BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2015)
Das zweite Quartal des Jahres 2015 brachte eine Vielzahl an durchaus Aufsehen erregenden Entscheidungen im Verfassungsrecht mit sich. Grund genug, um euch wie gewohnt stellen einen Rechtsprechungsüberblick zu einer ausgesuchten Reihe von Entscheidungen vorzustellen, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
Beschluss vom 23. März 2015 – 2 BvR 1304/12
Mit diesem Beschluss führte das BVerfG aus, dass die Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (siehe § 170 II StPO) gegen Polizeikräfte keine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 II, Art. 2 II i.V.m. Art. 11 II, Art. 3 I, Art. 19 IV sowie Art. 103 I GG sei, wenn dem eine gewissenhafte Durchführung der Ermittlungen sowie eine effektive gerichtliche Kontrolle zu Grunde liegen. Das Verfahren betraf Vorfälle im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz nach einem Fußballspiel zwischen dem FC Bayern München und dem TSV 1860 München im Grünwalder Stadion in München am 9. Dezember 2007.
Beschluss vom 24. März 2015 – 1 BvR 2880/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte mit diesem Beschluss aus, dass es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 I GG vereinbar sei, wenn der Übergang von Grundeigentum anlässlich einer amtlichen Baulandumlegung von der Grunderwerbsteuer ausgenommen, im Rahmen einer freiwilligen Baulandumlegung hingegen grunderwerbsteuerpflichtig sei (siehe die §§ 45 ff. BauGB und § 1 I Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b des GrunderwerbsteuerG). Die betroffenen Umlegungsarten wiesen in städtebaulicher Hinsicht zwar eine gleiche Zielrichtung auf, unterschieden sich allerdings in ihrem Verfahren und hinsichtlich der Freiwilligkeit der Teilnahme. Diese Unterschiede seien darüber hinaus von solchem Gewicht, dass der Gesetzgeber die beiden Umlegungsarten im Hinblick auf den Charakter der Grunderwerbsteuer als Rechtsverkehrsteuer unterschiedlich behandeln dürfe.
Beschluss vom 07. April 2015 – 1 BvR 1432/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die mangels Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde betraf die Frage zur Doppelbelastung durch die Erbschaft- und Einkommensteuer bei Vererbung von Zinsansprüchen. Aufgrund der Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers sei es mit dem Gebot der steuerlichen Lastengleichheit (siehe Art. 3 I GG) vereinbar, eine später entstehende Einkommensteuer bei der Berechnung der Erbschaftsteuer in dieser Konstellation unberücksichtigt zu lassen.
Beschluss vom 17. April 2015 – 2 BvR 1986/14
Das Eigentumsgrundrecht nach Art. 14 I GG verlange bei Anordnung eines strafprozessualen Arrests gemäß § 111b II, V, § 111d, § 111e I StPO i.V.m. § 73 I 2, § 73a, § 73b, § 266a StGB eine umfassende Abwägung des Sicherstellungsinteresses des Staates mit der Eigentumsposition des von der Maßnahme Betroffenen, führte das BVerfG im Wesentlichen mit diesem Beschluss aus.
Beschluss vom 17. April 2015 – 1 BvR 3276/08 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen des Landgerichts in Strafsachen nach § 176 GVG im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von anonymisierten bzw. verpixelten Bildern.
Beschluss vom 21. April 2015 – 2 BvR 1322/12 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte mit diesem Beschluss aus, dass das Landesbeamtengesetz Nordrhein-Westfalen keine hinreichend bestimmte Verordnungsermächtigung zur Festsetzung von Altershöchstgrenzen für die Einstellung in den öffentlichen Dienst im Sinne der in der Laufbahnverordnung vom 30. Juni 2009 vorgesehenen Regelungen enthalte und daher aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 33 II GG verfassungswidrig sei. Gleichzeitig konkretisierte das Verfassungsgericht die materiellen Anforderungen an die Einstellungshöchstaltersgrenzen. Diese seien grundsätzlich zulässig, um ein ausgewogenes zeitliches Verhältnis zwischen Lebensdienstzeit und Ruhestandszeit zu gewährleisten, sodass der Gesetzgeber insoweit über einen Gestaltungsspielraum verfüge, dessen Grenzen sich unter anderem aus den Anforderungen des Leistungsprinzips (Art. 33 II GG) sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben würden.
Beschluss vom 04. Mai 2015 – 1 BvR 2096/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Über diesen Beschluss des BVerfG, mit dem das Gericht entschieden hat, dass Prozesskostenhilfe in der Regel zu gewähren ist, wenn die Revision gegen ein Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen wird, berichteten wir bereits in einem Artikel vom 27. Mai 2015.
