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Schlagwortarchiv für: Rechtsprechung

Dr. Philip Musiol

BVerfG zur Zulässigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen der Polizei

Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Uncategorized, Verfassungsrecht

Mit Beschluss vom 29.07.2022 (2 BvR 54/22) entschied das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde eines mutmaßlichen Graffiti-Sprayers, der sich gegen die zwangsweise Durchführung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen (Anfertigung von Fingerabdrücken und Lichtbildaufnahmen) durch die Polizei richtete. Der Fall eignet sich als Grundlage für eine Klausur im Öffentlichen Recht ebenso wie als StPO-Zusatzfrage, da „Aufhänger“ der Grundrechtsprüfung eine strafprozessrechtliche Norm ist.

I.             Sachverhalt

Ausgangspunkt ist ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt: Im Juni 2021 brachte der zunächst unbekannte Graffiti-Sprayer G an einem Gebäude zwei großflächige, mit silberner Sprühfarbe ausgeführte Übermalungen der dort bereits in weißer und schwarzer Farbe angebrachten Schriftzüge „Toni F. Du Jude“ und „Antifa Boxen“ an. Dabei wurde G wurde er von einem Zeugen angesprochen, gefilmt und fotografiert. Dieser Zeuge gab bei seiner späterem Vernehmung an, er sei in der Lage, den Täter wiederzuerkennen. Die Eigentümerin des betroffenen Gebäudes stellte Strafantrag. Aufgrund eines anonymen Hinweises erkannten zwei Polizeibeamte den G auf den vom Zeugen gefertigten Lichtbildern wieder. Gegen G wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung eingeleitet.

So viel zur Vorgeschichte des Ermittlungsverfahrens, das selbst Gegenstand der Verfassungsbeschwerde wurde. Im Rahmen des besagten Ermittlungsverfahrens ordnete die zuständige Polizeibehörde die erkennungsdienstliche Behandlung des G an. Diese stützte die Polizei auf § 81b Alt. 1 und Alt. 2 StPO. Die polizeiliche Anordnung erstreckte sich auf ein sog. Fünfseitenbild, ein Ganzkörperbild, eine Personenbeschreibung, ein Spezialbild sowie auf einen Zehnfinger- und Handflächenabdruck, wobei die Begründung der Anordnung nicht zwischen den genannten Maßnahmen unterschied. G sei einer Tat nach § 303 Abs. 2 StGB verdächtig. Die erkennungsdienstliche Behandlung sei notwendig, da die angeordneten Maßnahmen für die Sachverhaltsaufklärung erforderlich seien. Insbesondere sei die Anfertigung von Lichtbildern erforderlich, damit der Zeuge den G darauf identifizieren oder entlasten könne. Denn die vom Zeugen angefertigten Bildaufnahmen seien von schlechter Qualität, ebenso könnte G die Tat vor Gericht abstreiten oder sich auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Darüber hinaus sei gegen G seit März 2013 in sieben Fällen – unter anderem auch wegen Sachbeschädigung durch Sprühen von Graffiti – ermittelt worden. Daher bestehe die begründete Wahrscheinlichkeit, dass G erneut strafrechtlich in Erscheinung treten werde. Die Anordnung sei erforderlich, um diese zu erwartenden Straftaten aufklären zu können, da es bislang keine entsprechenden Daten über G in den polizeilichen Datenbanken gebe.

G ging erfolglos gegen die Anordnung vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht vor. Er berief sich darauf, dass eine Anfertigung von Finger- und Handflächenabdrücken ungeeignet zur Sachverhaltsaufklärung sei, da am Tatort kein Vergleichsmaterial gefunden wurde. Außerdem bestreite er nicht, die Person auf den Aufnahmen des Zeugen zu sein und mit diesem gesprochen zu haben. Bemerkenswert ist, dass das Landgericht, das der Beschwerde des G nicht abhalf, die Rechtmäßigkeit der Anordnung nicht selbst überprüfte, sondern zur Begründung seiner Entscheidung vollumfänglich Bezug auf die polizeiliche Anordnung nahm, dieser sei „nichts hinzuzufügen“. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des G.

II.            Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Der G werde durch die Anordnung in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Zunächst befasste sich das Gericht mit der Eröffnung des Schutzbereichs der informationellen Selbstbestimmung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Es gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren. Davon werden alle Informationen, die über die Bezugsperson etwas aussagen können, umfasst. Die erkennungsdienstliche Behandlung fällt also in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung. Sodann wendet sich das BVerfG der Einschränkbarkeit des Grundrechts zu. § 81b Alt. 1 StPO kommt hiernach als Grundrechtsschranke in Betracht. Ein Grundrechtseingriff könne nach § 81b Alt. 1 StPO gerechtfertigt sein, wenn gegen den Betroffenen ein Strafverfahren geführt wird und gegen ihn ein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO besteht. Zudem müssen die einzelnen Maßnahmen jeweils für den Zweck der Durchführung des Strafverfahrens konkret notwendig sein. Diesem Maßstab werde die Entscheidung des Landgerichts nicht gerecht, dabei differenziert das BVerfG nach den verschiedenen Maßnahmen, die die Anordnung enthielt.

Zwar sei § 81b StPO anwendbar, da G Beschuldigter in einem Strafverfahren war und gegen ihn ein konkreter Anfangsverdacht nach § 152 Abs. 2 StPO bestand. Nach § 81b Alt. 1 StPO, worauf sich die Anordnung stützte, ist aber weiterhin erforderlich, dass die erkennungsdienstlichen Maßnahmen der Durchführung des Strafverfahrens und damit der Täterfeststellung dienen. Hierzu sind die Anfertigung von Zehnfinger- und Handflächenabdrücken ungeeignet. Die Ermittlung des Täters könne hierüber schon deshalb nicht erfolgen, weil am Tatort keine entsprechenden Abdrücke sichergestellt wurden.

Die Anfertigung der Lichtbildaufnahmen sei zur Ermittlung des Täters zwar nicht schon ungeeignet. Dennoch sei auch die Anordnung der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet. Insoweit wirft die Erforderlichkeit Fragen auf: Denn der Zeuge habe angegeben, dass er in der Lage sei, den Täter wiederzuerkennen. Eine entsprechende Gegenüberstellung hätte auch in der – zeitnah zu erwartenden – Hauptverhandlung erfolgen können. Beachtlich sei außerdem, dass G von den Polizeibeamten mittels der vom Zeugen gefertigten Lichtbildaufnahmen identifiziert wurde. Vor diesem Hintergrund sei nicht ersichtlich, wieso diese Aufnahmen für einen späteren Abgleich ungeeignet seien und weshalb es damit der erkennungsdienstlichen Aufnahmen bedurft hätte.

Darauf, ob § 81b Alt. 2 StPO den Eingriff rechtfertigen könnte, ging das Gericht nicht ein. Hierauf könne für die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Alt. 1 StPO kein Bezug genommen werden, da der Gesetzgeber präzise Verwendungszwecke vorgegeben habe. Das BVerfG stellte eine Verletzung der informationellen Selbstbestimmung des G durch die Anordnung der Maßnahmen fest, nicht nur durch die Erwähnung von § 81b Alt. 1 StPO in der Anordnung.  

III.          Einordnung

Es handelt sich um eine Entscheidung, die – eingekleidet in eine Urteilsverfassungsbeschwerde oder eine StPO-Zusatzfrage – von hoher Prüfungsrelevanz ist. Der Beschluss des BVerfG gibt Anlass, Grundkenntnisse im Verfassungs- und Strafprozessrecht zu wiederholen: Zum einen betrifft das die Fragen, wann ein konkreter Anfangsverdacht vorliegt und wer „Beschuldigter“ ist. Zum anderen bietet es sich an, das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung zu wiederholen. Das Grundrecht ist nicht normiert und muss daher in einer Klausur aus den Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet werden. Bei der gutachterlichen Prüfung ist darauf zu achten, dass Beschwerdegegenstand die letztinstanzliche Entscheidung des LG ist und der Prüfungsmaßstab des BVerfG auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts begrenzt ist.

Im Rahmen der Anwendung des § 81b StPO als Grundrechtsschranke ist trennscharf zwischen den beiden Alternativen der Norm zu trennen. Hieran ist jede einzelne Maßnahme, die Gegenstand der Anordnung ist, zu messen. Dies entspricht dem gesetzgeberischen Willen, der zwei verschiedene, präzise Verwendungszwecke für die erkennungsdienstliche Behandlung vorgegeben hat. Die beiden Alternativen des § 81b StPO verfolgen dabei völlig unterschiedliche Zielrichtungen: Einerseits geht es um die Aufklärung eines laufenden Verfahrens, andererseits geht es präventivpolizeiliche Maßnahmen, die sich auf zukünftige Verfahren beziehen. Gerade in einem grundrechtssensiblen Bereich, wie der erkennungsdienstlichen Behandlung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens, sollte die Ermittlungsbehörde strenge Anforderungen an ihr eigenes Handeln stellen. Dies erfordert die genaue Prüfung des Zwecks und der Eignung jeder einzelnen Maßnahme. Es würde der Systematik des § 81b StPO und dem Schutz des Betroffenen widersprechen, wenn ein und dieselbe Maßnahme auf zwei grundverschiedene Alternativen derselben Norm gestützt würde, und so eine nach 81b Alt. 2 StPO rechtmäßige Datenerhebung zur Kompensation für eine defizitär begründete Anordnung gemäß § 81b Alt. 1 StPO herangezogen werden könnte.

22.08.2022/1 Kommentar/von Dr. Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Philip Musiol2022-08-22 09:39:432022-10-24 14:46:02BVerfG zur Zulässigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen der Polizei
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG als Klimaschützer: Teilweiser Erfolg von Verfassungsbeschwerden gegen Klimaschutzgesetz

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

In einer mit Spannung erwarteten Entscheidung des BVerfG vom gestrigen Tage hat sich das Gericht zu Fragen des Klimawandels und der Verantwortung des deutschen Gesetzgebers geäußert. Die wichtigsten Punkte der Entscheidung, die insbesondere durch allgemeine Aussagen zum Klimaschutz im Lichte des Verfassungsrechts auffällt, sollen im Folgenden übersichtsartig dargestellt werden.
Worum geht es?
Mehrere, nach Angaben des Gerichts überwiegend junge Personen auch aus dem außereuropäischen Ausland haben Verfassungsbeschwerden gegen das deutsche Klimaschutzgesetz eingereicht. Das Gesetz enthält die Verpflichtung, Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 55 % im Vergleich zum Jahre 1990 zu reduzieren. Hierfür werden für näher bestimmte Bereiche jeweils sog. Reduktionspfade festgelegt. Für die Zeit nach dem Jahr 2030 trifft das Gesetz keine Festlegungen, hierzu sieht § 4 Abs. 6 KSG lediglich vor, dass die Bundesregierung im Jahre 2025 weitere Regelungen durch Rechtsverordnung trifft. In diesem Kontext ist wichtig zu wissen, dass auf Grundlage des Pariser Klimaabkommens als Zielmarke gilt, die Erderwärmung auf möglichst 1,5 °C, jedenfalls deutlich unter 2 °C zu begrenzen. Zur Erderwärmung trägt eine Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre bei, wobei einmal in die Atmosphäre gelangtes CO2 nur schwer wieder entfernt werden kann. Dies berücksichtigend hat das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ein sog. CO2-Restbudget errechnet, d.h. eine Restmenge an CO2, die noch ausgeschieden werden kann und die sich anteilig auf die Staaten der Welt aufteilen lässt. Das vom deutschen Sachverständigenrat für Umweltfragen ermittelte Restbudget für Deutschland wäre bei Geltung der Vorgaben des Klimaschutzgesetzes bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht.
Die Beschwerdeführer sehen die grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und aus Art. 14 GG, sowie ihr „Grundrecht auf menschenwürdige Zukunft“ und ihr „Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum“ aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20a GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG verletzt.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Gericht setzt sich zunächst mit der gerügten Schutzpflichtverletzung auseinander. Hierbei erkennt es grundsätzlich einen Schutzanspruch vor den Gefahren der Erderwärmung an, gestützt auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit:

„Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels, etwa vor klimabedingten Extremwetterereignissen wie Hitzewellen, Wald- und Flächenbränden, Wirbelstürmen, Starkregen, Überschwemmungen, Lawinenabgängen oder Erdrutschen, zu schützen.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Auch aus dem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG könne in diesem Kontext eine Schutzpflicht folgen, da etwa Grundeigentum durch den steigenden Meeresspiegel oder Trockenheit beschädigt werden kann. Dass auch die Gefährdung von Leib und Leben schon eine Beeinträchtigung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellen kann, ist nicht neu (siehe etwa BVerfGE 49, 89 (141)). Ebenso wenig neu ist auch die Begründung, mit der das BVerfG eine Schutzpflichtverletzung letztlich ablehnt: Angesichts des dem Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten zukommenden Spielraums könne eine Verletzung nicht festgestellt werden.
Während das BVerfG die Pflicht des Gesetzgebers, Maßnahmen zum Schutze von Leib, Leben und Eigentum vor den Gefahren des Klimawandels zu ergreifen, also ausdrücklich anerkennt, so tut es dies nur in den bereits zuvor anerkannten Grenzen solcher Schutzpflichten. Es gilt das Untermaßverbot: Nur gänzlich ungeeignete oder vollkommen unzulängliche Maßnahmen bedeuten letztlich eine Verletzung der Grundrechte (siehe schon BVerfGE 77, 170 (215); 88, 203 (254 f.)). Das sieht das Gericht hier nicht gegeben.

„Zum grundrechtlich gebotenen Schutz vor den Gefahren des Klimawandels offensichtlich ungeeignet wäre ein Schutzkonzept, das nicht das Ziel der Klimaneutralität verfolgte; die Erderwärmung könnte dann nicht aufgehalten werden, weil jede Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zur Erderwärmung beiträgt und einmal in die Atmosphäre gelangtes CO2 dort weitestgehend verbleibt und absehbar kaum wieder entfernt werden kann. Völlig unzulänglich wäre zudem, dem Klimawandel freien Lauf zu lassen und den grundrechtlichen Schutzauftrag allein durch sogenannte Anpassungsmaßnahmen umzusetzen. Beides ist hier nicht der Fall.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Daher konnte hier auch offenbleiben, ob und inwiefern die grundrechtlichen Schutzpflichten auch gegenüber Beschwerdeführern aus dem außereuropäischen Ausland gelten.
Hier bleibt die Entscheidung jedoch nicht stehen. In der Folge setzt sich das Gericht mit der Bedeutung der CO2-Restbudgets und der Tatsache auseinander, dass das für Deutschland errechnete Budget nach Umsetzung der Vorgaben des Klimaschutzgesetzes bis 2030 weitgehend aufgebraucht würde. Denn das bedeutet, sofern man das Ziel der Klimaneutralität und das 1,5 bzw. 2°C-Ziel verfolgt, dass nach 2030 nur noch sehr begrenzte Emissionsmöglichkeiten bestehen würden. Die entscheidende Last wird damit in die Zukunft und daher auf jüngere Generationen verlagert. „CO2-relevanter Freiheitsgebrauch“ wäre damit in der Zukunft nur noch in engen Grenzen möglich. Unter Verweis auf die Wechselwirkung, dass jede heute zugelassene Emissionsmenge eine Einschränkung der zukünftig zulässigen Menge darstellt, sieht das BVerfG gerade hierin die entscheidende Grundrechtsbeschränkung. Zwar müsse der CO2-relevante Freiheitsgebrauch ohnehin irgendwann weitgehend unterbunden werden, ein umfangreicher Verbrauch der noch zur Verfügung stehenden Emissionen vor 2030 gefährdet aber nach Einschätzung des Gerichts die Möglichkeit eines schonenden Übergangs von der heutigen Lebensweise zu einer klimaneutralen. Dies stelle eine eingriffsähnliche Vorwirkung der durch das Grundgesetz umfassend geschützten Freiheit dar. Um welche Grundrechte es geht, präzisiert das Gericht nicht, vielmehr könne praktisch jegliche Freiheit potentiell betroffen sein. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung formuliert das Gericht zwei Voraussetzungen:

„Die Verfassungsmäßigkeit dieser nicht bloß faktischen, sondern rechtlich vermittelten eingriffsähnlichen Vorwirkung aktueller Emissionsmengenregelungen setzt zum einen voraus, dass sie mit dem objektivrechtlichen Klimaschutzgebot des Art. 20a GG vereinbar ist. Grundrechtseingriffe lassen sich verfassungsrechtlich nur rechtfertigen, wenn die zugrundeliegenden Regelungen den elementaren Grundentscheidungen und allgemeinen Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes entsprechen. Das gilt angesichts der eingriffsähnlichen Vorwirkung auf grundrechtlich geschützte Freiheit auch hier. Zu den zu beachtenden Grundsätzen zählt auch Art. 20a GG. Zum anderen setzt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung voraus, dass die Emissionsmengenregelungen nicht zu unverhältnismäßigen Belastungen der künftigen Freiheit der Beschwerdeführenden führen.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Einen Verstoß gegen die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG als solchen sieht das Gericht nun zunächst nicht gegeben. Zwar verpflichte der dort enthaltene Klimaschutzauftrag eine Lösung des Klimaschutzproblems auf internationaler Ebene zu suchen sowie eigene, innerstaatliche Maßnahmen zum Klimaschutz zu treffen. Auch gewinne das Klimaschutzgebot mit fortschreitendem Klimawandel an Gewicht. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Klimaschutzgebots sei auch nicht aufgrund der offenen Formulierung des Art. 20a GG ausgeschlossen, denn der Gesetzgeber habe das Klimaschutzziel dahingehend konkretisiert, dass der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber 1990 begrenzt werden soll. Dies erfolgte durch § 1 S. 3 Klimaschutzgesetz, der dieses Ziel zur Grundlage desselben erklärt. Letztlich scheitert die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 20a GG jedoch wiederum an der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers sowie der Unsicherheiten, die bei der Berechnung des CO2-Restbudgets bestehen.

„Derzeit kann ein Verstoß gegen diese Sorgfaltspflicht nicht festgestellt werden. Zwar folgt daraus, dass Schätzungen des IPCC zur Größe des verbleibenden globalen CO2-Restbudgets zu berücksichtigen sind, obwohl darin Ungewissheiten enthalten sind. Durch die in § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 geregelten Emissionsmengen würde das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen auf der Grundlage der Schätzungen des IPCC ermittelte Restbudget bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht. Das Maß an Verfehlung bildete jedoch verglichen mit den derzeit in der Berechnung des Restbudgets enthaltenen Unsicherheiten keine hinreichende Grundlage für eine verfassungsgerichtliche Beanstandung.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Die zweite Voraussetzung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist nach Ansicht des Gerichts hingegen nicht erfüllt. Zwar besteht insoweit aktuell noch keine Grundrechtsbeeinträchtigung – durch den nur wenig beschränkten CO2-Ausstoß zum jetzigen Zeitpunkt sind jedoch stärkere Einschränkungen für die Zukunft sicher. Hierin sieht das BVerfG einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil die erforderlichen Einschränkungen nicht in grundrechtsschonender Weise über die Zeit verteilt werden:

„Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein; gerade deshalb droht dann die Gefahr, erhebliche Freiheitseinbußen hinnehmen zu müssen. Weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen bereits durch die aktuelle Regelung zulässiger Emissionsmengen gestellt werden, müssen die Auswirkungen auf künftige Freiheit aber aus heutiger Sicht verhältnismäßig sein.“ (BVerfG, Pressemitteilung 31/2021 v. 29.4.2021).

Zwar ist noch nicht sicher, ob tatsächlich unzumutbare Grundrechtsbeschränkungen aufgrund der zukünftigen Treibhausgasminderungslast eintreten. Das Risiko ist nach Einschätzung des Gerichts jedoch hoch, was bereits jetzt die Berücksichtigung der dann potentiell betroffenen Freiheitsrechte notwendig macht. Wie ein mit der Verfassung in Einklang stehender Zustand erreicht werden könnte, gibt das BVerfG ebenfalls vor: Frühzeitig müssten transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die Orientierung bieten und Planungssicherheit vermitteln. Auch eine Planung weit über das Jahr 2030 hinaus sei erforderlich. Dass die Bundesregierung im Jahr 2025 einmalig verpflichtet wird, durch Rechtsverordnung weitere Festlegungen zu treffen, genüge nicht. Schon an der Rechtzeitigkeit solcher Festlegungen werden Zweifel erhoben. Die Verordnungsermächtigung nach § 4 Abs. 6 Klimaschutzgesetz genüge weiterhin nicht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG sowie dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. Schon das Klimaschutzgesetz selbst müsse nähere Maßgaben zur Bestimmung der Jahresemissionsmengen durch den Verordnungsgeber treffen.
Was bleibt?
Die Entscheidung ist in ihrer Bedeutung sicherlich nicht zu unterschätzen und wird von Klimaschützern als Erfolg gefeiert. Der Gesetzgeber wird bereits jetzt verpflichtet, eine langfristige Planung zur Erreichung des 1,5 bzw. 2 °C-Ziels zu erarbeiten. Eine Planung lediglich bis zum Jahr 2030, die entscheidenden Veränderungen letztlich weitgehend nach hinten verschiebt, dafür dann aber umso dringlicher macht, genügt nicht. Das BVerfG stärkt hiermit der Klimaschutzbewegung und der jüngeren Generation den Rücken und trifft auch einige grundlegende Aussagen zur Bedeutung des Klimaschutzes für die Grundrechte des Einzelnen. Zugleich betont es jedoch wiederholt den weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Wie dieser genutzt wird, ist nun abzuwarten. Mit den von den Beschwerdeführern geltend gemachten „Klimagrundrechten“ setzte sich das Gericht – soweit aus der Pressemitteilung ersichtlich – nicht direkt auseinander. Die Entscheidung basiert vielmehr auf der Prämisse, durch eine in Zukunft notwendige, sehr viel strengere Regulierung des CO2-Ausstoßes könnten sämtliche anerkannten Freiheitsrechte beeinträchtigt werden. Ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum etwa erkennt das Gericht also nicht ausdrücklich an. Die vom BVerfG monierte Grundrechtsgefahr folgt nicht aus dem Klimawandel als solchem, sondern aus den Einschränkungen, die er dem Einzelnen abverlangt. Dennoch kann die Entscheidung insgesamt als Ermahnung aufgefasst werden, auch heute schon an morgen zu denken – oder eben an 2030 und alles, was darauf folgt.

30.04.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-04-30 08:06:092021-04-30 08:06:09BVerfG als Klimaschützer: Teilweiser Erfolg von Verfassungsbeschwerden gegen Klimaschutzgesetz
Dr. Yannik Beden, M.A.

BGH zum Mietrecht: Räumung nach Störung des Hausfriedens durch Besucher

Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Unter den Dauerschuldverhältnissen ist das Mietverhältnis wohl eines der beliebtesten, wenn es um die Zivilklausur im Staatsexamen geht. Die sich immer weiter ausdifferenzierende Rechtsprechung des BGH wird dabei mit jedem Jahr unübersichtlicher und komplexer. Wer in der Prüfungssituation den Überblick behalten will, sollte die aktuellste Rechtsprechung zum Mietrecht also kennen. Mit seinem Beschluss vom 25.08.2020 – VIII ZR 59/20 hat der BGH jüngst seine Judikatur zur Beendigung von Mietverhältnissen aufgrund von Störungen des Hausfriedens gefestigt – und dabei auch erneut darauf hingewiesen, dass Mieter sich auch das Verhalten von Besuchern zurechnen lassen müssen. Im Einzelnen:
I. Kurz zum Sachverhalt
Da die Entscheidung des BGH im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erging, ist der dem Beschluss zugrunde liegende Sachverhalt knapp gehalten. Ausgangspunkt des Rechtsstreits war ein Wohnraummietverhältnis, das seit dem Jahr 2006 bestand. Die Vermieterin kündigte das Mietverhältnis außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich gegenüber der Mieterin. Die Mieterin wurde sodann zur Räumung ihrer Wohnung verurteilt. Das Gericht erachtete die ordentliche Kündigung als wirksam, da die Mieterin den Hausfrieden nachhaltig gestört habe. Gegen diese Entscheidung ging die Mieterin mit ihrem Antrag vor dem BGH vor. Ihrer Auffassung nach sei der Hausfrieden entgegen der Behauptungen ihrer Vermieterin nicht nachhaltig gestört worden, jedenfalls sei diesbezüglich die Rechtsprechung des BGH bislang nicht hinreichend differenziert worden.
II. Auszüge aus den Entscheidungsgründen
Was sagt der VIII. Senat des BGH hierzu? Das Gericht betonte, dass sowohl hinsichtlich der Störung des Hausfriedens durch den Mieter selbst als auch durch ein Verhalten Dritter, welches dem Mieter zugerechnet werden kann, in der Vergangenheit hinreichend ausgeurteilt sei. Zum tatsächlichen Vorbringen der klagenden Mieterin und der vorinstanzlichen Entscheidung führte es dabei aus:

„Vorliegend hat das Berufungsgericht nach einer Gesamtbetrachtung des Verhaltens der Beklagten sowie ihres häufig in der Wohnung als Besucher anwesenden Lebensgefährten den Hausfrieden als empfindlich gestört angesehen und hat sich diesbezüglich auf einen, von der Beklagten selbst geschilderten, „alten Streit“ mit den Mitmietern sowie auf zahlreiche einzelne Vorfälle gestützt, in deren Rahmen es zu Beleidigungen und Bedrohungen von Mitmietern gekommen sei, zuletzt der Bezeichnung eines Mitmieters durch den Lebensgefährten der Beklagten als „Du Arschloch“. Zulassungsrelevante Rechtsfehler oder klärungsbedürftige Gesichtspunkte sind dabei nicht zu erkennen.“

Die Mieterin hat im Laufe des Rechtsstreits vermehrt darauf abgestellt, dass Konflikte zwischen Mietparteien – jedenfalls ihrer Auffassung zufolge – zum Lebensalltag zu zählen seien, sie mithin kein derartiges Gewicht haben könnten, dass hierauf ein Kündigungsgrund gestützt werden könne. Insbesondere seien derartige Streitigkeiten zwischen Mitmietern nicht „nachhaltig“.
Dem hält der BGH entschieden entgegen:

„Dies trifft nicht zu. Eine nachhaltige Störung des Hausfriedens setzt voraus, dass eine Mietpartei die gemäß § 241 Abs. 2 BGB aus dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme folgende Pflicht, sich bei der Nutzung der Mietsache so zu verhalten, dass die anderen Mieter nicht mehr als unvermeidlich gestört werden, in schwerwiegender Weise verletzt.“

Das ist auch gefestigte Rechtsprechung. Der „Klassiker“ dürfte diesbezüglich das Urteil des BGH zum Zigarettendunst im Treppenhaus sein (BGH Urteil v. 18.02.2015 – VIII ZR 186/14). Dort entschied das Gericht, dass ein Mieter, der in seiner Wohnung raucht, auf Grund des mietvertraglichen Gebots der Rücksichtnahme gem. § 241 Abs. 2 BGB gehalten sein kann, einfache und zumutbare Maßnahmen (etwa die Lüftung über die Fenster) zur Vermeidung einer Beeinträchtigung der Mitmieter zu ergreifen. Eine durch Verletzung einer solchen Rücksichtnahmepflicht verursachte Geruchsbelästigung der Mitbewohner kann nach Auffassung des BGH auch eine Störung des Hausfriedens darstellen, insbesondere wenn die Intensität der Beeinträchtigungen ein unerträgliches und/oder gesundheitsgefährdendes Ausmaß erreicht. Ob diese Umstände die weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses für den Vermieter unzumutbar machen und ihn deshalb zur fristlosen Kündigung berechtigen, sei im Wege der umfassenden Würdigung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.
So viel also zur (gegenseitigen) Rücksichtnahmepflicht von Mietern. Wie aber verhält sich der Einwand der Mieterin zur Zurechnung von störendem Verhalten, welches von Dritten, insbesondere Besuchern ausgeht? Auch hier findet der BGH eine eindeutige Antwort:

„Schließlich ist die Revision auch nicht aus Gründen der Rechtsfortbildung zuzulassen (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO), weil der Auffassung des Senats, wonach auch Besucher des Mieters, die sich mit dessen Einverständnis in der Wohnung aufhielten, im Hinblick auf die Einhaltung des Hausfriedens als dessen Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) anzusehen seien, so dass sich der Mieter dessen Verhalten zurechnen lassen müsse, in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden könne. Es bedürfe einer klarstellenden Leitentscheidung und der Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Zurechnung erfolge […] Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Wie auch die Beklagte nicht verkennt, sind die Grundsätze hinreichend geklärt, unter denen sich ein Mieter das Verhalten von Besuchern (hier des Lebensgefährten) nach § 278 BGB zurechnen lassen muss und dieses demnach bei der Frage einer Vertragspflichtverletzung (§ 573 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB) zu Lasten des Mieters berücksichtigt werden kann. Ob die entsprechenden Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen, entzieht sich einer typisierenden Festlegung.“

Blickt man in die jüngere Rechtsprechung des BGH, findet man an verschiedenen Stellen Ausführungen zur Frage, wann das Verhalten von Besuchern dem Mieter zuzurechnen ist. So geht etwas aus BGH Urteil v. 09.11.2016 – VIII ZR 73/16 hervor, dass Besucher, die sich im Einverständnis mit dem Mieter in einer Wohnung aufhalten, im Hinblick auf die Einhaltung des Hausfriedens als Erfüllungsgehilfe des Mieters anzusehen sind und dieser sich mithin das Verhalten seiner Besucher nach § 278 BGB zurechnen lassen muss. Dabei erstreckt sich die Zurechnung nicht nur auf „Freunde und Bekannte“ des Mieters. Auch sonstige Personen, die auf Veranlassung des Mieters mit der Mietsache in Berührung kommen, fallen unter den Anwendungsbereich von § 278 BGB, insbesondere also Handwerker und Dienstleister (hierzu BGH Urteil v. 21.05.2010 – V ZR 244/09). Auch unter diesem Gesichtspunkt gab es also keinen Anlass für eine neue höchstrichterliche Ausdifferenzierung der bereits bestehenden Judikatur.  
III. Was für die Klausur wichtig ist
Der BGH hat mit seiner Entscheidung die bereits bestehenden Eckpfeiler zur Kündigung aufgrund nachhaltiger Störung des Hausfriedens nochmals eingeschlagen. Wird in der Klausur abgeprüft, ob die (ordentliche) Kündigung des Vermieters rechtswirksam ist, muss im Rahmen von § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB geprüft werden, ob das konkret in Rede stehende, störende Verhalten des Mieters bzw. eines Dritten eine „nicht unerhebliche Verletzung vertraglicher Pflichten“ darstellt.  Dabei muss dann Folgendes erkannt werden:
 

  • Eine Verletzung vertraglicher Nebenpflichten kann sich insbesondere aus einer Verletzung von § 241 Abs. 2 BGB ergeben, wenn der Mieter den Hausfrieden nachhaltig stört.

