BVerfG zur konkreten Normenkontrolle – Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage
Das BVerfG hat sich in einem aktuellen Beschluss ( 1 BvL 7/15) mit den Anforderungen einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG auseinandergesetzt. Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle betraf die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von Pflichtverletzungen der leistungsberechtigten Person. Das SG Gotha hält die Sanktionsregelung nach dem SGB II für verfassungswidrig. Zur Sache selbst äußerte sich die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG in seinem Beschluss vom 06.05.2016 – 1 BvL 7/15 im Ergebnis allerdings nicht, denn es verwarf die Vorlage aufgrund fehlender Feststellungen zur Entscheidungserheblichkeit.
Zwar werfe der Vorlagebeschluss durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf, allerdings habe das vorlegende Gericht jedoch nicht in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass diese hier auch entscheidungserheblich sind:
Es fehlt jedoch an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II in diesem Verfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den hier in Rede stehenden Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II genügen, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen entscheidungserheblich nicht mehr an.
Dem vorlegenden Gericht ist damit ein einfacher, vermeidbarer Fehler unterlaufen: Es hat nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen sauber geprüft, so dass nicht klar ist, ob es auf die Verfassungswidrigkeit im konkreten Fall überhaupt ankommt. Dies ist aber bei der konkreten Normenkontrolle notwendig, da Richter grundsätzlich die Anwendung des geltenden Rechts überprüfen sollen, nicht das geltende Recht selbst. Das BVerfG rügt das Sozialgericht Gotha in seinem Beschluss daher auch recht deutlich:
Ausführungen zum Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung liegen auch nahe, weil die Fehleranfälligkeit von Rechtsfolgenbelehrungen der Fachöffentlichkeit bekannt ist. Darauf hat der Gesetzgeber im Jahr 2011 mit einer Ergänzung von § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II reagiert. Danach steht eine unzureichende oder fehlende Belehrung bei Kenntnis der Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung einer Sanktion nicht entgegen. Das vorlegende Gericht hat jedoch auch zu dieser Tatbestandsalternative keinerlei Ausführungen gemacht.
Da die Anforderungen an eine konkrete Normenkontrolle – zumindest im Überblick – bereits Erstsemestern und natürlich auch Examenskandidaten bekannt sein müssen, bietet es sich an dieser Stelle durchaus einmal an zur konkreten Normenkontrolle ein übersichtsartiges Schema darzustellen.
I. Zulässigkeit
1. Zuständigkeit des BVerfG
Für das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist das BVerfG gemäß Art. 100 I GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG zuständig.
2. Vorlageberechtigung
Zur Vorlage berechtigt bzw. verpflichtet sind grundsätzlich alle deutschen Gerichte, d.h. alle staatlichen Spruchstellen, die sachlich unabhängig sind und in einem formell gültigen Gesetz mit Aufgaben eines Gerichtes betraut sowie als Gerichte bezeichnet werden. Hierunter fallen insoweit Bundes- und Landesgerichte aller Gerichtsbarkeiten und Instanzen einschließlich der Landesverfassungsgerichte sowie Berufs- und Ehrengerichte von Körperschaften des Öffentlichen Rechts, nicht aber private Schiedsgerichte nach der ZPO, kirchliche Gerichte oder unabhängige Stellen der Exekutive.
3. Verfahrensgegenstand
Der jeweilige Verfahrensgegenstand kann in allen Vorlagefällen nur ein geltendes Gesetz (verkündet und in Kraft getreten) sein, das ein deutscher Gesetzgeber nachkonstitutionell erlassen hat. Im Falle von untergesetzlichem oder vorkonstitutionellem Recht entscheiden die Instanzgerichte selbst im Rahmen eines freien richterlichen Prüfungsrechts, es sei denn, der nachkonstitutionelle Gesetzgeber hat das Gesetz von seinem Bestätigungs- oder Aufnahmewillen erfasst, was aus dem Inhalt des Gesetzes selbst oder aus dem engen sachlichen Zusammenhang zwischen den geänderten und den unverändert gebliebenen Gesetzesbestimmungen objektiv zu schließen sein muss. Die Vorlage von sekundärem Gemeinschaftsrecht ist zwar grundsätzlich denkbar, jedoch auf Grund der Solange-Entscheidung des BVerfG faktisch ausgeschlossen.
