BVerfG zum Atomausstieg – Was ihr jetzt wissen müsst!
Das BVerfG hat mit Urteil vom 06.12.2016 – 1 BvR 2821/11 u.a. Stellung zum Gesetz zum beschleunigten Atomausstieg vom 31.07.2011 („13. AtG-Novelle“) genommen und dieses größtenteils für verfassungskonform erklärt. Teile des Gesetzes wurden hingegen nicht vom BVerfG gebilligt und bedürfen der Nachbesserung. Nicht nur weil das Urteil in der Tagespresse ausführlich besprochen und debattiert wurde, sondern auch aufgrund der besonderen Relevanz für juristische Prüfungen sollen im Folgenden die wesentlichen Aussagen des Gerichts zusammengefasst werden.
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen, gekürzt)
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die im Jahr 2011 beschlossene Beschleunigung des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Die Grundentscheidung für den Ausstieg erfolgte bereits durch die Ausstiegsnovelle im Jahr 2002. Den einzelnen Kernkraftwerken wurden Kontingente an Reststrommengen zugeteilt, die auch auf andere, jüngere Kernkraftwerke übertragen werden durften. Infolge des Tsunamis vom 11. März 2011 und dem dadurch ausgelösten Schmelzen von drei Reaktorkernen im Kernkraftwerk Fukushima in Japan hat der Gesetzgeber mit der 13. AtG-Novelle erstmals feste Endtermine für den Betrieb der Kernkraftwerke gesetzlich verankert und zugleich die durch die 11. AtG-Novelle im Herbst 2010 vorgenommene Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke rückgängig gemacht. Die Beschwerdeführerinnen rügen vornehmlich eine Verletzung der Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG).
II. Die wesentlichen Aussagen des BVerfG
1. Grundrechtsfähigkeit einer ausländischen juristischen Person in Staatshand, Art. 19 Abs. 3 GG
Beschwerdeführerin Vattenfall ist mittelbar zu 100% in der Hand des schwedischen Staats. Problematisch ist daher die Grundrechtsfähigkeit im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG in zweierlei Hinsicht:
Zunächst im Hinblick auf die Organisationsstruktur, wonach Vattenfall mittelbar in öffentlicher Hand ist. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich nicht auf die materiellen Grundrechte berufen. Maßgeblich ist insoweit das sog. Konfusionsargument: Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung können nicht in einer Person zusammenfallen. Etwas anderes gilt nur für bestimmte Lebensbereiche, wie Universitäten oder öffentliche Rundfunkanstalten. Diese Argumentation greift jedoch nicht bei ausländischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, da die Grundrechtsverpflichtung fehlt und keine innerstaatlichen Machtbefugnisse bestehen.
Daneben erfasst Art. 19 Abs. 3 GG lediglich inländische juristische Personen. Wegen des Bezugs zur Niederlassungsfreiheit als Grundfreiheit dehnt das BVerfG diesen Begriff auch auf ausländische, innereuropäische juristische Personen aus. Auf diese Weise sollen Brüche zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung vermieden werden (sog. Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes).
2. Schutzbereich von Art. 14 GG
Art. 14 GG nimmt das Eigentum als Leitbegriff auf. Geschützt ist demnach jede gesicherte Rechtsposition. Die Eigentumsgarantie schützt den konkreten Bestand in der Hand der einzelnen Eigentümer gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt. An öffentlich-rechtlichen Genehmigungen besteht grundsätzlich kein Eigentum.
Allerdings liegt eine Berührung des Eigentums mittelbar durch Entzug der Genehmigungen vor: Die den Kernkraftwerken 2002 und 2010 durch Gesetz zugewiesenen Elektrizitätsmengen bilden zwar keinen selbständigen Gegenstand des Eigentumsschutzes, haben aber als maßgebliche Nutzungsgrößen teil am Eigentumsschutz der Anlagen.
Zudem sind die in der zwischen 2002 und 2011 getätigten Investitionen geschützt (sog. frustrierte Investitionen). Insoweit ist eine Abgrenzung zum bloßen Vermögensschutz vorzunehmen. Nur ausnahmsweise können Investitionen von Art. 14 GG geschützt sein, etwa wenn ein ausreichender Vertrauenstatbestand durch den Staat gesetzt wurde:
Das Eigentumsgrundrecht schützt damit auch berechtigtes Vertrauen in den Bestand der Rechtslage als Grundlage von Investitionen in das Eigentum und seiner Nutzbarkeit; ob und inwieweit ein solches Vertrauen berechtigt ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Eine Garantie der Erfüllung aller Investitionserwartungen besteht nicht.