 

  • Aus dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme folgt die Pflicht, sich bei der Nutzung der Mietsache so zu verhalten, dass die anderen Mieter nicht mehr als unvermeidlich gestört werden. Ob die weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses für den Vermieter durch eine Störung des Hausfriedens unzumutbar wird und ihn deshalb zur fristlosen Kündigung berechtigt, ist stets im Wege der umfassenden Würdigung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.

 

  • Auch Verstöße Dritter sind zu berücksichtigen. Das Verhalten von Dritten muss sich der Mieter nach § 278 BGB zurechnen lassen, wenn sich diese mit seinem Einverständnis in der Mietwohnung aufhalten oder auf dessen Veranlassung mit der Mietsache in Berührung kommen.

 
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05.11.2020/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Tobias Vogt

800 qm Grenze für Ladenöffnungen verfassungswidrig! Oder doch nicht?

Examensvorbereitung, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Zum Schutz vor einer weiteren Verbreitung des Covid-19 Virus wurden auf Landesebene Verordnungen erlassen, die nur eine Öffnung von Läden mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 qm erlauben. Größere Geschäfte müssen geschlossen bleiben. Aufsehen erregten die Beschlüsse des VG Hamburg sowie des BayVGH, die die entsprechenden Regelungen als verfassungswidrig einstuften. Jedoch judizierten mittlerweile das OVG NRW, OVG Niedersachen, das OVG Berlin-Brandenburg sowie das OVG Hamburg, die die 800 qm Beschränkung nicht beanstandeten. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über diese teils divergierenden Entscheidungen geben, die sich aufgrund ihrer Aktualität und ihrem Schwerpunkt in der Prüfung von Art. 12 und Art. 3 des GG hervorragend für eine Examensklausur oder mündliche Prüfung eignen.
I. Woher stammt die 800 qm Grenze?
Als die Verordnungen mit der Beschränkung der Ladenöffnung auf Verkaufsflächen von bis zu 800 qm bekannt gemacht worden sind, löste dies in vielen Teilen der Bevölkerung Verwunderung aus: Warum gerade 800 qm? Die auf den ersten Blick völlig willkürlich gesetzte Grenze hat ihren Ursprung im öffentlichen Baurecht. Dort gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Betriebe mit Verkaufsflächen mit mehr als 800 qm als großflächige Einzelhandelsbetriebe im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO (BVerwG, Urteil vom 24. November 2005 – 4 C 10/04). Der Gesetzgeber greift also auf eine anerkannte Begrenzung zurück. Offen bleibt jedoch – zunächst – die Frage ob diese aus dem Baurecht stammende Grenze zulässigerweise auf das Gebiet des Infektionsschutzes übertragen werden kann.
II. Aktuelle Rechtsprechung
Mit dieser Frage hatten sich in den letzten Wochen auch schon mehrere Gerichte im Rahmen von Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz auseinanderzusetzten. Daher zunächst eine (knappe) Darstellung einiger dieser Beschlüsse:
VG Hamburg, Beschluss vom 21.04.2020 (AZ.: 3 E 1675/20)
Das VG Hamburg sah in der 800 qm Grenze einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Berufsfreiheit. Sie verneinte schon die Geeignetheit der 800 qm Grenze, den Zwecken des Infektionsschutzes zu dienen und führte hierzu aus: „Für die Annahme […], dass von großflächigen Einzelhandelsgeschäften eine hohe Anziehungskraft für potentielle Kunden mit der Folge ausgeht, dass allein deshalb zahlreiche Menschen die Straße der Innenstadt und die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs benutzen werden, liegt keine gesicherte Tatsachenbasis vor.“ Die aus dem Baurecht resultierenden Grundsätze können laut VG Hamburg nicht übertragen werden, da sie einer geordneten Stadtentwicklungsplanung und nicht dem Infektionsschutz dienen.
Der Beschluss des VG Hamburg wurde eine Woche später vom OVG Hamburg aufgehoben:
OVG Hamburg, Beschluss vom 30.04.2020 (Az.: 5 Bs 64/20)
Das OVG Hamburg stufte nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung die Beschränkung der Verkaufsfläche auf 800 qm als rechtmäßig ein. Nach Ansicht des OVG Hamburg weist auf den weiten Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit von Maßnahmen hin, der insbesondere bei der Beurteilung komplexer Gefahrenlagen wie der aktuellen Gefahren aufgrund des neuartigen Coronavirus bestehe. Die Einschätzung des Verordnungsgebers, eine Beschränkung der zulässigen Verkaufsfläche auf 800 qm trage maßgeblich zum Gesundheitsschutz bei, sei nachvollziehbar und stichhaltig. Die Stadt Hamburg dürfe davon ausgehen, dass anhand einer typisierenden Betrachtung von großflächigen Einzelhandelsgeschäften eine große Anziehungskraft auf die Bevölkerung ausgehe und dies wiederum die Infektionsgefahr verstärke. Es bestünde zudem ein erhöhter Kontrollaufwand hinsichtlich der Einhaltung von Hygienemaßnahmen. Eine vollständige Öffnung des Einzelhandels könne zudem suggerieren, die Corona-Krise sei nun überwunden.
So entschieden im Ergebnis und mit ähnlicher Begründung auch das OVG Niedersachsen, Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 13 MN 98/20), OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 28.04.2020 und 29.04.2020 (Az.: OVG 11 S 28/20 und OVG 11 S 30.20 sowie OVG 11 S 31.20) und das OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020 (Az.: 13 B 512/20.NE).
BayVGH, Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 20 NE 20.793)
Der bayrische Verfassungsgerichtshof ordnete die Regelungen zur Ladenöffnung als unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ein. Im Wesentlichen stütze er dies jedoch nicht auf die 800 qm Grenze an sich, sondern darauf, dass nach der von ihm geprüften Verordnung bestimmte Einzelhandelsbetriebe wie Buchhandlungen oder Fahrradläden unabhängig von der Größe ihrer Verkaufsfläche öffnen dürfen. Diese Ungleichbehandlung sei aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht gerechtfertigt.
III. Vorgehensweise in einer Prüfung
In einer Klausur dürfte es sich anbieten, zunächst die Vereinbarkeit der Verkaufsflächenbeschränkung mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG und sodann die Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.
Hinsichtlich Art. 12 GG ist dabei auf eine saubere Prüfung anhand der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Drei-Stufen-Theorie zu achten. Die Verkaufsflächenbeschränkung stellt hiernach eine Berufsausübungsbeschränkung dar, die durch jede vernünftige Erwägung des Gemeinwohls als legitimen Zweck gerechtfertigt werden kann.
Die Geeignetheit der Verkaufsflächenregelung kann nicht mit überzeugenden Gründen abgelehnt werden. Der Beschluss des VG Hamburg dient hier als Negativbeispiel, welchen Fehler man in einer Klausur nicht machen darf. Zur Feststellung der Geeignetheit einer Maßnahme ist es gerade nicht erforderlich, dass die Erreichung des Zwecks feststünde oder jedenfalls eine gesicherte Tatsachenbasis bestünde. Die Maßnahme muss nur geeignet sein, den Zweck zu fördern. Der Gesetzgeber genießt hierbei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative. Gerade bei der Beurteilung einer komplexen Gefahrenquelle wie einer Pandemie und einer damit verbundenen dringenden Gefahr besteht ein weiter Entscheidungsspielraum. Ausreichend ist dann, dass die Erwägungen des Gesetzgebers nachvollziehbar sind.
In der Prüfung der Angemessenheit sollte darauf hingewiesen werden, dass – auch wenn es sich um eine bloße Berufsausübungsbeschränkung handelt – die Beschränkung der Verkaufsfläche immense wirtschaftliche Folgen haben kann und aufgrund dieser Eingriffsintensität eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn angezeigt ist. Die Beschränkung dient jedoch dem Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen durch die drohenden weitere Verbreitung des Coronavirus. Der Staat hat insoweit eine aus Art. 2 Abs. 2 GG resultierende Schutzpflicht. Vieles spricht hier im Ergebnis für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme – insbesondere, da nach den Regelungen der entsprechenden Verordnungen jedem Betrieb die Ladenöffnung durch Begrenzung der aktuell genutzten Verkaufsfläche auf 800 qm ermöglicht wird.
Einen Schwerpunkt der Prüfung wird die Vereinbarkeit der Begrenzung auf 800 qm mit Art. 3 Abs. 1 GG sein. Dieser verbietet wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln.
Zunächst ist die Ungleichbehandlung anhand einer Vergleichsgruppe darzulegen. Die Vergleichsgruppe sind hier Einzelhandelsbetriebe. Diese werden ungleich behandelt, da nur Läden mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 qm öffnen dürfen.
Zur Rechtfertigung bedarf es eines sachgerechten, vernünftigen Grundes. Die Ungleichbehandlung darf nicht willkürlich sein. Der Gesetzgeber hat hier auf ein im Baurecht anerkanntes Kriterium zurückgegriffen. Zu diskutieren ist an dieser Stelle die Frage, ob die Erwägungen des Bauplanungsrechts auf das Infektionsschutzrecht übertragbar sind. Ansonsten wäre das Unterscheidungskriterium sachfremd und damit in Hinblick auf die konkrete Maßnahme willkürlich. Es sprechen hier wohl die besseren Gründe für eine sachgerechte Übertragung der aus dem Bauplanungsrecht resultierenden Bewertungen auch auf den Infektionsschutz. Denn die Einordnung und gesonderte Behandlung von Läden mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm als großflächige Einzelhandelsbetriebe beruht auf der Annahme, dass solche Einzelhandelsbetriebe aufgrund ihres typischerweise breit aufgestellten Sortiments eine besonders große Anzahl an Kunden anziehen. Der Umstand, wie viele Personen sich zu einem bestimmten Laden begeben, hat auch hinsichtlich des Infektionsschutzes tragende Bedeutung. So besteht anerkanntermaßen bei einer größeren Ansammlung von Menschen ein höheres Infektionsrisiko. Auch wenn nicht in jedem Fall eine solche verstärkte Anziehungswirkung aufgrund einer Ladenfläche von mehr als 800 qm besteht, so ist  aufgrund der Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung und der Dringlichkeit der Maßnahmen eine pauschalisierte Betrachtung zulässig. Das OVG NRW begründet die Zulässigkeit einer pauschalen Betrachtungsweise so: „Durchgreifende Bedenken bestehen gegenwärtig auch nicht deshalb, weil der Verordnungsgeber pauschal auf die Verkaufsflächengröße abstellt, ohne vorab zu ermitteln, ob von Handelseinrichtungen mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm generell oder im Einzelfall wegen ihrer Anziehungskraft besondere Infektionsrisiken ausgehen. Abgesehen davon, dass wegen des akuten Handlungsbedarfs die Einholung aufwändiger und validierter Gutachten kurzfristig kaum möglich wäre, ist das Kriterium der Verkaufsfläche im Sinne des Einzelhandelserlasses NRW für die Betroffenen Geschäftsinhaber und Ordnungsbehörden verständlich und handhabbar. Die mit dem alleinigen Abstellen auf die Verkaufsfläche verbundene Typisierung erscheint zudem für die Wirksamkeit der Beschränkungen wesentlich.“
Die vom BayOVG beanstandete Ungleichbehandlung hinsichtlich einiger privilegierter Einzelhandelsbranchen wie Buch- und Fahrradläden dürfte dagegen in der Tat unzulässig sein, wenn nicht Gründe ersichtlich sind, aus denen sich ergibt, dass die generelle Annahme einer verstärkten Anziehungskraft bei einer größeren Verkaufsfläche hier nicht zutreffend sei.
IV. Fazit
Die Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung der zulässigen Verkaufsfläche im Einzelhandel auf 800 qm ist anhand von Art. 12 GG und Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.
Vieles spricht für die Zulässigkeit dieser Beschränkung
Entscheidend für die Beurteilung des Vorliegens eines erforderlichen sachlichen Grundes zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ist die Frage der Übertragbarkeit der 800 qm Grenze aus dem Bauplanungsrecht. Da die im Bauplanungsrecht anerkannte Annahme, dass typischerweise von Verkaufsflächen über 800 qm eine erhöhte Anziehungskraft auf Kunden ausgeht, ist auch für den Infektionsschutz von Belang, sodass die Ungleichbehandlung wohl gerechtfertigt sein dürfte.
Dagegen dürfte die Privilegierung von bestimmten Einzelhandelsgeschäften gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Entscheidend wird in der Klausur wie so oft eine fundierte Begründung sein.

05.05.2020/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2020-05-05 10:00:352020-05-05 10:00:35800 qm Grenze für Ladenöffnungen verfassungswidrig! Oder doch nicht?
Gastautor

Rechtsprechungsüberblick Strafrecht und Strafprozessrecht 2019

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Wir freuen uns, heute einen Beitrag von Charlotte Schippers veröffentlichen zu können. Die Autorin hat an der Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn (Lehrstuhl Thüsing).
 
Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung unbedingt erforderlich. Neue Urteile und Beschlüsse werden immer wieder als ein Teil der Prüfung herangezogen oder bei besonders wichtigen Entscheidungen ausdrücklich abgefragt. Der folgende Überblick soll für die examensrelevanten Entscheidungen in Strafsachen des Jahres 2019 als Stütze dienen und Ausgangspunkt für eine tiefere Auseinandersetzung sein.
 
Strafrecht
 
BGH, Beschl. v. 8.1.2019 – 1 StR 356/18: Bestätigung der Verurteilung gegen Waffenverkäufer im Fall des Amoklaufs in Münchener Olympia-Einkaufszentrum
Der BGH hat Anfang des Jahres das Urteil des LG München (19.1.2018 – 12 KLs 111 Js 239798/16) gegen den Verkäufer der Waffe, die der Amokläufer im Münchener Olympia-Einkaufszentrum verwendete, bestätigt, indem er die Rechtsmittel von Verteidigung und Nebenklage zurückwies: Der Verkäufer wurde durch das LG München wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen verurteilt. Eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord, wie sie auch die Nebenkläger forderten, lehnte das LG München ab, denn der notwendige doppelte Beihilfevorsatz fehle. Es liege aber eine Sorgfaltspflichtverletzung durch den illegalen Verkauf von Schusswaffen und Munition, der sogar selbst den Straftatbestand des § 52 Abs. 1 Nr. 2c WaffG verwirklicht, vor. Darüber hinaus sei der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs erkennbar und vorhersehbar. Das Dazwischentreten eines Dritten, also des Täters, stehe der Strafbarkeit nicht entgegen:

„[E]ine Mitverantwortung Dritter [führt] nur dann zum Wegfall des Zurechnungszusammenhangs zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten des Täters und dem eingetretenen Erfolg, wenn das für den Erfolg ebenfalls kausale Verhalten des Dritten außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt. Erforderlich ist demnach, dass die vom Täter ursprünglich gesetzte Ursache trotz des in den Kausalverlauf eingreifenden Verhaltens des Dritten wesentlich fortwirkt, der Dritte also hieran anknüpft. Hiervon ist jedenfalls in solchen Fallgestaltungen auszugehen, in denen sich in dem pflichtwidrigen Handeln des Dritten gerade das Risiko der Pflichtwidrigkeit des Täters selbst verwirklicht.“

Vgl. hier unsere ausführliche Besprechung.
 
Raserfälle: Relevant waren dieses Jahr auch die Verurteilungen von Rasern. Dies ist gerade mit Blick auf die Neueinführung des § 315d StGB ein hoch examensrelevantes Themengebiet, aber auch das mediale Interesse um die Verurteilungen wegen Mordes rückt entsprechende Urteile auch in den Fokus der Examensprüfer.
BGH, Beschl. v. 16.1.2019 – 4 StR 345/18: Bestätigung des Mordurteils gegen einen Raser
Anfang des Jahres hat der BGH ein Mordurteil gegen einen Raser bestätigt. Vorangegangen war die Entscheidung des LG Hamburg (Az.: 621 Ks 12/17) zu folgendem Sachverhalt: Bei einer Verfolgungsfahrt mit der Polizei in einem gestohlenen Taxi und fuhr der alkoholisierte A in der Innenstadt bewusst auf die Gegenfahrbahn. Diese war leicht kurvig und baulich von der übrigen Fahrbahn abgetrennt. A fuhr mit einer Geschwindigkeit von bis zu 155 km/h, bis er wegen Kollisionen mit dem Kantstein der Fahrbahn und einer Verkehrsinsel die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und nach Überqueren einer Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h frontal mit einem ihm mit nur ca. 20 km/h entgegenkommenden Taxi zusammenstieß. Einer der Insassen verstarb, zwei weitere wurden schwer verletzt.
Das LG ging bei seiner Entscheidung davon aus, dass A mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe, was auch der BGH bestätigte:

„[A war] bewusst, ,dass es mit hoher, letztlich unkalkulierbarer und nur vom Zufall abhängender Wahrscheinlichkeit zu einem frontalen Zusammenstoß mit entgegenkommenden Fahrzeugen kommen würde.‘ Ihm war auch ,bewusst, dass ein Frontalunfall mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod eines oder mehrerer direkter Unfallbeteiligter sowie eventuell zur Schädigung weiterer Personen führen würde.‘ All dies, auch der eigene Tod, wurde vom Angekl. gebilligt, weil er ,kompromisslos das Ziel, der Polizei zu entkommen‘, verfolgte.“

Das Vorliegen eines Mordmerkmals mag mit Blick auf die Verwendung eines gemeingefährlichen Mittels einschlägig sein, das ließ der BGH aber offen. Erfüllt sei vorliegend jedenfalls die Verdeckungsabsicht, da es A maßgeblich darauf ankam, zu entkommen.
Zu mehr Einzelheiten vgl. auch unsere Besprechung.
 
LG Berlin, Urt. v. 26.3.2019 – 532 Ks 9/18: Bedingter Tötungsvorsatz bei Autorennen
Im medialen Fokus stand bereits letztes Jahr das Urteil des LG Berlin, mit dem es zwei Raser, die bei einem illegalen Autorennen einen unbeteiligten Verkehrsteilnehmer getötet hatten, wegen Mordes verurteilte. Dieses erste Urteil hatte der BGH zwar aufgehoben, sodass das LG Berlin erneut entscheiden musste. Es blieb aber dabei, die Angeklagten wegen Mordes zu verurteilen: Zunächst maßgeblich war der Vorsatz. Die Angeklagten hätten das Risiko des Todes anderer Verkehrsteilnehmer erkannt, hätten aber – aus Gleichgültigkeit – dennoch entsprechend gehandelt. Dieses Bewusstsein habe schon in dem Zeitpunkt vorgelegen, in dem die volle Kontrolle über das Fahrzeug noch vorhanden gewesen sei – zur Erinnerung: Der BGH war davon ausgegangen, dass der Tötungsvorsatz erst nach der Tat gegeben sei und demnach unbeachtlich war.
An Mordmerkmalen bejahte das LG das Auto als gemeingefährliches Mittel, die Heimtücke, da das Opfer die Ampel bei Grün überquert habe und damit arglos gewesen sei, sowie niedrige Beweggründe.
Zu weiteren Details sei auf unsere ausführliche Besprechung verwiesen.
 
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.1.2019 – 2 Ws 341/18: Beendigung einer Beziehung als empfindliches Übel
Das OLG Karlsruhe hatte dieses Jahr darüber zu entscheiden, ob die Ankündigung der Beendigung einer Beziehung als ein empfindliches Übel bei der Strafbarkeit wegen (sexueller) Nötigung verstanden werden kann. Nachdem der Täter T die 17 Jahre alte O über ein soziales Netzwerk kennengelernt und mit dem falschen Profil X eine Internet-Beziehung aufgenommen hatte, traf er sich selbst als T mit O und kündigte an, dass, sollte sie sich weigern, mit ihm in sexuellen Kontakt zu treten, die Internet-Beziehung mit X beendet werde.
Das OLG entschied, dass T hierdurch den Tatbestand der sexuellen Nötigung gem. § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB verwirklicht habe, da bei der Frage, ob eine Drohung mit einem empfindlichen Übel vorliege, ein individuell-objektiver Maßstab zugrunde zu legen sei:

„Danach ist das angedrohte Übel dann empfindlich, wenn der in Aussicht gestellte Nachteil von solcher Erheblichkeit ist, dass seine Ankündigung geeignet erscheint, den Bedrohten im Sinn des Täterverlangens zu motivieren, und von dem Bedrohten in seiner Lage nicht erwartet werden kann, dass er der Bedrohung in besonnener Selbstbehauptung standhält. Mithin kommt es auf eine den Opferhorizont berücksichtigende Sichtweise und nicht auf einen besonnenen Durchschnittsmenschen an. Auch unter Berücksichtigung des Schutzgutes der Nötigungsdelikte – die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung – kommt deshalb der Individualität des Bedrohten und der Frage, weshalb gerade von ihm in seiner konkreten Situation ein Standhalten gegenüber der Drohung erwartet werden kann, entscheidende Bedeutung. Danach kann auch ein angedrohter Beziehungsabbruch ein empfindliches Übel darstellen, wenn dieser Beziehung für den Bedrohten ein hoher Stellenwert zukommt.“

Das OLG Karlsruhe ging mithin im Ergebnis von der Strafbarkeit des T wegen sexueller Nötigung aus, s. auch unsere Besprechung.
 
OLG Köln, Beschl. v. 4.4.2019 – 2 Ws 122/19: Strafbarkeit eines gedopten Profiboxers nach § 223 StGB
Das OLG Köln beschäftigte sich im April mit der Strafbarkeit eines gedopten Profiboxers wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB. Profiboxer T besiegte in einem Boxkampf seinen Kontrahenten; allerdings war die nachfolgende Dopingprobe im Hinblick auf das synthetische anabole Steroid Stanozolol positiv. Nach Bejahung des objektiven Tatbestandes der einfachen Körperverletzung – ein Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs wegen der eingesetzten Boxhandschuhe lehnte des OLG ausdrücklich ab – ist maßgeblich nach der rechtfertigenden Einwilligung zu fragen, die bei einem Sportwettkampf regelmäßig konkludent vorliegt. Hierbei ist ein Irrtum des Einwilligenden denkbar, denn der Gegner geht regelmäßig von einem anderen Leistungsniveau aus, als von dem, welches erst durch das Doping erzielt wird. So führt das OLG Köln aus:

„Die vom Teilnehmer eines Boxkampfes zumindest konkludent erteilte Einwilligung erstreckt sich ausschließlich auf solche Verletzungen, die bei regelkonformem Verhalten des Gegners üblich und zu erwarten sind. Doping als schwere Missachtung der anerkannten Sport- und Wettkampfregeln, die der Gegner nicht zu erwarten braucht, kann der wirksamen Einwilligung entgegenstehen.“

All dies steht unter dem Vorbehalt, dass das Doping dem Täter sicher nachgewiesen wird, was im konkreten Fall noch aussteht. Sollte dies jedenfalls der Fall sein, handelte er ohne Rechtfertigung und hat sich mithin wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Vgl. hierzu unsere ausführlichere Besprechung.
 
