldeten Werks gerichtet ist, bestimmt dieses die Reichweite der Nacherfüllung. Die geschuldete Werkleistung ist dabei im Wege der Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Die Nacherfüllung erfasst danach die Beseitigung der Mängel des geschuldeten Werks, die auf einer im Zeitpunkt der Abnahme vorhandenen vertragswidrigen Beschaffenheit des Werks beruhen.“

Damit wäre hinsichtlich der Schäden an Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen eine Fristsetzung grundsätzlich erforderlich gewesen. Eine solche hatte die Klägerin nicht gesetzt. Der BGH stellte jedoch fest, dass eine Fristsetzung nach § 281 Abs. 2 BGB entbehrlich sei, da besondere Umstände vorlägen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigten:

„Solche Umstände sind hier zu bejahen. Danach besteht ein besonderes Interesse der Klägerin an einer einheitlichen Reparatur, bei der die erforderlichen Austauscharbeiten im Zuge der Beseitigung der wirtschaftlich im Vordergrund stehenden Folgeschäden an der Lichtmaschine und der Servolenkung miterledigt werden. Demgegenüber tritt das – grundsätzlich bestehende – Interesse des Beklagten an der Möglichkeit einer Nacherfüllung betreffend Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen zurück […].

 
BAG, Urteil v. 07.02.2019 – 6 AZR 75/18
Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsverträgen

„Ein Aufhebungsvertrag kann […] unwirksam sein, falls er unter Missachtung des Gebots fairen Verhandelns zustande gekommen ist. […]
Dieses Gebot ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Sie wird verletzt, wenn eine Seite eine psychische Drucksituation schafft, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags erheblich erschwert. Dies könnte hier insbesondere dann der Fall sein, wenn eine krankheitsbedingte Schwäche der Klägerin bewusst ausgenutzt worden wäre. Die Beklagte hätte dann Schadensersatz zu leisten. Sie müsste den Zustand herstellen, der ohne die Pflichtverletzung bestünde (sog. Naturalrestitution, § 249 Abs. 1 BGB). Die Klägerin wäre dann so zu stellen, als hätte sie den Aufhebungsvertrag nicht geschlossen. Dies führte zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.“ (Pressemitteilung das BAG, Nr. 6/19 v. 07.02.2019)

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Yannik Beden, M.A.
 
BGH, Urteil v. 02.04.2019 – VI ZR 13/18

„Weiterleben“ als Schaden
Ärzte haften grundsätzlich nicht, wenn sie einen Patienten länger als medizinisch sinnvoll am Leben erhalten und somit sein Leiden verlängern.
Geklagt hatte der Sohn eines an fortgeschrittener Demenz leidenden Patienten. Durch künstliche Ernährung sei das krankheitsbedingte Leiden seines Vaters verlängert worden; die Ärzte hätten das Therapieziel dahingehend ändern sollen, dass das Sterben des Patienten durch die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen werde. Der Kläger machte Schmerzensgeld aus ererbtem Recht sowie den Ersatz von Behandlungs- und Pflegeaufwendungen geltend.

„Nach Auffassung des BGH steht dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Dabei könne dahinstehen, ob der Beklagte Pflichten verletzt habe. Denn jedenfalls fehle es an einem immateriellen Schaden. Hier stehe der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Deshalb verbiete es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten möge mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben habe, verbiete die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden. 
Dem Kläger stehe auch kein Anspruch auf Ersatz der durch das Weiterleben des Patienten bedingten Behandlungs- und Pflegeaufwendungen zu. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen sei es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden seien, zu verhindern. Insbesondere dienten diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.“ Pressemitteilung des BGH Nr. 40/2019 v. 02.04.2019

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Charlotte Schippers. 
 
Juraexamen.info auch auf Facebook und Istagram:
Facebook: juraexamen.info
Instagram: @juraexamen.info

15.04.2019/1 Kommentar/von Dr. Matthias Denzer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Matthias Denzer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Matthias Denzer2019-04-15 09:30:362019-04-15 09:30:36Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 2
Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 1

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Rechtsgebiete, Rechtsprechungsübersicht, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Zivilrecht, Zivilrecht

Viele Examenskandidaten stehen unmittelbar vor dem Antritt ihres „Freischusses“ im nächsten Monat. Empfehlenswert ist es dabei stets, sich die Rechtsprechung der letzten Monate noch einmal vor Augen zu führen – angesichts des zumeist straffen Zeitplans aus Lernen, Wiederholen und der Teilnahme am Klausurenkurs kein leichtes Unterfangen. In unserem Rechtsprechungsüberblick sollen daher die – aus unserer Sicht – examensrelevanten Entscheidungen auf ihre wesentlichen Aussagen reduziert dargestellt werden. Teil 2 des Rechtsprechungsüberblicks im Zivilrecht erscheint nächsten Montag (15.4.2019).
Einen Rechtsprechungsüberblick für die Monate Juli – September 2019 findet ihr unter den folgenden Links:
            Rechtsprechungsüberblick Zivilrecht (Juli – September 2018)
            Rechtsprechungsüberblick Strafrecht (Juli – September 2018)
            Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Juli – September 2018)
 
BGH, Beschluss v. 10.10.2018 – XII ZB 231/18
Kann die Ehefrau der ein Kind gebärenden Frau als Mit-Elternteil im Geburtenregister eingetragen werden?
Nach § 1592 Nr. 1 BGB ist Vater eines Kinders der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Der BGH verneinte die Frage, ob diese Regelung direkt oder analog auch auf die Ehefrau der in einer gleichgeschlechtlichen Ehe lebenden Mutter eines Kindes Anwendung finde:

„Die Ehefrau der ein Kind gebärenden Frau wird weder in direkter noch in entsprechender Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB Mit-Elternteil des Kindes. Die darin liegende unterschiedliche Behandlung von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Ehepaaren trifft nicht auf verfassungs- oder konventionsrechtliche Bedenken.“ (Leitsätze 1 und 2)

 
BGH, Urteil v. 16.10.2018 – XI ZR 69/18
Verwirkung des Widerrufsrechts bei Verbraucherdarlehensverträgen
Grundsätzlich beträgt die Widerrufsfrist bei Verbraucherdarlehensverträgen 14 Tage (§ 355 Abs. 2 BGB) ab Vertragsschluss und Aushändigung der Vertragsurkunde, die die nach § 492 Abs. 2 BGB erforderlichen Pflichtangaben enthalten muss (§ 356b Abs. 1, 2 BGB). Dazu gehört insbesondere auch eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung. (Gesetzesangaben entsprechen der Neufassung v. 13.06.2014.)
Im entschiedenen Fall schloss der Kläger mit der Beklagten im September 2005 einen Verbraucherdarlehensvertrag. Eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung enthielt dieser nicht, die Widerrufsfrist begann damit nach § 356b Abs. 2 BGB nicht zu laufen. Im September 2011 einigte sich der Kläger mit der Beklagen auf eine vorzeitige Beendigung des Darlehensvertrags und zahlte an die Beklagte eine „Vorfälligkeitsentschädigung“. Die Beklagte gab daraufhin vom Kläger bestellte Sicherheiten frei. Im November 2014 widerrief der Kläger seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung.
Der BGH führte aus, dass das Widerrufsrecht des Klägers 9 Jahre nach Abschluss des Darlehnsvertrags und drei Jahre nach der vorzeitigen Beendigung verwirkt sei:

„Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen der illoyal verspäteten Geltendmachung von Rechten setzt neben einem Zeitmoment ein Umstandsmoment voraus. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt. Zeit- und Umstandsmoment können nicht voneinander unabhängig betrachtet werden, sondern stehen in einer Wechselwirkung. […] Zu dem Zeitablauf müssen besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen.“

Solche Umstände hat der BGH in der Freigabe von Sicherheiten gesehen:

„Dem steht nicht entgegen, dass der Darlehensgeber nach Beendigung des Darlehensvertrags und vollständiger Erfüllung der aus dem unwiderrufenen Darlehensvertrag resultierenden Pflichten des Darlehensnehmers die Sicherheiten ohnehin freizugeben hätte. Vom Darlehensgeber bestellte Sicherheiten sichern regelmäßig auch Ansprüche aus einem Rückgewährschuldverhältnis nach § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB in der hier maßgeblichen, bis zum 12. Juni 2014 geltenden Fassung in Verbindung mit §§ 346 ff. BGB. Dem Rückgewähranspruch des Darlehensnehmers aus der Sicherungsabrede haftet die für den Fall des Widerrufs auflösende Rechtsbedingung einer Revalutierung an. Beendet der Darlehensgeber trotz der Möglichkeit der Revalutierung durch Rückgewähr der Sicherheit den Sicherungsvertrag, kann darin die Ausübung beachtlichen Vertrauens im Sinne des § 242 BGB liegen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 17.10.2018 – VIII ZR 212/17
Ausübung eines Gestaltungsrechts (hier: Widerruf gem. § 312b, 312g, 355 f. BGB) nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung

„Der Vortrag einer Partei, dass ein Gestaltungsrecht erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung ausgeübt worden ist – vorliegend durch die Erklärung des Widerrufs gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 BGB – ist grundsätzlich unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen. Denn die prozessrechtliche Präklusionsvorschrift in § 531 Abs. 2 ZPO soll die Parteien lediglich dazu anhalten, zu einem bereits vorliegenden und rechtlich relevanten Tatsachenstoff rechtzeitig vorzutragen (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 102). Sie verfolgt hingegen nicht den Zweck, auf eine (beschleunigte) Veränderung der materiellen Rechtslage hinzuwirken.“

 
BGH, Urteil v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17
Zur Sachmängelhaftung eines mit einem Softwarefehler behafteten Neufahrzeugs

„Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn die Software der Kupplungsüberhitzungsanzeige eine Warnmeldung einblendet, die den Fahrer zum Anhalten auffordert, um die Kupplung abkühlen zu lassen, obwohl dies auch bei Fortsetzung der Fahrt möglich ist.
An der Beurteilung als Sachmangel ändert es nichts, wenn der Verkäufer dem Käufer mitteilt, es sei nicht notwendig, die irreführende Warnmeldung zu beachten. Dies gilt auch dann, wenn der Verkäufer zugleich der Hersteller des Fahrzeugs ist.“ (Leitsatz 1a und b)
 

BGH, Urteil v. 07.11.2018 – XII ZR 109/17
Werbung auf einem Kraftfahrzeug gegen Entgelt – Qualifizierung des Vertragstyps

„In der Zurverfügungstellung einer konkreten Werbefläche auf dem der Klägerin gehörenden Fahrzeug liegt eine Gebrauchsüberlassung gemäß § 535 BGB, bei der es einer Besitzverschaffung ausnahmsweise nicht bedarf. Die Überlassung einer Werbefläche auf einem in Benutzung der Bildungseinrichtung stehenden Kraftfahrzeug unterscheidet sich rechtlich nicht von der Reklame an Straßenbahnen, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Mietverhältnis qualifiziert worden ist. Soweit der Senat ähnlich gelagerte Werbegestattungen als Rechtspacht eingestuft hat, führt dies gemäß § 581 Abs. 2 BGB ebenfalls zur Anwendung von Mietrecht.
Dem steht auch nicht das Urteil des X. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 19. Juni 1984 (X ZR 93/83 – NJW 1984, 2406, 2407) entgegen. In jenem Fall lag der Schwerpunkt – anders als im vorliegenden Fall – ersichtlich auf werksvertragstypischen Leistungen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 07.11.2018 – IX ZA 16/17
Zur Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit
Nach § 42 Abs. 1 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.

„Die Kläger meinen zu Recht, eine Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden Richters ergebe sich daraus, dass dieser als Mitverfasser eines Geleitworts zu einer Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags des Beklagten dessen Person und Lebenswerk in heraushebender Weise gewürdigt hat. In dem Geleitwort bezeichnet der abgelehnte Richter den Beklagten als einen Mann, „der sich wie kein zweiter in vielfältiger Weise um das Insolvenzrecht und die angrenzenden Rechtsgebiete verdient gemacht“ habe; der „zu der seltenen Spezies Insolvenzverwalter gehört, die unternehmerisches Denken mit scharfsinniger juristischer Analyse verbinden können“, der „unternehmerisch mit dem bestmöglichen Bemühen um die Sanierung als die ökonomisch vorzugswürdige Lösung“ vorgehe, „mit seinen Publikationen seine Qualifikation als Vordenker für die Praxis“ beweise und „den Acker «Insolvenz und Sanierung» in sehr unterschiedlichen, einander aber immer wieder befruchtenden Funktionen bestellt und daraus reiche Ernte hervorgebracht“ habe.
Die damit verlautbarte Hochachtung nicht nur von Person und Lebenswerk des Beklagten, sondern auch seiner besonderen insolvenzrechtlichen Treffsicherheit und seiner Vorbildfunktion für Insolvenzverwalter, kann bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, in einem Rechtsstreit, in dem der Beklagte wegen angeblicher Pflichtverletzung bei der Ausübung seines Amtes als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.“

 
BGH, Urteil v. 14.11.2018 – XII ZB 107/18
Zur Auslegung einer Patientenverfügung

„Urkunden über formbedürftige Willenserklärungen sind nach allgemeinen Grundsätzen auszulegen. Außerhalb der Urkunde liegende Umstände dürfen dabei aber nur berücksichtigt werden, wenn der einschlägige rechtsgeschäftliche Wille des Erklärenden in der formgerechten Urkunde einen wenn auch nur unvollkommenen oder andeutungsweisen Ausdruck gefunden hat.“ (2. Leitsatz)

 
BGH, Urteil v. 05.12.2018 – VIII ZR 271/17
Gefahr einer Schimmelpilzbildung aufgrund von Wärmebrücken in den Außenwänden als Mangel der Mietsache bei Altbauwohnung

„Wärmebrücken in den Außenwänden einer Mietwohnung und eine deshalb – bei unzureichender Lüftung und Heizung – bestehende Gefahr einer Schimmelpilzbildung sind, sofern die Vertragsparteien Vereinbarungen zur Beschaffenheit der Mietsache nicht getroffen haben, nicht als Sachmangel der Wohnung anzusehen, wenn dieser Zustand mit den zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes geltenden Bauvorschriften und technischen Normen in Einklang steht.
Welche Beheizung und Lüftung einer Wohnung dem Mieter zumutbar ist, kann nicht abstrakt-generell und unabhängig insbesondere von dem Alter und der Ausstattung des Gebäudes sowie dem Nutzungsverhalten des Mieters, sondern nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden“ (Leitsätze, Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 06.12.2018 – VII ZR 71/15
Zur Bemessung des Schadens nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten bei Nichtbeseitigung der Mängel im Rahmen eines Werkvertrags

„Die Ermittlung der Höhe des Vermögensschadens der Klägerin durch das Berufungsgericht beruht auf der Annahme, er lasse sich nach den erforderlichen, tatsächlich jedoch nicht angefallenen (Netto-)Mängelbeseitigungskosten […] bemessen, wenn der Besteller den Mangel eines Werks […] nicht beseitigt hat. Diese im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des Senats stehende Auffassung trifft nicht zu. Der Senat hat […] unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass ein Besteller, der den Mangel nicht beseitigen lässt, seinen Schaden nicht nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten bemessen kann.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 19.12.2018 – XII ZR 5/18
Zur Verjährung des Anspruchs des Vermieters gegen den Mieter auf Unterlassung eines vertragswidrigen Gebrauchs der Mietsache
Der Beklagte mietete Räumlichkeiten des Vermieters zum Betrieb eines Rechtsanwaltsbüros an. Teile dieser Räumlichkeiten nutze der Beklagte zu Wohnzwecken. Der Vermieter machte gegen den Mieter einen Anspruch auf Unterlassung eines vertragswidrigen Gebrauchs der Mietsache nach § 541 BGB geltend. Dem wendet der Beklagte die Einrede der Verjährung entgegen.

