BGH: Weiterleben als Schaden?
Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Charlotte Schippers veröffentlichen zu können. Die Autorin hat an der Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn (Lehrstuhl Thüsing).
In einer aufmerksamkeitserregenden Entscheidung vom 2.4.2019 (Az.: VI ZR 13/18) hat der BGH die Klage eines Mannes abgewiesen, der im Namen seines Vaters Schadensersatz für die künstliche Verlängerung von dessen Leben geltend gemacht hatte. Hierbei hat der BGH sich maßgeblich mit der Frage auseinandergesetzt, ob das (Weiter-)Leben einen Schaden darstellen kann. Gerade aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, die die Entscheidung in den letzten Tagen erfuhr, aber auch wegen der zu beachtenden verfassungsrechtlichen Wertungen ist anzunehmen, dass sie sich schon bald in Abschluss- und Examensklausuren wiederfinden lassen wird.
I. Sachverhalt
Mit folgendem Sachverhalt hatte der BGH sich also zu beschäftigen: Der im Oktober 2011 verstorbene Vater des Klägers war schwer krank und war seit September 2006 mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt worden. Durch den Beklagten, einen niedergelassenen Arzt, wurde er hausärztlich betreut. Mangels einer Patientenverfügung oder anderer entsprechender Anhaltspunkte war sein Wille bzgl. des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen nicht feststellbar.
Der Kläger macht nun geltend, die künstliche Ernährung habe spätestens seit Anfang 2010 nur noch zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens geführt. Den Beklagten habe mithin die Pflicht getroffen, das Therapieziel zu ändern, sodass das Sterben des Patienten durch eine Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen werde.
Der Kläger verlangt deshalb von dem Beklagten aus geerbtem Recht seines Vaters Schmerzensgeld und Ersatz für Behandlungs- und Pflegeaufwendungen.
II. Entscheidung
Der BGH hatte damit über zwei Fragen zu entscheiden:
1. Weiterleben als Schaden?
Zunächst war – und hierbei hat der BGH es ausdrücklich offengelassen, ob überhaupt die Verletzung einer Pflicht durch den Beklagten gegeben war – die Frage zu beantworten, ob das Weiterleben unter Qualen einen Schaden darstellen kann. Hier wägten die Richter ab zwischen dem Zustand des Weiterlebens mit Leiden und dem Tod. Sie zogen die Art. 1 I, 2 II 1 GG heran und argumentierten, dass es sich hiernach jedem Dritten verbiete, ein Urteil über die Wertigkeit des höchstrangigen Rechtsguts menschliches Leben zu treffen. Das menschliche Leben sei vielmehr absolut erhaltungswürdig. Auch die eigene Einschätzung des Patienten, sein Leben sei nun lebensunwert, könne der staatlichen Gewalt und damit natürlich auch der Rechtsprechung keine andere Beurteilung erlauben.
Die hier relevante Problematik, ob das sog. „wrongful life“ einen Schaden darstellen kann, mag euch auch schon aus der examensrelevanten Konstellation bekannt sein, in der es um die Geburt eines behinderten Kindes geht, dessen Behinderung der Arzt nicht frühzeitig festgestellt hat, sodass die Mutter nicht die Möglichkeit zu einem Abbruch der Schwangerschaft hatte (vgl. BGH, Urteil vom 18.1.1983 – VI ZR 114/81). Auch hier ging der BGH schon davon aus, dass in dem Leben kein Schaden liegt. An dieser Bewertung hat er also festgehalten.
2. Ersatz der Behandlungskosten
Aber auch den Anspruch auf Ersatz der Behandlungskosten, die durch das Weiterleben des Patienten entstanden seien, verneinte der BGH. Hierzu nahm er Bezug auf den Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit den lebenserhaltenden Maßnahmen. Dieser liege gerade nicht darin, wirtschaftliche Belastungen, die aus dem Weiterleben und dem Leiden resultieren, zu vermeiden, und insb. nicht darin, den Erben das Vermögen ungeschmälert zu erhalten.
Insofern stellt das Urteil eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BGH dar: Zuvor urteilte er vielmehr, dass Eltern bei fehlerhafter Beratung, die zur Geburt eines behinderten Kindes geführt hat, von dem beratenden Arzt den vollen Unterhaltsbedarf des Kindes verlangen können, wenn sie bei richtiger und vollständiger Beratung von der Zeugung des Kindes abgesehen hätten (vgl. BGH, Urteil vom 16.11.1993 – VI ZR 105/92; ähnlich auch BGH, Urteil vom 18.1.1983 – VI ZR 114/81 (s.o.)). Bisher hat der BGH seine Abweichung hiervon mit dem Schutzzweck der ärztlichen Pflichten begründet. Ob eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den vorhergehenden Entscheidungen und ihren Begründungen stattgefunden hat, wird sich bei Veröffentlichung der Urteilsgründe zeigen.
Als Gegenargument – auch für die Klausur – kann man sich jedenfalls jetzt schon Teile der Begründungen der älteren Urteile vor Augen führen: Insbesondere klarzustellen ist, dass eine Differenzierung zwischen der Existenz des Kindes, was man so auch auf das Weiterleben des Patienten übertragen kann, und seinem, wie der BGH formuliert, „unbestreitbaren Wert als Persönlichkeit“ und der hierdurch entstehenden wirtschaftlichen Belastung vorzunehmen ist. Es wird gerade nicht das Dasein/das Leben an sich als Schadensfall angesehen. Die schadensrechtliche Betrachtung beschränkt sich allein auf die wirtschaftliche Seite, sodass Sie auch unter Berücksichtigung der Menschenwürde aus Art. 1 GG erfolgen kann.
III. Summa
Wenn sich also auch im Hinblick auf die Frage, ob das Leben einen Schaden darstellen kann, nichts geändert hat, ist aber doch die Rechtsprechungsänderung hinsichtlich ersatzfähiger Unterhalts-/Behandlungskosten zu beachten. Hier eröffnet sich ein Argumentations- und Bewertungsspielraum für Klausuren. Auf die ausführliche Begründung des BGH warten wir gespannt! Jedenfalls ist es bereits jetzt für jeden Examenskandidaten ein Muss, die obige Entscheidung zu kennen!
Fraglich kann bereits ebenso sein, inwieweit rechtliche Pflichtwidrigkeit vorliegt. Es müsste dafür eine Rechtpflicht genügend sicher bestehen, in Grenzfällen zwischen Leben und Tod ärztlich verhungern lassen zu müssen. Solche Rechtspflicht sollte dabei zudem nicht entschuldbar sein können, wie etwa aufgrund einer Gewissensentscheidung.
M.E. kann man eine solche rechtliche Pflicht, verhungern lassen zu müssen, welche nicht entschulbar sein kann, weniger sicher anzunehmen sein.
Wenn ein Arzt in einer Grenzsituation zwischen Leben und Tod eine Gewissensentscheidung in der ein oder anderen Weise trifft, sollte man diesen dafür eventuell weniger ohne weiteres rechtlich haftbar machen können. Ebenso weniger Krankenhausträger usw.
Dies solange jedenfalls eine Gewissensentscheidung nicht als völlig unangemessen und quasi unvertretbar, oder teils überwiegend mit von sachfremden Erwägungen geleitet, erscheint.