BGH, Urt. v. 6.4.2019 – 5 StR 593/18: Konkretisierung des Gewahrsamswechsels bei kleinen, leicht transportablen Sachen
Im Frühjahr dieses Jahres hat der BGH eine Konkretisierung des Gewahrsamswechsels beim Diebstahl vorgenommen, wobei es insbesondere um die examensrelevante Frage der Begründung neuen Gewahrsams durch Verbringen der Sache in eine Gewahrsamsenklave ging. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Es ging um die Mitnahme von sechs Flaschen Alkohol, die der Täter T in einen Einkaufskorb und dann in seine Sporttasche legte, welche er verschloss, um die Flaschen ohne Bezahlung für sich zu behalten. Er wurde aber vor Verlassen des Ladens vom Ladendetektiv aufgehalten.
Zur Bestimmung, ob eine Wegnahme vorliegt, stellt der BGH auf die Gesamtumstände des konkreten Falls unter Berücksichtigung von Größe, Gewicht und Transportmöglichkeit der jeweiligen Sache ab:

„Danach macht es einen entscheidenden Unterschied, ob es sich bei dem Diebesgut um umfangreiche, namentlich schwere Sachen handelt, deren Abtransport mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, oder ob es nur um kleine, leicht transportable Gegenstände geht. Bei unauffälligen, leicht beweglichen Sachen […] lässt die Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache genügen. Steckt der Täter einen Gegenstand in Zueignungsabsicht in seine Kleidung, so schließt er allein durch diesen tatsächlichen Vorgang die Sachherrschaft des Bestohlenen aus und begründet eigenen ausschließlichen Gewahrsam.“

Das gilt unabhängig davon, wenn sich die handelnde Person noch im Gewahrsamsbereich des Berechtigten – hier des Supermarktes befindet. Für Fälle wie den Vorliegenden gilt daher:

„Für ohne Weiteres transportable, handliche und leicht bewegliche Sachen kann jedenfalls dann nichts anders gelten, wenn der Täter sie in einem Geschäft – wie hier – in Zueignungsabsicht in eine von ihm mitgeführte Hand-, Einkaufs-, Akten- oder ähnliche Tasche steckt; hierdurch bringt er sie in ebensolcher Weise in seinen ausschließlichen Herrschaftsbereich wie beim Einstecken in seine Kleidung.“

Die Strafbarkeit wegen vollendeten Diebstahls ist im vorliegenden Fall somit gegeben. S. zu diesem Urteil unsere Besprechung.
 
BGH, Beschl. v. 7.5.2019 – 1 StR 150/19: Niedrige Beweggründe bei Tötung des Intimpartners
Zu folgendem Fall (gekürzt) erging im Mai dieses Jahres ein Beschluss des BGH: Zwischen T und seiner Ehefrau F kam es vor allem wegen des täglichen Alkoholkonsums des T zu Streit, wobei sich F von T trennte und ihn aufforderte, aus ihrer Wohnung auszuziehen. Auch am nächsten Morgen beharrte sie auf ihrem Entschluss. Als sie das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, folgte T ihr mit einem Messer in der Jackentasche und dem Vorhaben, sie zu töten, sollte sie ihm keine weitere Chance geben. F verneinte das Ansinnen des T und wandte sich von ihm ab, sodass T ihr, die sich keines Angriffs versah, von hinten vier Mal in den Rücken stach. F drehte sich überrascht um und ging infolge weiterer gegen die Brust geführter Stiche zu Boden. T setzte sich sodann auf die auf dem Rücken liegende F und stach weiter wuchtig auf ihren Brustbereich ein, wobei ihre Versuche, die Stiche abzuwehren, erfolglos blieben. T ließ erst von ihr ab, als sie regungslos liegenblieb. F starb durch die Blutungen.
Die Überlegungen des LG München, es handle sich um einen Mord, bei welchem die Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe vorliegen, stimmte der BGH nur teilweise zu: Während das Merkmal der Heimtücke gegeben sei, sei hinsichtlich der niedrigen Beweggründe, anders als vom LG vorgenommen, weder maßgeblich darauf abzustellen,

„ob der Täter tatsachenfundiert auf den Fortbestand der Verbindung zum Opfer vertrauen durfte, noch darauf, wie der Zustand der Beziehung war, ob sich das Tatopfer aus nachvollziehbaren Gründen zur Trennung entschlossen hat, ob der Täter seinerseits maßgeblich verantwortlich für eine etwaige Zerrüttung der Partnerschaft war und ob er – dies ist ohnehin stets der Fall – ,die Trennungsentscheidung‘ des Partners ,hinzunehmen‘ hatte. Derartige Erwägungen sind zwar für die entscheidende Frage, ob die – stets als verwerflich anzusehende – vorsätzliche und rechtswidrige Tötung eines Menschen jeglichen nachvollziehbaren Grundes entbehrt, nicht ohne jede Bedeutung; allein der Umstand, dass sich die Trennung des Partners wegen des Vorverhaltens des Täters und des Zustands der Beziehung als „völlig normaler Prozess“ darstellt und (daher) von diesem hinzunehmen ist, ist aber nicht geeignet, die Tötung des Partners, die wie jede vorsätzliche und rechtswidrige Tötung verwerflich ist, als völlig unbegreiflich erscheinen zu lassen.“

Zu beachten ist bei der Prüfung auch, dass nach Auffassung des BGH der Umstand, dass die Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden darf.
 
BGH, Urt. v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18: Grundsatzurteile zur Sterbehilfe
Medial auch im Fokus standen zwei Urteile zur Sterbehilfe, die der BGH diesen Sommer erlassen hat. Es ging um die Strafbarkeit zweier Ärzte: Der im Hamburger Verfahren angeklagte Facharzt erstellte für zwei Frauen, die sich an einen Sterbehilfeverein gewandt hatten, neurologisch-psychiatrische Gutachten zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Hierbei hatte er an der Festigkeit und Wohlerwogenheit ihrer Suizidwünsche keine Zweifel. Auf ihr Verlangen wohnte er auch der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente bei und unterließ Rettungsmaßnahmen. Eine Strafbarkeit nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB und nach § 323c StGB wurde bereits in der Vorinstanz aufgrund der Tatherrschaft der Frauen über die Todesherbeiführung verneint. Der andere Arzt, um dessen Strafbarkeit es im Berliner Verfahren ging, war Hausarzt der Suizidwilligen, die an einer nicht lebensbedrohlichen, aber stark krampfartige Schmerzen verursachenden Krankheit litt und bereits mehrere Suizidversuche unternommen hatte. Er besorgte ihr ein tödlich wirkendes Medikament und betreute sie, als sie nach der Einnahme des Medikaments bewusstlos wurde. Auch er nahm keine Rettungsmaßnahmen vor. Auch hier wurde die Strafbarkeit abgelehnt, denn die Beschaffung des Medikaments eine straflose Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung.
Zwar lagen die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit durch Unterlassen im Grundsatz wohl vor, wenn auch die Frage nach der Garantenstellung weitestgehend offen gelassen wurde. Allerdings verneinte der BGH die Pflicht zur Abwendung des Todeserfolgs:

„Beide Angeklagte waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet. Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon nicht die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen übernommen, was ihn zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Auch die Erstellung des seitens des Sterbehilfevereins für die Erbringung der Suizidhilfe geforderten Gutachtens sowie die vereinbarte Sterbebegleitung begründeten keine Schutzpflicht für deren Leben. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden.“ (Pressemitteilung Nr. 90/2019)

Konsequenterweise war daher auch nicht von einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB auszugehen. Im Ergebnis verneinte der BGH daher insgesamt die Strafbarkeit der Ärzte. Da sich im Rahmen der Sterbehilfe jedenfalls komplizierte Fälle stellen lassen, sind diese Entscheidungen besonders (examens-)relevant.
Vgl. hierzu auch unsere umfassende Besprechung.
 
Strafprozessrecht
 
BVerfG, Beschl. v. 5.7.2019 – 2 BvR 167/18: Neues zur Wahlfeststellung
Das BVerfG hat sich im Sommer mit der echten Wahlfeststellung beschäftigt. Zur Erinnerung: Die echte Wahlfeststellung kommt infrage, wenn sicher ist, dass der Täter einen von mehreren möglichen Straftatbeständen erfüllt hat, aber nicht klar ist, welches Delikt er tatsächlich vorliegt. Daher erfolgt nach Auffassung der Rechtsprechung bei rechtsethischer und physiologischer Vergleichbarkeit oder nach der h. L. bei Identität des Unrechtskerns eine wahlweise Bestrafung. Teilweise bestehen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Wahlfeststellung, insbesondere da es an einer gesetzlichen Grundlage fehle, die aber wegen ihrer strafbarkeitsbegründenden Wirkung erforderlich sei, vgl. Art. 103 Abs. 2 GG. Das BVerfG hat nun jedoch die Verfassungsmäßigkeit bejaht. Zunächst stellte es heraus, dass es sich um eine Entscheidungsregel des Strafverfahrens handle, die nicht den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berühre. Darüber hinaus sei auch kein Verstoß gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ festzustellen:

„In der Wahlfeststellungssituation hat das Tatgericht aufgrund des jeweils anwendbaren Straftatbestands zu prüfen, auf welche Strafe zu erkennen wäre, wenn eindeutig die eine oder die andere strafbare Handlung nachgewiesen wäre. Von den so ermittelten Strafen ist dann zugunsten des Angeklagten die mildeste zu verhängen. Dass sich hiernach die zu verhängende Strafe durch einen Vergleich (der für jede Sachverhaltsvariante konkret ermittelten Strafen) bestimmt, ändert nichts daran, dass das Tatgericht Art und Maß der Bestrafung einem gesetzlich normierten Straftatbestand entnimmt, genauer dem Gesetz, das für den konkreten Fall die mildeste Bestrafung zulässt.“

Auch der Unschuldsvermutung sei Genüge getan: Zwar könne dem Angeklagten eine konkrete, schuldhaft begangene Straftat nicht nachgewiesen werden, dennoch stünde zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte sicher einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen schuldhaft verwirklicht habe. Demnach ist die echte Wahlfeststellung als verfassungsgemäß zu betrachten.
Diesen Beschluss haben wir ebenfalls ausführlich besprochen.
 
 

11.11.2019/2 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-11-11 09:51:002019-11-11 09:51:00Rechtsprechungsüberblick Strafrecht und Strafprozessrecht 2019
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 2: Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Staatshaftung, Startseite, Verwaltungsrecht

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
I. Verwaltungsrecht
BVerwG (Urt. v. 13.6.2019 – 3 C 28.16, 3 C 29.16) zur Rechtmäßigkeit des sog. „Kükenschredderns“
Das BVerwG hat sich mit einer rechtlich, aber auch gesellschaftlich brisanten Thematik beschäftigt, nämlich der Frage nach der Rechtmäßigkeit des „Schredderns“ männlicher Küken unmittelbar nach dem Schlüpfvorgang. Diese beurteilt sich anhand von § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG i.V.m. § 1 S. 2 TierSchG: Das Töten männlicher Küken ist nur dann zulässig, wenn es nicht gegen das Tierschutzgesetz verstößt. Ein solcher Verstoß liegt allerdings vor, wenn einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Inwiefern ein solcher „vernünftiger Grund“ für das Töten der Küken vorliegt, ergibt sich aus einer Abwägung zwischen dem menschlichen Nutzungsinteresses und dem Tierschutz. Dabei können rein wirtschaftliche Interessen allerdings nicht ausreichen, um ein überwiegendes menschliches Nutzungsinteresse zu begründen. So heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts:

„Vernünftig im Sinne dieser Regelung ist ein Grund, wenn das Verhalten gegenüber dem Tier einem schutzwürdigen Interesse dient, das unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse am Schutz des Tieres. Im Lichte des im Jahr 2002 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken für sich betrachtet nach heutigen Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten.“

Trotz der damit anzunehmenden grundsätzlichen Unzulässigkeit des „Kükentötens“ bleibt das Verfahren indes zumindest vorübergehend weiterhin zulässig:

„Ohne eine Übergangszeit wären die Brutbetriebe gezwungen, zunächst mit hohem Aufwand eine Aufzucht der männlichen Küken zu ermöglichen, um dann voraussichtlich wenig später ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei einzurichten oder ihren Betrieb auf das Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien umzustellen. Die Vermeidung einer solchen doppelten Umstellung ist in Anbetracht der besonderen Umstände ein vernünftiger Grund für die vorübergehende Fortsetzung der bisherigen Praxis.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
OVG Koblenz (Beschl. v. 12.6.2019 – 10 B 10515/19.OVG) zur Gleichbehandlung bei der Benutzung einer kommunalen Einrichtung
Das OVG Koblenz hatte die Rechtmäßigkeit einer Regelung in der Badeordnung eines gemeindlichen Schwimmbads zu beurteilen, die das Tragen von sog. Burkinis im Schwimmbad untersagte. Betreibt eine Gemeinde ein Schwimmbad als öffentliche Einrichtung, so hat sie grundsätzlich zugleich die Befugnis, das Benutzungsverhältnis durch Sonderverordnung zu regeln. Allerdings findet diese Regelungsbefugnis ihre Grenze einerseits in den verfassungsrechtlichen Rechten der Nutzer, andererseits darin, dass die jeweilige Nutzungsvorschrift der Erfüllung des bestimmungsgemäßen Anstaltszweck dienen muss. Zwar mag dabei das Burkiniverbot als solches – das eine Kontrolle ermöglichen soll, ob bei den Nutzern des Schwimmbads gesundheitsgefährdende Krankheiten bestehen – dem Anstaltszweck dienen, da es zum Schutz der übrigen Badegäste zumindest beiträgt. Allerdings verstößt die Regelung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, denn: Sie belastet Trägerinnen von Burkinis stärker als andere Badegäste, deren Badebekleidung den Körper ebenfalls weitgehend bedeckt. Dazu führt das Gericht aus:

„Neoprenanzüge können ebenso wie Burkinis den ganzen Körper bedecken und haben unter Umständen auch eine Kopfhaube, lassen daher zur Kontrolle durch das Badepersonal nicht weniger Körperteile frei als Burkinis. Dass Neoprenanzüge nur während des Schwimmtrainings zugelassen sind, vermag daran nichts zu ändern. Dadurch dürfte zwar die Zahl der Badegäste, die in einem solchen schwimmen (und folglich auch die von ihnen ausgehenden potentiellen Gesundheitsgefahren), eher gering sein. Dies gilt aber in gleicher Weise für die Trägerinnen von Burkinis, weil nach den Angaben der Antragsgegnerin die städtischen Schwimmbäder zur Zeit von nur fünf Burkini-Trägerinnen besucht werden. […] Nach alledem ist die ungleiche Behandlung von Burkini-Trägerinnen einerseits und Trägerinnen und Träger von Neoprenanzügen andererseits nach dem Regelungsprogramm der Antragsgegnerin sachlich nicht gerechtfertigt und verstößt gegen den Anspruch der Antragstellerin auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
II. Staatshaftungsrecht
BGH (Urt. v. 6.6.2019 – III ZR 124/18) zur Stellung als Verwaltungshelfer
Der BGH hat sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern Mitarbeiter eines privaten Unternehmens, die zur Ausführung einer verkehrsbeschränkenden Anordnung der Straßenbaubehörde und des der Anordnung beigefügten Verkehrszeichenplans Verkehrsschilder nicht ordnungsgemäß befestigen, als Verwaltungshelfer und damit Beamte im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen sind. Dabei legte es folgende Kriterien zugrunde:

 „[Es] ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen […]. Hiernach können auch Mitarbeiter eines privaten Unternehmens Amtsträger im haftungsrechtlichen Sinne sein. Dies kommt neben den Fällen der Beleihung eines Privatunternehmens mit hoheitlichen Aufgaben auch dann in Betracht, wenn Private als Verwaltungshelfer bei der Erledigung hoheitlicher Aufgaben tätig werden […] Dafür ist erforderlich, dass ein innerer Zusammenhang und eine engere Beziehung zwischen der Betätigung des Privaten und der hoheitlichen Aufgabe bestehen, wobei die öffentliche Hand in so weitgehendem Maße auf die Durchführung der Arbeiten Einfluss nimmt, dass der Private gleichsam als bloßes „Werkzeug“ oder „Erfüllungsgehilfe“ des Hoheitsträgers handelt und dieser die Tätigkeit des Privaten deshalb wie eine eigene gegen sich gelten lassen muss […].“.

Vor diesem Hintergrund wurde der mit der Anbringung des Verkehrsschildes betraute Mitarbeiter als Verwaltungshelfer eingeordnet: Die getroffene Verkehrsregelung (§ 45 StVO) stellt eine Maßnahme der Eingriffsverwaltung dar: Das durch sie angeordnete Ge- oder Verbot ist ein für die Verkehrsteilnehmer bindender Verhaltensbefehl. Indes ist die Regelung ohne das Aufstellen des entsprechenden Verkehrsschildes nicht wirksam, sodass es sich auch bei dieser rein tatsächlichen Tätigkeit um eine hoheitliche Aufgabe handelt. Dabei hatte der Mitarbeiter die vorgegebene Verkehrsregelung an der vorgegebenen Stelle umzusetzen, einen eigenen Entscheidungs- oder Ermessensspielraum hatte er daher nicht, er war allein „verlängerter Arm“ der zuständigen Behörde.

02.10.2019/0 Kommentare/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-10-02 10:00:292019-10-02 10:00:29Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 2: Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 1: Verfassungsrecht

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Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Beschl. v. 23.7.2019 – 1 BvR 2433/17): Fälschliche Einordnung prozessualer Äußerung als Schmähkritik verletzt Meinungsfreiheit
Das BVerfG hat kürzlich die Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik erneut konkretisiert. Dabei hat das Gericht herausgestellt, dass bei der Qualifizierung einer Aussage als Schmähkritik strenge Maßstäbe anzulegen sind. Erforderlich ist, dass die Äußerung tatsächlich auf die bloße Herabsetzung und Diffamierung einer anderen Person gerichtet ist, ohne sich inhaltlich mit der Sache auseinander zu setzen. Besonders hervorgehoben hat das BVerfG, dass auch Anlass und Kontext der Äußerung Berücksichtigung finden müssen um zu ermitteln, ob sie tatsächlich jedes sachlichen Bezugs entbehrt und auf eine persönliche Diffamierung gerichtet ist oder vielmehr ein Anlass für die jeweilige Aussage ausgemacht werden kann. So kann der Vergleich der Verhandlungsführung einer Richterin mit „einschlägigen Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“ oder einem „mittelalterlichen Hexenprozess“ nicht von vornherein als Schmähkritik eingeordnet werden. Das BVerfG formuliert dazu:

„Die Äußerungen entbehren […] nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen auch nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Die Äußerungen lassen nicht ohne weiteres den Schluss zu, der Beschwerdeführer habe der Richterin eine nationalsozialistische oder „mittelalterliche“ Gesinnung unterstellen wollen. Historische Vergleiche mit nationalsozialistischer Praxis begründen für sich besehen nicht die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 18.7.2019 – 1 BvL 1/18, 1 BvR 1595/18, 1 BvL 4/18) zur Verfassungskonformität der Mietpreisbremse
Ein großes mediales Echo hat auch die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungskonformität der Mietpreisbremse hervorgerufen. So stellte das Gericht fest:

„Die Regulierung der Miethöhe bei Mietbeginn durch § 556d Abs. 1 BGB verstößt in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren weder gegen die Garantie des Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen die Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG noch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.“

Schwerpunktmäßig hat das BVerfG sich in seinem Beschluss mit der Vereinbarkeit des § 556d Abs. 1 BGB mit Art. 14 Abs. 1 GG beschäftigt: Ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ist jedoch abzulehnen, da die Regelung eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Sie verfolgt das legitime Ziel, „durch die Begrenzung der Miethöhe bei Wiedervermietung der direkten oder indirekten Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken“. Indem sie Preisspitzen auf angespannten Wohnungsmärkten abschwächt, kann sie den Zugang einkommensschwacher Mieter zu Wohnraum schaffen und ist damit geeignet, den verfolgten Zweck zu erreichen, ohne dass vergleichbar wirksame, mildere Mittel zur Verfügung stehen. Letztlich ist die Regelung nach Ansicht des Gerichts auch angemessen, denn der Gesetzgeber hat die Belange von Mietern und Vermietern in einen sachgerechten Ausgleich gebracht. Den Interessen der Mieter kommt dabei besonderes Gewicht zu:

„Die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung geht auf der anderen Seite umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht […]. Das trifft auf die Miethöhenregulierung in besonderem Maße zu. Eine Wohnung hat für den Einzelnen und dessen Familie eine hohe Bedeutung […].“

Demgegenüber entsteht keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung seitens der Betroffenen Vermieter, denn auch eine nachträgliche Verschlechterung der Nutzungsmöglichkeiten bestehender Eigentumspositionen kann zulässig sein. So führt das Gericht aus:

„Auf dem sozialpolitisch umstrittenen Gebiet des Mietrechts müssen Vermieterinnen und Vermieter […] mit häufigen Gesetzesänderungen rechnen und können nicht auf den Fortbestand einer ihnen günstigen Rechtslage vertrauen […]. Ihr Vertrauen, mit der Wohnung höchstmögliche Mieteinkünfte erzielen zu können, wird durch die Eigentumsgarantie nicht geschützt, weil ein solches Interesse seinerseits vom grundrechtlich geschützten Eigentum nicht umfasst ist.“

Eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Interessen der betroffenen Vermieter ist zudem abzulehnen, da die ortsübliche Vergleichsmiete dem Vermieter einen am örtlichen Markt orientierten Mietzins sichert und damit die Wirtschaftlichkeit der Vermietung erhalten bleibt.
 
BVerfG (Beschl. v. 9.7.2019 – 1 BvR 1257/19) zur Strafbarkeit des faktischen Leiters einer nicht angemeldeten Versammlung
Das BVerfG hatte die Vereinbarkeit der Strafnorm des § 26 Nr. 2 VersG mit Art. 8 Abs. 1 GG zu beurteilen. § 26 Nr. 2 VersG bestimmt: „Wer als Veranstalter oder Leiter eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung (§ 14) durchführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ An der Verfassungskonformität der Norm bestehen dabei grundsätzlich keine Zweifel. Dies gilt nach der Ansicht des Gerichts auch, sofern sie dahingehend ausgelegt wird, dass auch der bloß faktische Versammlungsleiter einer nicht angemeldeten Veranstaltung als tauglicher Täter eingeordnet wird:

 „Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken.“

Es bestehen auch keine Bedenken, dass dies zu einer Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Veranstaltung führen könnte, denn es ist nur derjenige als Versammlungsleiter einzuordnen, der den Ablauf der Versammlung, ihre Unterbrechungen und ihre Schließung bestimmt. 
Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 2.7.2019 – 1 BvR 385/16) zur Verfassungskonformität eines Vereinsverbots
Das BVerfG hat sich mit der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Vereinsverbots am Maßstab von Art. 9 Abs. 2 GG beschäftigt. Gem. Art. 9 Abs. 2 GG ist ein Vereinsverbot dabei gerechtfertigt, wenn sich die jeweilige Vereinigung gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, also insbesondere, wenn sie schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen aktiv propagiert und fördert. Dabei gilt:

„Der Verbotstatbestand kann auch dann erfüllt sein, wenn die Vereinigung sich durch die Förderung Dritter gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet; Dazu gehört die finanzielle Unterstützung terroristischer Handlungen und Organisationen, wenn diese objektiv geeignet ist, den Gedanken der Völkerverständigung schwerwiegend, ernst und nachhaltig zu beeinträchtigen, und die Vereinigung dies weiß und zumindest billigt.“

30.09.2019/0 Kommentare/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-09-30 10:08:312019-09-30 10:08:31Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 1: Verfassungsrecht
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

In einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss vom 9.7.2019 (Az. 1 BvR 1257/19) hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Frage zu befassen, ob eine strafrechtliche Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG (Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung) gegen die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers sowie gegen das strafrechtliche Analogieverbot und das Schuldprinzip verstößt.
Sowohl in Klausuren im Grundstudium als auch im Examen ist die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ein sehr beliebtes Prüfungsthema. Zusätzlich wandte sich der Beschwerdeführer vorliegend gegen ein Urteil, sodass eine Urteilsverfassungsbeschwerde zu prüfen ist, deren Prüfung vielen Studierenden Probleme bereitet. Die Entscheidung gibt Anlass, die Wesenszüge beider Themengebiete zu wiederholen. 
I. Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)
Der Beschwerdeführer A organisierte im Februar 2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Autobahnbrücke, an der neben ihm vier weitere Personen teilnahmen. Die Veranstaltung erfolgte als Ausdruck einer „Anti-Atom-Bewegung“. Zwei Teilnehmer seilten sich von der Brücke ab und spannten ein beschriftetes Banner zwischen sich auf. Die gesamte Veranstaltung wurde vom Beschwerdeführer durch Anweisungen koordiniert und auch beendet. Eine Anmeldung nach § 14 VersG erfolgte nicht. Die Teilnehmer waren mit dem Auto angereist und hatten Banner und Schilder vorbereitet. Zuvor hatten sie auch die Presse über die Veranstaltung informiert. A wurde vom Amtsgericht als faktischer Leiter der Versammlung wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung nach § 26 Abs. 2 VersG verurteilt. Hierdurch fühlt er sich in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
II. Lösung
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. (Hier sollte der Bearbeiter kurz ausführen, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist und Verletzungen des einfachen Rechts somit außer Betracht bleiben).
1. In Betracht kommt eine Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
(Anm: Das BVerfG prüfte in seinem Beschluss zunächst die Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG sowie des Gebots „Keine Strafe ohne Schuld“ aus Art. 2 Abs. 1 GG. Um jedoch den Aufbau der Urteilsverfassungsbeschwerde besser darstellen zu können, erfolgt hier zunächst die Prüfung der Versammlungsfreiheit, deren Aufbau Studenten geläufiger sein dürfte).  
a. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt die Zusammenkunft mehrerer Personen (nach hM mindestens zwei) zu einem gemeinsamen Zweck, wobei die Anforderungen an den Zweck umstritten sind (siehe dazu hier unseren Beitrag zu Art. 8 GG). Die Teilhabe an der Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten, wie vorliegend die Demonstration gegen den Einsatz atomarer Energie, genügt den Anforderungen jedenfalls. Die Versammlung muss friedlich und ohne Waffen verlaufen, was hier der Fall ist. Die Veranstaltung auf der Brücke fällt somit unter Art. 8 Abs. 1 GG. Es handelt sich um ein Deutschengrundrecht, von der deutschen Staatsangehörigkeit des A gem. Art. 116 Abs. 1 GG ist auszugehen.
b. Indem das Gericht strafrechtliche Sanktionen an die Ausübung der nach Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Tätigkeit anknüpft, hat es auch in den Schutzbereich eingegriffen.
c. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
Für Versammlungen unter freiem Himmel (d.h. solche, die nicht durch eine seitliche Abgrenzung vor unkontrolliertem Zugang von jedermann geschützt sind) sieht Art. 8 Abs. 2 GG einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Die Versammlung auf der Brücke war jedermann zugänglich und fand so unter freiem Himmel statt. In diesem Fall ist Art. 8 Abs. 1 GG durch oder auf Grund eines Gesetzes beschränkbar.
(Anm: An dieser Stelle folgt die Prüfung der „Schranken-Schranken“, deren Aufbau vielen Bearbeitern bei der Urteilsverfassungsbeschwerde Schwierigkeiten bereitet. Wichtig ist es zunächst zu prüfen, ob die Norm, aufgrund derer die Einschränkung vorgenommen wird, unabhängig von den Umständen des Falles den Anforderungen des GG standhält. Erst danach folgt die Prüfung des Einzelakts, d.h. hier des Urteils. Wo der Schwerpunkt liegt, richtet sich nach den Umständen des Falles. Der Schwerpunkt bei dieser Falllösung liegt eher auf der Ebene des Einzelaktes, nicht bei der Normprüfung.)
Die Verurteilung erfolgt auf Grundlage des § 26 Abs. 2 VersG i.V.m. § 14 VersG. An deren Wirksamkeit können insoweit Zweifel angestellt werden, als dass Art. 8 Abs. 1 GG das Recht verbürgt, sich ohne Anmeldung zu versammeln. Hier sollte der Bearbeiter ausführen, dass die Anmeldepflicht aus § 14 VersG den legitimen Zweck verfolgt, die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer zu garantieren und die Belastung Dritter etwa durch Verkehrsregelungen zu mindern. Sie kann im Einzelfall (etwa bei Eil- oder Spontanversammlungen) verfassungskonform ausgelegt werden. Nach Ansicht des BVerfG ist § 14 VersG ebenso verfassungsgemäß wie § 26 VersG. Insbesondere ist die Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG auf den Veranstalter und den Leiter der nicht angemeldeten Versammlung beschränkt, die bloße Teilnahme ist nicht mit Strafe bedroht.
(Anm: Im Rahmen einer Urteilsbeschwerde kann es erforderlich sein, auf der Normebene bereits die Vereinbarkeit mit anderen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu prüfen, da es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes insgesamt geht. Im vorliegenden Fall betreffen die Fragen der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG und dem Schuldprinzip allerdings die Auslegung im Einzelfall, nicht die Norm selbst, sodass die Prüfung getrennt erfolgt.)
Das Urteil des Amtsgerichts (Einzelaktsprüfung!) müsste im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG verfassungskonform sein.
Ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 GG könnte vorliegen, wenn im Fall keine Anmeldepflicht bestand, weil es sich um eine Spontanversammlung handelte. Für solche Versammlungen, die ungeplant und ohne Veranstalter stattfinden, ist in verfassungskonformer Auslegung eine Ausnahme von der Anmeldepflicht zu machen. Indes war die Versammlung auf der Brücke angesichts der vorangegangenen Planung (Anreise, Organisation von Kletterausrüstung, Information der Presse) ersichtlich nicht spontan, sodass die Ausnahme nicht greift.
Art. 8 Abs. 1 GG könnte verletzt sein, weil § 26 Abs. 2 VersG eine Strafbarkeit nur des „Leiters“ der Versammlung vorsieht. Hierbei könnte es sich ausschließlich um den in der Anmeldung gem. § 14 Abs. 2 VersG bezeichneten Leiter handeln. Die vorliegende Versammlung war nicht angemeldet, sodass A auch nicht der angegebene Leiter sein konnte.
Nach Auffassung der Rechtsprechung soll Leiter jedoch der sein, „der persönlich bei der Veranstaltung anwesend sei, die Ordnung der Versammlung handhabe und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimme, insbesondere die Versammlung eröffne, unterbreche und schließe“ (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1978, 118).
Das BVerfG führt aus:

„Im Gegenteil legt es der Wortlaut des § 26 Nr. 2 VersammlG nahe, als Leiter im Sinne der Bestimmung auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfüllt. Denn die Norm begründet ausdrücklich eine Strafbarkeit nicht nur des Veranstalters, sondern auch des Leiters von Versammlungen oder Aufzügen, die ohne die erforderliche Anmeldung durchgeführt werden.“

„Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken (…).“

A kontrollierte die Versammlung durch seine Anweisungen und beendete sie auch. Er nahm die Position eines faktischen Leiters ein. Eine Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nachdem nur der strafrechtlich sanktioniert werden könnte, der in einer Anmeldung nach § 14 Abs. 2 VersG als Leiter angegeben wurde, ließe die Norm faktisch ins Leere laufen, da es bei einer unangemeldeten Versammlung nie einen Leiter geben könnte. Mithin ist die Auslegung des Gerichts, nach der auch der faktische Leiter von § 26 Abs. 2 VersG erfasst ist, mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar, insbesondere verhältnismäßig.
(Anm: Die Verhältnismäßigkeit ist vom Bearbeiter selbstverständlich im bekannten Schema Legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit zu prüfen).
A ist durch das Urteil nicht in seiner Versammlungsfreiheit verletzt.
2. Die Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nach der auch der faktische Leiter erfasst sein soll, könnte gegen das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.

