BVerfG: Hausverbot gegen „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ auf privatem Grundstück aufgehoben
Das Versammlungsrecht ist ein Klassiker im ersten und zweiten Staatsexamen. Wie bei anderen Kommunikationsgrundrechten ist auch die Ausübung der Versammlungsfreiheit auf Wirkung nach außen angelegt und damit in besonderem Maße konfliktträchtig (vgl. zu Parallelen: BVerfG v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315). Häufig kommt es daher zu komplexen Abwägungsproblemen, die sich ideal als Klausurprobleme eignen.
Aktueller Beschluss zum Flashmob „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“
Dies wird in einem aktuellen Fall besonders deutlich: Das BVerfG hat im Wege einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) vom 18.7.2015 (Az.: 1 BvQ 25/15) beschlossen, dass der für heute, 20.7.2015, zwischen 18.15 und 18.30 Uhr auf dem Nibelungenplatz in Passau geplante „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ durchgeführt werden darf.
Sachverhalt
Dem Beschluss lag der folgende Sachverhalt zugrunde (s. BVerfG-Pressemitteilung Nr. 56/2015 vom 19.7.2015): Der Antragsteller beabsichtigt, am 20.7.2015 für die Zeit von 18:15 Uhr bis 18:30 Uhr eine stationäre öffentliche Versammlung auf dem Nibelungenplatz in Passau durchzuführen. Dieser ist zentral in der Stadt am südlichen Ende der Fußgängerzone gelegen (vgl. hier) und für den Publikumsverkehr geöffnet. Er steht im Eigentum einer GmbH & Co. KG. Mit der geplanten Versammlung unter dem Motto „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ soll auf das Schwinden des staatlichen Gewaltmonopols sowie auf eine zunehmende Beschränkung von Freiheitsrechten hingewiesen werden. Auf Kommando „Für die Freiheit – trinkt AUS!“ sollen die Versammlungsteilnehmer jeweils eine Dose Bier öffnen und diese schnellstmöglich leer trinken; anschließend folgen ein Redebeitrag des Antragstellers und eine Diskussion. Die Platzeigentümerin sprach den Versammlungsteilnehmern ein Hausverbot aus. Hiergegen ging die Versammlungsleitung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gerichtlich vor, verlor aber vor den Zivilgerichten.
Örtlicher Schutzbereich der Versammlungsfreiheit
Das BVerfG hob diese Entscheidungen durch einstweilige Anordnung auf. Im Rahmen der nach § 32 BVerfGG vorzunehmenden Folgenabwägung stellten die Karlsruher zunächst folgende Erwägung an:
Eine Verfassungsbeschwerde erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt nicht offensichtlich unbegründet.
Die Versammlungsfreiheit verschafft kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten; sie verbürgt die Durchführung von Versammlungen jedoch dort, wo bereits ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet worden ist. Der beabsichtigte Ort der Versammlung steht zwar im Eigentum einer Privaten, ist zugleich aber für den Publikumsverkehr offen und schafft nach den Feststellungen des Landgerichts einen Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht.
Mit diesen Ausführungen zum örtlichen Schutzbereich knüpft das BVerfG an die Fraport-Rechtsprechung an (wir berichteten). Danach erstreckt sich der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nur auf „Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs“. Dies sind Orte,, die der Öffentlichkeit allgemein geöffnet und zugänglich sind. Ausgeschlossen sind demgegenüber zum einen Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert und nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird. Maßgeblich für die Abgrenzung sei das „Leitbild des öffentlichen Forums“ wie es bereits vom Kanadischen und US Supreme Court entwickelt wurde. Ein solches public forum sei dadurch charakterisiert, dass auf ihm eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht. Überträgt man diese Kriterien auf den vorliegenden Fall, so spricht in der Tat alles dafür, den Nibelungenplatz in Passau als öffentliches Forum zu qualifizieren (der Leser möge sich selbst ein Bild machen: vgl. hier).
Drittwirkung
Das nächste Problem, mit dem sich das BVerfG auseinandersetzen musste, war die Frage, inwiefern die Versammlungsfreiheit bei einem privatrechtlichen Hausverbot zu berücksichtigen ist. Es geht also um die Drittwirkung von Art. 8 Abs. 1 GG. Der Ausgangspunkt ist zunächst klar:
Als private Grundstückseigentümerin ist die GmbH & Co. KG nicht wie die staatliche Gewalt unmittelbar an Grundrechte gebunden. Dennoch entfalten die Grundrechte als objektive Prinzipien rechtliche Wirkungen; die Versammlungsfreiheit ist im Wege der mittelbaren Drittwirkung nach Maßgabe einer Abwägung zu beachten.