Urteil vom 05. Mai 2015 – 2 BvL 17/09 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Leitsätze des BVerfG zur als verfassungswidrig befundenen R 1-Besoldung der Jahre 2008 bis 2010 in Sachsen-Anhalt lauten:
1. Dem weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der praktischen Umsetzung der aus Art. 33 Abs. 5 GG resultierenden Pflicht zur amtsangemessenen Alimentierung der Richter und Staatsanwälte entspricht eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung. Ob die Bezüge evident unzureichend sind, muss anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien und unter Berücksichtigung der konkret in Betracht kommenden Vergleichsgruppen geprüft werden.
2. Im Rahmen dieser Gesamtschau liegt es nahe, mit Hilfe von aus dem Alimentationsprinzip ableitbaren und volkswirtschaftlich nachvollziehbaren Parametern einen durch Zahlenwerte konkretisierten Orientierungsrahmen für eine grundsätzlich verfassungsgemäße Ausgestaltung der Alimentationsstruktur und des Alimentationsniveaus zu ermitteln.
3. Hierzu eignen sich fünf Parameter, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Alimentationsprinzip angelegt sind und denen indizielle Bedeutung bei der Ermittlung des verfassungsrechtlich geschuldeten Alimentationsniveaus zukommt (deutliche Differenz zwischen einerseits der Besoldungsentwicklung und andererseits der Entwicklung der Tarifentlohnung im öffentlichen Dienst, des Nominallohnindex sowie des Verbraucherpreisindex, systeminterner Besoldungsvergleich und Quervergleich mit der Besoldung des Bundes und anderer Länder). Ist die Mehrheit dieser Parameter erfüllt (1. Prüfungsstufe), besteht eine Vermutung für eine verfassungswidrige Unteralimentation. Diese Vermutung kann durch die Berücksichtigung weiterer alimentationsrelevanter Kriterien im Rahmen einer Gesamtabwägung widerlegt oder weiter erhärtet werden (2. Prüfungsstufe).
4. Ergibt die Gesamtschau, dass die als unzureichend angegriffene Alimentation grundsätzlich als verfassungswidrige Unteralimentation einzustufen ist, bedarf es der Prüfung, ob dies im Ausnahmefall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann. Der Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation ist Teil der mit den hergebrachten Grundsätzen verbundenen institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG. Soweit er mit anderen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen oder Instituten kollidiert, ist er entsprechend dem Grundsatz der praktischen Konkordanz im Wege der Abwägung zu einem schonenden Ausgleich zu bringen (3. Prüfungsstufe). Verfassungsrang hat namentlich das Verbot der Neuverschuldung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG.
5. Jenseits der verfassungsrechtlich gebotenen Mindestalimentation genießt die Alimentation des Richters oder Staatsanwalts einen relativen Normbestandsschutz. Der Gesetzgeber darf hier Kürzungen oder andere Einschnitte in die Bezüge vornehmen, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist.
6. Die Festlegung der Besoldungshöhe durch den Gesetzgeber ist an die Einhaltung prozeduraler Anforderungen geknüpft. Diese Anforderungen treffen ihn insbesondere in Form von Begründungspflichten.
Beschluss vom 12. Mai 2015 – 1 BvR 1501/13 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fusion der TU Cottbus mit der FH Lausitz zur BTU Cottbus-Senftenberg. Die vorübergehende Leitung der BTU Cottbus-Senftenberg durch einen vom Wissenschaftsministerium eingesetzten Gründungsbeauftragten sei dabei nicht mit der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III 1 GG vereinbar), da der Gesetzgeber die wesentlichen Regelungen nicht selbst getroffen hat. Dazu sei auf folgende Leitsätze verwiesen:
1. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG begründet keine Beteiligungsrechte der Hochschulen, Fakultäten oder einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Zustandekommen eines Gesetzes zur Fusion zweier Hochschulen.
2. Die staatliche Einsetzung eines Leitungsorgans im Zuge einer Hochschulfusion genügt den Anforderungen des Grundgesetzes an eine wissenschaftsadäquate Organisation umso weniger, je länger diese Leitung ohne ein universitäres Selbstverwaltungsorgan tätig ist und je weniger Befugnisse auf Notkompetenzen für reversible Entscheidungen beschränkt sind.