„Der Bundesgerichtshof hat für den Bereich des Wohnungseigentumsrechts bereits entschieden, dass bei einer zweckwidrigen Nutzung einer Teileigentumseinheit als Wohnraum der Unterlassungsanspruch der übrigen Wohnungseigentümer aus § 1004 Abs. 1 BGB bzw. § 15 Abs. 3 WEG nicht verjährt, solange die Nutzung andauert. Zur Begründung wurde dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass in diesem Fall der Schwerpunkt der Störung nicht vornehmlich in der Aufnahme der zweckwidrigen Nutzung liegt, sondern die übrigen Wohnungseigentümer in gleicher Weise dadurch beeinträchtigt werden, dass die zweckwidrige Nutzung dauerhaft aufrechterhalten wird“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
Juraexamen.info auch auf Facebook und Instagram
Facebook: juraexamen.info
Instagram: @juraexamen.info
 

10.04.2019/2 Kommentare/von Dr. Matthias Denzer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Matthias Denzer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Matthias Denzer2019-04-10 09:30:002019-04-10 09:30:00Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 1
Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Juli – September 2018)

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Rechtsgebiete, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Zivilrecht, Zivilrecht

Mit Beginn des neuen Semesters wird es auch wieder Zeit für unseren Rechtsprechungsüberblick. Zu Beginn eines jeden Quartals bieten wir euch einen kurzen Überblick über ausgewählte, examensrelevante Entscheidungen der jeweils letzten drei Monate.
Die folgenden Entscheidungen bieten sich aufgrund ihrer grundlegenden Bedeutung oder ihrer Konstellation juristisches „Basiswissen“ abzuprüfen, als Fragestellung sowohl in einer Examensklausur, als auch in der „Großen Übung“ an. Auch – und insbesondere – in der mündlichen Prüfung ist ein umfassender Überblick über die aktuelle Rechtsprechung unerlässlich. Es ist daher nur zu raten, sich mit den folgenden Entscheidungen – zumindest in ihren Grundzügen – auseinandergesetzt zu haben:
BGH, Urteil v. 19.09.2018 – VIII ZR 231/17
Verbindung einer fristlosen Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses mit einer hilfsweise ordentlichen Kündigung
Die fristlose Kündigung eins Wohnraummietverhältnisses kann mit einer hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung verbunden werden. Dies gilt insbesondere für den Fall der außerordentlichen Kündigung wegen Zahlungsverzugs (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB). Dabei lässt eine Zahlung der Mietrückstände innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB (sog. Schonfristzahlung) eine wegen Zahlungsverzuges nach § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB mit Zugang der Kündigungserklärung herbeigeführte sofortige Beendigung des Mitverhältnisses nachträglich rückwirkend entfallen. Das Mietverhältnis wird damit fortgesetzt. Dazu führte das Gericht aus:

Der Gesetzgeber habe gewährleisten wollen, „dass die wirksam ausgeübte fristlose Kündigung unter den dort genannten Voraussetzungen trotz ihrer Gestaltungswirkung rückwirkend als unwirksam gelte und der Mietvertrag fortgesetzt werde. In einer solchen Situation komme eine gleichzeitig mit einer fristlosen Kündigung wegen Zahlungsverzuges hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung zur Geltung. Denn ein Vermieter, der neben einer fristlosen Kündigung hilfsweise oder vorsorglich eine ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen eines aufgelaufenen Zahlungsrückstands ausspreche, erkläre diese nicht nur für den Fall einer bereits bei Zugang des Kündigungsschreibens gegebenen Unwirksamkeit der vorrangig erfolgten fristlosen Kündigung. Vielmehr bringe er damit aus objektiver Mietersicht regelmäßig weiterhin zum Ausdruck, dass die ordentliche Kündigung auch dann zum Zuge kommen solle, wenn die zunächst wirksam erklärte fristlose Kündigung aufgrund eines gesetzlich vorgesehenen Umstandes wie einer unverzüglichen Aufrechnung durch den Mieter (§ 543 Abs. 2 Satz 3 BGB), einer sog. Schonfristzahlung oder einer Verpflichtungserklärung einer öffentlichen Stelle (§ 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB) nachträglich unwirksam werde.“

BGH, Urteil vom 14.09.2018 – V ZR 213/17
„Änderungen eines Grundstückskaufvertrags nach der Auflassung sind formlos möglich, wenn die Auflassung bindend geworden ist. (Leitsatz)“
Der BGH bestätigte mit dieser Entscheidung seine ständige Rechtsprechung (u.a. BGH, Urteil v. 28.09.1984 – V ZR 43/83, WM 1984, 1539). Ein Grundstückskaufvertrag unterliegt grundsätzlich dem Formerfordernis der notariellen Beurkundung gem. § 311b Abs. 1 S. 1 BGB. Dies gilt auch für nachträgliche Änderungen des beurkundeten Kaufvertrags. Nach der Auflassung ist dies jedoch anders:

„Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Grundstückskaufverträge nach der Auflassung formlos abgeändert werden, weil die Verpflichtung zur Eigentumsübertragung mit der Auflassung erfüllt ist und deshalb nicht mehr besteht. Von der Formfreiheit ausgenommen ist die Begründung neuer selbständiger Erwerbspflichten.“  (Nachweise in Zitat ausgelassen)  

BGH, Beschluss v. 04.09.2018 – VIII ZB 70/17
Zum Verschulden eines Prozessbevollmächtigten bei Fristversäumnis

„Dem Prozessbevollmächtigten einer Partei ist ein – ihr zuzurechnendes – Verschulden an der Fristversäumung dann nicht anzulasten, wenn zwar die allgemeinen organisatorischen Vorkehrungen oder Anweisungen für eine Fristwahrung unzureichend sind, er aber einer Kanzleikraft, die sich bislang als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte. Gleiches gilt, wenn die konkrete Einzelanweisung zwar nicht allein, jedoch in Verbindung mit einer allgemein bestehenden – für sich genommen unzureichenden – Anweisung im Falle der Befolgung beider Anordnungen geeignet gewesen wäre, die Fristversäumung zu verhindern.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 BGH, Urteil vom 30. August 2018 – VII ZR 243/17
Widerrufsrecht bei Werkverträgen
Zum Sachverhalt: Der Kläger schloss in seinem Wohnhaus mit dem Beklagten einen Vertrag über die Lieferung und den Einbau eines Senkrechtlifts zum Preis von ca. 40.000 €. Der Lift ist eine individuelle Maßanfertigung; die einzelnen Teile des Lifts sind an die jeweilige Einbausituation angepasst. Der Kläger zahlt ca. 12.000 € auf den Kaufpreis an. Kurze Zeit später widerruft er den Kaufvertrag.
Dabei stellten sich zwei maßgebliche Fragen, die der BGH wie folgt beantwortet:
Ausschluss des Widerrufsrechts? – Verhältnis von § 312 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu § 357 BGB:

„Das Widerrufsrecht des Klägers ist nicht nach § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB ausgeschlossen. […] Diese Regelung findet keine Anwendung, da der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag nicht als Vertrag über die Lieferung von Waren im Sinne des § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB einzustufen ist.
Dem Wortlaut nach umfasst § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB Verträge, die auf die Lieferung von Waren gerichtet sind. Damit werden nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Kaufverträge (§ 433 BGB) und Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge, § 651 BGB) erfasst.“
Damit folgte der BGH dem Berufungsgericht, welches zuvor feststellte: „Auf Dienstleistungen im Sinne der VRRL – worunter etwa auch ein Werkvertrag nach deutschem Recht fällt – ist § 312 g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB nicht anwendbar. Hat der Vertrag eine Dienstleistung zum Gegenstand, besteht auch keine Notwendigkeit das Widerrufsrecht auszuschließen, um den Unternehmer vor Nachteilen zu schützen, die sich daraus ergeben können, dass er vor dem Widerruf mit der Vertragsausführung begonnen hat. Dies schon deshalb, weil die Widerrufsfrist bei einem Vertrag über eine Werk- oder Dienstleistung anders als bei einem Verbrauchsgüterkauf nicht erst mit Lieferung der Ware beginnt (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 BGB), sondern – unter den weiteren gesetzlichen Voraussetzungen – bereits mit Vertragsschluss. Der Unternehmer kann also regelmäßig das Ende der Widerrufsfrist abwarten, bevor er mit der Vertragsausführung beginnt. Es besteht folglich kein Grund, eine analoge Anwendung des § 312 g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB auf Werkverträge in Erwägung zu ziehen. Daneben ist der Unternehmer durch den Anspruch gemäß § 357 Abs. 8 BGB geschützt.“ (OLG Stuttgart, Urteil v. 19.09.2018 – 6 U 76/16, juris, Nachweise in Zitat ausgelassen)

Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB (Verbraucherbauverträge; § 650i BGB):

„Die Anwendbarkeit von § 312g Abs. 1 BGB ist nicht nach § 312 Abs. 2 Nr. 3 BGB ausgeschlossen. Nach dieser Regelung findet § 312g BGB keine Anwendung auf Verträge über erhebliche Umbaumaßnahmen an bestehenden Gebäuden. Hierzu hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass […] der Begriff der erheblichen Umbaumaßnahmen im Sinne des Verbraucherschutzes eng auszulegen sei. Hierunter fielen nur solche Umbaumaßnahmen, die dem Bau eines neuen Gebäudes vergleichbar seien, beispielsweise Baumaßnahmen, bei denen nur die Fassade eines alten Gebäudes erhalten bliebe. Maßgeblich seien mithin Umfang und Komplexität des Eingriffs sowie das Ausmaß des Eingriffs in die bauliche Substanz des Gebäudes.“

BGH, Urteil v. 24.08.2018 – III ZR 192/17
Tickets zum Selberausdrucken – Eventim – „print@home“-Servicegebühr ist unzulässig
Die von Eventim verwendeten Allgemeinen Geschäftsbedingung: „Premiumversand 29,90 EUR inkl. Bearbeitungsgebühr“ und „ticketdirect – das Ticket zum Selbst-Ausdrucken Drucken Sie sich ihr ticketdirect einfach und bequem selber aus! 2,50 EUR“ sind mit der grundsätzlichen Regelung von der abgewichen wird nicht vereinbar (§ 307 Abs. 2 BGB), benachteiligen den Käufer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen und sind daher unwirksam (§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB).
Die Optionen Premiumversand und ticketdirekt seien nicht als Entgeltvereinbarungen für die geschuldete Hauptleistung zu qualifizieren, sondern vielmehr als kontrollfähige Preisnebenabreden zur Erfüllung der kaufvertraglichen Hauptpflicht. Sie seien jedoch mit der Regelung in § 448 Abs. 1 BGB nicht vereinbar:

„Nach § 448 Abs. 1 BGB hat der Kunde nur die Kosten der Versendung der gekauften Eintrittskarte nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort zu tragen. Versendungskosten im Sinne dieser Norm sind in erster Linie die unmittelbar transportbedingten Sachaufwendungen für Porto, Verpackung und gegebenenfalls Versicherung des Kaufgegenstandes. Dagegen gewährt die Vorschrift grundsätzlich keine Kompensation für die Zeit und den sonstigen Aufwand des Verkäufers, den Kaufgegenstand transportgerecht zu verpacken und zum Versand aufzugeben. Setzt der Verkäufer hierfür Personal und Maschinen ein, gilt nichts anderes. Denn (anteilige) Personal- und Sachkosten, die nicht unmittelbar der Verpackung und dem Versand der Ware zugeordnet werden können, sind allgemeine Geschäftsunkosten, die der Verkäufer im Hinblick auf das Gebot der Unentgeltlichkeit von Nebenleistungen, die der Erfüllung seiner kaufvertraglichen Hauptleistungspflicht dienen und daher in seinem eigenen Interesse liegen, nicht auf den Käufer abwälzen kann.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

Es sei auch nicht erkennbar, welche Aufwendungen von der Servicegebühr von 2,50 € abgedeckt würde, da insoweit weder Porto- noch Verpackungskosten entstünden.
Auch der für den Premiumversand verlangte Betrag für 29,90 € übersteige den Preis für Porto und Verpackungskosten nicht nur unerheblich, selbst dann, wenn es sich um einen Eilbrief bzw. eine versicherte Sendung handelte, sodass die „Betragshöhe […] damit ganz überwiegend von der ausdrücklich inkludierten ‚Bearbeitungsgebühr‘ bestimmt“ werde. Das BAG sieht darin „jedenfalls angesichts der beträchtlichen Höhe der ‚Bearbeitungsgebühr‘ eine unangemessene Benachteiligung des Kunden.“
BGH, Urteil v. 22.08.2018 – VIII ZR 99/17
Wohnraummiete – Instandhaltungspflicht des Vermieters

Leitsatz: „Für das Bestehen der Pflicht des Vermieters, die Wohnung gemäß § 535 Abs. 1 S. 2 BGB zum vertragsgemäßen Gebrauch zu überlassen und sie fortlaufend in diesem Zustand zu erhalten, ist es unerheblich, ob der Mieter die Sache tatsächlich nutzt und ihn ein Mangel daher subjektiv beeinträchtigt.“

BGH, Urteil v . 22.8.2018 – VIII ZR 277/16

Leitsatz: „Im Falle einer dem Mieter unrenoviert oder renovierungsbedürftig überlassenen Wohnung hält die formularvertragliche Überwälzung der nach der gesetzlichen Regelung (§ 535 Abs. 1 Satz 2 BGB) den Vermieter treffenden Verpflichtung zur Vornahme laufender Schönheitsreparaturen der Inhaltskontrolle am Maßstab des § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht stand, sofern der Vermieter dem Mieter keinen angemessenen Ausgleich gewährt, der ihn so stellt, als habe der Vermieter ihm eine renovierte Wohnung überlassen“

Der BGH bestätigte damit seine bisherige Rechtsprechung (siehe BGH, Urteil v. 18.03.2015 – VIII ZR 185/14, BGHZ 204, 302).
BGH, Urteil v. 19.07.2018 – VII ZR 19/18
Abgrenzung Kauf- und Werkvertrag – Vertrag über Lieferung und Einbau einer Küche
Der BGH entschied, dass es für die rechtliche Einordnung darauf ankommt, auf welchem Element bei gebotener Gesamtbetrachtung der Schwerpunkt liege:

„Je mehr die mit dem Warenumsatz verbundene Übertragung von Eigentum und Besitz der zu montierenden Sache auf den Vertragspartner im Vordergrund steht und je weniger dessen individuelle Anforderungen und die geschuldete Montage- und Bauleistung das Gesamtbild des Vertragsverhältnisses prägen, desto eher ist die Annahme eines Kaufvertrags mit Montageverpflichtung geboten. Liegt der Schwerpunkt dagegen auf der Montage- und Bauleistung, etwa auf Einbau und Einpassung einer Sache in die Räumlichkeit, und dem damit verbundenen individuellen Erfolg, liegt ein Werkvertrag vor.“

BGH, Urteil v. 12.07.2018 – III ZR 183/17,
Anspruch des Erben auf Zugang zu Benutzerkonto bei Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks

Leitsatz: „Beim Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks geht der Nutzungsvertrag grundsätzlich nach § 1922 BGB auf dessen Erben über. Dem Zugang zu dem Benutzerkonto und den darin vorgehaltenen Kommunikationsinhalten stehen weder das postmortale Persönlichkeitsrecht des Erblassers noch das Fernmeldegeheimnis oder das Datenschutzrecht entgegen.“

Siehe hierzu bereits die ausführliche Urteilsbesprechung von Sebastian Rombey.
OLG Schleswig-Holstein, Urteil v. 04.07.2018 – 12 U 87/17
Zur Frage: Wann ist ein Pferd ein „gebrauchte Sache“ im Sinne der §§ 474 Abs. 2 S. 2, 476 Abs. 2 BGB

Leitsatz: „Bei einem zum Zeitpunkt der Versteigerung zweieinhalb Jahre alten Hengst handelt es sich um eine gebrauchte Sache im Sinne des § 474 Absatz 2 S. 2 BGB.“

Siehe hierzu bereits die ausführliche Urteilsbesprechung von Yannik Beden, M.A.

11.10.2018/1 Kommentar/von Dr. Matthias Denzer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Matthias Denzer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Matthias Denzer2018-10-11 10:00:442018-10-11 10:00:44Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Juli – September 2018)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2017)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Die Vorlesungszeit des Sommersemesters ist beendet und die Semesterferien stehen vor der Tür. Nichtsdestotrotz wollen wir euch mit unserem neuen Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von ausgesuchten Entscheidungen vorstellen, die das Gericht in den vergangenen Monaten getroffen hat und bislang veröffentlicht worden sind.
Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung der folgenden Urteile und Beschlüsse solltet ihr zumindest in den Grundzügen wissen, worum es in der Sache jeweils geht. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein. Teilweise ergibt sich auch eine Relevanz für die einschlägigen Schwerpunktbereiche.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller und bereits veröffentlichter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
 
Beschluss vom 08. Februar 2017 – 1 BvR 2973/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das Verfassungsgericht führte in diesem Beschluss im Wesentlichen aus, dass wegen eines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen ist. Weiterführend sei insoweit auf unseren Artikel vom 7. April 2017 verwiesen.
 
Beschluss vom 28. März 2017 – 1 BvR 1384/16 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss gab das BVerfG einer gegen die Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung gerichteten Verfassungsbeschwerde statt und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurück. Im Wesentlichen führte das Verfassungsgericht aus, dass die Strafgerichte den Sinngehalt einer zu beurteilenden Äußerung zutreffend zu erfassen hätten und sich zudem auf der Ebene der Abwägung mit der Frage auseinandersetzen müssten, welche Bedeutung der Meinungsfreiheit für die zu treffende Entscheidung zukommt.
 
Beschluss vom 29. März 2017 – 2 BvL 6/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Für das Steuerrecht und für einen entsprechenden Schwerpunktbereich besonders relevant, hat das BVerfG mit diesem Beschluss entschieden, dass die Regelung in § 8c S. 1 Körperschaftsteuergesetz (KStG), wonach der Verlustvortrag einer Kapitalgesellschaft anteilig wegfällt, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 % und bis zu 50 % der Anteile übertragen werden (schädlicher Beteiligungserwerb), mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) im Hinblick auf den Grundsatz der Steuergerechtigkeit unvereinbar ist. Gleiches gilt für die wortlautidentische Regelung in § 8c I S. 1 KStG in ihrer bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung.
 
Beschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Obwohl die unzulässige Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, hat das BVerfG gleichwohl ausgeführt, dass im Ausnahmefall bei einer notwendigen Gefährdungslage, dh in einer notstandsähnlichen Situation, ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung bestehen kann, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen Erkrankung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen, eine andere Behandlungsmethode aber eine Aussicht auf Besserung verspricht. Daher ist Anknüpfungspunkt eines solchen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruchs einzig das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage.
 
Beschluss vom 13. April 2017 – 1 BvR 610/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Ausschlussregelung wegen der Beteiligung eines Bundesverfassungsrichters an der Sache sei an dieser Stelle auf unseren Artikel vom 22. Mai 2017 verwiesen.
 
Beschluss vom 13. April 2017 – 2 BvL 6/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG entschied mit diesem Beschluss, dass das Kernbrennstoffsteuergesetz (KernbrStG) mit dem Grundgesetz unvereinbar und damit nichtig ist, da dem Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass des KernbrStG fehlt. Die Kernbrennstoffsteuer lasse sich nicht dem Typus der Verbrauchsteuer im Sinne des Art. 106 GG zuordnen. Außerhalb der durch das Grundgesetz vorgegebenen Kompetenzordnung haben Bund und Länder jedoch kein Steuererfindungsrecht.
 