BVerfG: „Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.“

Nach Ansicht des BVerfG schließe der Begriff es zwar aus, die bloße Teilnahme zu bestrafen, der Begriff des Leiters unterliege aber einem Auslegungsspielraum (siehe dazu bereits die Argumentation oben). Aus § 14 Abs. 2 VersG könne nicht entnommen werden, dass nur der in der Anmeldung genannte Leiter von der Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG erfasst sein soll, da vorgenannte Norm nur die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Anmeldung regle. Die Wortlautgrenze ist nicht überschritten, das Analogieverbot ist nicht verletzt.
3. Die Auslegung könnte gegen das Schuldprinzip verstoßen, weil dem faktischen Leiter die unterbliebene Anmeldung (die dem Veranstalter, nicht dem Leiter obliegt) nicht zur Last gelegt werden kann. Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ ist als Verfassungsprinzip anerkannt. Er besagt, dass Handeln nur bestraft werden kann, wenn es vorwerfbar ist. Der Grundsatz hat keinen Niederschlag im Wortlaut des Grundgesetzes gefunden, wird vom BVerfG aber aus einem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet (siehe Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7 ff.; BVerfG, NvwZ 2003, 1504 m.w.N.). Indes sanktioniert § 26 Abs. 2 VersG nicht die unterbliebene Anmeldung, sondern die Durchführung der nicht angemeldeten Versammlung. Wer in leitender Funktion tätig wird, führt aber die Versammlung gleichwohl durch. Dazu das BVerfG:

„Insoweit steht es jedoch jedem Teilnehmer einer Versammlung frei, an dieser nicht in leitender Funktion mitzuwirken und sie so nicht selbst durchzuführen. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip ist insoweit nicht ersichtlich.“

A ist nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
 
III. Ausblick
Fragen zum Versammlungsrecht sind häufiger Prüfungsgegenstand öffentlich-rechtlicher Klausuren. Sie können in Gestalt einer Grundrechtsklausur oder verbunden mit Fragen des Polizeirechts auftauchen. Die Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde anhand einer Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG dürfte eher ungewöhnlich sein, bietet sich aber gerade deswegen besonders für zukünftige Klausuren an. Es gilt, sich nicht von der unbekannten Norm verunsichern zu lassen, und anhand der bekannten Schemata eine vertretbare Lösung zu erarbeiten. Insbesondere bei der verschachtelten Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde sollte dabei darauf geachtet werden, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und des Urteils getrennt zu prüfen.

28.08.2019/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-08-28 08:45:212019-08-28 08:45:21BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß
Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 2

Lerntipps, Startseite, Verschiedenes

Dieser Beitrag setzt den Rechtsprechungsüberblick im Zivilrecht von Oktober 2018 bis März 2019 fort. Teil 1 des Beitrags findet ihr hier.
 
BGH, Beschluss v. 08.01.2019 – VIII ZR 225/17
„VW-Abgasskandal“: Abschalteinrichtung als Sachmangel
Zunächst stellte der BGH fest, dass der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung ein Mangel i.S.d. § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ist:

„Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn bei Übergabe an den Käufer eine – den Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduzierende – Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 VO 715/2007/EG installiert ist, die gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO 715/2007/EG unzulässig ist.
Dies hat zur Folge, dass dem Fahrzeug die Eignung für die gewöhnliche Verwendung im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB fehlt, weil die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde (§ 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung – FZV) besteht und somit bei Gefahrübergang der weitere (ungestörte) Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr nicht gewährleistet ist.“ (Leitsätze 1a und 1b)

Eine Nacherfüllung durch Nachlieferung eines gleichwertigen Neuwagens nach § 439 Abs. 1, 2. Alt BGB soll grundsätzlich möglich sein. Auch ein Modellwechsel (im konkreten Fall von einem VW Tiguan I auf einen VW Tiguan II) steht dem nicht entgegen:

„Bei der durch interessengerechte Auslegung des Kaufvertrags (§§ 133, 157 BGB) vorzunehmenden Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der vom Verkäufer übernommenen Beschaffungspflicht ist zu berücksichtigen, dass die Pflicht zur Ersatzbeschaffung gleichartige und gleichwertige Sachen erfasst. Denn der Anspruch des Käufers auf Ersatzlieferung gemäß § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB richtet sich darauf, dass anstelle der ursprünglich gelieferten mangelhaften Kaufsache nunmehr eine mangelfreie, im Übrigen aber gleichartige und – funktionell sowie vertragsmäßig – gleichwertige Sache zu liefern ist.
Die Lieferung einer identischen Sache ist nicht erforderlich. Vielmehr ist insoweit darauf abzustellen, ob die Vertragsparteien nach ihrem erkennbaren Willen und dem Vertragszweck die konkrete Leistung als austauschbar angesehen haben.
Für die Beurteilung der Austauschbarkeit der Leistung ist ein mit einem Modellwechsel einhergehender, mehr oder weniger großer Änderungsumfang des neuen Fahrzeugmodells im Vergleich zum Vorgängermodell nach der Interessenlage des Verkäufers eines Neufahrzeugs in der Regel nicht von Belang. Insoweit kommt es – nicht anders als sei ein Fahrzeug der vom Käufer erworbenen Modellreihe noch lieferbar – im Wesentlichen auf die Höhe der Ersatzbeschaffungskosten an. Diese führen nicht zum Ausschluss der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 BGB, sondern können den Verkäufer gegebenenfalls unter den im Einzelfall vom Tatrichter festzustellenden Voraussetzungen des § 439 Abs. 4 BGB berechtigen, die Ersatzlieferung zu verweigern, sofern diese nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist.“ (Leitsätze 2b und 2c).

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die Besprechung von Sebastian Rombey.
 
BGH, Beschluss v. 09.01.2019 – VIII ZB 26/17
Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses und analoge Anwendung des § 566 BGB auf den Erwerb eines Miteigentumsanteils
Die Eheleute M und F waren Miteigentümer einer Mietwohnung. Diese vermieteten sie an den Mieter X. Später übertrug M seinen Miteigentumsanteil auf die F, sodass F nun Alleineigentümerin der Mitwohnung war. Im Februar 2016 kündigte F das Mietverhältnis mit X. Fraglich war nun, ob die Kündigung auch durch den M hätte ausgesprochen werden müssen oder ob § 566 Abs. 1 BGB zur Anwendung komme, mit der Folge, dass die Kündigung allein durch den Erwerber des Miteigentumsanteils ausgesprochen werden konnte. Der BGH verneinte eine direkte Anwendung des § 566 Abs. 1 BGB:

„Nach dem Wortlaut des § 566 Abs. 1 BGB muss die Veräußerung an einen Dritten erfolgen, das heißt, der veräußernde Eigentümer und der Erwerber müssen personenverschieden sein, der Erwerber darf bis zum Erwerb nicht Vermieter gewesen sein. Eine direkte Anwendung des § 566 BGB kommt damit […] nicht in Betracht.“

Auch eine analoge Anwendung komme nicht in Betracht. Für eine Analogie bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke sowie einer vergleichbaren Interessenlage. Solch eine vergleichbare Interessenlage lehnte der BGH im vorliegenden Fall ab:

„Sinn und Zweck des § 566 BGB ist der Schutz des Mieters vor einem Verlust des Besitzes an der Wohnung gegenüber einem neuem Erwerber im Falle der Veräußerung der Mietsache. Dieser Schutzzweck ist von vornherein nicht berührt, wenn […] einer von zwei vermietenden Miteigentümern seinen Eigentumsanteil auf den anderen überträgt, so dass dieser Alleineigentümer der Mietsache wird. Denn der nunmehrige Alleineigentümer ist (weiter) an den Mietvertrag gebunden und ein Verlust des Besitzes auf Seiten des Mieters infolge des Veräußerungsvorgangs ist somit nicht zu besorgen. Damit scheidet eine analoge Anwendung des § 566 BGB auf einen solchen Fall aus.“

 
BGH, Urteil v. 15.01.2019 – II ZR 392/17
Vertretung einer Gesellschaft durch den Aufsichtsrat

„Der Aufsichtsrat vertritt die Aktiengesellschaft nicht nur bei Rechtsgeschäften, die mit einem Vorstandsmitglied selbst geschlossen werden, sondern auch bei Rechtsgeschäften mit einer Gesellschaft, deren alleiniger Gesellschafter ein Vorstandsmitglied ist.“ (Leitsatz)
„Für eine entsprechende Erweiterung des Anwendungsbereichs spricht insbesondere der Schutzzweck der Norm. § 112 Satz 1 AktG soll Interessenkollisionen vorbeugen und eine unbefangene, von sachfremden Erwägungen unbeeinflusste Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern sicherstellen. Dabei ist es im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ausreichend, dass aufgrund der gebotenen und typisierenden Betrachtung in den von § 112 Satz 1 AktG geregelten Fällen regelmäßig die abstrakte Gefahr einer nicht unbefangenen Vertretung der Gesellschaft vorhanden ist.
Hierbei kann es keinen entscheidenden Unterschied machen, ob das Vorstandsmitglied einen Vertrag im eigenen Namen mit der Gesellschaft abschließt, oder ob Vertragspartner der Gesellschaft eine Gesellschaft ist, deren alleiniger Gesellschafter das Vorstandsmitglied ist.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BAG, Urteil v. 23.01.2019 – 7 AZR 733/16
Änderung der Rechtsprechung zur Auslegung einer Vorbeschäftigung nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG  
Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG (Urteil v. 06.05.2011 – 7 AZR 716/09) waren Arbeitsverhältnisse, die länger als drei Jahre zurücklagen, nicht als Vorbeschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG anzusehen. Nun nimmt die Rechtsprechung Abstand von einer rein zeitlichen Betrachtung:

„Allerdings können und müssen die Fachgerichte auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken, soweit das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar ist, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung kann danach insbesondere unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist.“

Siehe zu dieser Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Yannik Beden, M.A.
 
BAG, Urteil v. 07.02.2019 – VII ZR 63/18
Abgrenzung Schadensersatz statt und neben der Leistung im Werkvertragsrecht
Die Klägerin ließ ihr Kfz (Volvo V 70) beim Beklagten, der eine Kfz-Werkstatt betreibt, warten. Im Rahmen dieser Wartungsarbeiten tauschte der Beklagte u.a. den Keilrippenriemen, den Riemenspanner und den Zahnriemen aus. Aufgrund von Problemen mit der Lenkung bring die Klägerin circa einen Monat später ihr Kfz in die Werkstatt des L – der Beklagte hatte zu diesem Zeitpunkt Betriebsferien. In der Werkstatt des L wird festgestellt, dass der Beklagte den Keilrippenriemen nicht richtig gespannt hatte und dieser daher gerissen war. Infolgedessen sind Schäden am Riemenspanner, am Zahnriemen, der Servolenkungspumpe sowie der Lichtmaschine entstanden. Die Klägerin ließ die beschädigten Teile in der Werkstatt des L austauschen und verlangte nun von der Beklagten Schadensersatz. Es stellte sich somit die Frage, ob die entstandenen Schäden unter den Voraussetzungen des Schadensersatz statt der Leistung (§§ 634 Nr. 4, 280, 281 BGB) oder als Mangelfolgeschäden unter den Voraussetzungen des Schadensersatz neben der Leistung (§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB) ersatzfähig seien.
Der BGH differenzierte insoweit zwischen dem Austausch von Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen und dem Austausch von Servolenkungspumpe und Lichtmaschine.

„Liegt eine Pflichtverletzung in Form einer mangelhaften Werkleistung vor, ist danach zwischen dem Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB und dem Schadensersatzanspruch neben der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB zu unterscheiden. Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB tritt an die Stelle der geschuldeten Werkleistung und erfasst damit das Leistungsinteresse des Bestellers. Er erfordert zunächst – vorbehaltlich der geregelten Ausnahmen – eine Fristsetzung zur Nacherfüllung, um dem Unternehmer eine letzte Gelegenheit zur Erbringung der geschuldeten Werkleistung, also zur Herstellung des mangelfreien Werks, zu geben. Demgegenüber sind gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB die über das Leistungsinteresse hinausgehenden Vermögensnachteile, insbesondere Folgeschäden an anderen Rechtsgütern des Bestellers als dem Werk selbst oder an dessen Vermögen, zu ersetzen:“

Die Schäden an Servolenkungspumpe und Lichtmaschine (diese Teile waren nicht Gegenstand der Wartungsarbeiten des Beklagten) qualifizierte er dabei als Mangelfolgeschäden, die als Schadensersatz neben der Leistung zu ersetzen sind. Das heißt: Eine Fristsetzung war insoweit nicht erforderlich:

„Mit dem Schadensersatzanspruch neben der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB kann Ersatz für Schäden verlangt werden, die aufgrund eines Werkmangels entstanden sind und durch eine Nacherfüllung der geschuldeten Werkleistung nicht beseitigt werden können. Hiervon erfasst sind mangelbedingte Folgeschäden, die an anderen Rechtsgütern des Bestellers oder an dessen Vermögen eintreten. […]
Von […] Schäden, die im Zuge der Nacherfüllung zwangsläufig entstehen, sind diejenigen Schäden an anderen Rechtsgütern des Bestellers oder an dessen Vermögen zu unterscheiden, die durch die mangelhafte Werkleistung verursacht wurden. Sie werden von der Nacherfüllung nicht erfasst, sondern können nur Gegenstand des – verschuldensabhängigen – Schadensersatzanspruchs gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB sein.“

Die Nacherfüllung auch auf Mangelfolgeschäden zu erstrecken – und in der Folge einen Schadensersatzanspruch als Schadensersatz statt der Leistung zu qualifizieren – würde „zu einer nicht gerechtfertigten Einschränkung des Bestellers führen, wenn er bei mangelbedingten (engen) Folgeschäden nicht mehr entscheiden könnte, durch wen sie beseitigt werden sollen. […]Den Interessen des Unternehmers wird in Bezug auf Folgeschäden durch das in § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB geregelte Verschuldenserfordernis hinreichend Rechnung getragen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)
Die Kosten für den Austausch des Keilrippenriemens, des Riemenspanners und des Zahnriemens qualifizierte das Gericht als Schadensersatz statt der Leistung.

„Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB tritt an die Stelle der geschuldeten Werkleistung und erfasst das Leistungsinteresse des Bestellers. Er knüpft daran an, dass eine ordnungsgemäße Nacherfüllung nicht erfolgt ist. Sein Anwendungsbereich bestimmt sich damit nach der Reichweite der Nacherfüllung. Da die Nacherfüllung gemäß § 634 Nr. 1, § 635 BGB auf Herstellung des geschuldeten Werks gerichtet ist, bestimmt dieses die Reichweite der Nacherfüllung. Die geschuldete Werkleistung ist dabei im Wege der Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Die Nacherfüllung erfasst danach die Beseitigung der Mängel des geschuldeten Werks, die auf einer im Zeitpunkt der Abnahme vorhandenen vertragswidrigen Beschaffenheit des Werks beruhen.“

Damit wäre hinsichtlich der Schäden an Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen eine Fristsetzung grundsätzlich erforderlich gewesen. Eine solche hatte die Klägerin nicht gesetzt. Der BGH stellte jedoch fest, dass eine Fristsetzung nach § 281 Abs. 2 BGB entbehrlich sei, da besondere Umstände vorlägen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigten:

„Solche Umstände sind hier zu bejahen. Danach besteht ein besonderes Interesse der Klägerin an einer einheitlichen Reparatur, bei der die erforderlichen Austauscharbeiten im Zuge der Beseitigung der wirtschaftlich im Vordergrund stehenden Folgeschäden an der Lichtmaschine und der Servolenkung miterledigt werden. Demgegenüber tritt das – grundsätzlich bestehende – Interesse des Beklagten an der Möglichkeit einer Nacherfüllung betreffend Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen zurück […].

 
BAG, Urteil v. 07.02.2019 – 6 AZR 75/18
Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsverträgen

„Ein Aufhebungsvertrag kann […] unwirksam sein, falls er unter Missachtung des Gebots fairen Verhandelns zustande gekommen ist. […]
Dieses Gebot ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Sie wird verletzt, wenn eine Seite eine psychische Drucksituation schafft, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags erheblich erschwert. Dies könnte hier insbesondere dann der Fall sein, wenn eine krankheitsbedingte Schwäche der Klägerin bewusst ausgenutzt worden wäre. Die Beklagte hätte dann Schadensersatz zu leisten. Sie müsste den Zustand herstellen, der ohne die Pflichtverletzung bestünde (sog. Naturalrestitution, § 249 Abs. 1 BGB). Die Klägerin wäre dann so zu stellen, als hätte sie den Aufhebungsvertrag nicht geschlossen. Dies führte zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.“ (Pressemitteilung das BAG, Nr. 6/19 v. 07.02.2019)

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Yannik Beden, M.A.
 
BGH, Urteil v. 02.04.2019 – VI ZR 13/18

„Weiterleben“ als Schaden
Ärzte haften grundsätzlich nicht, wenn sie einen Patienten länger als medizinisch sinnvoll am Leben erhalten und somit sein Leiden verlängern.
Geklagt hatte der Sohn eines an fortgeschrittener Demenz leidenden Patienten. Durch künstliche Ernährung sei das krankheitsbedingte Leiden seines Vaters verlängert worden; die Ärzte hätten das Therapieziel dahingehend ändern sollen, dass das Sterben des Patienten durch die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen werde. Der Kläger machte Schmerzensgeld aus ererbtem Recht sowie den Ersatz von Behandlungs- und Pflegeaufwendungen geltend.

„Nach Auffassung des BGH steht dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Dabei könne dahinstehen, ob der Beklagte Pflichten verletzt habe. Denn jedenfalls fehle es an einem immateriellen Schaden. Hier stehe der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Deshalb verbiete es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten möge mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben habe, verbiete die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden. 
Dem Kläger stehe auch kein Anspruch auf Ersatz der durch das Weiterleben des Patienten bedingten Behandlungs- und Pflegeaufwendungen zu. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen sei es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden seien, zu verhindern. Insbesondere dienten diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.“ Pressemitteilung des BGH Nr. 40/2019 v. 02.04.2019

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Charlotte Schippers. 
 
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15.04.2019/1 Kommentar/von Dr. Matthias Denzer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Matthias Denzer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Matthias Denzer2019-04-15 09:30:362019-04-15 09:30:36Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 2
Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 1

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Rechtsgebiete, Rechtsprechungsübersicht, Referendariat, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Zivilrecht, Zivilrecht

Viele Examenskandidaten stehen unmittelbar vor dem Antritt ihres „Freischusses“ im nächsten Monat. Empfehlenswert ist es dabei stets, sich die Rechtsprechung der letzten Monate noch einmal vor Augen zu führen – angesichts des zumeist straffen Zeitplans aus Lernen, Wiederholen und der Teilnahme am Klausurenkurs kein leichtes Unterfangen. In unserem Rechtsprechungsüberblick sollen daher die – aus unserer Sicht – examensrelevanten Entscheidungen auf ihre wesentlichen Aussagen reduziert dargestellt werden. Teil 2 des Rechtsprechungsüberblicks im Zivilrecht erscheint nächsten Montag (15.4.2019).
Einen Rechtsprechungsüberblick für die Monate Juli – September 2019 findet ihr unter den folgenden Links:
            Rechtsprechungsüberblick Zivilrecht (Juli – September 2018)
            Rechtsprechungsüberblick Strafrecht (Juli – September 2018)
            Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Juli – September 2018)
 
BGH, Beschluss v. 10.10.2018 – XII ZB 231/18
Kann die Ehefrau der ein Kind gebärenden Frau als Mit-Elternteil im Geburtenregister eingetragen werden?
Nach § 1592 Nr. 1 BGB ist Vater eines Kinders der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Der BGH verneinte die Frage, ob diese Regelung direkt oder analog auch auf die Ehefrau der in einer gleichgeschlechtlichen Ehe lebenden Mutter eines Kindes Anwendung finde:

„Die Ehefrau der ein Kind gebärenden Frau wird weder in direkter noch in entsprechender Anwendung des § 1592 Nr. 1 BGB Mit-Elternteil des Kindes. Die darin liegende unterschiedliche Behandlung von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Ehepaaren trifft nicht auf verfassungs- oder konventionsrechtliche Bedenken.“ (Leitsätze 1 und 2)

 
BGH, Urteil v. 16.10.2018 – XI ZR 69/18
Verwirkung des Widerrufsrechts bei Verbraucherdarlehensverträgen
Grundsätzlich beträgt die Widerrufsfrist bei Verbraucherdarlehensverträgen 14 Tage (§ 355 Abs. 2 BGB) ab Vertragsschluss und Aushändigung der Vertragsurkunde, die die nach § 492 Abs. 2 BGB erforderlichen Pflichtangaben enthalten muss (§ 356b Abs. 1, 2 BGB). Dazu gehört insbesondere auch eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung. (Gesetzesangaben entsprechen der Neufassung v. 13.06.2014.)
Im entschiedenen Fall schloss der Kläger mit der Beklagten im September 2005 einen Verbraucherdarlehensvertrag. Eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung enthielt dieser nicht, die Widerrufsfrist begann damit nach § 356b Abs. 2 BGB nicht zu laufen. Im September 2011 einigte sich der Kläger mit der Beklagen auf eine vorzeitige Beendigung des Darlehensvertrags und zahlte an die Beklagte eine „Vorfälligkeitsentschädigung“. Die Beklagte gab daraufhin vom Kläger bestellte Sicherheiten frei. Im November 2014 widerrief der Kläger seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung.
Der BGH führte aus, dass das Widerrufsrecht des Klägers 9 Jahre nach Abschluss des Darlehnsvertrags und drei Jahre nach der vorzeitigen Beendigung verwirkt sei:

„Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen der illoyal verspäteten Geltendmachung von Rechten setzt neben einem Zeitmoment ein Umstandsmoment voraus. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt. Zeit- und Umstandsmoment können nicht voneinander unabhängig betrachtet werden, sondern stehen in einer Wechselwirkung. […] Zu dem Zeitablauf müssen besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen.“

Solche Umstände hat der BGH in der Freigabe von Sicherheiten gesehen:

„Dem steht nicht entgegen, dass der Darlehensgeber nach Beendigung des Darlehensvertrags und vollständiger Erfüllung der aus dem unwiderrufenen Darlehensvertrag resultierenden Pflichten des Darlehensnehmers die Sicherheiten ohnehin freizugeben hätte. Vom Darlehensgeber bestellte Sicherheiten sichern regelmäßig auch Ansprüche aus einem Rückgewährschuldverhältnis nach § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB in der hier maßgeblichen, bis zum 12. Juni 2014 geltenden Fassung in Verbindung mit §§ 346 ff. BGB. Dem Rückgewähranspruch des Darlehensnehmers aus der Sicherungsabrede haftet die für den Fall des Widerrufs auflösende Rechtsbedingung einer Revalutierung an. Beendet der Darlehensgeber trotz der Möglichkeit der Revalutierung durch Rückgewähr der Sicherheit den Sicherungsvertrag, kann darin die Ausübung beachtlichen Vertrauens im Sinne des § 242 BGB liegen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 17.10.2018 – VIII ZR 212/17
Ausübung eines Gestaltungsrechts (hier: Widerruf gem. § 312b, 312g, 355 f. BGB) nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung

„Der Vortrag einer Partei, dass ein Gestaltungsrecht erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung ausgeübt worden ist – vorliegend durch die Erklärung des Widerrufs gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 BGB – ist grundsätzlich unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen. Denn die prozessrechtliche Präklusionsvorschrift in § 531 Abs. 2 ZPO soll die Parteien lediglich dazu anhalten, zu einem bereits vorliegenden und rechtlich relevanten Tatsachenstoff rechtzeitig vorzutragen (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 102). Sie verfolgt hingegen nicht den Zweck, auf eine (beschleunigte) Veränderung der materiellen Rechtslage hinzuwirken.“

 
BGH, Urteil v. 24.10.2018 – VIII ZR 66/17
Zur Sachmängelhaftung eines mit einem Softwarefehler behafteten Neufahrzeugs

„Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn die Software der Kupplungsüberhitzungsanzeige eine Warnmeldung einblendet, die den Fahrer zum Anhalten auffordert, um die Kupplung abkühlen zu lassen, obwohl dies auch bei Fortsetzung der Fahrt möglich ist.
An der Beurteilung als Sachmangel ändert es nichts, wenn der Verkäufer dem Käufer mitteilt, es sei nicht notwendig, die irreführende Warnmeldung zu beachten. Dies gilt auch dann, wenn der Verkäufer zugleich der Hersteller des Fahrzeugs ist.“ (Leitsatz 1a und b)
 

BGH, Urteil v. 07.11.2018 – XII ZR 109/17
Werbung auf einem Kraftfahrzeug gegen Entgelt – Qualifizierung des Vertragstyps

„In der Zurverfügungstellung einer konkreten Werbefläche auf dem der Klägerin gehörenden Fahrzeug liegt eine Gebrauchsüberlassung gemäß § 535 BGB, bei der es einer Besitzverschaffung ausnahmsweise nicht bedarf. Die Überlassung einer Werbefläche auf einem in Benutzung der Bildungseinrichtung stehenden Kraftfahrzeug unterscheidet sich rechtlich nicht von der Reklame an Straßenbahnen, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Mietverhältnis qualifiziert worden ist. Soweit der Senat ähnlich gelagerte Werbegestattungen als Rechtspacht eingestuft hat, führt dies gemäß § 581 Abs. 2 BGB ebenfalls zur Anwendung von Mietrecht.
Dem steht auch nicht das Urteil des X. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 19. Juni 1984 (X ZR 93/83 – NJW 1984, 2406, 2407) entgegen. In jenem Fall lag der Schwerpunkt – anders als im vorliegenden Fall – ersichtlich auf werksvertragstypischen Leistungen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 07.11.2018 – IX ZA 16/17
Zur Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit
Nach § 42 Abs. 1 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.

