BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (4. Quartal/2016)
Gleich zum Start in das neue Jahr stellen wir euch mit diesem Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von ausgesuchten und bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, die das Gericht in den letzten Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten. Dargestellt werden lediglich die bereits veröffentlichten Entscheidungen.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
Beschluss vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss die Anforderungen an die Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wie der Pressemitteilung zu entnehmen ist, wie folgt konkretisiert:
Droht bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Grundrechtsverletzung, die durch eine stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so darf sich das Fachgericht im Eilverfahren grundsätzlich nicht auf eine bloße Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen beschränken. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert dann vielmehr regelmäßig eine über die sonst übliche, bloß summarische Prüfung des geltend gemachten Anspruchs hinausgehende, inhaltliche Befassung mit der Sach- und Rechtslage.
In dem Verfahren wendete sich die Beschwerdeführerin gegen die sofortige Vollziehung einer vorzeitigen Besitzeinweisung.
Im Übrigen sei auf unseren Artikel vom 20. Oktober 2016 verwiesen.
Beschlüsse vom 20. September 2016 – 1 BvR 1140/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Für den ein oder anderen Studenten im Schwerpunktbereich relevant, hat das BVerfG mit diesem Beschluss mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das im August 2014 in Kraft getretene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG 2014) nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdeführer wendeten sich in diesem Verfahren gegen die Deckelung der Strommenge, für die Betreiber von Bestandsbiogasanlagen ihren Vergütungsanspruch in voller Höhe geltend machen können (§ 101 I EEG 2014), sowie gegen die Beschränkung der Substrate, für deren Verwendung in Biogasanlagen ein zusätzlicher sog. „Landschaftspflegebonus“ bezahlt wird (§ 101 I Nr. 1 EEG 2014). Zwar würden beide angegriffenen Neuregelungen eine „unechte“ Rückwirkung entfalten. Diese verletzten allerdings nicht das verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen der Beschwerdeführer.
Beschluss vom 20. September 2016 – 2 BvR 2453/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zum Grundsatz der Bestenauslese bei Bundesrichterwahlen, hat das BVerfG mit folgenden Leitsätzen ausgeführt:
1. Die Berufung von Richtern an den obersten Gerichtshöfen des Bundes ist an Art. 33 Abs. 2 GG zu messen. Das durch Art. 95 Abs. 2 GG vorgegebene Wahlverfahren bedingt jedoch Modifikationen gegenüber rein exekutivischen Auswahl- und Beförderungsentscheidungen.
2. Die Mitglieder des Richterwahlausschusses haben bei ihrer Entscheidung die Bindung des zuständigen Ministers an Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten. Der eigentliche Wahlakt unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle.
3. Der zuständige Minister hat sich bei seiner Entscheidung den Ausgang der Wahl grundsätzlich zu eigen zu machen, es sei denn, die formellen Ernennungsvoraussetzungen sind nicht gegeben, die verfahrensrechtlichen Vorgaben sind nicht eingehalten oder das Ergebnis erscheint nach Abwägung aller Umstände und insbesondere vor dem Hintergrund der Wertungen des Art. 33 Abs. 2 GG nicht mehr nachvollziehbar.
4. Der Minister muss begründen, wenn er seine Zustimmung verweigert oder wenn er der Wahl eines nach der Stellungnahme des Präsidialrats oder den dienstlichen Beurteilungen nicht Geeigneten zustimmt.
Beschluss vom 20. September 2016 – 2 BvE 5/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Parteifähigkeit der G 10-Kommission im Organstreitverfahren, im Zusammenhang mit dem Antrag auf Herausgabe der NSA-Selektorenlisten, hat das BVerfG wie folgt ausgeführt:
Die G 10-Kommission ist ein Kontrollorgan eigener Art und im Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG nicht parteifähig. Sie ist weder oberstes Bundesorgan, noch ist sie eine andere durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattete Beteiligte.
Beschluss vom 21. September 2016 – 2 BvL 1/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG entschieden, dass die Strafvorschrift in § 10 I und III Rindfleischetikettierungsgesetz (RiFlEtikettG) mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen (Art. 103 II i.V.m. Art. 104 I 1 GG sowie Art. 80 I 2 GG) unvereinbar und damit nichtig ist. Zwar dürfe der Gesetzgeber die Beschreibung eines Straftatbestandes durch Verweisung auf eine andere Vorschrift ersetzen (Blankettstrafgesetz). Die Verweisung in § 10 I RiFlEtikettG ließe jedoch nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen.
Weitergehende Ausführungen findet ihr in unserem Artikel vom 01. Dezember 2016.
Beschluss vom 26. September 2016 – 1 BvR 1326/15
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss entschieden, dass § 19 III Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) gegen Artikel 12 I GG verstößt und damit nichtig ist.
Beschluss vom 13. Oktober 2016 – 2 BvE 2/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Herausgabe der NSA-Selektorenlisten durch die Bundesregierung an den NSA-Untersuchungsausschuss, hat das BVerfG im Organstreitverfahren entschieden:
1. § 18 Abs. 3 PUAG billigt nicht jeder Minderheit im Untersuchungsausschuss die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren zu. Antragsbefugt ist vielmehr nur die von der konkreten oder potentiellen Einsetzungsminderheit im Deutschen Bundestag im Sinne des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG getragene Ausschussminderheit.
2. Das Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsaus-schusses unterliegt Grenzen, die, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben müssen (vgl. BVerfGE 124, 78 <118>). Völkerrechtliche Verpflichtungen können demgemäß keine unmittelbare Schranke des parlamentarischen Beweiserhebungsrechts begründen, da sie als solche keinen Verfassungsrang besitzen.