Beschluss vom 08. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Eilrechtsschutz im gerichtlichen Verfahren gegen die Ablehnung eines Asylantrags und die Androhung der Abschiebung nach Griechenland. Das BVerfG führte in dem Beschluss aus, dass die fachgerichtliche Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem Drittstaat, wenn jedenfalls Anhaltspunkte für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorlägen und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert sei, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage zu beruhen hätten. Soweit entsprechende Informationen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und auch nicht eingeholt werden können, sei es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) geboten, dem Betroffenen Eilrechtsschutz zu gewähren.
 
Beschluss vom 14. Juni 2017 – 2 BvQ 29/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Dass BVerfG hat mit diesem Beschluss die in den Medien viel diskutierten Eilanträge der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN betreffend die Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare abgelehnt. In der Sache richteten sich die Anträge richten gegen die unterbliebene Beschlussfassung über die entsprechenden Gesetzentwürfe durch den zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Einem Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung steht entgegen, dass die Hauptsache jedenfalls offensichtlich unbegründet wäre, denn dem Vorbringen der Bundestagsfraktion könne eine missbräuchliche Handhabung des Gesetzesinitiativrechts und damit eine Verletzung des Befassungsanspruchs des Gesetzesinitianten nicht entnommen werden.
Die Thematik hat sich durch den Bundestagsbeschluss vom 30.06.2017 vorerst ohnehin erledigt. Insgesamt ist dies daher ein gutes Beispiel dafür, wie träge aber auch schnelllebig die politische Entscheidungsfindung sein kann, weswegen ihr hier – v.a. für die mündliche Prüfung – auf dem Laufenden bleiben müsst.
 
Beschluss vom 22. Juni 2017 – 1 BvR 666/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG im Wege der einstweiligen Anordnung auf Antrag der Beschwerdeführerin die Vollstreckung aus einem Urteil des OLG Hamburg einstweilen eingestellt. Mit dem vorangegangenen Urteil war der Beschwerdeführerin auferlegt worden, einen „Nachtrag“ zu einem im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erschienenen Artikel abzudrucken. Im Sinne einer Folgenabwägung sei dem Kläger des Ausgangsverfahrens ein weiterer Aufschub bei der Vollstreckung eher zumutbar als es die Verpflichtung zum sofortigen Abdruck für die Antragstellerin wäre.
 
Beschluss vom 28. Juni 2017 – 1 BvR 1387/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Im Wege der einstweiligen Anordnung hat das BVerfG durch Beschluss der Stadt Hamburg aufgegeben, über die Duldung des im Stadtpark geplanten Protestcamps versammlungsrechtlich zu entscheiden. Nicht Gegenstand der Entscheidung ist dabei jedoch die Frage, ob und wieweit das Protestcamp in Blick auf die öffentliche Sicherheit beschränkt oder möglicherweise auch untersagt werden kann.
 

30.06.2017/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2017-06-30 10:00:402017-06-30 10:00:40BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2017)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2017)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Die Sonne zeigt sich und der Frühling erwacht endlich wieder. Damit wird es aber auch Zeit, euch mit dem ersten Rechtsprechungsüberblick in diesem Jahr wieder eine Reihe von ausgesuchten und bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, die das Gericht in den vergangenen Monaten getroffen hat.
Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung der folgenden Urteile und Beschlüsse solltet ihr zumindest in den Grundzügen wissen, worum es in der Sache jeweils geht. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein. Teilweise ergibt sich auch eine Relevanz für die einschlägigen Schwerpunktbereiche.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller und bereits veröffentlichter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
 
Beschluss vom 16. Dezember 2016 – 2 BvR 349/16
Zum Einstieg eine nicht bedeutsame aber immerhin amüsante Entscheidung zum Schmunzeln:
Die Entscheidung kurz vor Weihnachten betrifft die Nichtzulassung einer Volksabstimmung über den Austritt Bayerns aus der BRD in Bayern und gegen die Bestimmung, dass die Volksabstimmung im ganzen Bundesgebiet und nicht nur in Bayern durchgeführt werden müsste.
 
Beschluss vom 23. Dezember 2016 – 1 BvR 1723/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderung an die ordnungsgemäße Erschöpfung des Rechtswegs und die substantiierte Darlegung einer möglichen Grundrechtsverletzung. Dazu sei auf die erläuternden Ausführungen aus der o.a. Pressemitteilung verwiesen:
Zur Erschöpfung des Rechtsweges:

Eine Verfassungsbeschwerde ist in der Regel unzulässig, wenn ein Rechtsmittel ‑ hier die Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision ‑, durch dessen Gebrauch die behaupteten Grundrechtsverstöße hätten ausgeräumt werden können, aus prozessualen Gründen erfolglos bleibt. Dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Beschreitung des Rechtswegs von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig zu machen. Auch wenn die Verwerfung einer Nichtzulassungsbeschwerde als solche nicht in jedem Falle ausreicht, um von der Unzulässigkeit auch der nachfolgenden Verfassungsbeschwerde auszugehen, muss ein Beschwerdeführer in der Verfassungsbeschwerde seinen Vortrag im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren jedenfalls im Wesentlichen mitteilen, so dass für das Bundesverfassungsgericht nachvollziehbar wird, ob die Nichtzulassungsbeschwerde offenbar unzulässig war und ob der Beschwerdeführer die verfassungsrechtliche Problematik zumindest der Sache nach dem Rechtsmittelgericht unterbreitet hat. Das ist hier nicht ausreichend geschehen.

Zur substantiierten Darlegung einer möglichen Grundrechtsverletzung:

Im Übrigen hat der Beschwerdeführer eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Insbesondere hat er sich hinsichtlich seiner Einbeziehung in die gesetzliche Unfallversicherung nicht mit den vom Bundesverfassungsgericht bereits entwickelten Maßstäben zur Pflichtversicherung von Nebenerwerbs- oder Hobbylandwirten auseinandergesetzt.

 
Beschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 1593/16
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB. Der Beschwerdeführer hatte bei einem Versandhandel einen Aufnäher mit den Buchstaben A.C.A.B. sowie zwei Aufnäher mit den Zahlen 13 und 12 bestellt und befestigte diese auf einer Weste. Mit dieser Weste ausgestattet, wollte er ein Fußballspiel der zweiten Bundesliga besuchen, wurde jedoch bei der Einlasskontrolle polizeilich kontrolliert und durchsucht, weil den Beamten die Aufnäher aufgefallen waren. Das zuständige Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 80 €. Der Beschwerdeführer wendete sich schließlich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die auf das Urteil des Amtsgerichts folgenden Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts und rügt die Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Von Bedeutung sind die folgenden Ausführungen aus den Entscheidungsgründen des BVerfG:

Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe (Anm.: zu Art. 5 I 1 GG) haben die Gerichte durch die Annahme einer hinreichenden Individualisierung des negativen Werturteils verkannt. Sie kommen in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise zu dem Ergebnis, dass sich die hier in Rede stehende Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht. Hierfür reicht es nicht, dass die im Stadion eingesetzten Polizeikräfte eine Teilgruppe aller Polizistinnen und Polizisten sind. Vielmehr bedarf es einer personalisierten Zuordnung. Worin diese liegen soll, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. Für eine Konkretisierung ist nicht erforderlich, dass die eingesetzten Polizeibeamten und Polizeibeamtinnen dem Beschwerdeführer namentlich bekannt sind. Es genügt aber nicht, dass der Beschwerdeführer das Fußballspiel in dem Bewusstsein, dass Einsatzkräfte der Polizei anwesend sein würden, besuchte. Es fehlen Feststellungen dazu, dass sich der Beschwerdeführer bewusst in die Nähe der Einsatzkräfte der Polizei begeben hat, um diese mit seiner Parole zu konfrontieren. Der bloße Aufenthalt im Stadion im Bewusstsein, dass die Polizei präsent ist, genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine erkennbare Konkretisierung der Äußerung auf bestimmte Personen nicht. Es ist hieraus nicht ersichtlich, dass die Äußerung sich individualisiert gegen bestimmte Beamte richtet.

 
Beschluss vom 17. Januar 2017 – 2 BvL 1/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss entschieden, dass die im Besoldungsrecht des Landes Rheinland-Pfalz vorgesehene „Wartefrist“, wonach ein Beamter oder Richter, dem ein Amt ab den Besoldungsgruppen B 2 oder R 3 übertragen worden ist, für die Dauer von zwei Jahren das Grundgehalt der nächstniedrigeren Besoldungsgruppe erhält, mit Artikel 33 Abs. 5 GG unvereinbar und damit nichtig ist.
 
Beschlüsse vom 17. Januar 2017 – 2 BvL 2/14 u.a.
Von Interesse für die Studenten älteren Semesters:
Die Verfahren betreffen die Rückmeldegebühren des Landes Brandenburg gemäß § 30 Abs. 1a Satz 1 des Gesetzes über die Hochschulen des Landes Brandenburg (Brandenburgisches Hochschulgesetz – BbgHG) idF des Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 – HStrG 2000) vom 28. Juni 2000. Die Regelung der Rückmeldegebühren ist mir Art. 2 Abs. 1 iVm den Art. 104a ff. GG sowie mit Art. 3 Abs. 1 des GG unvereinbar und nichtig, soweit danach bei jeder Rückmeldung Gebühren von 100 Deutschen Mark beziehungsweise 51 Euro pro Semester erhoben wurden.
 
Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
In der Entscheidung zum NPD-Verbotsverfahren sei auf unseren Artikel vom 20. Januar 2017 verwiesen.
 
Beschlüsse vom 9. Februar 2017 – 1 BvR 2897/14 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die hier getroffenen Entscheidungen ergingen zur Abbildung von Prominenten im öffentlichen und im privaten Raum durch die Presse. Die wesentlichen Erwägungen seien der o.a. Pressemitteilung wie folgt entnommen:

Die Zivilgerichte müssen im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung das Gewicht der Pressefreiheit bei der Berichterstattung über Ereignisse, die von großem öffentlichen Interesse sind, ausreichend berücksichtigen. Von Bedeutung ist dabei unter anderem, ob sich die abgebildete Person im öffentlichen Raum bewegt. Betrifft die visuelle Darstellung die Privatsphäre oder eine durch räumliche Privatheit geprägte Situation, ist das Gewicht der Belange des Persönlichkeitsschutzes erhöht. Über die sich hieraus näher ergebenden Anforderungen hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in zwei heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden.

 
Beschluss vom 22. Februar 2017 – 1 BvR 2875/16 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die im Ergebnis unzulässige Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichteinhaltung der Beschwerdefrist. Die Beschwerdeführerin wendete sich vorliegend gegen eine in NRW zum 1. Januar 2016 in Kraft getretene Vorschrift, wobei die Vorgängervorschrift zu der angegriffenen Regelung allerdings bereits zum 1. März 1998 in Kraft getreten war. Das BVerfG führte im Grundsatz dazu aus, dass rein redaktionelle Änderungen eines Gesetzes, die den materiellen Gehalt und den Anwendungsbereich einer Norm nicht berühren, die Frist zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde nicht neu in Lauf setzen können. Die Verfassungsbeschwerde wurde daher nicht zur Entscheidung angenommen.
 
Beschluss vom 08. März 2017 – 2 BvR 483/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die erfolglose Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim am 18. Februar 2017 in Oberhausen. Das BVerfG führte im Hinblick auf Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen aus, dass diese weder von Verfassungs wegen noch nach einer allgemeinen Regel des Völkerrechts einen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet hätten und sich in ihrer amtlichen Eigenschaft auch nicht auf Grundrechte berufen könnten. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch bereits deshalb unzulässig, weil der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dargelegt konnte, dass er vorliegend selbst betroffen ist.
Zu dieser Thematik sei im Übrigen auf unseren Artikel vom 11. März 2017 verwiesen.
 

31.03.2017/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2017-03-31 11:00:492017-03-31 11:00:49BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2017)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (4. Quartal/2016)

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Gleich zum Start in das neue Jahr stellen wir euch mit diesem Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von ausgesuchten und bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, die das Gericht in den letzten Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten. Dargestellt werden lediglich die bereits veröffentlichten Entscheidungen.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschluss vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss die Anforderungen an die Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wie der Pressemitteilung zu entnehmen ist, wie folgt konkretisiert:

Droht bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Grundrechtsverletzung, die durch eine stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so darf sich das Fachgericht im Eilverfahren grundsätzlich nicht auf eine bloße Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen beschränken. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert dann vielmehr regelmäßig eine über die sonst übliche, bloß summarische Prüfung des geltend gemachten Anspruchs hinausgehende, inhaltliche Befassung mit der Sach- und Rechtslage.

In dem Verfahren wendete sich die Beschwerdeführerin gegen die sofortige Vollziehung einer vorzeitigen Besitzeinweisung.
Im Übrigen sei auf unseren Artikel vom 20. Oktober 2016 verwiesen.
 
Beschlüsse vom 20. September 2016 – 1 BvR 1140/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Für den ein oder anderen Studenten im Schwerpunktbereich relevant, hat das BVerfG mit diesem Beschluss mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das im August 2014 in Kraft getretene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG 2014) nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführer wendeten sich in diesem Verfahren gegen die Deckelung der Strommenge, für die Betreiber von Bestandsbiogasanlagen ihren Vergütungsanspruch in voller Höhe geltend machen können (§ 101 I EEG 2014), sowie gegen die Beschränkung der Substrate, für deren Verwendung in Biogasanlagen ein zusätzlicher sog. „Landschaftspflegebonus“ bezahlt wird (§ 101 I Nr. 1 EEG 2014). Zwar würden beide angegriffenen Neuregelungen eine „unechte“ Rückwirkung entfalten. Diese verletzten allerdings nicht das verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen der Beschwerdeführer.
 
Beschluss vom 20. September 2016 – 2 BvR 2453/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zum Grundsatz der Bestenauslese bei Bundesrichterwahlen, hat das BVerfG mit folgenden Leitsätzen ausgeführt:

1. Die Berufung von Richtern an den obersten Gerichtshöfen des Bundes ist an Art. 33 Abs. 2 GG zu messen. Das durch Art. 95 Abs. 2 GG vorgegebene Wahlverfahren bedingt jedoch Modifikationen gegenüber rein exekutivischen Auswahl- und Beförderungsentscheidungen.

 

2. Die Mitglieder des Richterwahlausschusses haben bei ihrer Entscheidung die Bindung des zuständigen Ministers an Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten. Der eigentliche Wahlakt unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle.

 

3. Der zuständige Minister hat sich bei seiner Entscheidung den Ausgang der Wahl grundsätzlich zu eigen zu machen, es sei denn, die formellen Ernennungsvoraussetzungen sind nicht gegeben, die verfahrensrechtlichen Vorgaben sind nicht eingehalten oder das Ergebnis erscheint nach Abwägung aller Umstände und insbesondere vor dem Hintergrund der Wertungen des Art. 33 Abs. 2 GG nicht mehr nachvollziehbar.

 

4. Der Minister muss begründen, wenn er seine Zustimmung verweigert oder wenn er der Wahl eines nach der Stellungnahme des Präsidialrats oder den dienstlichen Beurteilungen nicht Geeigneten zustimmt.

 
Beschluss vom 20. September 2016 – 2 BvE 5/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Parteifähigkeit der G 10-Kommission im Organstreitverfahren, im Zusammenhang mit dem Antrag auf Herausgabe der NSA-Selektorenlisten, hat das BVerfG wie folgt ausgeführt:

Die G 10-Kommission ist ein Kontrollorgan eigener Art und im Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG nicht parteifähig. Sie ist weder oberstes Bundesorgan, noch ist sie eine andere durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattete Beteiligte.

 
Beschluss vom 21. September 2016 – 2 BvL 1/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG entschieden, dass die Strafvorschrift in § 10 I und III Rindfleischetikettierungsgesetz (RiFlEtikettG) mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen (Art. 103 II i.V.m. Art. 104 I 1 GG sowie Art. 80 I 2 GG) unvereinbar und damit nichtig ist. Zwar dürfe der Gesetzgeber die Beschreibung eines Straftatbestandes durch Verweisung auf eine andere Vorschrift ersetzen (Blankettstrafgesetz). Die Verweisung in § 10 I RiFlEtikettG ließe jedoch nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen.
Weitergehende Ausführungen findet ihr in unserem Artikel vom 01. Dezember 2016.
 
Beschluss vom 26. September 2016 – 1 BvR 1326/15
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss entschieden, dass § 19 III Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) gegen Artikel 12 I GG verstößt und damit nichtig ist.
 
Beschluss vom 13. Oktober 2016 – 2 BvE 2/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Herausgabe der NSA-Selektorenlisten durch die Bundesregierung an den NSA-Untersuchungsausschuss, hat das BVerfG im Organstreitverfahren entschieden:

1. § 18 Abs. 3 PUAG billigt nicht jeder Minderheit im Untersuchungsausschuss die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren zu. Antragsbefugt ist vielmehr nur die von der konkreten oder potentiellen Einsetzungsminderheit im Deutschen Bundestag im Sinne des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG getragene Ausschussminderheit.
 
2. Das Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsaus-schusses unterliegt Grenzen, die, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben müssen (vgl. BVerfGE 124, 78 <118>). Völkerrechtliche Verpflichtungen können demgemäß keine unmittelbare Schranke des parlamentarischen Beweiserhebungsrechts begründen, da sie als solche keinen Verfassungsrang besitzen.
 
3. Das aus dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses grundsätzlich folgende Recht auf Vorlage der NSA-Selektorenlisten ist nicht durch die Einsetzung der sachverständigen Vertrauensperson und deren gutachterliche Stellungnahme erfüllt.
 
4. Dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses steht das Interesse der Bundesregierung an funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung gegenüber. Zu diesen Aufgaben gehört auch die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste zur Gewährleistung eines wirksamen Staats- und Verfassungsschutzes.
 
5. Hier:
Das Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung überwiegt das parlamentarische Informationsinteresse, weil die vom Beweisbeschluss erfassten NSA-Selektorenlisten aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen nicht ihrer Verfügungsbefugnis unterfallen, ihre Einschätzung, eine nicht konsentierte Herausgabe dieser Listen könne die Funktions- und Kooperationsfähigkeit deutscher Nachrichtendienste erheblich beeinträchtigen, nachvollziehbar ist und sie dem Vorlageersuchen in Abstimmung mit dem Untersuchungsausschuss durch andere Verfahrensweisen so präzise, wie es ohne eine Offenlegung von Geheimnissen möglich gewesen ist, Rechnung getragen hat.

 
Urteil vom 13. Oktober 2016 – 2 BvR 1368/16 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, welche sich gegen eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der EU zur Unterzeichnung, zum Abschluss und zur vorläufigen Anwendung des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA) richteten. Wie aus der Pressemitteilung hervorgeht, habe die Bundesregierung allerdings sicherzustellen,
– dass ein Ratsbeschluss über die vorläufige Anwendung nur die Bereiche von CETA umfassen wird, die unstreitig in der Zuständigkeit der Europäischen Union liegen,
– dass bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache eine hinreichende demokratische Rückbindung der im Gemischten CETA-Ausschuss gefassten Beschlüsse gewährleistet ist, und
– dass die Auslegung des Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch Deutschland ermöglicht.
Sofern diese Maßgaben eingehalten werden, bestünden für die Rechte der Beschwerdeführer sowie für die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages keine schweren Nachteile, die im Rahmen einer Folgenabwägung den Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten erscheinen ließen.
 
Beschluss vom 27. Oktober 2016 – 1 BvR 458/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Befreiungsfestigkeit des besonderen Stilleschutzes am Karfreitag durch Art. 5 HS. 2 Bayerisches Gesetz über den Schutz der Sonn- und Feiertage (FTG), hat das BVerfG mit folgenden Leitsätzen ausgeführt:

1. Die Anerkennung des Karfreitags als gesetzlicher Feiertag sowie seine Ausgestaltung als Tag mit einem besonderen Stilleschutz und die damit verbundenen grundrechtsbeschränkenden Wirkungen sind dem Grunde nach durch die verfassungsrechtliche Regelung zum Sonn- und Feiertagsschutz in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV gerechtfertigt, da sie niemandem eine innere Haltung vorschreiben, sondern lediglich einen äußeren Ruherahmen schaffen.
2. Für Fallgestaltungen, in denen eine dem gesetzlichen Stilleschutz zuwiderlaufende Veranstaltung ihrerseits in den Schutzbereich der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) oder der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) fällt, muss der Gesetzgeber jedoch die Möglichkeit einer Ausnahme von stilleschützenden Unterlassungspflichten vorsehen.

 
Beschluss vom 02. November 2016 – 1 BvR 289/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Dieser Beschluss betrifft die erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die polizeiliche Identitätsfeststellung und Freiheitsentziehung im Rahmen einer Versammlung.
 
Beschlüsse vom 07. November 2016 – 1 BvR 1089/12 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Diese Beschlüsse betreffen die erfolglosen Verfassungsbeschwerden gegen die begrenzte Überführung in der DDR erworbener Rentenansprüche.
 
Beschluss vom 08. November 2016 – 1 BvR 3237/13
Dieser Beschluss betrifft die erfolglose Verfassungsbeschwerde einer Schülerin, welche sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde dagegen wendete, dass ihr eine aus religiösen Gründen begehrte Befreiung vom gemeinsamen, sogenannten koedukativen Schwimmunterricht für Mädchen und Jungen durch die Schulleitung versagt wurde.
 
Beschlüsse vom 22. November 2016 – 1 BvL 6/14 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Eventuell auch für den Schwerpunktbereich relevant, hat das BVerfG mit diesen Beschlüssen zur Beschränkung des Rechtsschutzes im Telekommunikationsgesetz wie folgt entschieden:

Eine Beschränkung des Rechtsschutzes, den ein reguliertes Telekommunikationsunternehmen mit Wirkung für die Vergangenheit gegen Entgeltentscheidungen der Bundesnetzagentur erhalten kann, auf den im Eilverfahren erlangten Rechtsschutz, ist mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur vereinbar, solange und soweit sie erforderlich ist, um den Wettbewerb zu fördern.

 
Urteile vom 06. Dezember 2016 – 1 BvR 2821/11 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesen Urteilen hat das BVerfG entschieden, dass die Regelungen des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 („13. AtG-Novelle“) im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar ist, denn die darin getroffenen Regelungen erwiesen sich weitgehend als eine zumutbare und auch die Anforderungen des Vertrauensschutzes und des Gleichbehandlungsgebots wahrende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums.
Für weitergehende Informationen sei auf unseren Artikel vom 08. Dezember 2016 verwiesen.
 
Beschlüsse vom 14. Dezember 2016 – 2 BvR 2557/16 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Hiermit hat das BVerfG die Abschiebung eines afghanischen Staatsangehörigen aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls ausgesetzt. Laut der Pressemitteilung habe die Kammer die Frage ausdrücklich offen gelassen, ob angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan Abschiebungen derzeit verfassungsrechtlich vertretbar sind. Die Entscheidung beruhe allein auf einer Folgenabwägung, bei der die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung überwiegen würden.
 

01.01.2017/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2017-01-01 14:00:202017-01-01 14:00:20BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (4. Quartal/2016)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (3. Quartal/2016)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Zum Ende des 3. Quartals des Jahres 2016, in dem das Bundesverfassungsgericht fast schon traditionell wieder besonders aktiv und tätig gewesen ist, stellen wir euch mit diesem Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von ausgesuchten Entscheidungen vor, die das Gericht in den letzten Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten. Dargestellt werden lediglich die bereits veröffentlichten Entscheidungen.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschluss vom 28. Juni 2016 – 1 BvR 3388/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Hinsichtlich der Frage, ob Tatsachenbehauptungen verbreitet werden dürfen, die weder erweislich wahr noch unwahr sind, sei von den Fachgerichten eine Abwägungsentscheidung zwischen der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) zu treffen. Die Verfassungsbeschwerde betraf die fachgerichtliche Untersagung einer Äußerung des Beschwerdeführers von Dopingvorwürfen gegen eine Sportlerin. Diese Vorwürfe seien wegen Nichterweislichkeit als „prozessual unwahr“ einzuordnen und überwögen bereits deshalb das Persönlichkeitsrecht der Sportlerin, was vom BVerfG als Verletzung der Meinungsfreiheit gewertet wurde.
 
Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 3487/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) erlangt auch im Rahmen dieser Entscheidung eine Bedeutung, welche eine zivilgerichtliche Verurteilung zum Gegenstand hatte, mit der dem Beschwerdeführer die Behauptung wahrer Tatsachen über einen drei Jahre zurückliegenden Rechtsstreit auf Internet-Portalen untersagt worden war. Den Fachgerichten sei hier jedoch vorzuwerfen, dass diese die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit nicht hinreichend gewürdigt hätten, denn die Schwelle zur Persönlichkeitsrechtsverletzung wird bei der Mitteilung wahrer Tatsachen über die Sozialsphäre regelmäßig erst dann überschritten, wo diese einen Persönlichkeitsschaden befürchten lasse, welcher außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit stehe.
 
Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 2732/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Wiederum zur Reichweite der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) führte das BVerfG in diesem Beschluss aus, dass eine Verkürzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung darin zu sehen sei, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung eingestuft wird, weil die Vermutung zugunsten der freien Rede für Tatsachenbehauptungen nicht in gleicher Weise gelte wie für Meinungsäußerungen im engeren Sinne. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war hier die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen übler Nachrede.
 
Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 2646/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
In der zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerde ging es um strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung. Der Begriff der Schmähkritik sei von Verfassungs wegen aufgrund seines die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) verdrängenden Effekts eng zu verstehen. Schmähkritik gelte als ein Sonderfall der Beleidigung, welcher nur in seltenen Ausnahmekonstellationen gegeben sei, sodass die Anforderungen hieran besonders streng anzulegen sein müssten. Grund ist der, da eine Abwägung mit der Meinungsfreiheit hier – im Gegensatz zu einer Beleidigung – ausnahmsweise nicht stattfinde. Von daher sei die unzutreffende Einstufung einer Äußerung als Schmähkritik ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Fehler, auch wenn die Äußerung im Ergebnis durchaus als Beleidigung bestraft werden dürfe.
Weiterführend sei an dieser Stelle auf unseren Artikel vom 12.08.2016 verwiesen.
 
Beschluss vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 1015/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Bezüglich der (erfolglosen) Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung des „Bestellerprinzips“ bei Maklerprovisionen für Wohnraummietverträge führte das BVerfG aus:

Um sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten entgegenzuwirken, durfte der Gesetzgeber aufgrund seiner Einschätzung der Nachfragesituation auf dem Mietwohnungsmarkt durch Einführung des Bestellerprinzips die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Wohnungsvermittler beschränken, von Wohnungssuchenden ein Entgelt für ihre Vermittlungstätigkeit zu erhalten.

 
Beschluss vom 19. Juli 2016 – 2 BvR 470/08 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen die diskriminierende Preisgestaltung durch ein kommunales Freizeitbad sei auf unseren Artikel vom 24.08.2016 verwiesen.
 
Beschluss vom 26. August 2016 – 2 BvF 1/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
In diesem Normenkontrollverfahren ging es auf Antrag des Berliner Senats um die Löschung der im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten. Aufgrund einer Folgenabwägung wurde diese vom BVerfG vorläufig gestoppt. Die Außervollzugsetzung von § 19 des Zensusgesetzes 2011 gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für sechs Monate.
 
Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur staatlichen Schutzpflicht hinsichtlich der Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute führte das BVerfG mit folgenden Leitsätzen aus:

1.Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt die Schutzpflicht des Staates, für nicht einsichtsfähige Betreute bei drohenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter strengen Voraussetzungen eine ärztliche Behandlung als letztes Mittel auch gegen ihren natürlichen Willen vorzusehen.
2.a) Im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG kann Vorlagegegenstand auch eine Norm sein, bei der das Gericht eine Ausgestaltung vermisst, die nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten ist.
b) Besteht ein gewichtiges objektives Bedürfnis an der Klärung einer durch eine Vorlage aufgeworfenen Verfassungsrechtsfrage, kann die Vorlage trotz Erledigung des Ausgangsverfahrens durch den Tod eines Hauptbeteiligten zulässig bleiben.

 
Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Bezüglich einer (erfolglosen) Verfassungsbeschwerde gegen die Berücksichtigung von Einkommen eines Familienangehörigen bei der Gewährung von Grundsicherung führte das BVerfG aus:

Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenzsichernder Leistungen (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) kann grundsätzlich unabhängig von einem Unterhaltsanspruch das Einkommen und Vermögen von Personen berücksichtigt werden, von denen in der familiären Gemeinschaft zumutbar zu erwarten ist, dass sie tatsächlich füreinander einstehen und „aus einem Topf“ wirtschaften.

 
Beschluss vom 28. Juli 2016 – 1 BvR 335/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss führte das BVerfG aus, dass eine erneute Veröffentlichung von bereits weit verbreiteten Informationen nur in geringerem Maße in das informationelle Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eingreife als dies bei einer erstmaligen Veröffentlichung der Fall sei. Die Erwähnung der Adoptivtöchter des Fernsehmoderators Günther Jauch in der betreffenden Wortberichterstattung sei von diesen hinzunehmen, da dieselbe Information bereits in mehreren, nicht beanstandeten Artikeln veröffentlicht worden war.
 
Beschluss vom 22. August 2016 – 2 BvR 2953/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Bezüglich der richterlichen Ausgestaltung des kartellrechtlichen Diskriminierungsverbots bei der Vergabe von Stromkonzessionen sei auf die Ausführungen aus der erwähnten Pressemitteilung verwiesen:

Gemeinden haben bei der Vergabe von Stromkonzessionen das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot zu beachten. Die Rechtsprechung leitet hieraus das Verbot der direkten Übernahme örtlicher Energieverteilernetze ohne vorherige Ausschreibung (Verbot direkter Aufgabenerledigung), das Verbot, bei der Ausschreibung des Betriebs örtlicher Energieverteilernetze den Betrieb durch eine kommunale Beteiligungsgesellschaft vorzugeben (Systementscheidungsverbot), sowie das Verbot, bei der Auswahl des Betreibers eines örtlichen Energieverteilernetzes spezifische kommunale Interessen zu berücksichtigen (Verbot der Berücksichtigung kommunaler Interessen) ab. Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass es sich bei dieser Rechtsprechung um in Anwendung bestehenden Gesetzesrechts entwickelte Grundsätze handelt, denen nicht die Qualität selbständiger Rechtsnormen zukommt. Deshalb können sie auch nicht im Wege der Kommunalverfassungsbeschwerde gerügt werden.

 

30.09.2016/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2016-09-30 10:00:372016-09-30 10:00:37BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (3. Quartal/2016)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2016)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechungsübersicht, Verfassungsrecht

Gerne stellen wir euch auch wieder zur Halbzeit des Jahres 2016 mit diesem Rechtsprechungsüberblick eine ausgesuchte Reihe der bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, welche das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschluss vom 10. März 2016 – 1 BvR 2844/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte in diesem Beschluss aus, dass die Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG auch die Freiheit umfasst, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist. Der Verfassungsbeschwerde einer Beschwerdeführerin, die sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung gewandt hatte, wurde insoweit stattgegeben.
Siehe auch unseren Artikel vom 02. Mai 2016.
 
Beschluss vom 23. März 2016 – 1 BvR 184/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hielt in dieser Entscheidung fest, dass die Anordnung einer Betreuung ohne persönliche Anhörung durch das Betreuungsgericht nicht nur das Recht auf rechtliches Gehör verletzt, sondern auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG darstellt.
 
Urteil vom 19. April 2016 – 1 BvR 3309/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Bereitstellung eines Verfahrens zur sogenannten rechtsfolgenlosen Klärung der Abstammung gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater erging folgender Leitsatz des BVerfG:

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, neben dem Vaterschaftsfeststellungsverfahren nach § 1600d BGB auch ein Verfahren zur isolierten, sogenannten rechtsfolgenlosen, Klärung der Abstammung von einem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater bereitzustellen.

 
Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Zu den teilweise erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen die Ermittlungsbefugnisse des BKA zur Terrorismusbekämpfung seien folgende Leitsätze angeführt:a) Die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachungen, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikationsverkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) ist zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar.

1. a) Die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachungen, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikationsverkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) ist zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar.
b) Die Ausgestaltung solcher Befugnisse muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Befugnisse, die tief in das Privatleben hineinreichen, müssen auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein, setzen voraus, dass eine Gefährdung dieser Rechtsgüter hinreichend konkret absehbar ist, dürfen sich nur unter eingeschränkten Bedingungen auf nichtverantwortliche Dritte aus dem Umfeld der Zielperson erstrecken, verlangen überwiegend besondere Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sowie einen Schutz von Berufsgeheimnisträgern, unterliegen Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle und müssen mit Löschungspflichten bezüglich der erhobenen Daten flankiert sein.
2. Anforderungen an die Nutzung und Übermittlung staatlich erhobener Daten richten sich nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung.
a) Die Reichweite der Zweckbindung richtet sich nach der jeweiligen Ermächtigung für die Datenerhebung; die Datenerhebung bezieht ihren Zweck zunächst aus dem jeweiligen Ermittlungsverfahren.
b) Der Gesetzgeber kann eine Datennutzung über das für die Datenerhebung maßgebende Verfahren hinaus im Rahmen der ursprünglichen Zwecke dieser Daten erlauben (weitere Nutzung). Dies setzt voraus, dass es sich um eine Verwendung der Daten durch dieselbe Behörde zur Wahrnehmung derselben Aufgabe und zum Schutz derselben Rechtsgüter handelt. Für Daten aus Wohnraumüberwachungen oder einem Zugriff auf informationstechnische Systeme müssen zusätzlich für jede weitere Nutzung auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sein.
c) Der Gesetzgeber kann darüber hinaus eine Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (Zweckänderung).
Die Verhältnismäßigkeitsanforderungen für eine solche Zweckänderung orientieren sich am Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung. Danach muss die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. Eine konkretisierte Gefahrenlage wie bei der Datenerhebung ist demgegenüber grundsätzlich nicht erneut zu verlangen; erforderlich aber auch ausreichend ist in der Regel das Vorliegen eines konkreten Ermittlungsansatzes.
Für Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen darf die Verwendung zu einem geänderten Zweck allerdings nur erlaubt werden, wenn auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sind.
3. Die Übermittlung von Daten an staatliche Stellen im Ausland unterliegt den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen von Zweckänderung und Zweckbindung. Bei der Beurteilung der neuen Verwendung ist die Eigenständigkeit der anderen Rechtsordnung zu achten. Eine Übermittlung von Daten ins Ausland verlangt eine Vergewisserung darüber, dass ein hinreichend rechtsstaatlicher Umgang mit den Daten im Empfängerstaat zu erwarten ist.