„Die Kläger meinen zu Recht, eine Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden Richters ergebe sich daraus, dass dieser als Mitverfasser eines Geleitworts zu einer Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags des Beklagten dessen Person und Lebenswerk in heraushebender Weise gewürdigt hat. In dem Geleitwort bezeichnet der abgelehnte Richter den Beklagten als einen Mann, „der sich wie kein zweiter in vielfältiger Weise um das Insolvenzrecht und die angrenzenden Rechtsgebiete verdient gemacht“ habe; der „zu der seltenen Spezies Insolvenzverwalter gehört, die unternehmerisches Denken mit scharfsinniger juristischer Analyse verbinden können“, der „unternehmerisch mit dem bestmöglichen Bemühen um die Sanierung als die ökonomisch vorzugswürdige Lösung“ vorgehe, „mit seinen Publikationen seine Qualifikation als Vordenker für die Praxis“ beweise und „den Acker «Insolvenz und Sanierung» in sehr unterschiedlichen, einander aber immer wieder befruchtenden Funktionen bestellt und daraus reiche Ernte hervorgebracht“ habe.
Die damit verlautbarte Hochachtung nicht nur von Person und Lebenswerk des Beklagten, sondern auch seiner besonderen insolvenzrechtlichen Treffsicherheit und seiner Vorbildfunktion für Insolvenzverwalter, kann bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, in einem Rechtsstreit, in dem der Beklagte wegen angeblicher Pflichtverletzung bei der Ausübung seines Amtes als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.“

 
BGH, Urteil v. 14.11.2018 – XII ZB 107/18
Zur Auslegung einer Patientenverfügung

„Urkunden über formbedürftige Willenserklärungen sind nach allgemeinen Grundsätzen auszulegen. Außerhalb der Urkunde liegende Umstände dürfen dabei aber nur berücksichtigt werden, wenn der einschlägige rechtsgeschäftliche Wille des Erklärenden in der formgerechten Urkunde einen wenn auch nur unvollkommenen oder andeutungsweisen Ausdruck gefunden hat.“ (2. Leitsatz)

 
BGH, Urteil v. 05.12.2018 – VIII ZR 271/17
Gefahr einer Schimmelpilzbildung aufgrund von Wärmebrücken in den Außenwänden als Mangel der Mietsache bei Altbauwohnung

„Wärmebrücken in den Außenwänden einer Mietwohnung und eine deshalb – bei unzureichender Lüftung und Heizung – bestehende Gefahr einer Schimmelpilzbildung sind, sofern die Vertragsparteien Vereinbarungen zur Beschaffenheit der Mietsache nicht getroffen haben, nicht als Sachmangel der Wohnung anzusehen, wenn dieser Zustand mit den zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes geltenden Bauvorschriften und technischen Normen in Einklang steht.
Welche Beheizung und Lüftung einer Wohnung dem Mieter zumutbar ist, kann nicht abstrakt-generell und unabhängig insbesondere von dem Alter und der Ausstattung des Gebäudes sowie dem Nutzungsverhalten des Mieters, sondern nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden“ (Leitsätze, Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 06.12.2018 – VII ZR 71/15
Zur Bemessung des Schadens nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten bei Nichtbeseitigung der Mängel im Rahmen eines Werkvertrags

„Die Ermittlung der Höhe des Vermögensschadens der Klägerin durch das Berufungsgericht beruht auf der Annahme, er lasse sich nach den erforderlichen, tatsächlich jedoch nicht angefallenen (Netto-)Mängelbeseitigungskosten […] bemessen, wenn der Besteller den Mangel eines Werks […] nicht beseitigt hat. Diese im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des Senats stehende Auffassung trifft nicht zu. Der Senat hat […] unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass ein Besteller, der den Mangel nicht beseitigen lässt, seinen Schaden nicht nach den fiktiven Mängelbeseitigungskosten bemessen kann.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BGH, Urteil v. 19.12.2018 – XII ZR 5/18
Zur Verjährung des Anspruchs des Vermieters gegen den Mieter auf Unterlassung eines vertragswidrigen Gebrauchs der Mietsache
Der Beklagte mietete Räumlichkeiten des Vermieters zum Betrieb eines Rechtsanwaltsbüros an. Teile dieser Räumlichkeiten nutze der Beklagte zu Wohnzwecken. Der Vermieter machte gegen den Mieter einen Anspruch auf Unterlassung eines vertragswidrigen Gebrauchs der Mietsache nach § 541 BGB geltend. Dem wendet der Beklagte die Einrede der Verjährung entgegen.

„Der Bundesgerichtshof hat für den Bereich des Wohnungseigentumsrechts bereits entschieden, dass bei einer zweckwidrigen Nutzung einer Teileigentumseinheit als Wohnraum der Unterlassungsanspruch der übrigen Wohnungseigentümer aus § 1004 Abs. 1 BGB bzw. § 15 Abs. 3 WEG nicht verjährt, solange die Nutzung andauert. Zur Begründung wurde dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass in diesem Fall der Schwerpunkt der Störung nicht vornehmlich in der Aufnahme der zweckwidrigen Nutzung liegt, sondern die übrigen Wohnungseigentümer in gleicher Weise dadurch beeinträchtigt werden, dass die zweckwidrige Nutzung dauerhaft aufrechterhalten wird“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
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10.04.2019/2 Kommentare/von Dr. Matthias Denzer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Matthias Denzer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Matthias Denzer2019-04-10 09:30:002019-04-10 09:30:00Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 1
Dr. Lena Bleckmann

Bundesverwaltungsgericht zu Polizeikosten bei Hochrisikospielen

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In der vergangenen Woche erging ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage der Kostentragungspflichten bei Hochrisikofußballspielen (PM Nr. 26/2019 v. 29.3.2019). Aufgrund der Berührungspunkte mit mehreren Teilgebieten des Öffentlichen Rechts, insbesondere dem Polizeirecht und den Grundrechten, bietet die Entscheidung eine gute Basis für zukünftige Klausuren.
Sachverhalt
Aus Anlass eines Polizeieinsatzes bei einem Fußballspiel des SV Werder Bremen gegen den Hamburger SV erhob das Land Bremen von der Deutschen Fußball Liga (DFL) Gebühren in Höhe von 425.000 €. Dies geschah auf Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahre 2014: Es sieht die Möglichkeit vor, von Veranstaltern gewinnorientierter Großveranstaltungen Gebühren für Polizeieinsätze zu erheben, sofern in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang gewaltsame Ausschreitungen zu erwarten und so der Einsatz zusätzlicher Polizeikräfte voraussichtlich erforderlich sei. Die Gebühr richtet sich nach dem jeweiligen Mehraufwand der Polizei. 
Bei dem Spiel bestand die hohe Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen, sodass statt der üblichen 150 Beamten über 950 Polizisten, größtenteils aus anderen Bundesländern, im Einsatz waren. Die hierdurch entstandenen Kosten soll die DFL nun ersetzen. 
Die DFL ging gegen den Gebührenbescheid vor. Sie selbst sei schon nicht der richtige Adressat, die Gebühren könnten ausschließlich vom Verein Werder Bremen erhoben werden. Das Gesetz sei außerdem verfassungswidrig, insbesondere im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot, Art. 12 GG und Art. 14 GG. Weiterhin sei die Gefahrenabwehr Kernaufgabe des Landes und dürfe nur über Steuern finanziert werden. Auch sei die DFL selbst kein Störer i.S.d. Polizeigesetzes des Landes Bremen, sondern müsse vielmehr selbst vor den Ausschreitungen geschützt werden (siehe zu den Einwänden der DFL die Entscheidung der Vorinstanz, OVG Bremen, Az. 2 LC 139/17 – juris).
Während die erste Instanz der Klage der DFL stattgab und das Gesetz für zu unbestimmt hielt, entschied das OVG Bremen zugunsten des Landes.
So nun auch das Bundesverwaltungsgericht:
Zunächst sei bei der Gebührenerhebung zu beachten, dass der Gebührenpflichtige Steuerzahler sei und so unter anderem auch die Gefahrenabwehr mitfinanziere. Aufgrund einer besonderen Rechtfertigung sei die Erhebung zusätzlicher Gebühren dennoch möglich. Richtig sei der Einwand, die DFL selbst sei kein Störer im polizeirechtlichen Sinne, sodass die Gebühren nicht auf die Grundsätze der Störerhaftung gestützt werden können. Allerdings handle es sich bei dem Einsatz auch nicht um die übliche Gefahrenabwehr, sondern um eine Sonderleistung, die die Gebühren rechtfertige. Die DFL sei insoweit Nutznießer, sodass die Gebührenerhebung gerechtfertigt sei. 
Zwar sei auch die allgemeine Gefahrenabwehr betroffen, sodass in Erwägung gezogen werden könnte, einen entsprechenden Betrag in Abzug zu bringen. Das BVerwG stellte jedoch fest, dass das Interesse des Nutznießers das allgemeine Interesse so sehr überwiege, dass ein Abzug nicht angezeigt sei. 
Hinsichtlich der Bestimmtheit des Gesetzes bestünden jedenfalls im Hinblick auf Hochrisikofußballspiele keine Zweifel: Aufgrund der bestehenden Erfahrungswerte sei absehbar, in welchem Ausmaß zusätzliche Polizeikräfte erforderlich seien. Zwar müsse die Polizei den betriebenen Aufwand stets im Einzelnen rechtfertigen, dies sei ihr aufgrund der Erfahrungswerte allerdings regelmäßig möglich. 
Wichtig: Anderes soll für andersartige Großveranstaltungen gelten, für die keine ähnlichen Erfahrungswerte bestehen – die in diesem Fall mit dem Gebührentatbestand verbundenen Unsicherheiten seien dem Veranstalter unzumutbar, sodass keine Gebühr erhoben werden dürfe. 
Auch die Höhe der erhobenen Gebühr sah das BVerwG als unproblematisch an: Zwar können die polizeilichen Ausgaben eine beträchtliche Höhe erreichen, dies sei aber zumutbar, da der Tatbestand ausschließlich an gewinnorientierte Veranstaltungen anknüpfe. Insbesondere in der (hier betroffenen) Ersten Bundesliga stehe die Gebühr in einer angemessenen Relation zu dem durch den Veranstalter erzielten Gewinn. Dieser erhöhe sich auch gerade durch die gewährleistete Sicherheit – ohne den Einsatz der Polizeikräfte sei das Risiko von Ausschreitungen so hoch, das Besucher fernbleiben, der Gewinn einbrechen und der Ruf der DFL leiden könnte. In nachrangigen Ligen oder bei anderen Großveranstaltungen, bei denen keine vergleichbaren Gewinne erzielt werden, können die Gebühren jedoch unverhältnismäßig sein. 
Soweit die DFL geltend macht, sie sei nicht der richtige Adressat des Gebührenbescheids, führt das BVerwG lediglich aus, das Land könne nach seiner Wahl zwar auch den Verein Werder Bremen in Anspruch nehmen – die DFL sei jedoch jedenfalls Mitveranstalter des Fußballspiels. Sie bestimme wesentlich mit, wann und wo die Spiele der Ersten Bundesliga stattfinden. Der interne Ausgleich zwischen den Beteiligten bleibe diesen überlassen. 
Problematisch seien die erhobenen Gebühren allerdings insoweit, als dass sie auch direkt von den jeweiligen Störern erhoben werden könnten. Dies betrifft insbesondere die Kosten für zahlreiche Ingewahrsamnahmen am Spieltag. Hier seien ausschließlich die Störer in Anspruch zu nehmen, um eine doppelte Erstattung auszuschließen.
Bezüglich möglicher Grundrechtseingriffe lässt sich der Pressemitteilung des BVerwG nichts entnehmen. Allerdings stellte schon die Vorinstanz fest, Art. 14 GG schütze nicht das Vermögen als solches und damit nicht vor der Auferlegung von Geldleistungspflichten. Ein Eingriff in Art. 12 GG sei zwar aufgrund einer objektiv berufsregelnden Tendenz gegeben, jedoch durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt – der Schutz bei Hochrisikospielen diene vorrangig dem wirtschaftlichen Interesse des Veranstalters, sodass die Kosten auch von diesem, nicht aber von der Allgemeinheit zu tragen seien. 
Fazit
Die Entscheidung eröffnet dem Klausursteller viele Möglichkeiten: je nach Schwerpunktsetzung und Fragestellung können Ansprüche aus dem Polizeirecht gegen Veranstalter und Teilnehmer sowie grundrechtliche Fragestellungen zu prüfen sein. Die Möglichkeit der Kostenerhebung bei „Sonderleistungen“ der Polizei ist ungewöhnlich und stellt eine besondere Schwierigkeit dar. Der Bearbeiter, der diesbezüglich Überlegungen anstellt, dürfte sich bei vertretbarer Argumentation besonders vom Durchschnitt abheben. 

03.04.2019/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-04-03 09:00:422019-04-03 09:00:42Bundesverwaltungsgericht zu Polizeikosten bei Hochrisikospielen
Gastautor

BGH: Kündigungsschutzklausel in Vertrag zwischen Veräußerer und Erwerber einer Immobilie begründet eigene Schutzrechte des Mieters

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Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Tobias Vogt veröffentlichen zu können. Der Autor war am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn tätig und ist derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg.
Der BGH stärkt in einer aktuellen Entscheidung (Urt. v. 14.11.2018, Az. VIII ZR 109/18) Mieterrechte und äußert sich dabei seit langem wieder einmal zu einem Vertrag zu Gunsten Dritter (VzD) i.S.d. § 328 BGB. Der Mieter kann sich gegenüber seinem Vermieter auf eine Kündigungsschutzklausel aus dem zwischen dem jetzigen Vermieter und dem vorherigen Eigentümer der Immobilie geschlossenen Kaufvertrag über die Immobilie berufen und sich so gegen eine Kündigung des Mietvertrags wehren, entschied der VIII Zivilsenat. Gerade aufgrund der enormen medialen Aufmerksamkeit in der Tagespresse liegt die Examensrelevanz auf der Hand. Zudem macht die Kombination aus Mietrecht, AGB-Kontrolle und VzD diese Entscheidung aus Prüfersicht attraktiv. Sie sollte daher jedem Examenskandidaten bekannt sein. Auch wenn die Entscheidung noch nicht im Volltext veröffentlicht wurde, ergeben sich die wesentlichen Gründe bereits aus der Pressemitteilung des BGH.
I. Sachverhalt (leicht abgewandelt)
Die Beklagten sind seit 1981 Mieter einer Wohnung in einem aus zwei Wohnungen bestehenden Siedlungshaus. Im Jahr 2012 erwarb die Klägerin das Hausgrundstück von der Stadt Bochum und bewohnt mittlerweile die zweite Wohnung des Hauses. Der Kaufvertrag zwischen der Stadt Bochum und der Klägerin enthält folgenden Klausel, die die Stadt Bochum für eine Vielzahl von Immobilienverträgen verwendete: „Die Mieter haben ein lebenslanges Wohnrecht. Der Käufer übernimmt das bestehende Mietverhältnis. Er darf insbesondere keine Kündigung wegen Eigenbedarfs oder wegen der Behinderung einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung aussprechen. Möglich ist lediglich eine Kündigung wegen der erheblichen Verletzung der dem Mieter obliegenden vertraglichen Verpflichtungen […] Für den Fall, dass der Käufer ohne Zustimmung des Verkäufers oder ohne Vorliegen eines außerordentlichen Kündigungsgrundes das Mietverhältnis kündigt, ist der Verkäufer berechtigt, das Kaufgrundstück lasten- und schuldenfrei wiederzukaufen.“ Dennoch kündigte die Klägerin das Mietverhältnis unter Berufung auf § 573a Abs. 1 S. 1 BGB, der eine Kündigung von Seiten des Vermieters unter erleichterten Bedingungen vorsieht, wenn dieser im selben Gebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen die zweite Wohnung selbst bewohnt. Mit der anschließenden Räumungsklage scheiterte die Klägerin in den Vorinstanzen und nun auch vor dem BGH.
II. Kündigungsschutzklausel als echter Vertrag zugunsten Dritter, § 328 BGB
Zunächst sollte in einer Prüfung festgestellt werden, dass die Klägerin durch den Erwerb des Hausgrundstücks nach § 566 Abs. 1 BGB in das zuvor zu der Stadt Bochum bestehende Mietverhältnis eingetreten ist und eine ordnungsgemäße Kündigungserklärung vorliegt. Auch sollten die Voraussetzungen des § 537a BGB geprüft werden, die hier vorliegen. Dann ist die Kündigungsschutzklausel aus dem Grundstückskaufvertrag anzusprechen, die einer Kündigung nach § 573a BGB entgegenstehen könnte. Dazu müsste diese aber auch im Verhältnis der Mieter zur Vermieterin gelten. Der Grundstückskaufvertrag ist jedoch zwischen jetzigem und vorherigem Vermieter geschlossen worden. Verträge gelten grundsätzlich nur inter partes. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellt das Konstrukt des Vertrags zugunsten Dritter nach § 328 BGB dar. Nach § 328 Abs. 1 BGB kann eine Leistung an einen Dritten derart bedungen werden, dass dieser unmittelbar das Recht erwirbt die Leistung zu fordern. Ob ein solches Recht bestehen soll, ist in Ermangelung einer besonderen Bestimmung gemäß § 328 Abs. 2 BGB aus den Umständen, insbesondere dem Zwecke des Vertrags, zu ermitteln. An dieser Stelle können Prüflinge mit einer umfassenden Auslegung der Klausel punkten, wobei insbesondere auf den Wortlaut und auch den von der Stadt Bochum bezweckten Mieterschutz aufgrund deren Verantwortung als kommunaler Eigentümer und Veräußerer eingegangen werden. So führte der BGH in seiner Pressemitteilung aus: „Schon der Wortlaut der Regelung, in der von einem bestehenden lebenslangen Wohnrecht der Mieter und einer Übernahme dieses Mietverhältnisses durch den Käufer die Rede ist, bringt hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass den Mietern hiermit eine (eigene) gesicherte Rechtsposition auch gegenüber dem Käufer als neuem Vermieter eingeräumt wird. Ihren bisherigen Wohnraum sollen sie lediglich bei selbst zu vertretender (erheblicher) Verletzung ihrer Mieterpflichten verlieren können. Für diese naheliegende Auslegung der vertraglichen Regelungen sprechen zusätzlich auch die hohe Schutzbedürftigkeit der Beklagten als langjährige Mieter und die Verantwortung der Stadt Bochum als kommunaler Eigentümer und Veräußerer. Darüber hinaus unterstreicht das für den Fall einer unberechtigten Vermieterkündigung vereinbarte Wiederkaufsrecht der Stadt, dass diese mit den vertraglichen Regelungen erkennbar einen möglichst umfassenden Schutz der Mieter herbeiführen wollte.“ Daher handelt es sich also um einen echten Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 BGB, sodass die Mieter die Kündigungsschutzklausel dem Vermieter entgegenhalten können.
III. Auslegung der Klausel: Auch Kündigung nach § 573a BGB ausgeschlossen
Fraglich ist zudem, ob die Klausel ihrem Inhalt nach auch eine Kündigung nach § 573a BGB ausschließen soll. Dies ist durch Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont §§ 133,157 BGB zu ermitteln. Zwar sind ausdrücklich nur die Kündigung wegen Eigenbedarf und wegen Behinderung einer angemessenen Verwertung ausgeschlossen. Jedoch lässt sich schon aus der Formulierung „insbesondere“ erschließen, dass dies keine abschließende Aufzählung darstellt. Vielmehr wird im nächsten Satz klargestellt, dass lediglich eine Kündigung wegen der erheblichen Verletzung der vertraglichen Mieterpflichten möglich sein soll. Die Kündigung nach § 573a BGB erfordert jedoch – ebenso wie die in der Klausel ausdrücklich genannten Kündigungsgründe – weder eine Pflichtverletzung noch ein Verschulden des Mieters. Die Klausel umfasst daher auch eine Kündigung nach § 573a BGB.
IV. Keine Unwirksamkeit aufgrund AGB-Kontrolle
Die Kündigungsschutzklausel kann selbstverständlich aber nur dann der Kündigung entgegenstehen, wenn sie wirksam ist. Da die Klausel für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert und von der Stadt Bochum einseitig gestellt wurde, handelt es sich um eine Allgemeine Geschäftsbedingung, § 305 BGB. Es ist daher zu prüfen, ob die Klausel gegen §§ 307 – 309 BGB verstößt. In Betracht kommt hier ein Verstoß gegen § 307 Abs. 1 BGB. Dazu müsste die Klägerin durch die Klausel unangemessen benachteiligen. Zwar wird das Recht zur Kündigung in weiten Fällen ausgeschlossen. Jedoch ist das Kündigungsrecht nicht völlig ausgeschlossen, sondern es verbleibt dem Erwerber die Möglichkeit zur Kündigung wegen wesentlicher Pflichtverletzung des Mieters. Die Regelung dient dem berechtigten Interesse der langjährigen Mieter, ohne eigene erhebliche Pflichtverletzung nicht einer Kündigung ausgesetzt zu werden. Auch die Stadt Bochum hat als kommunalen Träger ein berechtigtes Interesse, durch eine Kündigungsschutzklausel die bislang in ihrem Eigentum wohnenden Mieter vor einer Kündigung durch den neuen Vermieter zu schützen. Daher benachteiligen die „kaufvertraglichen Bestimmungen, mit denen das Recht der Erwerber zur ordentlichen Kündigung für die Lebensdauer der aktuellen Mieter eingeschränkt wird, […] den Käufer einer entsprechenden Immobilie nicht unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 und 2 BGB, sondern stellen vielmehr eine inhaltlich ausgewogene Regelung für den Verkauf eines im kommunalen Eigentum stehenden, von langjährigen Mietern bewohnten Siedlungshauses dar“, so der BGH in seiner Pressemitteilung.
V. Summa
Eine Klausel in dem Grundstückskaufvertrag zwischen Veräußerer und Erwerber, die das Kündigungsrecht des Erwerbers gegenüber den Mietern einschränkt, ist (jedenfalls bei ähnlicher Formulierung wie im konkreten Fall) als Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 BGB auszulegen, so dass der Mieter sie dem (neuen) Vermieter entgegenhalten kann. Eine solche Vereinbarung stellt eine inhaltlich ausgewogene Regelung dar, die auch einer AGB-Kontrolle standhält.

16.11.2018/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2018-11-16 09:00:082018-11-16 09:00:08BGH: Kündigungsschutzklausel in Vertrag zwischen Veräußerer und Erwerber einer Immobilie begründet eigene Schutzrechte des Mieters
Dr. Yannik Beden, M.A.

