BVerfG zur Zulässigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen der Polizei
Mit Beschluss vom 29.07.2022 (2 BvR 54/22) entschied das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde eines mutmaßlichen Graffiti-Sprayers, der sich gegen die zwangsweise Durchführung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen (Anfertigung von Fingerabdrücken und Lichtbildaufnahmen) durch die Polizei richtete. Der Fall eignet sich als Grundlage für eine Klausur im Öffentlichen Recht ebenso wie als StPO-Zusatzfrage, da „Aufhänger“ der Grundrechtsprüfung eine strafprozessrechtliche Norm ist.
I. Sachverhalt
Ausgangspunkt ist ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt: Im Juni 2021 brachte der zunächst unbekannte Graffiti-Sprayer G an einem Gebäude zwei großflächige, mit silberner Sprühfarbe ausgeführte Übermalungen der dort bereits in weißer und schwarzer Farbe angebrachten Schriftzüge „Toni F. Du Jude“ und „Antifa Boxen“ an. Dabei wurde G wurde er von einem Zeugen angesprochen, gefilmt und fotografiert. Dieser Zeuge gab bei seiner späterem Vernehmung an, er sei in der Lage, den Täter wiederzuerkennen. Die Eigentümerin des betroffenen Gebäudes stellte Strafantrag. Aufgrund eines anonymen Hinweises erkannten zwei Polizeibeamte den G auf den vom Zeugen gefertigten Lichtbildern wieder. Gegen G wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung eingeleitet.
So viel zur Vorgeschichte des Ermittlungsverfahrens, das selbst Gegenstand der Verfassungsbeschwerde wurde. Im Rahmen des besagten Ermittlungsverfahrens ordnete die zuständige Polizeibehörde die erkennungsdienstliche Behandlung des G an. Diese stützte die Polizei auf § 81b Alt. 1 und Alt. 2 StPO. Die polizeiliche Anordnung erstreckte sich auf ein sog. Fünfseitenbild, ein Ganzkörperbild, eine Personenbeschreibung, ein Spezialbild sowie auf einen Zehnfinger- und Handflächenabdruck, wobei die Begründung der Anordnung nicht zwischen den genannten Maßnahmen unterschied. G sei einer Tat nach § 303 Abs. 2 StGB verdächtig. Die erkennungsdienstliche Behandlung sei notwendig, da die angeordneten Maßnahmen für die Sachverhaltsaufklärung erforderlich seien. Insbesondere sei die Anfertigung von Lichtbildern erforderlich, damit der Zeuge den G darauf identifizieren oder entlasten könne. Denn die vom Zeugen angefertigten Bildaufnahmen seien von schlechter Qualität, ebenso könnte G die Tat vor Gericht abstreiten oder sich auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Darüber hinaus sei gegen G seit März 2013 in sieben Fällen – unter anderem auch wegen Sachbeschädigung durch Sprühen von Graffiti – ermittelt worden. Daher bestehe die begründete Wahrscheinlichkeit, dass G erneut strafrechtlich in Erscheinung treten werde. Die Anordnung sei erforderlich, um diese zu erwartenden Straftaten aufklären zu können, da es bislang keine entsprechenden Daten über G in den polizeilichen Datenbanken gebe.
G ging erfolglos gegen die Anordnung vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht vor. Er berief sich darauf, dass eine Anfertigung von Finger- und Handflächenabdrücken ungeeignet zur Sachverhaltsaufklärung sei, da am Tatort kein Vergleichsmaterial gefunden wurde. Außerdem bestreite er nicht, die Person auf den Aufnahmen des Zeugen zu sein und mit diesem gesprochen zu haben. Bemerkenswert ist, dass das Landgericht, das der Beschwerde des G nicht abhalf, die Rechtmäßigkeit der Anordnung nicht selbst überprüfte, sondern zur Begründung seiner Entscheidung vollumfänglich Bezug auf die polizeiliche Anordnung nahm, dieser sei „nichts hinzuzufügen“. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des G.
II. Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Der G werde durch die Anordnung in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Zunächst befasste sich das Gericht mit der Eröffnung des Schutzbereichs der informationellen Selbstbestimmung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Es gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren. Davon werden alle Informationen, die über die Bezugsperson etwas aussagen können, umfasst. Die erkennungsdienstliche Behandlung fällt also in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung. Sodann wendet sich das BVerfG der Einschränkbarkeit des Grundrechts zu. § 81b Alt. 1 StPO kommt hiernach als Grundrechtsschranke in Betracht. Ein Grundrechtseingriff könne nach § 81b Alt. 1 StPO gerechtfertigt sein, wenn gegen den Betroffenen ein Strafverfahren geführt wird und gegen ihn ein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO besteht. Zudem müssen die einzelnen Maßnahmen jeweils für den Zweck der Durchführung des Strafverfahrens konkret notwendig sein. Diesem Maßstab werde die Entscheidung des Landgerichts nicht gerecht, dabei differenziert das BVerfG nach den verschiedenen Maßnahmen, die die Anordnung enthielt.