 
Urteil vom 03. Mai 2016 – 2 BvE 4/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Besonders bedeutsam ist die Entscheidung des BVerfG zu spezifischen Oppositionsfraktionsrechten im Deutschen Bundestag. Die Leitsätze dazu lauten:

1. Das Grundgesetz enthält einen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition.
2. Das Grundgesetz begründet jedoch weder explizit spezifische Oppositions(fraktions)rechte, noch lässt sich ein Gebot der Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten.
3. Einer Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte steht zudem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen.
4. Einer Absenkung der grundgesetzlich vorgegebenen Quoren eines Drittels (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG) oder Viertels (Art. 23 Abs. 1a Satz 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 1, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) der Mitglieder des Bundestages für die Ausübung parlamentarischer Minderheitenrechte steht die bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers für die bestehenden Quoren entgegen.

Siehe auch unseren Artikel vom 06. Mai 2016.
 
Beschluss vom 06. Mai 2016 – 1 BvL 7/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur unzulässigen Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen sei auf unseren Artikel vom 03. Juni 2016 verwiesen.
 
Beschluss vom 09. Mai 2016 – 1 BvR 2202/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der nachträglichen Einrichtung einer Begräbnisstätte in einer Kirche verweisen wir auf unseren Artikel vom 22. Juni 2016.
 
Beschluss vom 17. Mai 2016 – 1 BvR 257/14 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG kam in diesem Beschluss zu dem Ergebnis, dass die Kundgabe der Buchstabenkombination „ACAB“ im öffentlichen Raum vor dem Hintergrund der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 I 1 GG) nicht ohne weiteres strafbar ist. Eine Verurteilung wegen Beleidigung nach § 185 StGB setze daher voraus, dass sich die Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe beziehe, denn ansonsten sei der Eingriff in die Meinungsfreiheit nicht gerechtfertigt.
 
Beschluss vom 18. Mai 2016 – 1 BvR 895/16 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zu diesem erfolglosen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen einzelne Regelungen des Tabakerzeugnisgesetzes sei auf unseren Artikel vom 20. Mai 2016 verwiesen.
 
Urteil vom 31. Mai 2016 – 1 BvR 1585/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
In einer Aufsehen erregenden Entscheidung über die Verwendung von Samples zur künstlerischen Gestaltung stellte das BVerfG wie folgt fest:

1. Die von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderte kunstspezifische Betrachtung verlangt, die Übernahme von Ausschnitten urheberrechtlich geschützter Gegenstände als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen. Steht dieser Entfaltungsfreiheit ein Eingriff in Urheber- oder Leistungsschutzrechte gegenüber, der die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt, so können die Verwertungsinteressen der Rechteinhaber zugunsten der Kunstfreiheit zurückzutreten haben.
2. Der Schutz des Eigentums kann nicht dazu führen, die Verwendung von gleichwertig nachspielbaren Samples eines Tonträgers generell von der Erlaubnis des Tonträgerherstellers abhängig zu machen, da dies dem künstlerischen Schaffensprozess nicht hinreichend Rechnung trägt.
3. Bei der Kontrolle der fachgerichtlichen Anwendung des Rechts der Europäischen Union prüft das Bundesverfassungsgericht insbesondere, ob das Fachgericht drohende Grundrechtsverletzungen durch Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union abgewehrt hat und ob der unabdingbare grundrechtliche Mindeststandard des Grundgesetzes gewahrt ist.

 
Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Von hoher Brisanz ist auch das mit Spannung erwartete Urteil des BVerfG zu den Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren gegen das OMT-Programm der Europäischen Zentralbank. Dazu folgende Leitsätze:

1. Zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration hat der Bürger grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt.
2. Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die ultra vires ergehen, verletzen das im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm und damit zugleich den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Der Abwendung derartiger Rechtsverletzungen dient das Institut der Ultra-vires-Kontrolle.
3. Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung die Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identitätsverletzung bewirken oder einen Ultra-vires-Akt darstellen, entgegenzutreten.
4. Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn
– das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,
– zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissionsbedingungen verfälscht werden,
– nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,
– die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und
– die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.

 

30.06.2016/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2016-06-30 12:00:032016-06-30 12:00:03BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2016)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2016)

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Gerne stellen wir euch auch wieder für das erste Quartal des Jahres 2016 mit diesem Rechtsprechungsüberblick eine ausgesuchte Reihe der bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, welche das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschluss vom 08. Dezember 2015 – 1 BvR 1864/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde gegen § 3 Satz 1 Nr. 13 des Tierschutzgesetzes (TierSchG), wonach es verboten ist, ein Tier für eigene sexuelle Handlungen zu nutzen oder für sexuelle Handlungen Dritter abzurichten oder zur Verfügung zu stellen und dadurch zu artwidrigem Verhalten zu zwingen, nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführer machten in diesem Zusammenhang geltend, dass sie sich zu Tieren sexuell hingezogen fühlten, der Ordnungswidrigkeitentatbestand jedoch ein Eingriff in ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sei. Angesichts des vom Gesetzgeber verfolgten Schutzzwecks ist der durch das Verbot vermittelte Eingriff allerdings gerechtfertigt, entschied das BVerfG. Damit können entsprechende Verstöße nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 TierSchG weiterhin als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 25.000,00 EUR geahndet werden.
 
Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die vor dem BVerfG erhobene Verfassungsbeschwerde hat die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangenen Strafurteils erlassen wurde, zum Gegenstand. Diesbezüglich führte das Verfassungsgericht in seinem Beschluss aus, dass der Schuldgrundsatz, nach dem jede strafrechtliche Sanktion den Nachweis von Tat und Schuld in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren voraussetzt, in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG wurzelte und daher auch bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils in Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl gewahrt werden müsse. Der durch das BVerfG gewährleistete Grundrechtsschutz könne sich im Einzelfall also auch auf unionsrechtlich determinierte Hoheitsakte erstrecken, wenn dies zur Wahrung der durch Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität unabdingbar geboten sei. Insoweit wurde der Beschluss des OLG Düsseldorf über die Auslieferung des Beschwerdeführers, der in Italien in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden war, aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Siehe auch unseren Artikel vom 10. Februar 2016.
 
Beschluss vom 16. Dezember 2015 – 2 BvR 1958/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Aus beamtenrechtlicher Sicht durchaus interessant, hat das BVerfG mit diesem Beschluss im Rahmen eines eines Konkurrentenstreits entschieden, dass ein Dienstposten mehreren Besoldungsgruppen zugeordnet werden könne, wenn hierfür ein sachlicher Grund besteht. Dazu folgende Leitsätze:

  1. Eine Dienstpostenbündelung (sogenannte Topfwirtschaft) ist nur zulässig, wenn für sie ein sachlicher Grund besteht. Ein solcher sachlicher Grund kann insbesondere dann angenommen werden, wenn der von der Dienstpostenbündelung betroffene Bereich Teil der sogenannten „Massenverwaltung“ ist, bei der Dienstposten in der Regel mit ständig wechselnden Aufgaben einhergehen.

  2. Der Dienstherr muss sich bewusst machen, welche Dienstposten von der Bündelung betroffen sind und welche Aufgaben in dieser Spannweite anfallen. Andernfalls besteht nicht die – für die Zulässigkeit einer Dienstpostenbündelung wiederum erforderliche – Möglichkeit einer angemessenen Leistungsbewertung.

 
Beschluss vom 21. Dezember 2015 – 2 BvR 2347/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Aufgrund einer Folgenabwägung hat das Verfassungsgericht mit diesem Beschluss den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den seit dem 10. Dezember 2015 gültigen § 217 StGB abgelehnt. Demnach macht sich derjenige strafbar, welcher in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, abgelehnt. Die Tat wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
 
Beschluss vom 12. Januar 2016 – 1 BvR 3102/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das Verfassungsgericht hat im Hinblick auf § 56 Abs. 1 Satz 1 Insolvenzordnung (InsO) entschieden, dass der darin geregelte Ausschluss juristischer Personen von der Bestellung zum Insolvenzverwalter mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf folgende Leitsätze:

  1. Der Ausschluss juristischer Personen von der Bestellung zum Insolvenzverwalter durch § 56 Abs. 1 Satz 1 InsO verstößt weder gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) noch gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG).

  2. Mit der Durchsetzung berechtigter Forderungen dient das Insolvenzverfahren auch der Verwirklichung des Justizgewährungsanspruchs und ist in die Garantie effektiven Rechtsschutzes einbezogen.

Siehe auch unseren Artikel vom 03. Februar 2016.
 
Beschluss vom 12. Januar 2016 – 1 BvL 6/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
In einem Verfahren der konkreten Normenkontrolle auf Vorlage des BGH hat das BVerfG in diesem Beschluss entschieden, dass § 59a Abs. 1 Satz 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) insoweit verfassungswidrig und nichtig sei, als er Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten verbietet, sich mit Ärztinnen und Ärzten sowie mit Apothekerinnen und Apothekern zur gemeinschaftlichen Berufsausübung in einer Partnerschaftsgesellschaft zu verbinden. Zu beachten sind folgende Leitsätze:

Das Sozietätsverbot aus § 59a Abs. 1 Satz 1 BRAO verletzt das Grundrecht der Berufsfreiheit, soweit es Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten eine gemeinschaftliche Berufsausübung mit Ärztinnen und Ärzten oder mit Apothekerinnen und Apothekern im Rahmen einer Partnerschaftsgesellschaft untersagt.

 
Beschluss vom 29. Januar 2016 – 1 BvQ 6/16
Das BVerfG hat den hier gegenständlichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung abgelehnt, dass durch das Auferlegung eines Fackelverbots keine Gefährdung des Demonstrationserfolgs in einer einen schweren Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG bewirkenden Weise vorliege. Der Antragstellerin wurde zuvor untersagt, bei dem von ihr angemeldeten Aufzug Gegenstände jeglicher Art mit Ausnahme handelsüblicher Tabakwaren, aber insbesondere Fackeln abzubrennen.
 
Beschluss vom 26. August 2015 – 2 BvF 1/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
In diesem Normenkontrollverfahren hat das BVerfG auf Antrag des Berliner Senats die Löschung der im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten vorläufig gestoppt. Dabei gilt die Außervollzugsetzung von § 19 des Zensusgesetzes 2011 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für sechs Monate.
 
Beschluss vom 17. Februar 2016 – 1 BvL 8/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss ausgeführt, dass die Regelungen über die Akkreditierung von Studiengängen des Landes NRW, wonach Studiengänge durch Agenturen „nach den geltenden Regelungen“ akkreditiert werden müssen, mit dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar seien, denn die wesentliche Entscheidungen zur Akkreditierung von Studiengängen müsse der Gesetzgeber selbst treffen. Dazu folgender Leitsatz:

Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG steht zwar Vorgaben zur Qualitätssicherung von Studienangeboten grundsätzlich nicht entgegen. Wesentliche Entscheidungen zur Akkreditierung darf der Gesetzgeber jedoch nicht weitgehend anderen Akteuren überlassen, sondern muss sie unter Beachtung der Eigenrationalität der Wissenschaft selbst treffen

 

31.03.2016/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2016-03-31 11:30:312016-03-31 11:30:31BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2016)
Christian Muders

Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Strafrecht

Im Folgenden eine Übersicht über im Februar veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 1 StR 373/15
Ein großes Ausmaß im Sinne des Regelbeispiels von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO liegt – entsprechend der Regelbeispiele des Herbeiführens eines Vermögensverlusts großen Ausmaßes gemäß §§ 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 1. Var., 263a Abs. 2, 264 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, 266 Abs. 2, 300 Satz 2 Nr. 1 StGB – bei jeder Steuerhinterziehung über 50.000 Euro vor. Eine Verdoppelung dieses Schwellenwertes bei Vorliegen eines sog. Gefährdungsschaden ist nicht zu begründen, da das Gesetz in § 370 AO nicht zwischen der Gefährdung des Steueranspruchs und dem Eintritt des Vermögensschadens beim Staat unterscheidet. Diese Gleichsetzung findet ihre Rechtfertigung darin, dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führen wird, weil eine nicht festgesetzte Steuer auch nicht beigetrieben werden kann und darf (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
II. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2015 – 4 StR 227/15
Wird über zwei Ordnungswidrigkeiten, die in Tatmehrheit stehen und jeweils mit einem Fahrverbot als Nebenfolge geahndet werden können, gleichzeitig entschieden, so ist nur ein einheitliches Fahrverbot zu verhängen. Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut der Vorschrift des § 20 OWiG, wonach die gesonderte Festsetzung bei Ordnungswidrigkeiten im Fall von Tatmehrheit (nur) für Geldbußen vorgesehen ist, wie auch aus der Entstehungsgeschichte der §§ 20 OWiG, 25 StVG und dem spezialpräventiven Charakter dieser Nebenfolge sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ein solches Verständnis führt in systematischer Hinsicht zudem zu einem Gleichlauf mit dem strafrechtlichen Fahrverbot nach § 44 StGB, bei dem in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt ist, dass auch im Fall der Tatmehrheit gemäß § 53 StGB nur auf ein Fahrverbot zu erkennen ist (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
III. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 525/13
Gegen die Anwendung des Straftatbestandes des § 52 Abs. 2 Nr. 1 VTabakG (Strafdrohung gegen das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen, die zum anderweitigen oralen Gebrauch als Rauchen oder Kauen bestimmt sind und gegen das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen mit nicht zugelassenen Inhaltsstoffen) bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Namentlich wird Art. 103 Abs. 2 GG nicht dadurch verletzt, dass die vorgenannte Regelung als Erfordernis der Strafbarkeit eine Rückverweisung durch Rechtsverordnung (hier: § 6 Abs. 1 TabV, wonach einschränkend nur das gewerbsmäßige Inverkehrbringen erfasst wird) voraussetzt. Auch ein Verstoß wegen unverhältnismäßiger Einschränkung der Freiheit der Berufsausübung nach Art. 12 GG und ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, da generell nur das gewerbsmäßige Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum anderweitigen oralen Gebrauch, nicht aber von solchen zum Rauchen oder Kauen bestraft wird, ist im Ergebnis zu verneinen, da hierfür besondere sachliche Gründe bestehen (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
IV. BGH, Urteil vom 14. Januar 2016 – 4 StR 72/15
Nach der Rechtsprechung des BGH kann im Hinblick auf die deutlich erhöhte Strafdrohung in § 239a Abs. 3 (Erpresserischer Menschenraub mit Todesfolge) – ähnlich wie beim Raub mit Todesfolge nach §251 StGB – von einer leichtfertigen Todesverursachung „durch die Tat“ nur dann ausgegangen werden, wenn nicht nur ein Ursachenzusammenhang im Sinne der Bedingungstheorie gegeben ist, sondern sich im Tod des Opfers auch tatbestandsspezifische Risiken verwirklichen, die typischerweise mit dem Grundtatbestand einhergehen. Die nahe liegende Möglichkeit, dass ein nichtiger Anlass oder ein Missverständnis auf Grund anspannungsbedingter Fehleinschätzung zu einem Gewaltausbruch gegenüber dem Opfer führt (hier: Fehleinschätzung, dass das Opfer auf seinem Laptop eine Nachricht versendet hat und hierauf beruhende Schläge), kann dabei eine tatbestandstypische Gefahr im Sinne des § 239a Abs. 3 StGB darstellen. Denn aus einer sich über eine längere Dauer erstreckenden Bemächtigungslage können psychische Belastungen nicht nur für das Opfer, sondern auch für den Täter folgen, insbesondere wegen der Befürchtung entdeckt zu werden.
– – –
Zum Schluss noch eine prozessuale Entscheidung, die sich mit einem zu Unrecht verworfenen Befangenheitsantrag und damit dem absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO beschäftigt:
V. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2016 – 3 StR 482/15
Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit aufgrund des Inhalts seiner öffentlich zugänglichen Facebook-Seite, auf welcher er unter anderem auf einem Foto ein T-Shirt mit der Aufschrift „Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause: JVA“ trägt, einen Kommentar mit den Worten „Das ist mein ‚Wenn du raus kommst, bin ich in Rente‘-Blick“ hinterlassen hat und auf der seine dienstliche Tätigkeit benannt wird, ist berechtigt. Denn hierdurch wird eine innere Haltung des betroffenen Richters dokumentiert, die bei verständiger Betrachtung besorgen lässt, dieser beurteile die von ihm zu bearbeitenden Strafverfahren nicht objektiv, sondern habe Spaß an der Verhängung hoher Strafen und mache sich über die Angeklagten lustig. Die beschriebene Facebook-Seite enthält auch einen eindeutigen Hinweis auf die berufliche Tätigkeit des Richters und betrifft deshalb nicht lediglich dessen persönliche Verhältnisse.

01.03.2016/1 Kommentar/von Christian Muders
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Christian Muders https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Christian Muders2016-03-01 13:00:132016-03-01 13:00:13Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (4. Quartal/2015)

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (13)
Das neue Jahr wurde von euch allen hoffentlich gut und angemessen eingeläutet, sodass Ihr euch heute wieder auf die ernsten Themen des Lebens konzentrieren könnt, denn mit diesem Rechtsprechungsüberblick stellen wir wieder eine Reihe von ausgesuchten Entscheidungen dar, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten Monaten getroffen hat.
Entscheidungen des Gerichtes in Karlsruhe sollten stets Anlass zum aufmerksamen Studieren geben. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschlüsse vom 06. Oktober 2015 – 1 BvR 1571/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG drei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz abgelehnt. Es bestünden besonders hohe Hürden, sofern ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll. Entsprechend gravierende, irreversible oder nur schwer revidierbare Nachteile, welche den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machten, seien jedoch vorliegend nicht zu erkennen. Auch sei nicht absehbar, dass den Beschwerdeführern bei Fortgeltung des Tarifeinheitsgesetzes bis zur Entscheidung in der Hauptsache das Aushandeln von Tarifverträgen längerfristig unmöglich würde oder sie im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl oder ihre Tariffähigkeit in ihrer Existenz bedroht wären.
 