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick: Strafrecht (Quartal 3/2018)

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Sowohl während des Studiums, als auch in der Vorbereitung auf Examensklausuren oder die mündliche Prüfung: Nur wer die aktuelle Rechtsprechung im Blick hat, ist auf neue Sachverhaltskonstellationen gut vorbereitet. Für das dritte Quartal 2018 haben wir euch im Zivilrecht und Öffentlichen Recht bereits die prüfungsrelevantesten Gerichtsentscheidungen präsentiert. Zur Vervollständigung unseres Quartalsberichts werden im nachstehenden Beitrag die wichtigsten Urteile und Beschlüsse zum materiellen Strafrecht und Strafprozessrecht besprochen:
I. Materielles Strafrecht
1. BGH Beschl. v. 5.7.2018 – 1 StR 201/18 zu den Rücktrittsanforderungen bei beendetem Versuch gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB
Die Entscheidung des Ersten Senats betraf den Rücktritt vom versuchten Mord, §§ 211, 22, 23 StGB sowie der versuchten Brandstiftung mit Todesfolge, §§ 306c, 22, 23 StGB. Im zu entscheidenden Fall setzte der Angeklagte – ein Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr – ein mehrstöckiges Wohnhaus in Brand, um dadurch einen Feuerwehreinsatz auszulösen und im Anschluss an der Bekämpfung des Feuers mitzuwirken. Damit wollte der Täter die auszulobende Einsatzvergütung erlangen, um seine schlechte finanzielle Situation aufzubessern. Der Täter wirkte dabei nicht vor Ort, sondern verrichtete seine Dienste in der Funkzentrale. Der BGH sah hierdurch die Voraussetzungen des Rücktritts vom beendeten Versuch nach § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB nicht erfüllt. Eine – für einen wirksamen Rücktritt notwendige – eigene Kausalkette, die für die Nichtvollendung der Tat zumindest mitursächlich ist, habe der Täter durch sein Verhalten nicht in Gang gesetzt:

„Nach der Rechtsprechung des BGH kommt ein Rücktritt vom Versuch gem. § 24 Absatz I 1 Var. 2 StGB schon dann in Betracht, wenn der Täter unter mehreren Möglichkeiten der Erfolgsverhinderung nicht die sicherste oder „optimale“ gewählt hat, sofern sich das auf Erfolgsabwendung gerichtete Verhalten des Versuchstäters als erfolgreich und für die Verhinderung der Tatvollendung als ursächlich erweist. Es kommt nicht darauf an, ob dem Täter schnellere oder sicherere Möglichkeiten der Erfolgsabwendung zur Verfügung gestanden hätten; das Erfordernis eines „ernsthaften Bemühens“ gem. § 24 Absatz I 2 StGB gilt für diesen Fall nicht. Erforderlich ist aber stets, dass der Täter eine neue Kausalkette in Gang gesetzt hat, die für die Nichtvollendung der Tat ursächlich oder jedenfalls mitursächlich geworden ist. Ohne Belang ist dabei, ob der Täter noch mehr hätte tun können, sofern er nur die ihm bekannten und zur Verfügung stehenden Mittel benutzt hat, die aus seiner Sicht den Erfolg verhindern konnten.“

2. BGH Beschl. v. 7.8.2018 – 3 StR 47/18 zum Totschlag in besonders schwerem Fall
Die bisherige Rechtsprechung zur Frage, wann von einem besonders schweren Fall eines Totschlags i.S.v. § 212 Abs. 2 StGB ausgegangen werden kann, wurde vom BGH nochmals bestätigt. Es handelt sich um ein Problem der Strafzumessung, welches grundsätzlich eine Würdigung und Abwägung aller Einzelfallumstände bedarf. Im Ausgangspunkt nimmt die Rechtsprechung erst dann einen besonders schweren Fall an, wenn das Verschulden des Täters ebenso schwer wiegt wie das eines Mörders nach § 211 StGB. Dieses Verständnis liegt bereits aufgrund des gleichen Strafmaßes (lebenslange Freiheitsstrafe!) nahe. Im Einzelnen führte das Gericht aus:

„Ein besonders schwerer Fall des Totschlags setzt voraus, dass das in der Tat zum Ausdruck kommende Verschulden des Täters außergewöhnlich groß ist. Es muss ebenso schwer wiegen wie das eines Mörders. Dafür genügt nicht schon die bloße Nähe der die Tat oder den Täter kennzeichnenden Umstände zu gesetzlichen Mordmerkmalen. Es müssen vielmehr schulderhöhende Gesichtspunkte hinzukommen, die besonders gewichtig sind“

Sowohl in subjektiver als auch objektiver Hinsicht bedarf es jedoch mehr als einer bloßen Möglichkeit, dass der Täter gleichermaßen wie ein Mörder hätte handeln können. Für den vom Dritten Senat zu entscheidenden Fall bedeutete das:

„Daraus, dass „zahlreiche, nicht fernliegende Handlungsalternativen und Motivationslagen in Betracht“ kommen, die Mordmerkmale ausfüllen könnten, ergibt sich indes noch keine Nähe zu diesen. Das gilt insbesondere in Bezug auf die subjektive Tatseite. So vermochte die Strafkammer keine Feststellungen zu den „Vorstellungen und Motiven“ des Angeklagten zu treffen. Damit fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die Annahme, dass eine Nähe zu den Mordmerkmalen der niedrigen Beweggründe oder der Verdeckungsabsicht bestehe. Entsprechendes gilt im Hinblick auf das Mordmerkmal der Heimtücke. Da die Strafkammer nicht ausschließen konnte, dass das Kind zum Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mehr arglos war, kann nicht ohne Weiteres von einer Nähe zu heimtückischem Handeln ausgegangen werden.“

Deutlich wird, dass der BGH für das Merkmal der „Nähe zum Mord“ äußerst hohe Anforderungen stellt. In der Klausur bedeutet das, dass in Ermangelung eines Mordmerkmals tendenziell von einem „normalen“ Totschlag gem. § 212 Abs. 1 StGB und nicht von einem besonders schweren Fall ausgegangen werden sollte.
3. BGH Beschl. v. 8.8.2018 – 2 ARs 121/18 zur Strafvereitelung durch einen Strafverteidiger – § 258 StGB
Im streitgegenständlichen Verfahren teilte der Strafverteidiger der Ermittlungsbehörde wahrheitswidrig mit, dass die gesuchten Unterlagen sich in der Garage seines Mandanten befänden, obwohl sich tatsächlich noch wesentliche Teile der Dokumente in den Räumlichkeiten des Strafverteidigers befanden. Zudem erklärte der Strafverteidiger nach einer Sichtung seiner Büroräume, im Rahmen derer beweiserhebliche Materialien gefunden wurden, dass er über keine weiteren Beweismittel dieser Art verfüge, obwohl er jedenfalls über einen weiteren Ordner mit wichtigen Beweisurkunden verfügte. Der BGH entschied hier:

„Eine Strafvereitelung in diesem Sinn kann auch durch Vereitelung des staatlichen Beschlagnahmezugriffs auf Beweisgegenstände durch einen Strafverteidiger begangen werden. So gehen etwa wahrheitswidriges Bestreiten des Besitzes gesuchter Beweisurkunden und ein falscher Hinweis auf einen anderweitigen Belegenheitsort zur Vereitelung eines bevorstehenden Beschlagnahmezugriffs über die Grenzen zulässiger Strafverteidigung hinaus. Ein solches Verhalten erfüllt den Tatbestand der Strafvereitelung, wenn dadurch der Abschluss des staatlichen Strafverfahrens für geraume Zeit verzögert wird und der Strafverteidiger absichtlich oder wissentlich handelt.
[…]
Anders liegt es, wenn durch die Ermittlungsbehörde oder das Strafgericht die Herausgabe solcher Beweismittel, die nicht originär durch die Verteidigung hervorgebracht wurden, verlangt (§ 95 Abs. 1 StPO) oder deren Beschlagnahme (§ 94 Abs. 2 StPO) angestrebt wird. In diesem Fall darf der Verteidiger solche Beweismittel, die nicht spezifisches Verteidigungsmaterial darstellen, nicht dem staatlichen Zugriff entziehen, indem er sie verborgen hält oder falsche Angaben zum Belegenheitsort macht. In Bezug auf solche Beweismittel, namentlich „verfängliche Geschäftsunterlagen“, besteht kein Beschlagnahmeverbot gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO.
[…]
Der Verteidiger darf „Überführungsstücke“, auf die ein staatlicher Beschlagnahmezugriff zielt, nicht in seinen Räumen verstecken. Sein Mandat soll nicht dazu genutzt werden können, gesuchten Beweisgegenständen „Asyl“ zu gewähren. Erst recht gestattet keine der Regelungen zum Schutz des Vertrauensverhältnisses gemäß §§ 53, 97, 160a, 148 StPO es dem Strafverteidiger, falsche Angaben über seinen Besitz an Beweisgegenständen zu machen.“

4. BGH Urt. v. 15.5.2018 – 2 StR 152/18 zur Sittenwidrigkeit einer Körperverletzung nach § 228 StGB
Wird in eine Körperverletzung eingewilligt, ist die Tat nur rechtswidrig, wenn sie trotz Einwilligung gegen die „guten Sitten“ verstößt. Dieses äußert weit gefasste Merkmal konkretisierte der BGH erneut. Für die ex-ante zu bestimmende Sittenwidrigkeit sei vordergründig auf die Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs abzustellen. Die Tat müsse in Anbetracht des Umfangs der Verletzung sowie des damit verbundenen Gefahrengrads für Leib und Leben trotz Einwilligung des Rechtsgutsträgers „nicht mehr als von der Rechtsordnung hinnehmbar erscheinen“. Viel ist damit freilich noch nicht gesagt, da auch der Begriff der Hinnehmbarkeit vieles bedeuten kann. Der BGH grenzt allerdings ein: Ebenso wie die Zwecksetzung der Tat sei unbeachtlich, welche gesellschaftliche Vorstellung über die Tat vorliegen mögen.

„Die Weite und Konturenlosigkeit des Merkmals der guten Sitten in § 228 StGB erfordert, dieses strikt auf das Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte zu beziehen und auf seinen Kerngehalt zu reduzieren. Gesellschaftliche Vorstellungen oder der durch die Tat verfolgte Zweck können lediglich dazu führen, dass ihretwegen eine Einwilligung trotz massiver Rechtsgutsverletzungen Wirksamkeit entfalten kann. Zur Feststellung eines Sittenverstoßes und damit – über die Unbeachtlichkeit der Einwilligung – zur Begründung der Strafbarkeit von einvernehmlich vorgenommenen Körperverletzungen können sie nicht herangezogen werden.“ 

5. BGH Beschl. v. 12.6.2018 – 3 StR 171/17 zum subjektiven Schadenseinschlag beim Betrug (Nachtrag zu Quartal 2/2018)
Besondere Prüfungsrelevanz dürfte die Entscheidung des BGH zu den Grundsätzen des subjektiven Schadenseinschlags bei § 263 StGB haben. Das Gericht konkretisierte die Anforderungen an den persönlichen Schadenseinschlag: Ausgehend vom Grundsatz, dass ein Vermögensschaden trotz objektiver Gleichwertigkeit der Gegenleistung auch vorliegen kann, wenn diese für das Opfer unter Berücksichtigung der individuellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse und Verhältnisse subjektiv wertlos ist, stellte der Dritte Senat nun fest:

„Insofern kann als Schaden die gesamte Leistung des Gesch. anzusehen sein, wenn die Gegenleistung nicht oder nicht in vollem Umfange zu dem vertraglich vorausgesetzten Zweck brauchbar ist und er sie auch nicht in anderer zumutbarer Weise verwenden, namentlich ohne besondere Schwierigkeiten wieder veräußern kann“  

Da im streitgegenständlichen Verfahren die verkauften Geräte nur mit „erheblichen Verlusten“ hätten weiterveräußert werden können, nahm der BGH einen persönlichen Schadenseinschlag und mithin einen Vermögensschaden an. Eine ausführliche Besprechung dieses besonders prüfungsrelevanten Urteils findet sich im hierzu erstellen Beitrag von Sebastian Rombey.
II. Strafprozessrecht
1. BGH Urt. v. 4.7.2018 – 5 StR 46/18 zur Verhandlungsunfähigkeit eines Angeklagten
Die Entscheidung behandelt die Grenze zur Verhandlungsunfähigkeit bei einem Angeklagten, dessen geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte eingeschränkt ist. Der 5. Strafsenat geht von einer Verhandlungsunfähigkeit erst aus, wenn dem Angeklagten auch bei Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Hilfe – also insbesondere einem Verteidiger – eine eigenständige, selbstverantwortliche Entscheidungen über die wesentlichen Belange seiner Verteidigung sowie eine sachgerechte Wahrnehmung der ihm zustehenden Verfahrensrechte nicht mehr möglich ist. Dabei geht es vor allem um solche Verfahrensrechte, die der Angeklagte selbst, d.h. persönlich wahrnehmen muss. Danach soll es speziell für das Revisionsverfahren ausreichen, wenn der Beschwerdeführer zumindest zeitweilig zur Konsensfindung mit seinem Verteidiger darüber, ob das Rechtsmittel aufrechterhalten oder zurückgenommen werden soll, in der Lage ist.

„Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne bedeutet, dass der Angekl. in der Lage sein muss, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Angekl. auch tatsächlich fähig sein muss, die ihm gesetzlich eingeräumten Verfahrensrechte in jeder Hinsicht selbständig und ohne fremden Beistand wahrzunehmen. Auch bei solchen Angekl., deren geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte eingeschränkt ist, muss die Schuld- und Straffrage in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren geklärt und entschieden werden können. Danach liegt Verhandlungsunfähigkeit bei solchen Einschränkungen der geistigen, psychischen oder körperlichen Fähigkeiten nicht vor, wenn die Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch Hilfen für den Besch. hinreichend ausgeglichen werden können. Die Grenze zur Verhandlungsunfähigkeit ist erst dann überschritten, wenn dem Angekl. Auch bei Inanspruchnahme solcher verfahrensrechtlichen Hilfen eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung und eine sachgerechte Wahrnehmung der von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte nicht mehr möglich ist“

2. BGH Beschl. v. 5.7.2018 – 1 StR 42/18 zur Selbstbelastungsfreiheit, § 136 Abs. 1 S. 2 StPO
Äußert sich der Angeklagte nicht zu den Gründen seines Aufenthalts am Ort seiner polizeilichen Festnahme und stellt das erkennende Gericht sowohl in seiner Beweiswürdigung, als auch seiner rechtlichen Würdigung ausdrücklich hierauf ab, wird das Schweigen zum Nachteil des Angeklagten gewertet, sein Schweigerecht mithin konterkariert. Dies verstößt gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens und gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit gem. §§ 136 Abs. 1 S. 2, 243 Abs. 5 S. 1 StPO:

„Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Es steht dem Angeklagten frei, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Absatz 5 Satz 1 StPO). Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden. So liegt der Fall aber hier.
Es ist zwar rechtlich zutreffend, dass der Zweifelssatz es nicht gebietet, zugunsten eines Angeklagten Geschehensabläufe zu unterstellen, für deren Vorliegen keine Anhaltspunkte bestehen. Das Landgericht stellt jedoch in seiner Beweiswürdigung, aber auch in der rechtlichen Würdigung, an mehreren Passagen ausdrücklich darauf ab, dass sich die Angeklagten nicht zu den Gründen ihres Aufenthalts im Bereich des Festnahmeortes geäußert oder erklärt haben. Damit wird im Ergebnis zum Nachteil gewertet, dass die Angeklagten von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht haben.“


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23.10.2018/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Juli – September 2018)

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Mit Beginn des neuen Semesters wird es auch wieder Zeit für unseren Rechtsprechungsüberblick. Zu Beginn eines jeden Quartals bieten wir euch einen kurzen Überblick über ausgewählte, examensrelevante Entscheidungen der jeweils letzten drei Monate.
Die folgenden Entscheidungen bieten sich aufgrund ihrer grundlegenden Bedeutung oder ihrer Konstellation juristisches „Basiswissen“ abzuprüfen, als Fragestellung sowohl in einer Examensklausur, als auch in der „Großen Übung“ an. Auch – und insbesondere – in der mündlichen Prüfung ist ein umfassender Überblick über die aktuelle Rechtsprechung unerlässlich. Es ist daher nur zu raten, sich mit den folgenden Entscheidungen – zumindest in ihren Grundzügen – auseinandergesetzt zu haben:
BGH, Urteil v. 19.09.2018 – VIII ZR 231/17
Verbindung einer fristlosen Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses mit einer hilfsweise ordentlichen Kündigung
Die fristlose Kündigung eins Wohnraummietverhältnisses kann mit einer hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung verbunden werden. Dies gilt insbesondere für den Fall der außerordentlichen Kündigung wegen Zahlungsverzugs (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB). Dabei lässt eine Zahlung der Mietrückstände innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB (sog. Schonfristzahlung) eine wegen Zahlungsverzuges nach § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB mit Zugang der Kündigungserklärung herbeigeführte sofortige Beendigung des Mitverhältnisses nachträglich rückwirkend entfallen. Das Mietverhältnis wird damit fortgesetzt. Dazu führte das Gericht aus:

Der Gesetzgeber habe gewährleisten wollen, „dass die wirksam ausgeübte fristlose Kündigung unter den dort genannten Voraussetzungen trotz ihrer Gestaltungswirkung rückwirkend als unwirksam gelte und der Mietvertrag fortgesetzt werde. In einer solchen Situation komme eine gleichzeitig mit einer fristlosen Kündigung wegen Zahlungsverzuges hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung zur Geltung. Denn ein Vermieter, der neben einer fristlosen Kündigung hilfsweise oder vorsorglich eine ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen eines aufgelaufenen Zahlungsrückstands ausspreche, erkläre diese nicht nur für den Fall einer bereits bei Zugang des Kündigungsschreibens gegebenen Unwirksamkeit der vorrangig erfolgten fristlosen Kündigung. Vielmehr bringe er damit aus objektiver Mietersicht regelmäßig weiterhin zum Ausdruck, dass die ordentliche Kündigung auch dann zum Zuge kommen solle, wenn die zunächst wirksam erklärte fristlose Kündigung aufgrund eines gesetzlich vorgesehenen Umstandes wie einer unverzüglichen Aufrechnung durch den Mieter (§ 543 Abs. 2 Satz 3 BGB), einer sog. Schonfristzahlung oder einer Verpflichtungserklärung einer öffentlichen Stelle (§ 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB) nachträglich unwirksam werde.“

BGH, Urteil vom 14.09.2018 – V ZR 213/17
„Änderungen eines Grundstückskaufvertrags nach der Auflassung sind formlos möglich, wenn die Auflassung bindend geworden ist. (Leitsatz)“
Der BGH bestätigte mit dieser Entscheidung seine ständige Rechtsprechung (u.a. BGH, Urteil v. 28.09.1984 – V ZR 43/83, WM 1984, 1539). Ein Grundstückskaufvertrag unterliegt grundsätzlich dem Formerfordernis der notariellen Beurkundung gem. § 311b Abs. 1 S. 1 BGB. Dies gilt auch für nachträgliche Änderungen des beurkundeten Kaufvertrags. Nach der Auflassung ist dies jedoch anders:

„Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Grundstückskaufverträge nach der Auflassung formlos abgeändert werden, weil die Verpflichtung zur Eigentumsübertragung mit der Auflassung erfüllt ist und deshalb nicht mehr besteht. Von der Formfreiheit ausgenommen ist die Begründung neuer selbständiger Erwerbspflichten.“  (Nachweise in Zitat ausgelassen)  

BGH, Beschluss v. 04.09.2018 – VIII ZB 70/17
Zum Verschulden eines Prozessbevollmächtigten bei Fristversäumnis

„Dem Prozessbevollmächtigten einer Partei ist ein – ihr zuzurechnendes – Verschulden an der Fristversäumung dann nicht anzulasten, wenn zwar die allgemeinen organisatorischen Vorkehrungen oder Anweisungen für eine Fristwahrung unzureichend sind, er aber einer Kanzleikraft, die sich bislang als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte. Gleiches gilt, wenn die konkrete Einzelanweisung zwar nicht allein, jedoch in Verbindung mit einer allgemein bestehenden – für sich genommen unzureichenden – Anweisung im Falle der Befolgung beider Anordnungen geeignet gewesen wäre, die Fristversäumung zu verhindern.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 BGH, Urteil vom 30. August 2018 – VII ZR 243/17
Widerrufsrecht bei Werkverträgen
Zum Sachverhalt: Der Kläger schloss in seinem Wohnhaus mit dem Beklagten einen Vertrag über die Lieferung und den Einbau eines Senkrechtlifts zum Preis von ca. 40.000 €. Der Lift ist eine individuelle Maßanfertigung; die einzelnen Teile des Lifts sind an die jeweilige Einbausituation angepasst. Der Kläger zahlt ca. 12.000 € auf den Kaufpreis an. Kurze Zeit später widerruft er den Kaufvertrag.
Dabei stellten sich zwei maßgebliche Fragen, die der BGH wie folgt beantwortet:
Ausschluss des Widerrufsrechts? – Verhältnis von § 312 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu § 357 BGB:

„Das Widerrufsrecht des Klägers ist nicht nach § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB ausgeschlossen. […] Diese Regelung findet keine Anwendung, da der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag nicht als Vertrag über die Lieferung von Waren im Sinne des § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB einzustufen ist.
Dem Wortlaut nach umfasst § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB Verträge, die auf die Lieferung von Waren gerichtet sind. Damit werden nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Kaufverträge (§ 433 BGB) und Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge, § 651 BGB) erfasst.“
Damit folgte der BGH dem Berufungsgericht, welches zuvor feststellte: „Auf Dienstleistungen im Sinne der VRRL – worunter etwa auch ein Werkvertrag nach deutschem Recht fällt – ist § 312 g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB nicht anwendbar. Hat der Vertrag eine Dienstleistung zum Gegenstand, besteht auch keine Notwendigkeit das Widerrufsrecht auszuschließen, um den Unternehmer vor Nachteilen zu schützen, die sich daraus ergeben können, dass er vor dem Widerruf mit der Vertragsausführung begonnen hat. Dies schon deshalb, weil die Widerrufsfrist bei einem Vertrag über eine Werk- oder Dienstleistung anders als bei einem Verbrauchsgüterkauf nicht erst mit Lieferung der Ware beginnt (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 BGB), sondern – unter den weiteren gesetzlichen Voraussetzungen – bereits mit Vertragsschluss. Der Unternehmer kann also regelmäßig das Ende der Widerrufsfrist abwarten, bevor er mit der Vertragsausführung beginnt. Es besteht folglich kein Grund, eine analoge Anwendung des § 312 g Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB auf Werkverträge in Erwägung zu ziehen. Daneben ist der Unternehmer durch den Anspruch gemäß § 357 Abs. 8 BGB geschützt.“ (OLG Stuttgart, Urteil v. 19.09.2018 – 6 U 76/16, juris, Nachweise in Zitat ausgelassen)

Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB (Verbraucherbauverträge; § 650i BGB):

„Die Anwendbarkeit von § 312g Abs. 1 BGB ist nicht nach § 312 Abs. 2 Nr. 3 BGB ausgeschlossen. Nach dieser Regelung findet § 312g BGB keine Anwendung auf Verträge über erhebliche Umbaumaßnahmen an bestehenden Gebäuden. Hierzu hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass […] der Begriff der erheblichen Umbaumaßnahmen im Sinne des Verbraucherschutzes eng auszulegen sei. Hierunter fielen nur solche Umbaumaßnahmen, die dem Bau eines neuen Gebäudes vergleichbar seien, beispielsweise Baumaßnahmen, bei denen nur die Fassade eines alten Gebäudes erhalten bliebe. Maßgeblich seien mithin Umfang und Komplexität des Eingriffs sowie das Ausmaß des Eingriffs in die bauliche Substanz des Gebäudes.“

BGH, Urteil v. 24.08.2018 – III ZR 192/17
Tickets zum Selberausdrucken – Eventim – „print@home“-Servicegebühr ist unzulässig
Die von Eventim verwendeten Allgemeinen Geschäftsbedingung: „Premiumversand 29,90 EUR inkl. Bearbeitungsgebühr“ und „ticketdirect – das Ticket zum Selbst-Ausdrucken Drucken Sie sich ihr ticketdirect einfach und bequem selber aus! 2,50 EUR“ sind mit der grundsätzlichen Regelung von der abgewichen wird nicht vereinbar (§ 307 Abs. 2 BGB), benachteiligen den Käufer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen und sind daher unwirksam (§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB).
Die Optionen Premiumversand und ticketdirekt seien nicht als Entgeltvereinbarungen für die geschuldete Hauptleistung zu qualifizieren, sondern vielmehr als kontrollfähige Preisnebenabreden zur Erfüllung der kaufvertraglichen Hauptpflicht. Sie seien jedoch mit der Regelung in § 448 Abs. 1 BGB nicht vereinbar:

„Nach § 448 Abs. 1 BGB hat der Kunde nur die Kosten der Versendung der gekauften Eintrittskarte nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort zu tragen. Versendungskosten im Sinne dieser Norm sind in erster Linie die unmittelbar transportbedingten Sachaufwendungen für Porto, Verpackung und gegebenenfalls Versicherung des Kaufgegenstandes. Dagegen gewährt die Vorschrift grundsätzlich keine Kompensation für die Zeit und den sonstigen Aufwand des Verkäufers, den Kaufgegenstand transportgerecht zu verpacken und zum Versand aufzugeben. Setzt der Verkäufer hierfür Personal und Maschinen ein, gilt nichts anderes. Denn (anteilige) Personal- und Sachkosten, die nicht unmittelbar der Verpackung und dem Versand der Ware zugeordnet werden können, sind allgemeine Geschäftsunkosten, die der Verkäufer im Hinblick auf das Gebot der Unentgeltlichkeit von Nebenleistungen, die der Erfüllung seiner kaufvertraglichen Hauptleistungspflicht dienen und daher in seinem eigenen Interesse liegen, nicht auf den Käufer abwälzen kann.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

Es sei auch nicht erkennbar, welche Aufwendungen von der Servicegebühr von 2,50 € abgedeckt würde, da insoweit weder Porto- noch Verpackungskosten entstünden.
Auch der für den Premiumversand verlangte Betrag für 29,90 € übersteige den Preis für Porto und Verpackungskosten nicht nur unerheblich, selbst dann, wenn es sich um einen Eilbrief bzw. eine versicherte Sendung handelte, sodass die „Betragshöhe […] damit ganz überwiegend von der ausdrücklich inkludierten ‚Bearbeitungsgebühr‘ bestimmt“ werde. Das BAG sieht darin „jedenfalls angesichts der beträchtlichen Höhe der ‚Bearbeitungsgebühr‘ eine unangemessene Benachteiligung des Kunden.“
BGH, Urteil v. 22.08.2018 – VIII ZR 99/17
Wohnraummiete – Instandhaltungspflicht des Vermieters

Leitsatz: „Für das Bestehen der Pflicht des Vermieters, die Wohnung gemäß § 535 Abs. 1 S. 2 BGB zum vertragsgemäßen Gebrauch zu überlassen und sie fortlaufend in diesem Zustand zu erhalten, ist es unerheblich, ob der Mieter die Sache tatsächlich nutzt und ihn ein Mangel daher subjektiv beeinträchtigt.“

BGH, Urteil v . 22.8.2018 – VIII ZR 277/16

Leitsatz: „Im Falle einer dem Mieter unrenoviert oder renovierungsbedürftig überlassenen Wohnung hält die formularvertragliche Überwälzung der nach der gesetzlichen Regelung (§ 535 Abs. 1 Satz 2 BGB) den Vermieter treffenden Verpflichtung zur Vornahme laufender Schönheitsreparaturen der Inhaltskontrolle am Maßstab des § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht stand, sofern der Vermieter dem Mieter keinen angemessenen Ausgleich gewährt, der ihn so stellt, als habe der Vermieter ihm eine renovierte Wohnung überlassen“

Der BGH bestätigte damit seine bisherige Rechtsprechung (siehe BGH, Urteil v. 18.03.2015 – VIII ZR 185/14, BGHZ 204, 302).
BGH, Urteil v. 19.07.2018 – VII ZR 19/18
Abgrenzung Kauf- und Werkvertrag – Vertrag über Lieferung und Einbau einer Küche
Der BGH entschied, dass es für die rechtliche Einordnung darauf ankommt, auf welchem Element bei gebotener Gesamtbetrachtung der Schwerpunkt liege:

„Je mehr die mit dem Warenumsatz verbundene Übertragung von Eigentum und Besitz der zu montierenden Sache auf den Vertragspartner im Vordergrund steht und je weniger dessen individuelle Anforderungen und die geschuldete Montage- und Bauleistung das Gesamtbild des Vertragsverhältnisses prägen, desto eher ist die Annahme eines Kaufvertrags mit Montageverpflichtung geboten. Liegt der Schwerpunkt dagegen auf der Montage- und Bauleistung, etwa auf Einbau und Einpassung einer Sache in die Räumlichkeit, und dem damit verbundenen individuellen Erfolg, liegt ein Werkvertrag vor.“

BGH, Urteil v. 12.07.2018 – III ZR 183/17,
Anspruch des Erben auf Zugang zu Benutzerkonto bei Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks

Leitsatz: „Beim Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks geht der Nutzungsvertrag grundsätzlich nach § 1922 BGB auf dessen Erben über. Dem Zugang zu dem Benutzerkonto und den darin vorgehaltenen Kommunikationsinhalten stehen weder das postmortale Persönlichkeitsrecht des Erblassers noch das Fernmeldegeheimnis oder das Datenschutzrecht entgegen.“

Siehe hierzu bereits die ausführliche Urteilsbesprechung von Sebastian Rombey.
OLG Schleswig-Holstein, Urteil v. 04.07.2018 – 12 U 87/17
Zur Frage: Wann ist ein Pferd ein „gebrauchte Sache“ im Sinne der §§ 474 Abs. 2 S. 2, 476 Abs. 2 BGB

Leitsatz: „Bei einem zum Zeitpunkt der Versteigerung zweieinhalb Jahre alten Hengst handelt es sich um eine gebrauchte Sache im Sinne des § 474 Absatz 2 S. 2 BGB.“

Siehe hierzu bereits die ausführliche Urteilsbesprechung von Yannik Beden, M.A.