4. Vorlagegrund
a. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit
Bevor das Gericht eine Vorlage zum BVerfG in Betracht zieht, ist grundsätzlich eine verfassungs- bzw. bundesrechtskonforme Auslegung der streitgegenständlichen Norm durchzuführen, sodass das Gericht zunächst zu prüfen hat, ob eben eine solche Auslegung des betreffenden Gesetzes möglich ist. Als authentischer Interpret der Verfassung ist in diesem Zusammenhang vorrangig die Rechtsprechung des BVerfG zugrunde zu legen. Kommt es hiernach dennoch zur Überzeugung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, so muss diese Überzeugung klar zum Ausdruck kommen; bloße Zweifel genügen nicht.
b. Entscheidungserheblichkeit
Die fragliche Norm muss im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens (jede Tätigkeit eines Gerichts, bei der in einem gerichtlich geregelten Verfahren und unter Anwendung von Rechtsnormen eine Entscheidung zu treffen ist) auf die Gerichtsentscheidung einen derartigen Einfluss haben, dass die Entscheidung bei Gültigkeit der fraglichen Norm anders getroffen werden müsste als bei deren Ungültigkeit. Abgestellt wird dabei insbesondere auf den Tenor der Entscheidung. Zur Beurteilung über die Entscheidungserheblichkeit werden hohe Anforderungen angesetzt, allerdings ausgehend von der Sichtweise des vorlegenden Gerichts.
Vorliegend fehlten ausreichende Feststellungen zur Entscheidungserheblichkeit. Zwar werfe der Vorlagebeschluss durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf, allerdings habe das vorlegende Gericht jedoch nicht in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass diese hier auch entscheidungserheblich sind:
Es fehlt jedoch an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II in diesem Verfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den hier in Rede stehenden Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II genügen, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen entscheidungserheblich nicht mehr an.
Dem vorlegenden Gericht ist damit ein einfacher, vermeidbarer Fehler unterlaufen. Es hat nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen sauber geprüft, so dass nicht klar ist, ob es auf die Verfassungswidrigkeit im konkreten Fall ankommt. Dies ist aber bei der konkreten Normenkontrolle notwendig, da Richter grundsätzlich die Anwendung des geltenden Rechts überprüfen sollen, nicht das geltende Recht selbst. Das BVerfG rügt das Sozialgericht Gotha in seinem Beschluss daher auch recht deutlich:
Ausführungen zum Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung liegen auch nahe, weil die Fehleranfälligkeit von Rechtsfolgenbelehrungen der Fachöffentlichkeit bekannt ist. Darauf hat der Gesetzgeber im Jahr 2011 mit einer Ergänzung von § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II reagiert. Danach steht eine unzureichende oder fehlende Belehrung bei Kenntnis der Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung einer Sanktion nicht entgegen. Das vorlegende Gericht hat jedoch auch zu dieser Tatbestandsalternative keinerlei Ausführungen gemacht.
5. Ordnungsgemäßer Vorlageantrag
Kommt ein Gericht zur Überzeugung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, so muss es von sich aus das Vorlageverfahren ergreifen und dem BVerfG das Gesetz zur Überprüfung vorlegen, wobei dann § 23 BVerfGG und zudem eine strenge formgerechte Vorlagebegründung nach § 80 II BVerfGG gelten. Ein Antrag der Prozessparteien ist nicht erforderlich und überdies auch nicht genügend (§ 80 III BVerfGG).
6. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
Eine Vorlageunzulässigkeit in diesem Sinne besteht nur dann, wenn die Verfassungsmäßigkeit des vorgelegten Gesetzes bereits vom BVerfG entschieden wurde (siehe § 31 II 1 BVerfGG).
II. Begründetheit
Der Antrag im Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist begründet, wenn der geltend gemachte Verfassungsverstoß vorliegt, was stets dann der Fall ist, wenn die vorgelegte Norm entweder in formeller oder in materieller Hinsicht gegen die Verfassung verstößt. Der Prüfungsmaßstab ist bei der Überprüfung von Bundesrecht insofern das GG und bei der Überprüfung von Landesrecht zudem das Bundesrecht, einschließlich bundesrechtlicher Rechtsverordnungen. Nach § 82 BVerfGG gelten die §§ 77-79 BVerfGG entsprechend.
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