Beschluss vom 07. Oktober 2015 – 1 BvR 1962/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte in diesem Beschluss aus, dass die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für die Einlegung und Begründung eines Widerspruchs nicht mit dem pauschalen Hinweis darauf abgelehnt werden dürfe, die antragstellende Person hätte den Widerspruch selbst einlegen können. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Ablehnungsgrund des § 1 I Nr. 2 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG). Im konkreten Fall sei eine Verletzung von Art. 3 I i.V.m. Art. 20 I und III GG hinsichtlich der Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten auch im außergerichtlichen Bereich gegeben.
 
Beschlüsse vom 07. Oktober 2015 – 2 BvR 413/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
In mehreren Beschlüssen führte das BVerfG aus, dass gleich 11 Verfassungsbeschwerden gegen das Sächsische Besoldungsgesetz, wonach das Grundgehalt der A-Besoldung anhand der tatsächlich geleisteten Dienstzeiten und der erbrachten Leistung bemessen sein, jedoch eine bestehende Stufenzuordnung aufgrund des bislang maßgeblichen Besoldungsdienstalters erhalten bleiben solle, kein Erfolg beschieden sei. Während die rückwirkende Neuregelung des Besoldungsrechts sowie die in der Überleitungsvorschrift vorgesehene Besitzstandswahrung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien, würden die Grundrechte der Beschwerdeführer auch durch die Revisionsentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht verletzt.
 
Beschluss vom 02. November 2015 – 1 BvR 1530/15 u.a.; Beschluss vom 03. November 2015 – 1 BvR 1766/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Den vorliegenden Beschlüssen des BVerfG zu Folge, hätten Juristische Personen des Privatrechts ihre Grundrechtsfähigkeit in einer Verfassungsbeschwerde jedenfalls dann näher darzulegen, wenn es aufgrund der äußeren Umstände nahe liege, dass sie von der öffentlichen Hand beherrscht werden oder öffentliche Aufgaben wahrnehmen würden.
 
Beschluss vom 07. November 2015 – 2 BvQ 39/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Der Bundesministerin für Bildung und Forschung (Prof. Dr. Johanna Wanka) wurde durch Beschluss des BVerfG nach erfolgreichem Antrag der Partei „Alternative für Deutschland“ auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgegeben, die Pressemitteilung mit dem Titel „Rote Karte für die AfD“ aus dem Internetauftritt ihres Bundesministeriums zu entfernen. Es sei nicht auszuschließen, dass die Antragsgegnerin das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 GG durch Nutzung der Ressourcen ihres Ministeriums für den politischen Meinungskampf verletzt haben könnte.
 
Beschluss vom 17. November 2015 – 2 BvL 19/09 (siehe auch die Pressemitteilung)
Anknüpfend an das Urteil zur Besoldung der Richter und Staatsanwälte (R-Besoldung) vom 5. Mai 2015 (siehe unsere Notiz vom 05.05.2015) führte das BVerfG mit Beschluss über vier Richtervorlagen zur Beamtenbesoldung aus, dass die Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe A 10 in Sachsen im Jahr 2011 mit Art. 33 V GG unvereinbar und damit verfassungswidrig gewesen seien. Dagegen seien die Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe A 9 in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2003 und 2004 sowie A 12 und A 13 im Jahr 2003 mit Art. 33 V GG vereinbar gewesen, ebenso die Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe A 9 in Niedersachsen im Jahr 2005.
 

02.01.2016/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2016-01-02 12:00:112016-01-02 12:00:11BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (4. Quartal/2015)
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (3. Quartal/2015)

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Zum Ende des 3. Quartals des Jahres 2015, in dem das Bundesverfassungsgericht besonders aktiv und tätig war, stellen wir euch mit diesem Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von ausgesuchten Entscheidungen vor, die das Gericht in den letzten Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
 
Urteil vom 2. Juni 2015 – 2 BvE 7/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das vorliegende Urteil im Rahmen des Organstreitverfahrens hat das parlamentarische Informationsrecht über Unterstützungseinsätze der Bundespolizei zum Gegenstand. Dieses erstrecke sich lediglich auf den Verantwortungsbereich des Bundes, wie das BVerfG u.a. mit folgenden Leitsätzen ausführte:

1. Das aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages, seiner Abgeordneten und Fraktionen gegenüber der Bundesregierung bezieht sich hinsichtlich der Unterstützungseinsätze der Bundespolizei nach Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG nur auf Umstände, die nach der im Grundgesetz angelegten und im Gesetz über die Bundespolizei näher geregelten Verteilung der Zuständigkeiten in den Verantwortungsbereich des Bundes fallen.
2. Die Bundesregierung hat daher auf parlamentarische Fragen zu der Entscheidung über das Ersuchen eines Landes um Unterstützung durch die Bundespolizei zu antworten sowie auf Fragen, die sich auf Begleitumstände eines Unterstützungseinsatzes beziehen, für die eine Behörde des Bundes aufgrund ihrer Eigenschaft als Dienstherr der eingesetzten Beamten die Verantwortung trägt.
3. Die Bundesregierung ist hingegen grundsätzlich nicht verpflichtet, sich zu dem Konzept des in die Verantwortung der Landespolizei fallenden Gesamteinsatzes sowie zu dessen Vorbereitung, Planung und Durchführung zu äußern. Die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch polizeiliche Maßnahmen abzuwehren, liegt nach Art. 30, 70, 83 GG in der Zuständigkeit und Verantwortung der Länder (vgl. BVerfGE 97, 198 <214 ff.>). Das jeweilige Land trägt für das auf Weisung seiner Beamten erfolgende Handeln der Beamten der Bundespolizei die Verantwortung. Dem staatlichen Handeln wird in diesen Fällen demokratische Legitimation durch die Verantwortlichkeit der Landesregierung gegenüber der Volksvertretung des Landes verliehen.
4. Der Bund trägt allerdings – ungeachtet der Weisungsbefugnis des Landes –die dienstrechtliche Verantwortung für etwaiges rechtswidriges Verhalten seiner eingesetzten Beamten, denn diese sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Parlamentarische Anfragen zu rechtswidrigem, disziplinarrechtlich relevantem Verhalten einzelner Bundespolizisten im Rahmen von Unterstützungseinsätzen sind daher zu beantworten. Die Fragen müssen aber hinreichend klar erkennen lassen, dass und aufgrund welcher Tatsachen der begründete Verdacht eines rechtswidrigen Verhaltens von Bundespolizisten besteht.

 
 
Beschluss vom 16. Juni 2015 – 2 BvR 2718/10, u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden für eine Durchsuchungsanordnung, welche ausweislich der Leitsätze des BVerfG mit der Befassung des zuständigen Richters ende:

1. Aus Art. 13 GG ergibt sich die Verpflichtung des Staates, eine effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten.

 

2. Mit der Befassung des zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichters durch die Stellung eines Antrags auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung und der dadurch eröffneten Möglichkeit präventiven Grundrechtsschutzes durch den Richter endet die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden.

 

3. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden kann nur dann neu begründet werden, wenn nach der Befassung des Richters tatsächliche Umstände eintreten oder bekannt werden, die sich nicht aus dem Prozess der Prüfung und Entscheidung über diesen Antrag ergeben, und hierdurch die Gefahr eines Beweismittelverlusts in einer Weise begründet wird, die der Möglichkeit einer rechtzeitigen richterlichen Entscheidung entgegensteht.

 

4. Auf die Ausgestaltung der justizinternen Organisation kann die Eilzuständigkeit der Ermittlungsbehörden nicht gestützt werden.

 
 
Beschluss vom 23. Juni 2015 – 1 BvL 13/11, u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte mit diesem Beschluss aus, dass die Regelung über die Ersatzbemessungsgrundlage im Grunderwerbsteuerrecht (siehe § 8 Abs. 2 Grunderwerbsteuergesetz) mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar ist. Von daher sei der Gesetzgeber dazu verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2016 und rückwirkend zum 1. Januar 2009 eine Neuregelung zu treffen, wobei die besagte Vorschrift bis zum 31. Dezember 2008 weiter anwendbar bleibe. Überdies sei auf die folgenden Leitsätze verwiesen:

1. Hat das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit einer Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt und deren Weitergeltung für einen bestimmten Zeitraum angeordnet, steht dies einer Vorlage der Norm durch ein Gericht nach Art. 100 Abs. 1 GG auch im Hinblick auf den Weitergeltungszeitraum nicht entgegen, sofern die Norm in einem anderen Regelungszusammenhang steht.

 

2. Eine gleichmäßige Belastung der Steuerpflichtigen verlangt, dass für die von einer Steuer erfassten Wirtschaftsgüter eine Bemessungsgrundlage gefunden wird, die deren Werte in ihrer Relation realitätsgerecht abbildet.

 

3. Bringt der Gesetzgeber zur Bemessung der Steuer neben einem Regelbemessungsmaßstab einen Ersatzmaßstab zur Anwendung, muss dieser, um dem Grundsatz der Lastengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) zu genügen, Ergebnisse erzielen, die denen der Regelbemessungsgrundlage weitgehend angenähert sind. Dem genügt die Ersatzbemessungsgrundlage des § 8 Abs. 2 GrEStG in Verbindung mit §§ 138 ff. BewG nicht.

 
 
Beschluss vom 24. Juni 2015 – 1 BvR 1360/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG eine gegen die „Mietpreisbremse“ (siehe § 556d Abs. 1 BGB) und die im Sinne des § 556d Abs. 2 BGB erlassene Berliner Mietenbegrenzungsverordnung gerichtete Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschwerdeführer habe zunächst den Zivilrechtsweg zu beschreiten. Diese Anforderung ergibt sich aus dem im Rahmen der Verfassungsbeschwerde geltenden Subsidiaritätsgrundsatz. Demnach habe das BVerfG bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde besonders sorgfältig zu prüfen, ob der Beschwerdeführer alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen hat, um die mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte Grundrechtsverletzung im sachnächsten Verfahren zu verhindern oder gar zu beseitigen.
 
 
Beschluss vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 u.a.
Vorliegend führte das BVerfG mit diesem Beschluss aus, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung durch das Gericht immer dann begründet, wenn eine mündliche Verhandlung von Gesetzes wegen stattzufinden hat.
 
 
Beschluss vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 439/14
Beachtlich sind die in diesem Beschluss des BVerfG getroffenen Ausführungen hinsichtlich der nicht zur Entscheidung angenommenen Verfassungsbeschwerde, dass die Nichtzulassungsbeschwerde zum Rechtsweg gehöre, welcher vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde erschöpft werden müsse.
 
 
Beschluss vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15, u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Diverse Verfassungsbeschwerden gegen das Mindestlohngesetz wurden mit den jeweiligen Beschlüssen des BVerfG als unzulässig abgelehnt.
 
 
Beschluss vom 26. Juni 2015 – 1 BvR 2218/13
Gegenüber der verfassungsrechtlichen Bewertung einer Studien- und Prüfungsordnung sei der den Universitäten vom Gesetzgeber gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährte Spielraum einzustellen, führte das BVerfG mit diesem Beschluss aus.
 
 
Beschluss vom 30. Juni 2015 – 2 BvR 1282/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften durch Landesgesetz (hier: Art. 61 Satz 2 LV-Bremen) verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung und verletze daher den Beschwerdeführer („Jehovas Zeugen in Deutschland“) in Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV. Dazu die folgenden Leitsätze:

1. Die Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV obliegt den Ländern. Mit der Verleihung des Körperschaftstatus vollziehen die Länder kein Bundesgesetz im Sinne des Art. 83 GG, sondern Landesrecht.

 

2. Eine Regelung, die die im Einzelfall gebotene Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs aus Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV dem parlamentarischen Gesetzgeber zuweist, verstößt gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG). Dieser gewährleistet mittelbar das grundrechtlich geschützte Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz im Einzelfall.

 
 
Beschluss vom 15. Juli 2015 – 2 BvR 2292/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde einer Gewerkschaft gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen zum sogenannten „Dritten Weg“ im kirchlichen Arbeitsrecht hat das BVerfG mit diesem Beschluss wegen Unzulässigkeit verworfen, denn dem Beschwerdeführer fehle die erforderliche Beschwerdebefugnis.
 
 
Beschluss vom 18. Juli 2015 – 1 BvQ 25/15
Dieser Beschluss zum Flashmob „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ betrifft die einstweilige Anordnung zur Durchführung einer Versammlung in Passau.
Weiterführend sei auf unseren Artikel vom 20. Juli 2015 verwiesen.
 
 
Urteil vom 21. Juli 2015 – 1 BvF 2/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte mit diesem Urteil aus, dass die §§ 4a bis 4d des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes, welche den Anspruch auf Betreuungsgeld regeln, wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgeber nichtig seien. Dazu bleibt auf folgende Leitsätze verwiesen:

1. Der Begriff der öffentlichen Fürsorge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potenzieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt.

 

2. Will der Bundesgesetzgeber verschiedene Arten von Leistungen der öffentlichen Fürsorge begründen, muss grundsätzlich jede Fürsorgeleistung für sich genommen den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG genügen. Das Betreuungsgeldgesetz genügt dem nicht. Insbesondere ist es nicht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erforderlich. Dies wäre nur der Fall, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt hätten oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnete (wie BVerfGE 106, 62 <144>; 111, 226 <253>; 112, 226 <244>).

 

3. Die Erforderlichkeit der Bundesgesetzgebung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG hinsichtlich eines Instruments der öffentlichen Fürsorge kann sich nur dann auf ein für sich genommen nicht nach Art. 72 Abs. 2 GG erforderliches Förderinstrument erstrecken, wenn die Instrumente objektiv in einem sachlichen Unteilbarkeitsverhältnis stehen.

Verwiesen sei auch auf unseren Artikel vom 17. August 2015.
 
 
Beschluss vom 28. Juli 2015 – 2 BvR 2558/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungskonforme Auslegung des Geldwäschetatbestandes (siehe § 261 Abs. 1 Satz 1 StGB) bei Honorarannahme durch Strafverteidiger.
 
 
Beschluss vom 29. August 2015 – 1 BvQ 32/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Beruhend auf einer Folgeabwägung, hat das BVerfG mit diesem Beschluss einen Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. August 2015 aufgehoben, welcher die versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung für die Stadt Heidenau zum Gegenstand hatte. Gleichzeitig wurde damit die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen die versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung des Landratsamtes Sächsische Schweiz-Osterzgebirge vom 27. August 2015 wiederhergestellt.
 
 
Beschluss vom 3. September 2015 – 1 BvR 1983/15
Eine wiederholte Terminverlegung im Eilrechtsschutzverfahren könne das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzen.
 
 
Beschluss vom 11. September 2015 – 1 BvR 2211/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das für den 12. September 2015 in Hamburg ausgesprochene Versammlungsverbot („Tag der Patrioten“) wurde, infolge einer verfassungsgemäßen Folgenabwägung des zuständigen OVGs, mit diesem Beschluss des BVerfG abgelehnt.
 
 
Urteil vom 22. September 2015 – 2 BvE 1/11
Folgende Ausführungen des BVerfG sind im Rahmen dieses Urteils zu beachten:
Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Parlament und Ausschüssen gilt nicht für Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses, unabhängig davon, ob diese durch einen förmlichen Beschluss des Ausschusses oder durch eine informelle Entscheidung eingerichtet werden.
 
 
Urteil vom 23. September 2015 – 2 BvE 6/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das Organstreitverfahren hat die Reichweite des Parlamentsvorbehalts für Streitkräfteeinsätze bei Gefahr im Verzug im Hinblick auf die Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen durch Soldaten der Bundeswehr am 26. Februar 2011 zum Gegenstand. Das BVerfG führte in den Leitsätzen dazu aus:

1. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt ist nicht auf Einsätze bewaffneter Streitkräfte innerhalb von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit beschränkt, sondern gilt allgemein für bewaffnete Einsätze deutscher Soldaten im Ausland und unabhängig davon, ob diese einen kriegerischen oder kriegsähnlichen Charakter haben.

 

2. Bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung ausnahmsweise berechtigt, den Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorläufig allein zu beschließen. In diesem Fall muss sie das Parlament umgehend mit dem fortdauernden Einsatz befassen und die Streitkräfte auf Verlangen des Bundestages zurückrufen.

 

3. Die Voraussetzungen dieser Eilentscheidungsbefugnis der Bundesregierung sind verfassungsgerichtlich voll überprüfbar.

 

4. Ist ein von der Bundesregierung bei Gefahr im Verzug beschlossener Einsatz zum frühestmöglichen Zeitpunkt einer nachträglichen Parlamentsbefassung bereits beendet und eine rechtserhebliche parlamentarische Einflussnahme auf die konkrete Verwendung der Streitkräfte deshalb nicht mehr möglich, verpflichtet der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt die Bundesregierung nicht, eine Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Einsatz herbeizuführen. Die Bundesregierung muss den Bundestag jedoch unverzüglich und qualifiziert über den Einsatz unterrichten.