11.10.2018/1 Kommentar/von Dr. Matthias Denzer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Matthias Denzer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Matthias Denzer2018-10-11 10:00:442018-10-11 10:00:44Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Juli – September 2018)
Dr. Yannik Beden, M.A.

Prüfungsrelevantes zum Kaufrecht: Keine Rückabwicklung durch großen Schadensersatz bei vorheriger Minderung

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Zivilrecht, Zivilrecht

Mit seiner Entscheidung vom 9. Mai 2018 – VIII ZR 26/17 hat der BGH zu einer besonders prüfungs- bzw. examensrelevanten Fragestellung im Kaufrecht judiziert. Das Urteil betrifft vordergründig das Verhältnis von Minderungsrecht zur Rückabwicklung des Kaufvertrags im Wege des „großen Schadensersatzes“. Die Problematik betrifft den Kernbestand der kaufrechtlichen Systematik und kann sowohl in universitären Prüfungen, als auch im Staatsexamen relevant werden. Vor diesem Hintergrund sollten Studierende unbedingt einen vertieften Blick in die neue Entscheidung des VIII. Senats werfen:
I. Der Sachverhalt (vereinfacht)
A schließt mit der D-AG einen Kaufvertrag über ein von der D-AG hergestelltes Fahrzeug der Marke Mercedes-Benz zu einem Kaufpreis von 99.000,00 €. Das Fahrzeug wird dem A im März 2014 übergeben. Im Zeitraum zwischen Oktober 2014 und Februar 2015 bringt A das Fahrzeug wegen verschiedener Mängel (u.a.: Kurzschluss am Steuergerät der Sitzeinstellung, Aussetzen der Gangschaltung, mehrere Fehler an der Elektronik) insgesamt siebenmal in eine Niederlassung der D-AG. A ist der Auffassung, dass sämtliche aufgetretenen Mängel auf eine auf herstellungsbedingte Qualitätsmängel beruhende Fehleranfälligkeit des Fahrzeugs zurückzuführen ist und erklärt unter Berufung hierauf gegenüber der D-AG eine Kaufpreisminderung in Höhe von 20 %.
In der Folgezeit sucht A aufgrund erneut auftretender Fehler eine Niederlassung der D-AG auf. Diese kommt den wiederkehrenden Mängelbeseitigungsbegehren des A allerdings nur teilweise nach. Daraufhin entscheidet sich A dazu, anstatt der Rückzahlung des sich aus der Minderung des Kaufpreises ergebenden Betrags nunmehr Schadensersatz zu verlangen. Ersetzt bekommen möchte er den Schaden, der sich aus der Nichterfüllung des gesamten Vertrags ergibt. Auch verlangt A die Rückgewähr bereits erbrachter Leistungen.
A hat diesbezüglich einen Anspruch gegen die D-AG?
II. Rechtliche Würdigung der Problematik
Der in Frage stehende Anspruch des A gegen die D-AG könnte sich aus § 437 Nr. 3 i.V.m. §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 Abs. 1 S. 3, Abs. 5 BGB ergeben (sog. großer Schadensersatz). Problematisch ist allerdings, dass der A bereits zuvor die Minderung des Kaufpreises aufgrund des identischen Mangels nach § 437 Nr. 2, 441 Abs. 1 S. 1 BGB gegenüber der D-AG erklärt hat. Zu klären gilt deshalb, ob ein sog. großer Schadensersatz trotz bereits ausgeübten Gestaltungsrechts der Minderung verlangt werden kann. Da es letztlich um die Rückabwicklung des Kaufvertrags geht, bestehen vertragssystematische Überschneidungen zum Verhältnis von Minderungsrecht zu Rücktrittsrecht, die nachfolgend im Hinterkopf behalten werden müssen.
1. Grundsätzliches Verhältnis von Minderung zu Schadensersatz
Entscheidet sich der Käufer für eine Minderung des Kaufpreises, schließt dies grundsätzlich nicht aus, daneben auch einen Schadensersatzanspruch geltend zu machen. § 325 BGB sieht vor, dass das Recht, bei einem gegenseitigen Vertrag Schadensersatz zu verlangen, durch einen Rücktritt nicht ausgeschlossen wird. Mit Blick auf die zwischen Rücktritt und Minderung bestehende elektive Konkurrenz (BeckOK/Lorenz, BGB, 45. Edition, § 262 Rn. 7) muss dies auch für die Minderung gelten (MüKo/Westermann, BGB, 7. Auflage 2016, § 441 Rn. 3). Handelt es sich nicht um einen nach § 280 BGB zu liquidierenden Mangelfolgeschaden, sondern um Schadensersatz statt der Leistung nach § 281 BGB, kommt im Falle der vorherigen Minderung allerdings nicht derjenige Schaden in Betracht, der bereits durch die Minderung des Kaufpreises ausgeglichen wird (MüKo/Westermann, BGB, 7. Auflage 2016, § 441 Rn. 3 m.w.N.; die Anwendbarkeit von § 281 BGB ablehnend Staudinger/Matusche-Beckmann, 2014, § 441 BGB Rn. 41). Gegenstand des Schadensersatzanspruchs kann nur eine weitere, zusätzlich hinzutretende Störung des Äquivalenzverhältnisses sein, die nicht bereits durch die Kaufpreisminderung behoben worden ist. Für die Beantwortung der streitgegenständlichen Fragestellung muss deshalb erörtert werden, ob sich Minderung und Schadensersatz statt der Leistung in Gestalt der Vertragsrückabwicklung auf die identische Störung oder zwei verschiedene Vertragsverletzungen richten:  
2. Die Lösung des BGH
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs entschied, dass es einem Käufer verwehrt sei, im Anschluss an eine von ihm gegenüber dem Verkäufer bereits wirksam erklärten Minderung des Kaufpreises unter Berufung auf denselben Mangel anstelle oder neben der Minderung einen „großen Schadensersatz“ im Sinne einer Rückabwicklung des Vertrags zu verlangen. Das Gericht trat damit den Urteilen der Vorinstanzen entgegen, denen zufolge eine Kaufpreisminderung nicht ausschließe, dass der Käufer hierauf folgend eine vollständige Rückabwicklung des Kaufvertrags im Wege des Schadensersatzes verlangen könne.
Der BGH bezieht zunächst Stellung hinsichtlich der Natur sowie dem Zweck des Rechts zur Minderung. Dieses ermöglicht dem Käufer, die mangelhafte Sache zu behalten und durch eine Herabsetzung des Kaufpreises das gestörte Äquivalenzinteresse zwischen Leistung und Gegenleistung wiederherzustellen. Die Minderung ermöglicht demnach eine Angleichung der ursprünglichen Parteiinteressen, ohne dabei den geschlossenen Vertrag in seiner Gänze rückabzuwickeln. Maßgeblich ist, dass die Minderung nach § 441 BGB ein Gestaltungsrecht ist, mit welchem der Käufer durch einseitige Willenserklärung eine finale Änderung des Vertragsverhältnisses unmittelbar herbeiführt. Wird die Minderung wirksam erklärt, sind hieran beide Vertragsparteien gebunden. Daraus folgt: Die Minderung – so wie auch alle anderen einseitigen Gestaltungserklärungen im Zivilrecht – führt zu einer einseitigen Änderung der Rechtslage, ohne dass es hierfür einem Zutun der anderen Vertragspartei bedarf. Diese wird vielmehr vor vollendete Tatsachen gestellt. Dann muss jedoch auch auf die Wirksamkeit der Rechtsänderung vertraut werden können. Mit Blick auf die Rechtssicherheit kann deshalb ein bereits ausgeübtes Gestaltungsrecht grundsätzlich nicht mehr einseitig zurückgenommen werden. Etwas anderes gilt nur, wenn beide Parteien einvernehmlich die Wirkung des Gestaltungsrechts aufheben möchten.
Unter Berufung auf die Systematik des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts kommt der VIII. Senat sodann zu dem Ergebnis, dass ein großer Schadensersatz zusätzlich zur – nicht mehr zu beseitigenden – Gestaltungserklärung der Minderung nicht geltend gemacht werden kann. Der Käufer sei daran gehindert, über das Schadensrecht gem. § 437 Nr. 3 i.V.m. § 281 Abs. 1 S. 3, Abs. 5 BGB eine Rückabwicklung des Kaufvertrags zu erzielen, wenn zuvor bereits eine Herabsetzung des Kaufpreises erklärt worden ist. Ausschlaggebend hierfür ist die bereits in der Vorschrift des § 441 Abs. 1 S. 1 BGB niedergelegte Wertung: Der Käufer hat das Recht zu wählen, ob er am Vertrag festhalten und das Äquivalenzinteresse im Wege der Preisminderung wiederherstellen möchte oder sich vom Vertrag vollständig löst. Übt er das Recht zur Minderung aus, hat er dieses Wahlrecht „verbraucht“. Das Gericht stellt klar, dass § 437 BGB dem Käufer die grundlegende Entscheidung abverlangt, den Vertrag entweder zu liquidieren oder ihn bei Ausgleich der entstandenen Vermögenseinbußen weitergelten zu lassen. Möchte er die Kaufsache behalten, kann er nach § 437 Nr. 2 i.V.m. § 441 BGB mindern oder im Wege des kleinen Schadensersatzes – §§ 437 Nr. 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB die Liquidation des mangelbedingten Minderwerts realisieren. Entscheidet er sich hingegen dazu, den Vertrag aufzulösen, kann er dies im Wege des Rücktritts nach § 437 Nr. 2 i.V.m. § 323 BGB oder über die Geltendmachung eines großen Schadensersatzes nach §§ 437 Nr. 3, 281 Abs. 1 S. 3, 281 Abs. 5 BGB erreichen.
Fest steht deshalb: Der Käufer muss sich im Rahmen des kaufrechtlichen Mängelrechts grundsätzlich für oder gegen die Aufrechterhaltung des Vertrags entscheiden. Möchte er den Vertrag beibehalten, kann die Störung des Äquivalenzinteresses durch Erklärung der Minderung beseitigt werden. Dann aber erlischt auch die Möglichkeit einer Vertragsrückabwicklung. Für das Rücktrittsrecht ergibt sich dies unmittelbar aus der im Wortlaut des § 441 Abs. 1 S. 1 BGB („statt zurückzutreten“) angelegten elektiven Konkurrenz. Für die Rückabwicklung im Wege des großen Schadensersatzes gilt diese Wertung gleichermaßen.
III. Summa
Mindert der Käufer den Kaufpreis, entscheidet er sich dadurch final und bindend für die Aufrechterhaltung des Vertrags. Mit Blick auf die Systematik des kaufrechtlichen Mängelrechts sowie der Notwendigkeit von Rechtssicherheit bei ausgeübten Gestaltungsrechten steht ein Anspruch auf Rückabwicklung des Vertrags im Wege des großen Schadensersatzes wegen desselben Mangels bei bereits zuvor erklärter Minderung der gesetzgeberischen Wertung entgegen. Die zwischen Minderung und Rücktritt bestehende elektive Konkurrenz ist wertungsmäßig auf das Verhältnis von Minderung zu Rückabwicklung im Rahmen des Schadensersatzes zu übertragen. Erkannt werden muss allerdings, dass sich die Entscheidung des BGH auf die Konstellation beschränkt, in welcher der Schadensersatz aufgrund der identischen Pflichtverletzung (Mangel der Kaufsache) begehrt wird. Stützen sich Minderung und großer Schadensersatz hingegen auf unterschiedliche Leistungsstörungen, kann neben der Minderung auch der Ersatz weiterer Schäden verlangt werden. Dies zeigt bereits der Wortlaut von § 437 Nr. 2 und 3 BGB („und“). Die Entscheidung des VIII. Senats bietet beste Gelegenheit, die grundlegende Systematik des kaufrechtlichen Mängelrechts nachzuvollziehen und die vertragssystematischen Wertungen zu verstehen.

24.05.2018/3 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-05-24 10:00:562018-05-24 10:00:56Prüfungsrelevantes zum Kaufrecht: Keine Rückabwicklung durch großen Schadensersatz bei vorheriger Minderung
Gastautor

BGH: Dauerhaftigkeit des Verlustes der Gebrauchsfähigkeit eines Körperglieds: Wie wirkt sich das Unterlassen fehlender medizinischer Nachsorge des Tatopfers auf die Strafbarkeit gem. § 226 I Nr. 2 StGB aus?

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Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Hüveyda Yilmaz veröffentlichen zu können. Die Autorin hat als Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert und dort während ihres Studiums als studentische Mitarbeiterin an einem strafrechtlich-kriminoligischen Lehrstuhl gearbeitet.
 
I. Einleitung 
Körperverletzungsdelikte spielen in juristischen Examensarbeiten sowie in mündlichen Prüfungen eine große Rolle. Auch § 226 StGB kann im Examen Prüfungsgegenstand sein und sollte in der Vorbereitung nicht vernachlässigt werden. Folgende BGH-Entscheidung (BGH, Urt. v. 7.2.2017 – 5 StR 483/ 16, NJW 2017, 1763) könnte etwa Grundlage einer Prüfung innerhalb der Körperverletzungsdelikte sein. Der BGH geht in der Entscheidung u. a. auf die Frage ein, wie es sich auf die Strafbarkeit gem. § 226 I Nr. 2 StGB auswirkt, wenn das Tatopfer notwendige medizinische Nachsorge nicht vorgenommen hat und so zumindest teilweise die dauernde Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Körpergliedes mit verursachte. Wie der BGH diese Frage bezogen auf den erforderlichen Zurechnungszusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge entschied, soll im Folgenden dargestellt werden.
II. Sachverhalt
Dem Urteil lag folgender (vereinfachter) Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte A und der Nebenkläger N bewohnten ein Zimmer in einem Asylbewerberheim. Weil A der Freundin des N nachstellte, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen ihnen und N zog aus. Am Tattag begab sich N in das Zimmer des A, um sein Antennenkabel mitzunehmen. Daraus entstand eine verbale Auseinandersetzung, die sich zu einer körperlichen zuspitzte: N schlug dem A ins Gesicht, woraufhin A mit einer Fernbedienung auf den Mund des N zurückschlug. Als beide getrennt wurden und N schon gehen wollte, ergriff A ein Messer und schlug mehrere Male in Richtung des Kopfes und Halses des N. Dieser hob zur Abwehr seine Hände über den Kopf und wurde durch das Messer verletzt. N zog sich Schnittverletzungen an der linken Hand zu. Wegen einer lebensgefährlichen Schlagaderverletzung musste er sich auch einer Notoperation unterziehen. Seitdem ist seine linke Hand nahezu unbrauchbar. Teilweise ist diese Bewegungseinschränkung darauf zurückzuführen, dass der N auf medizinisch notwendige Nachsorge verzichtete. Bei ordnungsgemäßer Nachsorge wäre die Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit deutlich geringer.
III. Problemaufriss
Die schwere Körperverletzung nach § 226 I StGB ist ein erfolgsqualifiziertes Delikt (Fischer, StGB 64. Aufl., § 226 I Rn. 2, 3). Bezogen auf die schwere Folge ist kein Vorsatz, jedoch Fahrlässigkeit erforderlich (vgl. § 18 StGB). Bei dem erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Grunddelikt und der schweren Folge reicht eine reine Kausalitätsbeziehung nicht aus. Vielmehr ist ein sog. objektiver Zurechnungszusammenhang notwendig (Anm. Grünewald, NJW 2017, 1765). Dass die linke Hand ein wichtiges Glied i. S. d. § 226 I Nr. 2 StGB ist, das dauernd gebrauchsunfähig geworden ist, müsste in einer Examensarbeit zunächst definiert und sauber subsumiert werden. Hier liegt der Problemschwerpunkt jedoch auf der Frage des Zurechnungszusammenhangs. Ob der Zurechnungszusammenhang durch die fehlende Inanspruchnahme medizinischer Nachsorge entfällt oder weiterhin aufrechterhalten werden kann, wurde folgendermaßen vom BGH entschieden:
IV. Lösung des BGH
Der BGH geht davon aus, dass (dem zugrundeliegenden Sachverhalt nach) auch im Falle einer Nichtvornahme medizinischer Nachsorge der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Grunddelikt und der schweren Folge vorliegt. Begründet wird dies unter anderem dadurch, dass der Täter zumindest mitkausal für die schwere Folge sei und die schwere Folge auch vorhersehbar wäre. Die vorhersehbare Dauerhaftigkeit des Funktionsverlustes der linken Hand beruhe auf der Verletzungshandlung des Angeklagten. Hierbei sei nicht notwendig, dass die Körperverletzung die ausschließliche Ursache des nicht wiedergutzumachenden Schadens ist. Der Umstand, dass die fehlende Nachsorge nicht vorgenommen worden sei, ändere nichts an der Vorhersehbarkeit.
Weiterhin führt er aus:

„Das im Anwendungsbereich des § 226 StGB ohnehin stets außerordentlich schwer getroffene Opfer wird – hier nicht gegebene extrem gelagerte Konstellationen etwa der Böswilligkeit ausgenommen – in aller Regel aus Tätersicht nicht zu hinterfragende Gründe haben, weitere Behandlungen nicht auf sich zu nehmen, selbst wenn diese nach ärztlicher Beurteilung sinnvoll wären.“

Ebenso werden Motive seitens des Opfers aufgegriffen, wie etwa Furcht vor (Folge-)Operation und damit verbundenen Risiken und Leiden und zugunsten des Opfers gewertet:

„Es würde jeglichem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, über den Gedanken der Zurechnung eine Art Obliegenheit des Opfers zu konstruieren, sich ungeachtet dessen aus übergeordneter Sicht zumutbaren (Folge-) Operationen und andere beschwerlichen Heilmaßnahmen zu unterziehen, um dem Täter eine höhere Strafe zu ersparen. Darüber hinaus würde dem irreversibel geschädigten Opfer gegebenenfalls durch Gerichtsurteil bescheinigt, es sei gar nicht auf Dauer beeinträchtigt.“

Auch sei nicht ersichtlich, das Kriterium der Zumutbarkeit als Gradmesser heranzuziehen. Die Zumutbarkeitsbetrachtung würde beispielsweise bei der Heranziehung der Finanzierbarkeit (der Folgemaßnahmen) zu einer Entscheidung führen, die endgültig zu zufälligen Ergebnissen führen könnte.
V. Lösungsansätze in der Literatur
In der Literatur wird hingegen vertreten, dass die Dauerhaftigkeit der schweren Folge dem Täter dann nicht mehr zugerechnet werden kann, wenn die medizinische Nachsorge bzw. die Beseitigung der schweren Folge oder auch Abmilderung dem Opfer machbar oder zumutbar gewesen wäre (vgl. etwa MüKoStGB/Hardtung, 2. Aufl., § 226 Rn. 42). Dies wird anhand einer wertenden Abwägung vorgenommen, bei dieser auch Kriterien der Erfolgsaussichten der Operation, Risiken und auch Finanzierbarkeit der Nachsorge eine Rolle spielen (Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 18. Aufl., § 15 Rn. 23). Bei der Beurteilung der zugrundeliegenden Frage können aber auch allgemeine Zurechnungsregeln mit einbezogen werden (vgl. Urteilsanmerkung Grünewald, NJW 2017, 1765). Gegen den Zurechnungszusammenhang in diesem Falle spräche, dass ärztliche Konsultationen zu keinem Risiko und auch zu keiner Überforderung des Tatopfers führen und daher dem Tatopfer zumutbar seien (Eisele, JuS 2017, 894). Der BGH hingegen wendet gegen diese wertenden Kriterien und Faktoren ein, dass sie geeignet seien, gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG zu verstoßen. In Anbetracht der Tatsache, dass wertende Kriterien (wie etwa eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls im Bereich der Vorsatzermittlung) im Strafrecht häufig Gegenstand der Normsubsumtion sind, müsste dies konsequenterweise auch in anderen Kontexten eine Gefährdung des Bestimmtheitsgebots zur Folge haben (hierzu Eisele, JuS 2017, 895).
VI. Fazit
Wie in anderen Examensarbeiten in der ersten juristischen Prüfung können bei guter Begründung beide Ansichten vertreten werden. Auch wenn die Entscheidung vorher nicht bekannt war, ist mit allgemeiner strafrechtlicher Argumentation (etwa mit der Heranziehung von Zumutbarkeitserwägungen oder wertende Kriterien bzw. Opfermitverantwortlichkeit) die richtige Handhabung der Problematik möglich.

13.11.2017/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2017-11-13 10:00:452017-11-13 10:00:45BGH: Dauerhaftigkeit des Verlustes der Gebrauchsfähigkeit eines Körperglieds: Wie wirkt sich das Unterlassen fehlender medizinischer Nachsorge des Tatopfers auf die Strafbarkeit gem. § 226 I Nr. 2 StGB aus?
Dr. Maximilian Schmidt

BGH: Schönheitsreparaturen aufs Neue – als Zuschlag zulässig!

Mietrecht, Schon gelesen?, Zivilrecht

Ein hochinteressanter Beschluss des BGH zur Zulässigkeit eines „Zuschlags Schönheitsreparaturen“ ist nunmehr veröffentlicht worden (BGH, Beschluss vom 30.05.2017 – VIII ZR 31/17). Dass Schönheitsreparaturen und deren formularmäßige Abwälzung auf Mieter ein juristischer Dauerbrenner ist, muss nicht nochmals betont werden. Der vorliegende Fall ist gerade zu prädestiniert, das Argumentationsgeschick und die Systemkenntnis von Prüflingen abzuprüfen, da dieser völlig anders zu beurteilen ist als die gängigen Klauseln (starrer/flexibler Fristenplan etc.). Zudem sollte die Klausel im Zweiten Staatsexamen in einer Kautelarklausur bekannt sein, um dem Mandanten den bestmöglichen Rat geben zu können.
I. Der Sachverhalt
Der schriftliche Mietvertrag sieht in § 3 neben einer „Grundmiete“ und einer „Betriebskostenvorauszahlung“ einen monatlichen „Zuschlag Schönheitsreparaturen“ i.H.v. 79,07 EUR vor. In § 7 des Mietvertrages ist geregelt, dass der Vermieter die Ausführung der Schönheitsreparaturen übernimmt und der dafür in der Miete enthaltene Kostenansatz sich auf 0,87 EUR je qm monatlich beläuft.
II. Die rechtliche Bewertung
Der Vermieter könnte einen Anspruch auf Zahlung von monatlich 79,07 EUR aus § 3 des Mietvertrages haben. Dazu müsste die Vereinbarung einer rechtlichen Prüfung standhalten.
Zunächst könnte die Klausel im Wege einer AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB unwirksam sein. Dazu müsste es sich aber überhaupt um eine kontrollfähige Abrede handeln. Nach § 307 Abs. 3 BGB sind der AGB-Kontrolle Hauptpreisabreden nicht unterworfen. Dies sind solche, die unmittelbar das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung regeln. Sinn und Zweck dieser Herausnahme ist, dass es für die Angemessenheit einer Hauptpreisabrede im Lichte des Grundsatzes der Privatautonomie und des freien Marktes keinen Vergleichsmaßstab gibt. Mangels gesetzlicher Regelung für den Inhalt von Hauptleistungspflichten kann also keine Abweichung geprüft werden. Mit anderen Worten: Es gibt insoweit kein dispositives Recht, das Ausgangspunkt richterlicher Prüfung sein könnte. Vorliegend handelt es sich bei dem „Zuschlag Schönheitsreparatur“ der formalen Stellung nach um eine Hauptleistungsabrede, da dieser zusammen mit der Grundmiete geregelt ist. Wesentlicher ist aber, dass dieser Zuschlag inhaltlich ein Entgelt für die Hauptleistungspflicht (Gebrauchsgewährungs- und Gebrauchserhaltungspflicht) des Vermieters darstellt. Nach § 535 Abs. 1 S. 2 BGB ist nämlich dieser für die Gebrauchserhaltung der Mietsache verantwortlich (was freilich aufgrund der in der Praxis regelmäßig vorgenommenen formularvertraglichen Übertragung auf den Mieter übersehen wird) und erhält hierfür nach § 535 Abs. 1 S. 1 BGB die Miete. Daher unterfällt dieser Zuschlag bereits nicht der AGB-Kontrolle!
Allerdings könnte ein Umgehungsgeschäft nach § 306a BGB vorliegen, was wiederum zur Unwirksamkeit der Regelung führte. Nach § 306a BGB finden die Vorschriften der AGB-Kontrolle nämlich auch Anwendung, wenn sie durch anderweitige Gestaltungen umgangen werden. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn die Vereinbarung des Zuschlags eine Regelung darstellte, die eine anderweitige – dann unwirksame – Klausel ersetzte. Insoweit ist wiederum auf die Rechtsnatur als Hauptpreisabrede abzustellen: Die Parteien können als Gegenleistung für die Gebrauchsgewährung- und Gebrauchserhaltungspflicht des Vermieters frei einen Preis vereinbaren. Somit wird dem Mieter gerade nicht mittelbar eine Pflicht zur Vornahme von Schönheitsreparaturen auferlegt, die ansonsten unzulässig wäre: Die Parteien hätten ja einfach ohne gesonderte Ausweisung als „Zuschlag“ eine höhere Grundmiete vereinbaren können. An diesem Ergebnis ändert auch die Mitteilung des Kostenansatzes nichts, da hiermit der Vermieter nur seine interne Kalkulation bekannt gibt, ohne dass hierdurch irgendwelche Rechte oder Pflichten begründet würden.

Hinweis: Der BGH hat mit diesem Beschluss übrigens die Revision mangels grundsätzlicher Bedeutung nach § § 543 II 1 ZPO bereits nicht zugelassen! Ein anderes Ergebnis wird daher nur mit sehr guter Begründung vertretbar sein. Umso wichtiger die wesentlichen Argumente des BGH in der Prüfung nachzuvollziehen.

III. Examenstipps
Ein Fall, der juristische Argumentationsgeschick und Systemverständnis im Bereich der AGB-Kontrolle erfordert. Wichtig ist eine abgeschichtete Prüfung genau nach dem bekannten AGB-Kontrollschema. Zudem sollte kurz auf § 306a BGB eingegangen werden, um dem Prüfer ganz deutlich die Unterschiede zur formularmäßigen Abwälzung von Schönheitsreparaturen deutlich zu machen. In einem letzten Schritt könnte dann – etwa in einer Anwaltsklausur im Zweiten Staatsexamen – mit dem Hinweis geglänzt werden, dass die Vereinbarung eines Zuschlags für Schönheitsreparaturen der beste Weg ist, diese Kosten vom Mieter abdecken zu lassen. Die feinziselierte Rechtsprechung des BGH zur formularmäßigen Übertragung der Schönheitsreparaturen auf den Mieter kann so elegant beiseite gelassen werden (die dennoch notwendiges Wissen fürs Examen darstellt, s. unsere Beiträge hier und hier). Ein toller Fall fürs Examen!