3. Eingriffsbegriff
Maßgeblich zur Bestimmung der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs ist im Rahmen von Art. 14 GG, ob es sich um eine Enteignung oder eine Inhalts- und Schrankenbestimmung handelt. Eine Enteignung ist hierbei abschließend definiert als vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Das BVerfG nimmt eine Inhalts- und Schrankenbestimmung an und verneint eine Enteignung, da sich der Staat die Reststrommengen nicht gleichsam beschafft, also keine Güterbeschaffung bezweckt ist. Dies ist aber konstitutiv für eine Enteignung.
Beispielhaft mag die Wegnahme von illegal eingeführten Drogen durch den Zoll sein: Der Staat möchte sich in diesen Fällen die Drogen nicht beschaffen, sondern sie lediglich wegnehmen.
Allerdings kann der dennoch vorliegende Entzug konkreter Rechtspositionen ein Kriterium in der Verhältnismäßigkeitsprüfung sein:
Führen Einschränkungen der Nutzungs- und Verfügungsbefugnis am Eigentum als Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu einem Entzug konkreter Eigentumspositionen, ohne der Güterbeschaffung zu dienen, sind gesteigerte Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit zu stellen. Sie werfen stets die Frage nach Ausgleichsregelungen auf.
4. Verhältnismäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung
Die Beschränkung der Laufzeit und Reststrommengen wird vom BVerfG grundsätzlich als verhältnismäßig gebilligt. In die Abwägung sind insbesondere die schwerwiegenden Allgemeinwohlbelange einzustellen und der Umstand, dass die Sozialbindung des Eigentums bei Kernkraftwerken besonders ausgeprägt ist.
Etwas anderes gilt nur für bestimmte zugesagte Reststrommengen, da insoweit ein besonderer Vertrauensschutz auf Seiten der Beschwerdeführer eingreift, sowie für frustrierte Aufwendungen. Insoweit ist in der Klausur eine umfassende Abwägung anhand des wiedergegebenen Sachverhalts vorzunehmen. Vertretbar ist vieles, wichtig ist allein die wesentlichen Komponenten der Abwägung zu berücksichtigen: Allgemeinwohl, Gesundheits- und Umweltschutz, Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers sowie Sozialbindung des Eigentums gegenüber Vertrauens- und Eigentumsschutz.
Kritikansatz auf die Schnelle: im Urteil scheint die Notwendigkeit der Erschöpfung des allgemeinen (Verwaltungs-)Rechtsweges evtl. etwas schnell und leicht übergangen. Ein allgemeines Gesetz scheint idR. im Einzelfall gegen Private verwaltungsrechtlich weniger unmittelbar wirken zu können, sondern idR. eines Umsetzungsaktes zu bedürfen. Das schiene hier ein Widerruf einer zugestandenen Restlaufzeit sein zu können o.ä. Maßstab dafür schiene u.U. §§ (48) 49 II VwvfG. Das Gesetz, welches die zunächst zugestandene Restlaufzeit aufhob, könnte dazu im Widerspruch stehen. Das könnte zumindest noch etwas erörterungswürdiger problematisch scheinen. Eine Widerrufsmöglichkeit gem. § 49 VwVfG schiene auf die Schnelle evtl. nicht von vornherein völlig unproblematisch. Es schiene darin ein verwaltungsrechtliches Rechtsverhältnis mit eigenem materiell teils problematischeren Gehalt begründet liegen zu können. Die Möglichkeit eines Rechtsverhältnisses mit eigenem Wert scheint im Urteil etwas leicht abgetan. Eine Entscheidung im (normalen Veraltungs-)Rechtsweg müsste die Verfassungsmäßigkeit zu Grunde liegender Gesetze mit erwägen. Bei diesbzüglichen Zweifeln müsste dem BVerfG vorgelegt sein. Erst nach Erschöpfung des (Veraltungs-)Rechtsweges könnte ansonsten eine (Urteils-)Verfassungsbeschwerde möglich sein. Auf die Schnelle erschiene dies u.U. eher als formal richtiger Weg zum Verfassunggericht. Dies anstatt einer etwas einfachen Bejahung einer sofortigen unmittelbaren Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde erheben zu können.