 

30.09.2015/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2015-09-30 12:00:442015-09-30 12:00:44BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (3. Quartal/2015)
Christian Muders

Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Strafrecht

Im Folgenden eine Übersicht über im August veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 18. März 2015 – 2 StR 656/13
Vorlagebeschluss des 2. Strafsenats nach § 132 Abs. 2 GVG an den Großen Senat für Strafsachen bezüglich der Frage, ob die Einführung und Verwertung der vormaligen Aussage eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, durch Vernehmung der früheren richterlichen Vernehmungsperson nur dann zulässig ist, wenn diese den Zeugen nicht nur über sein Zeugnisverweigerungsrecht, sondern in Form einer „qualifizierten Belehrung“ auch über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage im weiteren Verfahren belehrt hatte (s. bereits Anfragebeschluss vom 4. Juni 2014 – 2 StR 656/13; eingehende Auseinandersetzung mit den abweichenden Stellungnahmen anderer Senate [Beschluss vom 14. Januar 2015 – 1 ARs 21/14; Beschluss vom 8. Januar 2015 – 3 ARs 20/14; Beschluss vom 16. Dezember 2014 – 4 ARs 21/14; Beschluss vom 27. Januar 2015 – 5 ARs 64/14] unter Rn. 24 ff.).
II. BGH, Urteil vom 13. Mai 2015 – 3 StR 498/14
Der Tatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) entfaltet bei fehlender Verwirklichung keine Sperrwirkung für die Strafbarkeit wegen sonstiger (Vorsatz-)Delikte wie z.B. die Urkundenfälschung. Dies gilt jedenfalls, nachdem die Vorschrift im Jahr 1974 dahingehend geändert wurde, dass anstatt direktem Vorsatz bereits Eventualvorsatz ausreichend ist. Denn der Zweck der vormals angenommenen Sperrwirkung, zu verhindern, dass ein Richter, dem keine direkt vorsätzliche Rechtsverletzung anzulasten ist, wegen einer durch seine Entscheidung bedingt vorsätzlich oder auch nur fahrlässig begangenen Verwirklichung eines anderen Straftatbestandes zur Verantwortung gezogen werden kann, ist durch die Gesetzesänderung obsolet geworden. Zudem fordert es die verfassungsrechtlich gewährleistete richterliche Unabhängigkeit nicht, das Haftungsprivileg auch auf ein Handeln des Richters zu erstrecken, das nicht erst im Zusammenhang mit einer nach außen hin zu treffenden Entscheidung, Anordnung oder Maßnahme der Verhandlungsleitung zur Erfüllung eines Straftatbestands führt, sondern bereits für sich alleine gegen Strafgesetze verstößt (hier: nachträgliche Abänderung einer bereits verlesenen Urteilsformel).
III. BGH, Urteil vom 9. Juni 2015 – 1 StR 606/14
Der 1. Senat hält an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fest, wonach sich die Rechtmäßigkeit des Handelns von staatlichen Hoheitsträgern bei der Ausübung von Hoheitsgewalt bezüglich § 32 Abs. 2 StGB (wie auch § 113 Abs. 3 StGB) weder streng akzessorisch nach der materiellen Rechtmäßigkeit des dem Handeln zugrundeliegenden Rechtsgebiets (meist des materiellen Verwaltungsrechts) noch nach der Rechtmäßigkeit entsprechend dem maßgeblichen Vollstreckungsrecht richtet. Vielmehr hängt die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns in einem strafrechtlichen Sinne lediglich davon ab, dass „die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Beamten“ gegeben sind, „er also örtlich und sachlich zuständig“ ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der Hoheitsträger sein ihm ggf. eingeräumtes Ermessen pflichtgemäß ausübt. Lediglich bei einem schuldhafter Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung und bei missbräuchlichen oder willkürlichen Amtshandlungen ist sein Handeln rechtswidrig (hier im konkreten Fall – versuchte Abschiebung eines ausreisepflichtigen Ausländers, der noch eine zeitlich über den Abschiebezeitpunkt hinausreichende Bescheinigung über die Aussetzung seiner Abschiebung hatte und sich mit einem Messer gegen die Vollstreckungsbeamten wehrte – verneint; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
IV. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 3 StR 171/15
Eine gefährliche Körperverletzung in Gestalt einer mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begangenen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB liegt dann nicht vor, wenn sich mehrere Opfer jeweils nur einem Angreifer ausgesetzt sehen, ohne dass die Positionen ausgetauscht werden. Denn in diesem Fall stehen dem jeweiligen Opfer die Beteiligten gerade nicht gemeinschaftlich gegenüber. Damit fehlt es an dem Grund für die Strafschärfung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, der in der erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Tat liegt, weil einem Geschädigten mehrere Angreifer körperlich gegenüber stehen und er deshalb in seiner Verteidigungsmöglichkeit tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt ist.
V. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 3 StR 193/15
Das Tatbestandsmerkmal „bei der Tat“ bei der schweren räuberischen Erpressung nach § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a) in Verbindung mit §§ 253, 255 StGB bezieht sich auf die finale Verknüpfung der Gewalt in Form einer schweren körperlichen Misshandlung und der Vermögensverfügung des Opfers, durch die die Erpressungsdelikte geprägt sind. Es ist daher nur dann erfüllt, wenn die schwere körperliche Misshandlung zur Erzwingung der Vermögensverfügung oder zumindest zur Sicherung der Beute verübt wird. Ein schlichter räumlich-zeitlicher Zusammenhang zwischen einer räuberischen Erpressung und einer schweren Misshandlung genügt hierfür hingegen nicht, was sowohl dann gilt, wenn die Misshandlung der Erpressung nachfolgt, als auch dann, wenn sie ihr – wie hier im Fall einer mit körperlichen Misshandlungen verübten Vergewaltigung – unmittelbar vorangeht.
– – –
Zum Schluss noch zwei prozessuale Entscheidung, die sich mit der Besetzung der großen Strafkammer eines Landgerichts bei Beschlüssen über die Eröffnung der Hauptverhandlung bzw. die Entscheidung über die konkrete Besetzung bei der Hauptverhandlung gemäß § 76 GVG sowie der Frage der zulässigen Unterbrechungszeit einer Hauptverhandlung nach § 229 StPO auseinandersetzen:
VI. BGH,Urteil vom 20. Mai 2015 – 2 StR 45/14
Beschließt die Strafkammer in der Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen, dass das Hauptverfahren hinsichtlich einer weiteren Anklage eröffnet wird, die Strafkammer mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt ist und das Verfahren hinzuverbunden wird, sind der Eröffnungsbeschluss und die Besetzungsentscheidung unwirksam. Ersteres führt zu einem Verfahrenshindernis für den neuen Verfahrensgegenstand. Im Übrigen kann die Besetzung der Strafkammer mit einer Verfahrensrüge beanstandet werden (Leitsatz des Gerichts; zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; Fortführung von BGHSt 50, 267).
VII. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 3 StR 202/15
Eine Hauptverhandlung ist entgegen der Regelung des § 229 Abs. 1 StPO auch dann länger als drei Wochen unterbrochen, wenn während dieses Zeitraums ein Termin für eine Zeugenvernehmung vorgesehen war, diese jedoch wegen Vorlage eines ärztlichen Attests des Zeugen nicht durchgeführt werden konnte und im Termin lediglich auf diesen Umstand hingewiesen und die Hauptverhandlung sodann erneut unterbrochen wird. Zwar kann auch in der Befassung lediglich mit Verfahrensfragen eine Förderung des Verfahrens in der Sache und damit eine Fortsetzung der Hauptverhandlung liegen, wenn deren Ziel die Klärung ist, durch welche Untersuchungshandlungen der Aufklärung des Sachverhalts Fortgang gegeben werden kann. Nicht ausreichend hierfür ist jedoch allein die in der Sache selbst nicht weiterführende Prüfung und Erörterung, ob eine – weitere – Unterbrechung der Hauptverhandlung notwendig ist und wann diese gegebenenfalls fortgesetzt werden kann. Insofern ist auch keine Ausnahme wegen eines unvorhersehbaren Ereignisses zu gewähren. Denn welche Auswirkungen es auf den Lauf der höchstzulässigen Unterbrechungsfrist hat, wenn ein Verfahrensbeteiligter wegen Krankheit nicht zur Hauptverhandlung erscheinen kann, ist allein Gegenstand der besonderen und abschließenden Regelung in § 229 Abs. 3 StPO. Eine Hemmung der Unterbrechungsfrist wegen Erkrankung eines Zeugen ist dort nicht vorgesehen. Dies kann nicht dadurch umgangen werden, dass die Bekanntgabe einer Erkrankung als Sachverhandlung im Sinne einer Fortsetzung der Hauptverhandlung nach § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO gewertet wird, durch die die Unterbrechungsfrist gewahrt wird.

06.09.2015/0 Kommentare/von Christian Muders
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Christian Muders https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Christian Muders2015-09-06 13:00:422015-09-06 13:00:42Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2015)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Das zweite Quartal des Jahres 2015 brachte eine Vielzahl an durchaus Aufsehen erregenden Entscheidungen im Verfassungsrecht mit sich. Grund genug, um euch wie gewohnt stellen einen Rechtsprechungsüberblick zu einer ausgesuchten Reihe von Entscheidungen vorzustellen, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschluss vom 23. März 2015 – 2 BvR 1304/12
Mit diesem Beschluss führte das BVerfG aus, dass die Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (siehe § 170 II StPO) gegen Polizeikräfte keine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 II, Art. 2 II i.V.m. Art. 11 II, Art. 3 I, Art. 19 IV sowie Art. 103 I GG sei, wenn dem eine gewissenhafte Durchführung der Ermittlungen sowie eine effektive gerichtliche Kontrolle zu Grunde liegen. Das Verfahren betraf Vorfälle im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz nach einem Fußballspiel zwischen dem FC Bayern München und dem TSV 1860 München im Grünwalder Stadion in München am 9. Dezember 2007.
 
 
Beschluss vom 24. März 2015 – 1 BvR 2880/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte mit diesem Beschluss aus, dass es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 I GG vereinbar sei, wenn der Übergang von Grundeigentum anlässlich einer amtlichen Baulandumlegung von der Grunderwerbsteuer ausgenommen, im Rahmen einer freiwilligen Baulandumlegung hingegen grunderwerbsteuerpflichtig sei (siehe die §§ 45 ff. BauGB und § 1 I Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b des GrunderwerbsteuerG). Die betroffenen Umlegungsarten wiesen in städtebaulicher Hinsicht zwar eine gleiche Zielrichtung auf, unterschieden sich allerdings in ihrem Verfahren und hinsichtlich der Freiwilligkeit der Teilnahme. Diese Unterschiede seien darüber hinaus von solchem Gewicht, dass der Gesetzgeber die beiden Umlegungsarten im Hinblick auf den Charakter der Grunderwerbsteuer als Rechtsverkehrsteuer unterschiedlich behandeln dürfe.
 
 
Beschluss vom 07. April 2015 – 1 BvR 1432/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die mangels Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde betraf die Frage zur Doppelbelastung durch die Erbschaft- und Einkommensteuer bei Vererbung von Zinsansprüchen. Aufgrund der Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers sei es mit dem Gebot der steuerlichen Lastengleichheit (siehe Art. 3 I GG) vereinbar, eine später entstehende Einkommensteuer bei der Berechnung der Erbschaftsteuer in dieser Konstellation unberücksichtigt zu lassen.
 
 
Beschluss vom 17. April 2015 – 2 BvR 1986/14
Das Eigentumsgrundrecht nach Art. 14 I GG verlange bei Anordnung eines strafprozessualen Arrests gemäß § 111b II, V, § 111d, § 111e I StPO i.V.m. § 73 I 2, § 73a, § 73b, § 266a StGB eine umfassende Abwägung des Sicherstellungsinteresses des Staates mit der Eigentumsposition des von der Maßnahme Betroffenen, führte das BVerfG im Wesentlichen mit diesem Beschluss aus.
 
 
Beschluss vom 17. April 2015 – 1 BvR 3276/08 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen des Landgerichts in Strafsachen nach § 176 GVG im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von anonymisierten bzw. verpixelten Bildern.
 
 
Beschluss vom 21. April 2015 – 2 BvR 1322/12 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte mit diesem Beschluss aus, dass das Landesbeamtengesetz Nordrhein-Westfalen keine hinreichend bestimmte Verordnungsermächtigung zur Festsetzung von Altershöchstgrenzen für die Einstellung in den öffentlichen Dienst im Sinne der in der Laufbahnverordnung vom 30. Juni 2009 vorgesehenen Regelungen enthalte und daher aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 33 II GG verfassungswidrig sei. Gleichzeitig konkretisierte das Verfassungsgericht die materiellen Anforderungen an die Einstellungshöchstaltersgrenzen. Diese seien grundsätzlich zulässig, um ein ausgewogenes zeitliches Verhältnis zwischen Lebensdienstzeit und Ruhestandszeit zu gewährleisten, sodass der Gesetzgeber insoweit über einen Gestaltungsspielraum verfüge, dessen Grenzen sich unter anderem aus den Anforderungen des Leistungsprinzips (Art. 33 II GG) sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben würden.
 
 
Beschluss vom 04. Mai 2015 – 1 BvR 2096/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Über diesen Beschluss des BVerfG, mit dem das Gericht entschieden hat, dass Prozesskostenhilfe in der Regel zu gewähren ist, wenn die Revision gegen ein Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen wird, berichteten wir bereits in einem Artikel vom 27. Mai 2015.
 
 
Urteil vom 05. Mai 2015 – 2 BvL 17/09 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Leitsätze des BVerfG zur als verfassungswidrig befundenen R 1-Besoldung der Jahre 2008 bis 2010 in Sachsen-Anhalt lauten:

1. Dem weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der praktischen Umsetzung der aus Art. 33 Abs. 5 GG resultierenden Pflicht zur amtsangemessenen Alimentierung der Richter und Staatsanwälte entspricht eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung. Ob die Bezüge evident unzureichend sind, muss anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien und unter Berücksichtigung der konkret in Betracht kommenden Vergleichsgruppen geprüft werden.
2. Im Rahmen dieser Gesamtschau liegt es nahe, mit Hilfe von aus dem Alimentationsprinzip ableitbaren und volkswirtschaftlich nachvollziehbaren Parametern einen durch Zahlenwerte konkretisierten Orientierungsrahmen für eine grundsätzlich verfassungsgemäße Ausgestaltung der Alimentationsstruktur und des Alimentationsniveaus zu ermitteln.
3. Hierzu eignen sich fünf Parameter, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Alimentationsprinzip angelegt sind und denen indizielle Bedeutung bei der Ermittlung des verfassungsrechtlich geschuldeten Alimentationsniveaus zukommt (deutliche Differenz zwischen einerseits der Besoldungsentwicklung und andererseits der Entwicklung der Tarifentlohnung im öffentlichen Dienst, des Nominallohnindex sowie des Verbraucherpreisindex, systeminterner Besoldungsvergleich und Quervergleich mit der Besoldung des Bundes und anderer Länder). Ist die Mehrheit dieser Parameter erfüllt (1. Prüfungsstufe), besteht eine Vermutung für eine verfassungswidrige Unteralimentation. Diese Vermutung kann durch die Berücksichtigung weiterer alimentationsrelevanter Kriterien im Rahmen einer Gesamtabwägung widerlegt oder weiter erhärtet werden (2. Prüfungsstufe).
4. Ergibt die Gesamtschau, dass die als unzureichend angegriffene Alimentation grundsätzlich als verfassungswidrige Unteralimentation einzustufen ist, bedarf es der Prüfung, ob dies im Ausnahmefall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann. Der Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation ist Teil der mit den hergebrachten Grundsätzen verbundenen institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG. Soweit er mit anderen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen oder Instituten kollidiert, ist er entsprechend dem Grundsatz der praktischen Konkordanz im Wege der Abwägung zu einem schonenden Ausgleich zu bringen (3. Prüfungsstufe). Verfassungsrang hat namentlich das Verbot der Neuverschuldung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG.
5. Jenseits der verfassungsrechtlich gebotenen Mindestalimentation genießt die Alimentation des Richters oder Staatsanwalts einen relativen Normbestandsschutz. Der Gesetzgeber darf hier Kürzungen oder andere Einschnitte in die Bezüge vornehmen, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist.
6. Die Festlegung der Besoldungshöhe durch den Gesetzgeber ist an die Einhaltung prozeduraler Anforderungen geknüpft. Diese Anforderungen treffen ihn insbesondere in Form von Begründungspflichten.

 
 
Beschluss vom 12. Mai 2015 – 1 BvR 1501/13 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fusion der TU Cottbus mit der FH Lausitz zur BTU Cottbus-Senftenberg. Die vorübergehende Leitung der BTU Cottbus-Senftenberg durch einen vom Wissenschaftsministerium eingesetzten Gründungsbeauftragten sei dabei nicht mit der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG vereinbar), da der Gesetzgeber die wesentlichen Regelungen nicht selbst getroffen hat. Dazu sei auf folgende Leitsätze verwiesen:

1. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG begründet keine Beteiligungsrechte der Hochschulen, Fakultäten oder einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Zustandekommen eines Gesetzes zur Fusion zweier Hochschulen.
2. Die staatliche Einsetzung eines Leitungsorgans im Zuge einer Hochschulfusion genügt den Anforderungen des Grundgesetzes an eine wissenschaftsadäquate Organisation umso weniger, je länger diese Leitung ohne ein universitäres Selbstverwaltungsorgan tätig ist und je weniger Befugnisse auf Notkompetenzen für reversible Entscheidungen beschränkt sind.

 
 
Beschluss vom 12. Mai 2015 – 2 BvR 2954/10
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistung von Vollstreckungshilfe im Falle einer vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien verhängten Freiheitsstrafe von 28 Jahren. Die Grundlage der Vollstreckung ist das Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (YUGStrGHG) vom 10. April 1995. Dabei sieht § 5 II YUGStrGHG vor, dass auf die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 übernommenen Fälle der Vollstreckung einer vom Gerichtshof verhängten Freiheitsstrafe die §§ 41, 42, 47 I des Gesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGHG) mit der Maßgabe entsprechende Anwendung finden, dass zeitige Freiheitsstrafe bis zu einer Höchstdauer von 30 Jahren vollstreckt wird. Trotz der über 15 Jahre hinausgehenden zeitigen Freiheitsstrafe sei die Vollstreckung nach deutschem Recht nicht verfassungswidrig. Der Beschwerdeführer hatte eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I, Art. 3 I sowie Art. 19 I, IV GG gerügt.
 