Zwar sei § 81b StPO anwendbar, da G Beschuldigter in einem Strafverfahren war und gegen ihn ein konkreter Anfangsverdacht nach § 152 Abs. 2 StPO bestand. Nach § 81b Alt. 1 StPO, worauf sich die Anordnung stützte, ist aber weiterhin erforderlich, dass die erkennungsdienstlichen Maßnahmen der Durchführung des Strafverfahrens und damit der Täterfeststellung dienen. Hierzu sind die Anfertigung von Zehnfinger- und Handflächenabdrücken ungeeignet. Die Ermittlung des Täters könne hierüber schon deshalb nicht erfolgen, weil am Tatort keine entsprechenden Abdrücke sichergestellt wurden.
Die Anfertigung der Lichtbildaufnahmen sei zur Ermittlung des Täters zwar nicht schon ungeeignet. Dennoch sei auch die Anordnung der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet. Insoweit wirft die Erforderlichkeit Fragen auf: Denn der Zeuge habe angegeben, dass er in der Lage sei, den Täter wiederzuerkennen. Eine entsprechende Gegenüberstellung hätte auch in der – zeitnah zu erwartenden – Hauptverhandlung erfolgen können. Beachtlich sei außerdem, dass G von den Polizeibeamten mittels der vom Zeugen gefertigten Lichtbildaufnahmen identifiziert wurde. Vor diesem Hintergrund sei nicht ersichtlich, wieso diese Aufnahmen für einen späteren Abgleich ungeeignet seien und weshalb es damit der erkennungsdienstlichen Aufnahmen bedurft hätte.
Darauf, ob § 81b Alt. 2 StPO den Eingriff rechtfertigen könnte, ging das Gericht nicht ein. Hierauf könne für die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Alt. 1 StPO kein Bezug genommen werden, da der Gesetzgeber präzise Verwendungszwecke vorgegeben habe. Das BVerfG stellte eine Verletzung der informationellen Selbstbestimmung des G durch die Anordnung der Maßnahmen fest, nicht nur durch die Erwähnung von § 81b Alt. 1 StPO in der Anordnung.
III. Einordnung
Es handelt sich um eine Entscheidung, die – eingekleidet in eine Urteilsverfassungsbeschwerde oder eine StPO-Zusatzfrage – von hoher Prüfungsrelevanz ist. Der Beschluss des BVerfG gibt Anlass, Grundkenntnisse im Verfassungs- und Strafprozessrecht zu wiederholen: Zum einen betrifft das die Fragen, wann ein konkreter Anfangsverdacht vorliegt und wer „Beschuldigter“ ist. Zum anderen bietet es sich an, das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung zu wiederholen. Das Grundrecht ist nicht normiert und muss daher in einer Klausur aus den Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet werden. Bei der gutachterlichen Prüfung ist darauf zu achten, dass Beschwerdegegenstand die letztinstanzliche Entscheidung des LG ist und der Prüfungsmaßstab des BVerfG auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts begrenzt ist.
Im Rahmen der Anwendung des § 81b StPO als Grundrechtsschranke ist trennscharf zwischen den beiden Alternativen der Norm zu trennen. Hieran ist jede einzelne Maßnahme, die Gegenstand der Anordnung ist, zu messen. Dies entspricht dem gesetzgeberischen Willen, der zwei verschiedene, präzise Verwendungszwecke für die erkennungsdienstliche Behandlung vorgegeben hat. Die beiden Alternativen des § 81b StPO verfolgen dabei völlig unterschiedliche Zielrichtungen: Einerseits geht es um die Aufklärung eines laufenden Verfahrens, andererseits geht es präventivpolizeiliche Maßnahmen, die sich auf zukünftige Verfahren beziehen. Gerade in einem grundrechtssensiblen Bereich, wie der erkennungsdienstlichen Behandlung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens, sollte die Ermittlungsbehörde strenge Anforderungen an ihr eigenes Handeln stellen. Dies erfordert die genaue Prüfung des Zwecks und der Eignung jeder einzelnen Maßnahme. Es würde der Systematik des § 81b StPO und dem Schutz des Betroffenen widersprechen, wenn ein und dieselbe Maßnahme auf zwei grundverschiedene Alternativen derselben Norm gestützt würde, und so eine nach 81b Alt. 2 StPO rechtmäßige Datenerhebung zur Kompensation für eine defizitär begründete Anordnung gemäß § 81b Alt. 1 StPO herangezogen werden könnte.
Es könnte zu vertreten sein, dass nur von vornherein vollkommen ungeeignete Maßnahmen unzulässig sind. Soweit Maßnahmen theoretisch denkbar für Ermittlungen förderlich sein sollten, könnten diese grundsätzlich zulässig wirken. Das könnte hier möglich scheinen. Es sollte möglich scheinen, dass eine Identifizierung im Ermittlungsverfahren ohne Gegenüberstellung erleichtert und Ermittlungen dadurch befördert werden könnten. Zudem könnte theoretisch noch denkbar wirken, dass nachweislich verwendete Spraydosen noch auffindbar und darauf Abdrücke nachweisbar sein können o.ä.