Interessant sind dann aber die weiteren Ausführungen des BVerfG, in denen eine Annäherung der Drittwirkung an die staatliche Grundrechtsbindung angedeutet wird:
Je nach Fallgestaltung kann dies einer Grundrechtsbindung des Staates nahe oder auch gleich kommen. Für den Schutz der Kommunikation kommt das insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die früher in der Praxis allein dem Staat zugewiesen waren (vgl. BVerfGE 128, 226).
Im Rahmen der einstweiligen Anordnung konnte das BVerfG jedoch letztlich diese Frage offen lassen:
Was hieraus im Einzelnen folgt, dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht bisher noch nicht geäußert; es kann folglich im Wege des vorliegenden Eilverfahrens nicht von der Kammer entschieden werden. Hier ist vielmehr lediglich eine Folgenabwägung für den konkreten Einzelfall vorzunehmen.
Vorliegend träfe das aus dem Hausverbot folgende faktische Verbot einer Durchführung der Versammlung den Antragsteller schwer. Dem vom Beschwerdeführer ausgewählten Versammlungsort kommt angesichts des Themas der Versammlung – die zunehmende Beschränkung von Freiheitsrechten und die Privatisierung der inneren Sicherheit – eine besondere Bedeutung zu. Demgegenüber ist eine gleichwertige Beeinträchtigung von Eigentumsrechten der Grundstückseigentümerin nicht zu erkennen. Die Versammlung ist auf einen Zeitraum von etwa 15 Minuten beschränkt und soll stationär abgehalten werden. Versammlungsrechtliche Bedenken gegen die Veranstaltung vermochte die Versammlungsbehörde nicht zu erkennen. Sollte Gegenteiliges ersichtlich sein, kann dem im Wege beschränkender Verfügungen entgegengewirkt werden, die im Vergleich mit dem hier angegriffenen Totalverbot die milderen Mittel wären.
Man darf also gespannt auf die Entscheidung des BVerfG in der Verfassungsbeschwerde sein. Als Examenskandidat sollte man diese Konstellation auf jeden Fall im Auge behalten.
Abgrenzung: Fraport-Entscheidung
Hinsichtlich der Problematik des örtlichen Schutzbereichs dürfte zu erwarten sein, dass die Fraport-Entscheidung bestätigt und fortgeschrieben wird.
Bei der Frage der Drittwirkung fehlt es indes an unmittelbar einschlägigen Präjudizien. Bei der Konstellation der Fraport-Entscheidung ging es um ein von der öffentlichen Hand beherrschtes gemischtwirtschaftliches Unternehmen. Diese unterliegen ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren Grundrechtsbindung. Das BVerfG konnte daher offen lassen, unter welchen Bedingungen ein privatrechtlicher Anspruch auf Zulassung zur Nutzung einer Fläche für eine Versammlung bestehen kann. Dieser noch ungeklärte Aspekt der Fraport-Entscheidung liegt nun auf dem Tisch.
Weiterführende Lesehinweise
Zum Versammlungsrecht empfiehlt sich ergänzend die Lektüre folgender Beiträge:
Der Entscheidung scheint noch nicht völlig klar entnehmbar, wieso es hier eilig gerade Versammlungswillige schwerer bezüglich des Versammlungsthemas treffen sollte, sich nicht derart zu dieser Zeit an diesem Ort versammeln zu können, als Private, zwar einzeln nur geringe, Eigentumsbeeinträchtigungen mit unsicherem vorgetragenem Versammlungsbezug generell dulden zu müssen.
Anders ausgedrückt: warum einem Interesse, gerade auf einem bestimmen Privatgrundstück zu bestimmter Zeit eine viertel Stunde lang um die Wette Bierdosen austrinken zu können, derart hohes verfassungsrechtliches Gewicht zu kommen soll, erscheint nach der ersichtlichen Begründung noch nicht ganz deutlich.
Wenn man das nicht derart kann, muss einem normalerweise damit auch nicht unbedingt „ein Zacken aus der Krone fallen“.