Beschluss vom 12. Mai 2015 – 2 BvR 2954/10
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistung von Vollstreckungshilfe im Falle einer vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien verhängten Freiheitsstrafe von 28 Jahren. Die Grundlage der Vollstreckung ist das Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (YUGStrGHG) vom 10. April 1995. Dabei sieht § 5 II YUGStrGHG vor, dass auf die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 übernommenen Fälle der Vollstreckung einer vom Gerichtshof verhängten Freiheitsstrafe die §§ 41, 42, 47 I des Gesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGHG) mit der Maßgabe entsprechende Anwendung finden, dass zeitige Freiheitsstrafe bis zu einer Höchstdauer von 30 Jahren vollstreckt wird. Trotz der über 15 Jahre hinausgehenden zeitigen Freiheitsstrafe sei die Vollstreckung nach deutschem Recht nicht verfassungswidrig. Der Beschwerdeführer hatte eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I, Art. 3 I sowie Art. 19 I, IV GG gerügt.
Beschluss vom 13. Mai 2015 – 1 BvQ 9/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Der Beschluss des BVerfG betrifft die Ablehnung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Inkrafttreten des „Bestellerprinzips“ bei Maklerprovisionen für Wohnraummietverträge. Für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung gemäß § 32 I BVerfGG müssten im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile, welche durch das vorübergehende Inkrafttreten eines – nach abschließender Prüfung – verfassungswidrigen Gesetzes entstünden, die Nachteile deutlich überwiegen, welche mit der vorläufigen Verhinderung eines verfassungsmäßigen Gesetzes verbunden wären. Allerdings sei den Antragstellern die Darlegung eines hinreichend schwerwiegenden Nachteils weder für die Gesamtheit der Wohnungsvermittler noch im Hinblick auf ihre eigene Situation gelungen. Verletzt sahen sich die Antragsteller in ihren Grundrechten aus Art. 2 I, Art. 3 I, Art. 12 I und Art. 14 I GG bzw. aus Art. 2 I und Art. 3 I GG.
Urteil vom 02. Juni 2015 – 2 BvE 7/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Leitsätze des BVerfG zum parlamentarischen Frage- und Informationsrecht (siehe Art. 38 I 2 und Art. 20 II 2 GG) über Unterstützungseinsätze der Bundespolizei (siehe Art. 35 II 1 GG), welche sich nur auf den Verantwortungsbereich des Bundes erstreckten, lauten:
1. Das aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages, seiner Abgeordneten und Fraktionen gegenüber der Bundesregierung bezieht sich hinsichtlich der Unterstützungseinsätze der Bundespolizei nach Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG nur auf Umstände, die nach der im Grundgesetz angelegten und im Gesetz über die Bundespolizei näher geregelten Verteilung der Zuständigkeiten in den Verantwortungsbereich des Bundes fallen.
2. Die Bundesregierung hat daher auf parlamentarische Fragen zu der Entscheidung über das Ersuchen eines Landes um Unterstützung durch die Bundespolizei zu antworten sowie auf Fragen, die sich auf Begleitumstände eines Unterstützungseinsatzes beziehen, für die eine Behörde des Bundes aufgrund ihrer Eigenschaft als Dienstherr der eingesetzten Beamten die Verantwortung trägt.
3. Die Bundesregierung ist hingegen grundsätzlich nicht verpflichtet, sich zu dem Konzept des in die Verantwortung der Landespolizei fallenden Gesamteinsatzes sowie zu dessen Vorbereitung, Planung und Durchführung zu äußern. Die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch polizeiliche Maßnahmen abzuwehren, liegt nach Art. 30, 70, 83 GG in der Zuständigkeit und Verantwortung der Länder (vgl. BVerfGE 97, 198 <214 ff.>). Das jeweilige Land trägt für das auf Weisung seiner Beamten erfolgende Handeln der Beamten der Bundespolizei die Verantwortung. Dem staatlichen Handeln wird in diesen Fällen demokratische Legitimation durch die Verantwortlichkeit der Landesregierung gegenüber der Volksvertretung des Landes verliehen.
4. Der Bund trägt allerdings – ungeachtet der Weisungsbefugnis des Landes –die dienstrechtliche Verantwortung für etwaiges rechtswidriges Verhalten seiner eingesetzten Beamten, denn diese sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Parlamentarische Anfragen zu rechtswidrigem, disziplinarrechtlich relevantem Verhalten einzelner Bundespolizisten im Rahmen von Unterstützungseinsätzen sind daher zu beantworten. Die Fragen müssen aber hinreichend klar erkennen lassen, dass und aufgrund welcher Tatsachen der begründete Verdacht eines rechtswidrigen Verhaltens von Bundespolizisten besteht.
Beschluss vom 19. Mai 2015 – 2 BvR 987/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss entschied das Gericht in Karlsruhe, dass die Einstellung der Ermittlungen gegen einen Oberst sowie einen Hauptfeldwebel der Bundeswehr nach dem Luftangriff in Kunduz aus dem Jahre 2009 nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Der Einstellungsbescheid des Generalbundesanwalts sowie die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf wahrten insoweit die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen.
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