BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2016)
Gerne stellen wir euch auch wieder zur Halbzeit des Jahres 2016 mit diesem Rechtsprechungsüberblick eine ausgesuchte Reihe der bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, welche das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten.
Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
Beschluss vom 10. März 2016 – 1 BvR 2844/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte in diesem Beschluss aus, dass die Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG auch die Freiheit umfasst, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist. Der Verfassungsbeschwerde einer Beschwerdeführerin, die sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung gewandt hatte, wurde insoweit stattgegeben.
Siehe auch unseren Artikel vom 02. Mai 2016.
Beschluss vom 23. März 2016 – 1 BvR 184/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hielt in dieser Entscheidung fest, dass die Anordnung einer Betreuung ohne persönliche Anhörung durch das Betreuungsgericht nicht nur das Recht auf rechtliches Gehör verletzt, sondern auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG darstellt.
Urteil vom 19. April 2016 – 1 BvR 3309/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Bereitstellung eines Verfahrens zur sogenannten rechtsfolgenlosen Klärung der Abstammung gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater erging folgender Leitsatz des BVerfG:
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, neben dem Vaterschaftsfeststellungsverfahren nach § 1600d BGB auch ein Verfahren zur isolierten, sogenannten rechtsfolgenlosen, Klärung der Abstammung von einem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater bereitzustellen.
Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Zu den teilweise erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen die Ermittlungsbefugnisse des BKA zur Terrorismusbekämpfung seien folgende Leitsätze angeführt:a) Die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachungen, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikationsverkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) ist zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar.
1. a) Die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachungen, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikationsverkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) ist zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar.
b) Die Ausgestaltung solcher Befugnisse muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Befugnisse, die tief in das Privatleben hineinreichen, müssen auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein, setzen voraus, dass eine Gefährdung dieser Rechtsgüter hinreichend konkret absehbar ist, dürfen sich nur unter eingeschränkten Bedingungen auf nichtverantwortliche Dritte aus dem Umfeld der Zielperson erstrecken, verlangen überwiegend besondere Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sowie einen Schutz von Berufsgeheimnisträgern, unterliegen Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle und müssen mit Löschungspflichten bezüglich der erhobenen Daten flankiert sein.
2. Anforderungen an die Nutzung und Übermittlung staatlich erhobener Daten richten sich nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung.
a) Die Reichweite der Zweckbindung richtet sich nach der jeweiligen Ermächtigung für die Datenerhebung; die Datenerhebung bezieht ihren Zweck zunächst aus dem jeweiligen Ermittlungsverfahren.
b) Der Gesetzgeber kann eine Datennutzung über das für die Datenerhebung maßgebende Verfahren hinaus im Rahmen der ursprünglichen Zwecke dieser Daten erlauben (weitere Nutzung). Dies setzt voraus, dass es sich um eine Verwendung der Daten durch dieselbe Behörde zur Wahrnehmung derselben Aufgabe und zum Schutz derselben Rechtsgüter handelt. Für Daten aus Wohnraumüberwachungen oder einem Zugriff auf informationstechnische Systeme müssen zusätzlich für jede weitere Nutzung auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sein.
c) Der Gesetzgeber kann darüber hinaus eine Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (Zweckänderung).
Die Verhältnismäßigkeitsanforderungen für eine solche Zweckänderung orientieren sich am Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung. Danach muss die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. Eine konkretisierte Gefahrenlage wie bei der Datenerhebung ist demgegenüber grundsätzlich nicht erneut zu verlangen; erforderlich aber auch ausreichend ist in der Regel das Vorliegen eines konkreten Ermittlungsansatzes.
Für Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen darf die Verwendung zu einem geänderten Zweck allerdings nur erlaubt werden, wenn auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sind.
3. Die Übermittlung von Daten an staatliche Stellen im Ausland unterliegt den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen von Zweckänderung und Zweckbindung. Bei der Beurteilung der neuen Verwendung ist die Eigenständigkeit der anderen Rechtsordnung zu achten. Eine Übermittlung von Daten ins Ausland verlangt eine Vergewisserung darüber, dass ein hinreichend rechtsstaatlicher Umgang mit den Daten im Empfängerstaat zu erwarten ist.