 
Beschluss vom 13. Mai 2015 – 1 BvQ 9/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Der Beschluss des BVerfG betrifft die Ablehnung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Inkrafttreten des „Bestellerprinzips“ bei Maklerprovisionen für Wohnraummietverträge. Für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung gemäß § 32 I BVerfGG müssten im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile, welche durch das vorübergehende Inkrafttreten eines – nach abschließender Prüfung – verfassungswidrigen Gesetzes entstünden, die Nachteile deutlich überwiegen, welche mit der vorläufigen Verhinderung eines verfassungsmäßigen Gesetzes verbunden wären. Allerdings sei den Antragstellern die Darlegung eines hinreichend schwerwiegenden Nachteils weder für die Gesamtheit der Wohnungsvermittler noch im Hinblick auf ihre eigene Situation gelungen. Verletzt sahen sich die Antragsteller in ihren Grundrechten aus Art. 2 I, Art. 3 I, Art. 12 I und Art. 14 I GG bzw. aus Art. 2 I und Art. 3 I GG.
 
 
Urteil vom 02. Juni 2015 – 2 BvE 7/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Leitsätze des BVerfG zum parlamentarischen Frage- und Informationsrecht (siehe Art. 38 I 2 und Art. 20 II 2 GG) über Unterstützungseinsätze der Bundespolizei (siehe Art. 35 II 1 GG), welche sich nur auf den Verantwortungsbereich des Bundes erstreckten, lauten:

1. Das aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages, seiner Abgeordneten und Fraktionen gegenüber der Bundesregierung bezieht sich hinsichtlich der Unterstützungseinsätze der Bundespolizei nach Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG nur auf Umstände, die nach der im Grundgesetz angelegten und im Gesetz über die Bundespolizei näher geregelten Verteilung der Zuständigkeiten in den Verantwortungsbereich des Bundes fallen.
2. Die Bundesregierung hat daher auf parlamentarische Fragen zu der Entscheidung über das Ersuchen eines Landes um Unterstützung durch die Bundespolizei zu antworten sowie auf Fragen, die sich auf Begleitumstände eines Unterstützungseinsatzes beziehen, für die eine Behörde des Bundes aufgrund ihrer Eigenschaft als Dienstherr der eingesetzten Beamten die Verantwortung trägt.
3. Die Bundesregierung ist hingegen grundsätzlich nicht verpflichtet, sich zu dem Konzept des in die Verantwortung der Landespolizei fallenden Gesamteinsatzes sowie zu dessen Vorbereitung, Planung und Durchführung zu äußern. Die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch polizeiliche Maßnahmen abzuwehren, liegt nach Art. 30, 70, 83 GG in der Zuständigkeit und Verantwortung der Länder (vgl. BVerfGE 97, 198 <214 ff.>). Das jeweilige Land trägt für das auf Weisung seiner Beamten erfolgende Handeln der Beamten der Bundespolizei die Verantwortung. Dem staatlichen Handeln wird in diesen Fällen demokratische Legitimation durch die Verantwortlichkeit der Landesregierung gegenüber der Volksvertretung des Landes verliehen.
4. Der Bund trägt allerdings – ungeachtet der Weisungsbefugnis des Landes –die dienstrechtliche Verantwortung für etwaiges rechtswidriges Verhalten seiner eingesetzten Beamten, denn diese sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Parlamentarische Anfragen zu rechtswidrigem, disziplinarrechtlich relevantem Verhalten einzelner Bundespolizisten im Rahmen von Unterstützungseinsätzen sind daher zu beantworten. Die Fragen müssen aber hinreichend klar erkennen lassen, dass und aufgrund welcher Tatsachen der begründete Verdacht eines rechtswidrigen Verhaltens von Bundespolizisten besteht.

 
 
Beschluss vom 19. Mai 2015 – 2 BvR 987/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss entschied das Gericht in Karlsruhe, dass die Einstellung der Ermittlungen gegen einen Oberst sowie einen Hauptfeldwebel der Bundeswehr nach dem Luftangriff in Kunduz aus dem Jahre 2009 nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Der Einstellungsbescheid des Generalbundesanwalts sowie die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf wahrten insoweit die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen.
 
 

30.06.2015/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2015-06-30 15:00:552015-06-30 15:00:55BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2015)
Christian Muders

Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Strafrecht

Im Folgenden eine Übersicht über im April veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 – 3 StR 265/14
Werden Gelder, die einer Fraktion des Landtags von Rheinland-Pfalz aus dem Landeshaushalt zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewendet worden sind, durch den Fraktionsvorsitzenden bewusst gesetzeswidrig für Wahlkampfzwecke der die Fraktion tragenden Partei ausgegeben, so kann dies eine Untreue im Sinne des § 266 StGB zum Nachteil der Fraktion darstellen. Dem Vorsitzenden einer Parlamentsfraktion kann dieser gegenüber eine Pflicht zur Betreuung deren Vermögens obliegen, die er verletzt, wenn er veranlasst, dass das Fraktionsvermögen gesetzeswidrig verwendet wird. Gleichzeitig kommt eine Strafbarkeit wegen Untreue zu Lasten der Partei in Betracht, wenn geldwerte Leistungen aus dem Vermögen der von ihr getragenen Parlamentsfraktion entgegengenommen werden, ohne diese als Spende dem Präsidenten des Deutschen Bundestages anzuzeigen und deren Wert an diesen weiterzuleiten. Denn insofern tritt die Sanktionsfolge des § 31c Abs. 1 PartG ein, wonach gegen die Partei ein Anspruch in Höhe des Dreifachen des rechtswidrig erlangten Betrages entsteht (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
II. BGH, Urteil vom 22. Januar 2015 – 3 StR 410/14
In dem Verbot an ein minderjähriges Kind, dass Haus ohne Begleitung erwachsener Verwandten zu verlassen, liegt keine Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB. Tatbestandsmäßig im Sinne dieser Vorschrift ist ein Verhalten nur dann, wenn es die zunächst vorhandene Fähigkeit eines Menschen beseitigt, sich nach seinem Willen fortzubewegen und ihn hindert, den gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen. Dies setzt voraus, dass die Fortbewegungsfreiheit vollständig aufgehoben wird. Denn § 239 schützt lediglich die Fähigkeit, sich überhaupt von einem Ort wegzubewegen, nicht aber auch eine bestimmte Art des Weggehens. Deshalb kommt eine Bestrafung wegen Freiheitsberaubung nicht in Betracht, wenn ein Fortbewegen – wenn auch unter erschwerten Bedingungen – möglich bleibt. Auch das Verbot, ein bestimmtes Land (hier: Syrien) zu verlassen, ist keine tatbestandsmäßige Freiheitsberaubung. Zwar erfasst der Schutzzweck des § 239 StGB auch Einschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit, durch die das Opfer gehindert wird, ein größeres Areal wie etwa das Gelände eines Krankenhauses zu verlassen. Das Gebiet, aus dem sich das Opfer aufgrund der Tathandlung nicht entfernen kann, darf aber nicht beliebig weiträumig sein; ansonsten würde der Tatbestand in einer dem Schutzzweck der Norm widerstreitenden Weise überdehnt. Danach ist eine vollständige Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit jedenfalls dann nicht mehr anzunehmen, wenn sich der verbleibende räumliche Entfaltungsbereich der betroffenen Person auf ein mehrere tausend Quadratkilometer umfassendes Staatsgebiet erstreckt.
III. BGH, Urteil vom 10. Februar 2015 – 1 StR 488/14
Eine auf zulässiges Verteidigungsverhalten eines Beschuldigten im Strafverfahren oder dessen Selbstbelastungsfreiheit gestützte Einschränkung des Tatbestandes der falschen Verdächtigung gemäß § 164 Abs. 1 StGB kommt jedenfalls in solchen Konstellationen nicht in Betracht, in denen durch den Täter eine Person konkret verdächtigt wird, für deren Tatbegehung bzw. Tatbeteiligung bis dahin keine Anhaltspunkte bestanden. Dies folgt aus dem Schutzzweck des vorgenannten Tatbestandes, der auch die innerstaatliche Strafrechtspflege vor unberechtigter Inanspruchnahme schützen will. Anders als in Fallgestaltungen, in denen außer dem falsch Verdächtigenden überhaupt nur eine weitere Person als Täter der fraglichen rechtswidrigen Tat in Betracht kommt, wird in der hier vorliegenden Konstellation erstmals eine andere Person als vermeintlicher Täter bezichtigt. Erst dadurch werden die Ermittlungsbehörden zu einer auf eine materiell unschuldige und bis zur Falschbezichtigung unverdächtige Person bezogenen Ermittlungstätigkeit veranlasst (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
IV. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2015 – 4 StR 548/14
Der Tatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) fordert das Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand der körperlichen Funktionen des Opfers nachteilig abweichenden Zustandes. Rein psychische Empfindungen genügen bei keiner Handlungsalternative, um einen Körperverletzungserfolg zu begründen. Wirkt der Täter auf sein Opfer lediglich psychisch ein, liegt eine Körperverletzung daher erst dann vor, wenn ein pathologischer, somatisch-objektivierbarer Zustand hervorgerufen worden ist, der vom Normalzustand nachteilig abweicht. Daher genügt es für eine Verurteilung wegen Körperverletzung nicht, dass der Täter seinem Opfer einen von ihm mitgeführten Elektroschocker an die Schläfe hält und selbiges, da es glaubt ihm werde eine Pistole an den Kopf gehalten, große Angst verspürt und regungslos liegen bleibt.

01.05.2015/1 Kommentar/von Christian Muders
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Christian Muders https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Christian Muders2015-05-01 15:00:022015-05-01 15:00:02Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2015)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Auch für das erste Quartal des Jahres 2015 stellen wir euch natürlich gerne wieder mit diesem Rechtsprechungsüberblick eine ausgesuchte Reihe von teilweise Aufsehen erregenden Entscheidungen vor, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
 
Beschluss vom 17. Dezember 2014 – 2 BvR 278/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die staatliche Anerkennung der Mitgliedschaft in einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten jüdischen Kultusgemeinde und damit das Grundrecht aus Art. 4 I und II i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 III WRV.
 
Beschluss vom 14. Januar 2015 – 1 BvR 931/12 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde hat die Frage zum Gegenstand, ob der Thüringer Landesgesetzgeber mit der im Jahr 2011 im Thüringer Ladenöffnungsgesetz neu geregelten Beschränkung der Einsatzmöglichkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Samstagen in Verkaufsstellen gegen Art. 12 I, Art. 9 III und Art. 3 I GG verstoßen hat, weil das Land für eine derartige Regelung nicht gesetzgebungsbefugt war.
Dazu die Leitsätze des BVerfG:

1. Eine landesrechtliche Begrenzung der Samstagsarbeit in Verkaufsstellen ist dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuzuordnen. Die Kompetenz für das Recht des Ladenschlusses in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG erstreckt sich nicht auf arbeitszeitrechtliche Regelungen.
2. Der Bund hat von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für Regelungen zur Arbeitszeit in Verkaufsstellen an Samstagen bisher nicht erschöpfend im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch gemacht.

 
Beschluss vom 15. Januar 2015 – 2 BvR 878/14, 2 BvR 2055/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Pflicht des Vorsitzenden im Strafverfahren, in der Hauptverhandlung den wesentlichen Inhalt von Gesprächen über eine Verständigung mitzuteilen, welche laut dem BVerfG in erster Linie dazu dient, eine Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit zu ermöglichen. Im Verständigungsgesetz wäre es dem Gesetzgeber maßgeblich darauf angekommen, die Transparenz der strafgerichtlichen Hauptverhandlung und die Unterrichtung der Öffentlichkeit zu bewahren. Das Revisionsgericht hätte daher die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 I GG i. V. m. Art. 20 III GG) verkannt, wenn es das Beruhen des Strafurteils auf einem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht alleine unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten prüft.
 
Beschluss vom 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die äußerst Klausurrelevanten Leitsätze des BVerfG zum pauschalen Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen im Sinne des § 57 IV 1 und 2 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes lauten:

Der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs der Fall sein kann.
Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss.
Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden.
Werden äußere religiöse Bekundungen durch Pädagoginnen und Pädagogen in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule zum Zweck der Wahrung des Schulfriedens und der staatlichen Neutralität gesetzlich untersagt, so muss dies für alle Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen grundsätzlich unterschiedslos geschehen.

 
Beschluss vom 24. Februar 2015 – 1 BvR 472/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Gegenstand dieser viel beachteten Entscheidung ist die Frage, ob es mit dem GG vereinbar sein kann, wenn die Zivilgerichte die Mutter auf der Grundlage von § 1353 I i.V.m. § 242 BGB dazu verpflichten, dem vormals rechtlichem Vater (sog. Scheinvater) nach erfolgreicher Vaterschaftsanfechtung Auskunft über die Person des mutmaßlich leiblichen Vaters des Kindes zu erteilen, damit der Scheinvater gegen den leiblichen Vater den Unterhaltsregressanspruch nach § 1607 III BGB durchsetzen kann.
Dazu die Leitsätze des BVerfG:

1. Das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgende allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt mit der Privat- und Intimsphäre auch das Recht, selbst darüber zu befinden, ob, in welcher Form und wem Einblick in die Intimsphäre und das eigene Geschlechtsleben gewährt wird. Dies umschließt das Recht, geschlechtliche Beziehungen zu einem bestimmten Partner nicht offen-baren zu müssen.
2. Die gerichtliche Verpflichtung einer Mutter, zur Durchsetzung eines Regress-anspruchs des Scheinvaters (§ 1607 Abs. 3 BGB) Auskunft über die Person des mutmaßlichen Vaters des Kindes zu erteilen, überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, weil es hierfür an einer hinreichend deutlichen Grundlage im geschriebenen Recht fehlt.

 
Beschluss vom 5. März 2015 – 1 BvR 3362/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft anwaltsgerichtliche Entscheidungen und Bescheide der Rechtsanwaltskammer über die berufsrechtliche Beurteilung und Zulässigkeit einer geplanten Werbemaßnahme eines Rechtsanwalts. Dass für die Werbung von Rechtsanwälten – vor dem Hintergrund ihrer Stellung als Organ der Rechtspflege – ein Sachlichkeitsgebot gilt, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das BVerfG. Für sog. Schockwerbung von Rechtsanwälten bestünden daher strenge Regeln. Vorliegend ging es um Tassen mit der durchgestrichenen Abbildung einer Frau, die mit einem Knüppel auf das entblößte Gesäß eines Kindes schlägt.
Über diesen Fall berichteten wir bereits in einem Artikel vom 25. März 2015.
 
Beschluss vom 19. März 2015 – 2 BvB 1/13
Dieser Beschluss des BVerfG enthält neue Entwicklungen zu dem von den Ländern eingeleiteten NPD-Verbotsverfahren. Wie auch schon im ersten Verbotsverfahren komme es hier auf den Einfluss durch den Verfassungsschutz an, dessen Fehlen aber noch nicht hinreichend belegt sei.
Dazu berichteten wir ausführlicher in einem Artikel vom 28. März 2015.
 

31.03.2015/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2015-03-31 12:00:062015-03-31 12:00:06BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2015)
Seite 1 von 212

Über Juraexamen.info

Deine Zeitschrift für Jurastudium, Staatsexamen und Referendariat. Als gemeinnütziges Projekt aus Bonn sind wir auf eure Untersützung angewiesen, sei es als Mitglied oder durch eure Gastbeiträge. Über Zusendungen und eure Nachrichten freuen wir uns daher sehr!

Werbung

Anzeige

Neueste Beiträge

  • BGH zur Halterhaftung nach dem StVG
  • Basiswissen Kriminologie – über Genese, bekannte Persönlichkeiten und die relativen Straftheorien
  • Die mündliche Prüfung im ersten Staatsexamen

Weitere Artikel

Auch diese Artikel könnten für dich interessant sein.

Redaktion

BGH zur Halterhaftung nach dem StVG

Rechtsprechung, Startseite

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. In einer kürzlich veröffentlichten […]

Weiterlesen
16.03.2023/1 Kommentar/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2023-03-16 08:30:022023-03-16 08:33:08BGH zur Halterhaftung nach dem StVG
Alexandra Ritter

Die mündliche Prüfung im ersten Staatsexamen

Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Uncategorized, Verschiedenes, Zivilrecht

Viele Jahre bereitet man sich durch Studium und Repetitorium darauf vor und irgendwann ist es soweit: man schreibt das erste Staatsexamen. Sechs Klausuren und eine mündliche Prüfung (so zumindest in […]

Weiterlesen
06.03.2023/2 Kommentare/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2023-03-06 09:00:002023-03-13 08:18:47Die mündliche Prüfung im ersten Staatsexamen
Gastautor

Basiswissen Kriminologie – über Genese, bekannte Persönlichkeiten und die relativen Straftheorien

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht AT, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf. Was genau verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Kriminologie“? […]

Weiterlesen
06.03.2023/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-03-06 09:00:002023-03-15 09:06:21Basiswissen Kriminologie – über Genese, bekannte Persönlichkeiten und die relativen Straftheorien

Support

Unterstütze uns und spende mit PayPal

Jetzt spenden
  • Über JE
  • Das Team
  • Spendenprojekt
  • Gastautor werden
  • Mitglied werden
  • Alumni
  • Häufige Fragen
  • Impressum
  • Kontakt
  • Datenschutz

© 2022 juraexamen.info

Nach oben scrollen