3. Das aus dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses grundsätzlich folgende Recht auf Vorlage der NSA-Selektorenlisten ist nicht durch die Einsetzung der sachverständigen Vertrauensperson und deren gutachterliche Stellungnahme erfüllt.
4. Dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses steht das Interesse der Bundesregierung an funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung gegenüber. Zu diesen Aufgaben gehört auch die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste zur Gewährleistung eines wirksamen Staats- und Verfassungsschutzes.
5. Hier:
Das Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung überwiegt das parlamentarische Informationsinteresse, weil die vom Beweisbeschluss erfassten NSA-Selektorenlisten aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen nicht ihrer Verfügungsbefugnis unterfallen, ihre Einschätzung, eine nicht konsentierte Herausgabe dieser Listen könne die Funktions- und Kooperationsfähigkeit deutscher Nachrichtendienste erheblich beeinträchtigen, nachvollziehbar ist und sie dem Vorlageersuchen in Abstimmung mit dem Untersuchungsausschuss durch andere Verfahrensweisen so präzise, wie es ohne eine Offenlegung von Geheimnissen möglich gewesen ist, Rechnung getragen hat.
Urteil vom 13. Oktober 2016 – 2 BvR 1368/16 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, welche sich gegen eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der EU zur Unterzeichnung, zum Abschluss und zur vorläufigen Anwendung des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA) richteten. Wie aus der Pressemitteilung hervorgeht, habe die Bundesregierung allerdings sicherzustellen,
– dass ein Ratsbeschluss über die vorläufige Anwendung nur die Bereiche von CETA umfassen wird, die unstreitig in der Zuständigkeit der Europäischen Union liegen,
– dass bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache eine hinreichende demokratische Rückbindung der im Gemischten CETA-Ausschuss gefassten Beschlüsse gewährleistet ist, und
– dass die Auslegung des Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch Deutschland ermöglicht.
Sofern diese Maßgaben eingehalten werden, bestünden für die Rechte der Beschwerdeführer sowie für die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages keine schweren Nachteile, die im Rahmen einer Folgenabwägung den Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten erscheinen ließen.
Beschluss vom 27. Oktober 2016 – 1 BvR 458/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Befreiungsfestigkeit des besonderen Stilleschutzes am Karfreitag durch Art. 5 HS. 2 Bayerisches Gesetz über den Schutz der Sonn- und Feiertage (FTG), hat das BVerfG mit folgenden Leitsätzen ausgeführt:
1. Die Anerkennung des Karfreitags als gesetzlicher Feiertag sowie seine Ausgestaltung als Tag mit einem besonderen Stilleschutz und die damit verbundenen grundrechtsbeschränkenden Wirkungen sind dem Grunde nach durch die verfassungsrechtliche Regelung zum Sonn- und Feiertagsschutz in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV gerechtfertigt, da sie niemandem eine innere Haltung vorschreiben, sondern lediglich einen äußeren Ruherahmen schaffen.
2. Für Fallgestaltungen, in denen eine dem gesetzlichen Stilleschutz zuwiderlaufende Veranstaltung ihrerseits in den Schutzbereich der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) oder der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) fällt, muss der Gesetzgeber jedoch die Möglichkeit einer Ausnahme von stilleschützenden Unterlassungspflichten vorsehen.
Beschluss vom 02. November 2016 – 1 BvR 289/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Dieser Beschluss betrifft die erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die polizeiliche Identitätsfeststellung und Freiheitsentziehung im Rahmen einer Versammlung.
Beschlüsse vom 07. November 2016 – 1 BvR 1089/12 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Diese Beschlüsse betreffen die erfolglosen Verfassungsbeschwerden gegen die begrenzte Überführung in der DDR erworbener Rentenansprüche.
Beschluss vom 08. November 2016 – 1 BvR 3237/13
Dieser Beschluss betrifft die erfolglose Verfassungsbeschwerde einer Schülerin, welche sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde dagegen wendete, dass ihr eine aus religiösen Gründen begehrte Befreiung vom gemeinsamen, sogenannten koedukativen Schwimmunterricht für Mädchen und Jungen durch die Schulleitung versagt wurde.
Beschlüsse vom 22. November 2016 – 1 BvL 6/14 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Eventuell auch für den Schwerpunktbereich relevant, hat das BVerfG mit diesen Beschlüssen zur Beschränkung des Rechtsschutzes im Telekommunikationsgesetz wie folgt entschieden:
Eine Beschränkung des Rechtsschutzes, den ein reguliertes Telekommunikationsunternehmen mit Wirkung für die Vergangenheit gegen Entgeltentscheidungen der Bundesnetzagentur erhalten kann, auf den im Eilverfahren erlangten Rechtsschutz, ist mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur vereinbar, solange und soweit sie erforderlich ist, um den Wettbewerb zu fördern.
Urteile vom 06. Dezember 2016 – 1 BvR 2821/11 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesen Urteilen hat das BVerfG entschieden, dass die Regelungen des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 („13. AtG-Novelle“) im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar ist, denn die darin getroffenen Regelungen erwiesen sich weitgehend als eine zumutbare und auch die Anforderungen des Vertrauensschutzes und des Gleichbehandlungsgebots wahrende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums.
Für weitergehende Informationen sei auf unseren Artikel vom 08. Dezember 2016 verwiesen.
Beschlüsse vom 14. Dezember 2016 – 2 BvR 2557/16 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Hiermit hat das BVerfG die Abschiebung eines afghanischen Staatsangehörigen aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls ausgesetzt. Laut der Pressemitteilung habe die Kammer die Frage ausdrücklich offen gelassen, ob angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan Abschiebungen derzeit verfassungsrechtlich vertretbar sind. Die Entscheidung beruhe allein auf einer Folgenabwägung, bei der die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung überwiegen würden.
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