Urteil vom 03. Mai 2016 – 2 BvE 4/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Besonders bedeutsam ist die Entscheidung des BVerfG zu spezifischen Oppositionsfraktionsrechten im Deutschen Bundestag. Die Leitsätze dazu lauten:
1. Das Grundgesetz enthält einen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition.
2. Das Grundgesetz begründet jedoch weder explizit spezifische Oppositions(fraktions)rechte, noch lässt sich ein Gebot der Schaffung solcher Rechte aus dem Grundgesetz ableiten.
3. Einer Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte steht zudem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen.
4. Einer Absenkung der grundgesetzlich vorgegebenen Quoren eines Drittels (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG) oder Viertels (Art. 23 Abs. 1a Satz 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 1, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) der Mitglieder des Bundestages für die Ausübung parlamentarischer Minderheitenrechte steht die bewusste Entscheidung des Verfassungsgebers für die bestehenden Quoren entgegen.
Siehe auch unseren Artikel vom 06. Mai 2016.
Beschluss vom 06. Mai 2016 – 1 BvL 7/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur unzulässigen Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen sei auf unseren Artikel vom 03. Juni 2016 verwiesen.
Beschluss vom 09. Mai 2016 – 1 BvR 2202/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der nachträglichen Einrichtung einer Begräbnisstätte in einer Kirche verweisen wir auf unseren Artikel vom 22. Juni 2016.
Beschluss vom 17. Mai 2016 – 1 BvR 257/14 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG kam in diesem Beschluss zu dem Ergebnis, dass die Kundgabe der Buchstabenkombination „ACAB“ im öffentlichen Raum vor dem Hintergrund der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 I 1 GG) nicht ohne weiteres strafbar ist. Eine Verurteilung wegen Beleidigung nach § 185 StGB setze daher voraus, dass sich die Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe beziehe, denn ansonsten sei der Eingriff in die Meinungsfreiheit nicht gerechtfertigt.
Beschluss vom 18. Mai 2016 – 1 BvR 895/16 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zu diesem erfolglosen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen einzelne Regelungen des Tabakerzeugnisgesetzes sei auf unseren Artikel vom 20. Mai 2016 verwiesen.
Urteil vom 31. Mai 2016 – 1 BvR 1585/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
In einer Aufsehen erregenden Entscheidung über die Verwendung von Samples zur künstlerischen Gestaltung stellte das BVerfG wie folgt fest:
1. Die von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderte kunstspezifische Betrachtung verlangt, die Übernahme von Ausschnitten urheberrechtlich geschützter Gegenstände als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen. Steht dieser Entfaltungsfreiheit ein Eingriff in Urheber- oder Leistungsschutzrechte gegenüber, der die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt, so können die Verwertungsinteressen der Rechteinhaber zugunsten der Kunstfreiheit zurückzutreten haben.
2. Der Schutz des Eigentums kann nicht dazu führen, die Verwendung von gleichwertig nachspielbaren Samples eines Tonträgers generell von der Erlaubnis des Tonträgerherstellers abhängig zu machen, da dies dem künstlerischen Schaffensprozess nicht hinreichend Rechnung trägt.
3. Bei der Kontrolle der fachgerichtlichen Anwendung des Rechts der Europäischen Union prüft das Bundesverfassungsgericht insbesondere, ob das Fachgericht drohende Grundrechtsverletzungen durch Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union abgewehrt hat und ob der unabdingbare grundrechtliche Mindeststandard des Grundgesetzes gewahrt ist.
Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Von hoher Brisanz ist auch das mit Spannung erwartete Urteil des BVerfG zu den Verfassungsbeschwerden und Organstreitverfahren gegen das OMT-Programm der Europäischen Zentralbank. Dazu folgende Leitsätze:
1. Zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration hat der Bürger grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt.
2. Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die ultra vires ergehen, verletzen das im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm und damit zugleich den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Der Abwendung derartiger Rechtsverletzungen dient das Institut der Ultra-vires-Kontrolle.
3. Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung die Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identitätsverletzung bewirken oder einen Ultra-vires-Akt darstellen, entgegenzutreten.
4. Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn
– das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,
– zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissionsbedingungen verfälscht werden,
– nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,
– die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und
– die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.
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