24.07.2017/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2017-07-24 11:11:322017-07-24 11:11:32BGH: Schönheitsreparaturen aufs Neue – als Zuschlag zulässig!
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2017)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Die Vorlesungszeit des Sommersemesters ist beendet und die Semesterferien stehen vor der Tür. Nichtsdestotrotz wollen wir euch mit unserem neuen Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von ausgesuchten Entscheidungen vorstellen, die das Gericht in den vergangenen Monaten getroffen hat und bislang veröffentlicht worden sind.
Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung der folgenden Urteile und Beschlüsse solltet ihr zumindest in den Grundzügen wissen, worum es in der Sache jeweils geht. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein. Teilweise ergibt sich auch eine Relevanz für die einschlägigen Schwerpunktbereiche.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller und bereits veröffentlichter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
 
Beschluss vom 08. Februar 2017 – 1 BvR 2973/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das Verfassungsgericht führte in diesem Beschluss im Wesentlichen aus, dass wegen eines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen ist. Weiterführend sei insoweit auf unseren Artikel vom 7. April 2017 verwiesen.
 
Beschluss vom 28. März 2017 – 1 BvR 1384/16 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss gab das BVerfG einer gegen die Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung gerichteten Verfassungsbeschwerde statt und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurück. Im Wesentlichen führte das Verfassungsgericht aus, dass die Strafgerichte den Sinngehalt einer zu beurteilenden Äußerung zutreffend zu erfassen hätten und sich zudem auf der Ebene der Abwägung mit der Frage auseinandersetzen müssten, welche Bedeutung der Meinungsfreiheit für die zu treffende Entscheidung zukommt.
 
Beschluss vom 29. März 2017 – 2 BvL 6/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Für das Steuerrecht und für einen entsprechenden Schwerpunktbereich besonders relevant, hat das BVerfG mit diesem Beschluss entschieden, dass die Regelung in § 8c S. 1 Körperschaftsteuergesetz (KStG), wonach der Verlustvortrag einer Kapitalgesellschaft anteilig wegfällt, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 % und bis zu 50 % der Anteile übertragen werden (schädlicher Beteiligungserwerb), mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) im Hinblick auf den Grundsatz der Steuergerechtigkeit unvereinbar ist. Gleiches gilt für die wortlautidentische Regelung in § 8c I S. 1 KStG in ihrer bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung.
 
Beschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Obwohl die unzulässige Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, hat das BVerfG gleichwohl ausgeführt, dass im Ausnahmefall bei einer notwendigen Gefährdungslage, dh in einer notstandsähnlichen Situation, ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung bestehen kann, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen Erkrankung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen, eine andere Behandlungsmethode aber eine Aussicht auf Besserung verspricht. Daher ist Anknüpfungspunkt eines solchen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruchs einzig das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage.
 
Beschluss vom 13. April 2017 – 1 BvR 610/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Zur Ausschlussregelung wegen der Beteiligung eines Bundesverfassungsrichters an der Sache sei an dieser Stelle auf unseren Artikel vom 22. Mai 2017 verwiesen.
 
Beschluss vom 13. April 2017 – 2 BvL 6/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG entschied mit diesem Beschluss, dass das Kernbrennstoffsteuergesetz (KernbrStG) mit dem Grundgesetz unvereinbar und damit nichtig ist, da dem Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass des KernbrStG fehlt. Die Kernbrennstoffsteuer lasse sich nicht dem Typus der Verbrauchsteuer im Sinne des Art. 106 GG zuordnen. Außerhalb der durch das Grundgesetz vorgegebenen Kompetenzordnung haben Bund und Länder jedoch kein Steuererfindungsrecht.
 
Beschluss vom 08. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Eilrechtsschutz im gerichtlichen Verfahren gegen die Ablehnung eines Asylantrags und die Androhung der Abschiebung nach Griechenland. Das BVerfG führte in dem Beschluss aus, dass die fachgerichtliche Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem Drittstaat, wenn jedenfalls Anhaltspunkte für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorlägen und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert sei, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage zu beruhen hätten. Soweit entsprechende Informationen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und auch nicht eingeholt werden können, sei es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) geboten, dem Betroffenen Eilrechtsschutz zu gewähren.
 
Beschluss vom 14. Juni 2017 – 2 BvQ 29/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Dass BVerfG hat mit diesem Beschluss die in den Medien viel diskutierten Eilanträge der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN betreffend die Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare abgelehnt. In der Sache richteten sich die Anträge richten gegen die unterbliebene Beschlussfassung über die entsprechenden Gesetzentwürfe durch den zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Einem Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung steht entgegen, dass die Hauptsache jedenfalls offensichtlich unbegründet wäre, denn dem Vorbringen der Bundestagsfraktion könne eine missbräuchliche Handhabung des Gesetzesinitiativrechts und damit eine Verletzung des Befassungsanspruchs des Gesetzesinitianten nicht entnommen werden.
Die Thematik hat sich durch den Bundestagsbeschluss vom 30.06.2017 vorerst ohnehin erledigt. Insgesamt ist dies daher ein gutes Beispiel dafür, wie träge aber auch schnelllebig die politische Entscheidungsfindung sein kann, weswegen ihr hier – v.a. für die mündliche Prüfung – auf dem Laufenden bleiben müsst.
 
Beschluss vom 22. Juni 2017 – 1 BvR 666/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG im Wege der einstweiligen Anordnung auf Antrag der Beschwerdeführerin die Vollstreckung aus einem Urteil des OLG Hamburg einstweilen eingestellt. Mit dem vorangegangenen Urteil war der Beschwerdeführerin auferlegt worden, einen „Nachtrag“ zu einem im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erschienenen Artikel abzudrucken. Im Sinne einer Folgenabwägung sei dem Kläger des Ausgangsverfahrens ein weiterer Aufschub bei der Vollstreckung eher zumutbar als es die Verpflichtung zum sofortigen Abdruck für die Antragstellerin wäre.
 
Beschluss vom 28. Juni 2017 – 1 BvR 1387/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Im Wege der einstweiligen Anordnung hat das BVerfG durch Beschluss der Stadt Hamburg aufgegeben, über die Duldung des im Stadtpark geplanten Protestcamps versammlungsrechtlich zu entscheiden. Nicht Gegenstand der Entscheidung ist dabei jedoch die Frage, ob und wieweit das Protestcamp in Blick auf die öffentliche Sicherheit beschränkt oder möglicherweise auch untersagt werden kann.
 

30.06.2017/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2017-06-30 10:00:402017-06-30 10:00:40BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (2. Quartal/2017)
Redaktion

Anforderungen an eine wirksame Wohnraumkündigung

Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns sehr, heute einen Gastbeitrag von Jonas Lange, derzeit Rechtsreferendar am Landgericht Köln, veröffentlichen zu können. Der Beitrag befasst sich mit aktueller Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine Wohnraumkündigung.
I. Einleitung
Im 1. Staatsexamen an Bedeutung gewinnend, hat es im zweiten längst seinen festen Platz als Standardprüfungsstoff inne. Zudem ist es ein Teil des besonderen Schuldrechts, mit dem Studierende und Rechtsreferendare gleichermaßen auch abseits von Vorlesungen und Klausuren typischerweise in Berührung kommen (können) – das Mietrecht, speziell: das Kündigungsrecht über Wohnraum.
Gründe genug also, die zu dieser Thematik kürzlich ergangenen Entscheidungen des BGH zum Anlass zu nehmen, um das ordentliche Wohnraumkündigungsrecht des Vermieters zu beleuchten. Innerhalb einer Klausur wird die Frage der wirksamen Kündigung insbesondere bei der Prüfung eines möglichen Anspruchs des Vermieters gegen den Mieter auf Herausgabe des Mietobjekts gem. § 546 Abs.1 BGB zu diskutieren sein.
 
II. Rechtliche Grundlagen
Die Kündigung von Wohnraum bemisst sich nach den §§ 542, 543 BGB i.V.m. §§ 568 ff. BGB. Nach § 542 Abs.1 BGB kann jede Vertragspartei das Mietverhältnis nach den gesetzlichen Vorschriften kündigen, sofern es nicht auf bestimme Zeit geschlossen worden ist. Mietverhältnisse auf unbestimmte Zeit können mithin von beiden Parteien durch wirksame ordentliche oder wirksame außerordentliche Kündigung beendet werden. Sowohl die ordentliche als auch die außerordentliche Kündigung ist wirksam, wenn sie auf einem geeigneten Kündigungsrund beruht, formal ordnungsgemäß erklärt worden und nicht aufgrund besondere Umstände des Einzelfalles ausgeschlossen ist.
Die Formalien der ordentlichen Kündigung (Form – Frist – Inhalt) sind in den § 568 BGB, § 573c BGB geregelt. Als Gestaltungsrecht ist die Kündigung grundsätzlich bedingungsfeindlich. Ihre Erklärung wird mit Zugang wirksam.
Der Vermieter kann ferner nur kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat, § 573 Abs.1 S.1 BGB (Ausn.: § 573a Abs.1 BGB). Ein berechtigtes Interesse zur ordentlichen Kündigung kann insb. aufgrund:

  • nicht unerheblicher, schuldhafter Verletzung vertraglicher Pflichten durch den Mieter,
  • Eigenbedarfs des Vermieters oder
  • der Hinderung angemessener wirtschaftlicher Verwertung des Grundstücks
    gegeben sein, § 573 Abs.2 Nr.1-3.

Die Prüfung unbilliger Härte erfolgt auf Widerspruch des Vermieters gegen die Kündigung im Rahmen des § 574 BGB. Unbillige Härte liegt grundsätzlich vor, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts einen Nachteil (wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art) mit sich bringt, der die üblichen mit einem Umzug verbundenen Beschwernisse deutlich übersteigt und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände nicht zumutbar ist.
 
III. Aktuelle Rechtsprechung des BGH
Der BGH hat sich im März diesen Jahres in gleich mehreren Entscheidungen zu den Voraussetzungen eines ordentlichen Kündigungsgrundes bzw. der unbilliger Härte einer Kündigung verhalten.

1. Urteil vom 29. März 2017 – Berufs- oder Geschäftsbedarf als anzuerkennendes Eigeninteresse (§ 573 Abs. 1 S. 1 BGB)?
Mit Urteil vom 29. März 2017 – VIII ZR 45/16 hat der BGH Leitlinien zum Umgang mit Wohnraumkündigungen wegen sog. Berufs- oder Geschäftsbedarfs gem. § 573 Abs.1 S.1 BGB formuliert und entschieden, dass es – entgegen verbreiteter Praxis – nicht zulässig ist, den Berufs- oder Geschäftsbedarf als ungeschriebene weitere Kategorie eines typischerweise anzuerkennenden Vermieterinteresses an der Beendigung eines Wohnraummietverhältnisses zu behandeln. Vielmehr haben die Gerichte im Einzelfall festzustellen, ob ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses besteht.
Denn nur mit den typisierten Regeltatbeständen des § 573 Abs.2 BGB hat der Gesetzgeber für die praktisch bedeutsamsten Fallgruppen selbst geregelt, unter welchen Umständen der Erlangungswunsch des Vermieters Vorrang vor dem Bestandsinteresse des Mieters hat. Die Kündigung wegen Berufs- oder Geschäftsbedarfs unterfällt aber weder dem Kündigungstatbestand des Eigenbedarfs, § 573 Abs. 2 Nr.2 BGB, noch dem der wirtschaftlichen Verwertung i.S. des § 573 Abs.2 Nr.3 BGB. Bei der mithin Anwendung findenden Generalklausel des § 573 Abs.1 S.1 BGB verlangt das Gesetz aber stets eine einzelfallbezogene Feststellung und Abwägung der beiderseitigen Belange der betroffenen Mietvertragsparteien. Für die Bestimmung des berechtigten Interesses haben die Gerichte zu beachten, dass sowohl die Rechtsposition des Vermieters als auch das vom Vermieter abgeleitete Besitzrecht des Mieters von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie geschützt sind. Allgemein verbindliche Betrachtungen verbieten sich dabei. Für das Interesse des Vermieters, seine Wohnung zu (frei-)beruflichen oder gewerblichen Zwecken selbst zu nutzen, lassen sich allerdings anhand bestimmter Fallgruppen grobe Leitlinien bilden:

  • So weist der Entschluss eines Vermieters, die Mietwohnung nicht nur zu Wohnzwecken zu beziehen, sondern dort zugleich überwiegend einer geschäftlichen Tätigkeit nachzugehen (sog. Mischnutzung), eine größere Nähe zum Eigenbedarf nach § 573 Abs.2 Nr.2 BGB auf, da er in solchen Konstellationen in der Wohnung auch einen persönlichen Lebensmittelpunkt begründen will. In diesen Fällen wird es regelmäßig ausreichen, dass dem Vermieter bei verwehrtem Bezug ein beachtenswerter Nachteil entstünde, was bei einer vernünftigen Abwägung der Lebens- und Berufsplanung des Vermieters häufig der Fall sein dürfte. Entsprechendes gilt, wenn die Mischnutzung durch den Ehegatten oder Lebenspartner des Vermieters erfolgen soll.
  • Dagegen weisen Fälle, in denen der Vermieter oder sein Ehegatte/Lebenspartner die Wohnung ausschließlich zu geschäftlichen Zwecken nutzen möchte, eine größere Nähe zur Verwertungskündigung nach § 573 Abs.2 Nr.3 BGB auf. Angesichts des Umstands, dass der Mieter allein aus geschäftlich motivierten Gründen von seinem räumlichen Lebensmittelpunkt verdrängt werden soll, muss der Fortbestand des Wohnraummietverhältnisses für den Vermieter einen Nachteil von einigem Gewicht darstellen, was etwa dann anzunehmen sein kann, wenn die geschäftliche Tätigkeit andernfalls nicht rentabel durchgeführt werden könnte oder die konkrete Lebensgestaltung die Nutzung der Mietwohnung erfordert (z.B. gesundheitliche Einschränkungen, Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Personen). 

2. Urteil vom 15. März 2017 – Umfang der Prüfpflicht der Gerichte mit den vom Mieter vorgetragenen Härtegründen (§ 574 Abs. 1 BGB)?
Mit Urteil vom 15. März 2017 – VIII ZR 270/15 hat der BGH zu der Frage Stellung bezogen, in welchem Umfang sich Gerichte mit den von Mietern vorgetragenen Härtegründen im Rahmen des § 574 Abs.1 BGB auseinanderzusetzen haben. Danach hat sich das angerufene Gericht in der gebotenen Weise, d.h. stets eigenständig (u.U. mittels eines Sachverständigen), eingehend und umfassend mit dem Inhalt der vorgetragenen Härten auseinanderzusetzen, die einen Verbleib in der Wohnung rechtfertigen könnten. Dieser Prüfpflicht kommt das Gericht insbesondere dann nicht nach, wenn es den Parteivortrag zu den Härtegründen lediglich formal als wahr unterstellt.
Gerade bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr seien die Gerichte verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen sowie den daraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Mache ein Mieter schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels geltend, müssten sich die Gerichte bei Fehlen eigener Sachkunde mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen für den Mieter mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen erreichen könnten und mit welcher Wahrscheinlichkeit diese eintreten könnten. Erst dies versetze die Gerichte in einem solchen Fall in die Lage, die Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden seien, im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten.

 

III. Fazit
Losgelöst von den behandelten Fällen sollte sich der Leser im Prüfungsfall stets vergegenwärtigen, dass sowohl § 573 BGB als auch § 574 BGB Ausfluss des sozialen Mietrechts sind.
Ursprünglich als Ausgleich der unterschiedlichen Marktstellungen von Vermieter und Mieter in Regionen mit besonderem Wohnungsbedarf gedacht, dient § 573 BGB mittlerweile dem allgemeinen Schutz des vertragstreuen Mieters vor dem Verlust seiner Wohnung als Mittelpunkt seiner Lebensführung. Die damit verbundene Einschränkung der Vermieterrechte findet in der Sozialpflichtigkeit des Eigentums aus Art 14 Abs.2 GG seine Rechtfertigung und Grenzen gleichermaßen. Ziel des § 574 BGB ist es, soziale Notstände des Einzelfalls, die sich aus persönlichen Umständen, oder im Zusammenhang mit der alten oder einer neuen Wohnung stehenden, ergeben können, abzuwenden. Wer dies berücksichtigt, wird auch andersgelagerte Fallkonstellationen sachgerecht lösen können.

29.05.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-05-29 10:00:292017-05-29 10:00:29Anforderungen an eine wirksame Wohnraumkündigung
Dr. Marius Schäfer

BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (1. Quartal/2017)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht

Die Sonne zeigt sich und der Frühling erwacht endlich wieder. Damit wird es aber auch Zeit, euch mit dem ersten Rechtsprechungsüberblick in diesem Jahr wieder eine Reihe von ausgesuchten und bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, die das Gericht in den vergangenen Monaten getroffen hat.
Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung der folgenden Urteile und Beschlüsse solltet ihr zumindest in den Grundzügen wissen, worum es in der Sache jeweils geht. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein. Teilweise ergibt sich auch eine Relevanz für die einschlägigen Schwerpunktbereiche.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller und bereits veröffentlichter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
 
Beschluss vom 16. Dezember 2016 – 2 BvR 349/16
Zum Einstieg eine nicht bedeutsame aber immerhin amüsante Entscheidung zum Schmunzeln:
Die Entscheidung kurz vor Weihnachten betrifft die Nichtzulassung einer Volksabstimmung über den Austritt Bayerns aus der BRD in Bayern und gegen die Bestimmung, dass die Volksabstimmung im ganzen Bundesgebiet und nicht nur in Bayern durchgeführt werden müsste.
 
Beschluss vom 23. Dezember 2016 – 1 BvR 1723/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderung an die ordnungsgemäße Erschöpfung des Rechtswegs und die substantiierte Darlegung einer möglichen Grundrechtsverletzung. Dazu sei auf die erläuternden Ausführungen aus der o.a. Pressemitteilung verwiesen:
Zur Erschöpfung des Rechtsweges:

Eine Verfassungsbeschwerde ist in der Regel unzulässig, wenn ein Rechtsmittel ‑ hier die Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision ‑, durch dessen Gebrauch die behaupteten Grundrechtsverstöße hätten ausgeräumt werden können, aus prozessualen Gründen erfolglos bleibt. Dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Beschreitung des Rechtswegs von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig zu machen. Auch wenn die Verwerfung einer Nichtzulassungsbeschwerde als solche nicht in jedem Falle ausreicht, um von der Unzulässigkeit auch der nachfolgenden Verfassungsbeschwerde auszugehen, muss ein Beschwerdeführer in der Verfassungsbeschwerde seinen Vortrag im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren jedenfalls im Wesentlichen mitteilen, so dass für das Bundesverfassungsgericht nachvollziehbar wird, ob die Nichtzulassungsbeschwerde offenbar unzulässig war und ob der Beschwerdeführer die verfassungsrechtliche Problematik zumindest der Sache nach dem Rechtsmittelgericht unterbreitet hat. Das ist hier nicht ausreichend geschehen.

Zur substantiierten Darlegung einer möglichen Grundrechtsverletzung:

Im Übrigen hat der Beschwerdeführer eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Insbesondere hat er sich hinsichtlich seiner Einbeziehung in die gesetzliche Unfallversicherung nicht mit den vom Bundesverfassungsgericht bereits entwickelten Maßstäben zur Pflichtversicherung von Nebenerwerbs- oder Hobbylandwirten auseinandergesetzt.

 
Beschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 1593/16
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB. Der Beschwerdeführer hatte bei einem Versandhandel einen Aufnäher mit den Buchstaben A.C.A.B. sowie zwei Aufnäher mit den Zahlen 13 und 12 bestellt und befestigte diese auf einer Weste. Mit dieser Weste ausgestattet, wollte er ein Fußballspiel der zweiten Bundesliga besuchen, wurde jedoch bei der Einlasskontrolle polizeilich kontrolliert und durchsucht, weil den Beamten die Aufnäher aufgefallen waren. Das zuständige Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 80 €. Der Beschwerdeführer wendete sich schließlich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die auf das Urteil des Amtsgerichts folgenden Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts und rügt die Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Von Bedeutung sind die folgenden Ausführungen aus den Entscheidungsgründen des BVerfG:

Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe (Anm.: zu Art. 5 I 1 GG) haben die Gerichte durch die Annahme einer hinreichenden Individualisierung des negativen Werturteils verkannt. Sie kommen in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise zu dem Ergebnis, dass sich die hier in Rede stehende Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht. Hierfür reicht es nicht, dass die im Stadion eingesetzten Polizeikräfte eine Teilgruppe aller Polizistinnen und Polizisten sind. Vielmehr bedarf es einer personalisierten Zuordnung. Worin diese liegen soll, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. Für eine Konkretisierung ist nicht erforderlich, dass die eingesetzten Polizeibeamten und Polizeibeamtinnen dem Beschwerdeführer namentlich bekannt sind. Es genügt aber nicht, dass der Beschwerdeführer das Fußballspiel in dem Bewusstsein, dass Einsatzkräfte der Polizei anwesend sein würden, besuchte. Es fehlen Feststellungen dazu, dass sich der Beschwerdeführer bewusst in die Nähe der Einsatzkräfte der Polizei begeben hat, um diese mit seiner Parole zu konfrontieren. Der bloße Aufenthalt im Stadion im Bewusstsein, dass die Polizei präsent ist, genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine erkennbare Konkretisierung der Äußerung auf bestimmte Personen nicht. Es ist hieraus nicht ersichtlich, dass die Äußerung sich individualisiert gegen bestimmte Beamte richtet.

 
Beschluss vom 17. Januar 2017 – 2 BvL 1/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG hat mit diesem Beschluss entschieden, dass die im Besoldungsrecht des Landes Rheinland-Pfalz vorgesehene „Wartefrist“, wonach ein Beamter oder Richter, dem ein Amt ab den Besoldungsgruppen B 2 oder R 3 übertragen worden ist, für die Dauer von zwei Jahren das Grundgehalt der nächstniedrigeren Besoldungsgruppe erhält, mit Artikel 33 Abs. 5 GG unvereinbar und damit nichtig ist.
 
Beschlüsse vom 17. Januar 2017 – 2 BvL 2/14 u.a.
Von Interesse für die Studenten älteren Semesters:
Die Verfahren betreffen die Rückmeldegebühren des Landes Brandenburg gemäß § 30 Abs. 1a Satz 1 des Gesetzes über die Hochschulen des Landes Brandenburg (Brandenburgisches Hochschulgesetz – BbgHG) idF des Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Beseitigung des strukturellen Ungleichgewichts im Haushalt (Haushaltsstrukturgesetz 2000 – HStrG 2000) vom 28. Juni 2000. Die Regelung der Rückmeldegebühren ist mir Art. 2 Abs. 1 iVm den Art. 104a ff. GG sowie mit Art. 3 Abs. 1 des GG unvereinbar und nichtig, soweit danach bei jeder Rückmeldung Gebühren von 100 Deutschen Mark beziehungsweise 51 Euro pro Semester erhoben wurden.
 
Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
In der Entscheidung zum NPD-Verbotsverfahren sei auf unseren Artikel vom 20. Januar 2017 verwiesen.
 
Beschlüsse vom 9. Februar 2017 – 1 BvR 2897/14 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Die hier getroffenen Entscheidungen ergingen zur Abbildung von Prominenten im öffentlichen und im privaten Raum durch die Presse. Die wesentlichen Erwägungen seien der o.a. Pressemitteilung wie folgt entnommen:

Die Zivilgerichte müssen im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung das Gewicht der Pressefreiheit bei der Berichterstattung über Ereignisse, die von großem öffentlichen Interesse sind, ausreichend berücksichtigen. Von Bedeutung ist dabei unter anderem, ob sich die abgebildete Person im öffentlichen Raum bewegt. Betrifft die visuelle Darstellung die Privatsphäre oder eine durch räumliche Privatheit geprägte Situation, ist das Gewicht der Belange des Persönlichkeitsschutzes erhöht. Über die sich hieraus näher ergebenden Anforderungen hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in zwei heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden.

 
Beschluss vom 22. Februar 2017 – 1 BvR 2875/16 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die im Ergebnis unzulässige Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichteinhaltung der Beschwerdefrist. Die Beschwerdeführerin wendete sich vorliegend gegen eine in NRW zum 1. Januar 2016 in Kraft getretene Vorschrift, wobei die Vorgängervorschrift zu der angegriffenen Regelung allerdings bereits zum 1. März 1998 in Kraft getreten war. Das BVerfG führte im Grundsatz dazu aus, dass rein redaktionelle Änderungen eines Gesetzes, die den materiellen Gehalt und den Anwendungsbereich einer Norm nicht berühren, die Frist zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde nicht neu in Lauf setzen können. Die Verfassungsbeschwerde wurde daher nicht zur Entscheidung angenommen.
 
Beschluss vom 08. März 2017 – 2 BvR 483/17 (siehe auch die Pressemitteilung)
Die erfolglose Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim am 18. Februar 2017 in Oberhausen. Das BVerfG führte im Hinblick auf Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen aus, dass diese weder von Verfassungs wegen noch nach einer allgemeinen Regel des Völkerrechts einen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet hätten und sich in ihrer amtlichen Eigenschaft auch nicht auf Grundrechte berufen könnten. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch bereits deshalb unzulässig, weil der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dargelegt konnte, dass er vorliegend selbst betroffen ist.
Zu dieser Thematik sei im Übrigen auf unseren Artikel vom 11. März 2017 verwiesen.
 

31.03.2017/0 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
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  • Verkehrspflichten in der zivilrechtlichen Klausur
  • Gedächtnisprotokoll Öffentliches Recht II April 2025 NRW
  • Tätowierungen als Einstellungshindernis im Polizeidienst?

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Verkehrspflichten in der zivilrechtlichen Klausur

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Im Ausgangspunkt ist klar: „Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch“ (vgl. nur BGH, Urt. v. 19.1.2021 – VI ZR 194/18) Damit ist allerdings nicht geklärt, welche Anforderungen […]

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12.06.2025/0 Kommentare/von Gastautor
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Redaktion

Gedächtnisprotokoll Öffentliches Recht II April 2025 NRW

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Wir freuen uns sehr, ein Gedächtnisprotokoll zur zweiten Klausur im Öffentlichen Recht des April-Durchgangs 2025 in Nordrhein-Westfalen veröffentlichen zu können und danken Tim Muñoz Andres erneut ganz herzlich für die […]

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04.06.2025/0 Kommentare/von Redaktion
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Miriam Hörnchen

Tätowierungen als Einstellungshindernis im Polizeidienst?

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Die vom VG Berlin zu beantwortende Frage, ob die Ablehnung einer Bewerbung für den Polizeidienst wegen sichtbarer Tätowierungen rechtswidrig erfolgt, wirft eine Vielzahl examensrelevanter Fragestellungen auf: Aufgrund der Eilbedürftigkeit im […]

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03.06.2025/0 Kommentare/von Miriam Hörnchen
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