Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Grigory Bekritsky veröffentlichen zu können. Der Autor ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Universität Bonn bei Prof. Dr. Jens Koch.
I. Einleitung
Erneut stellt ein Kanon unionsrechtlich beeinflusster Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die nationale Grundrechtsdogmatik und damit auch den Examenskandidaten auf den Prüfstand. War es bislang die Frage, inwieweit sich Akte des Unionsrechts an den Grundrechten des Grundgesetzes messen lassen müssen, wird mit den Beschlüssen Vergessen I (1 BvR 16/13) und Vergessen II (1 BvR 276/17) vom 6.11.2019 neues Terrain betreten: Es geht nicht mehr darum, nationale Barrieren in Anbetracht des Durchgriffs von Unionsrecht auszugestalten, sondern vielmehr umgekehrt um das Vereinheitlichungsziel, die nationale Gerichtsbarkeit als Durchsetzungsmechanismus nun auch der unionalen Grundrechte zu begreifen.
Unter welchen Voraussetzungen welcher Grundrechtskatalog einschlägig und welches Gericht zuständig ist, soll im Folgenden näher beleuchtet werden, indem der Vergessen II-Beschluss als Lösungsvorschlag aufbereitet und die Vergessen I-Entscheidung als Zusatzfrage behandelt wird. Abschließend werden beide Beschlüsse in den Kontext von bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit unionalem Bezug gesetzt und einem Ausblick für mögliche Prüfungskonstellationen unterworfen.
II. Sachverhalt (angelehnt an Vergessen II)
Der Fernsehsender F strahlte einen Beitrag mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Darin wurde der Fall eines gekündigten Arbeitnehmers geschildert, der zuvor in einem Unternehmen beschäftigt war, das B als Geschäftsführerin leitete. In dem Beitrag wurde ihr ein unfairer Umgang mit dem betroffenen Mitarbeiter vorgeworfen, wozu B in einem freiwilligen Interview auch Stellung bezog.
Im Anschluss daran stellte F den Beitrag auf seiner Internetseite ein. Bei Eingabe des Namens der B in die Suchmaske des Suchmaschinenbetreibers G wurde die Verlinkung auf diesen Beitrag als eines der ersten Suchergebnisse angezeigt. Nachdem G es abgelehnt hatte, die Nachweise dieser Seite zu unterlassen, durchzog B erfolglos den gerichtlichen Instanzenzug. Nach der Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs könne sie weder aus Art. 17 DSGVO noch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG beanspruchen, dass der Link entfernt werde.
Daraufhin erhebt B Verfassungsbeschwerde, mit der sie eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung rügt. Bereits die Überschrift des Suchergebnisses sei verfälschend, da sie niemals „fiese Tricks“ angewandt habe. Außerdem werde dadurch sogar Schmähkritik geübt. Das Suchergebnis rufe eine negative Vorstellung über sie hervor, die geeignet sei, sie als Privatperson herabzuwürdigen. Schließlich liege der Bericht zeitlich so weit zurück, dass auch in Folge des Zeitablaufs kein berechtigtes öffentliches Interesse mehr an ihm bestehe.
Hat die Verfassungsbeschwerde Erfolg?
Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass das Datenschutzrecht vollständig harmonisiert ist. Auf die Art. 7, Art. 8, Art. 11, Art. 16 und Art. 52 GRCh wird hingewiesen.
Abwandlung (angelehnt an Vergessen I)
Ändert sich etwas, wenn es sich um eine nicht vollständig harmonisierte Materie handeln und den Mitgliedstaaten damit ein Umsetzungsspielraum verleiben würde?
III. Rechtsausführungen
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
1. Zulässigkeit
a) Während die natürliche Person B als „Jedermann“ beschwerdefähig und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs als Akt der Judikative ein tauglicher Beschwerdegegenstand ist, stellt sich die Frage, ob B nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG auch beschwerdebefugt ist. Problematisch ist einzig, ob sich B in der vorliegenden Konstellationen mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht auf die in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Grundrechte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der informationellen Selbstbestimmung berufen kann. Dem könnte zum einen der unionsrechtliche Anwendungsvorrang (1) und zum anderen eine etwaig fehlende Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts entgegenstehen (2).
(1) Nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist kollidierendes mitgliedstaatliches Recht, auch solches mit Verfassungsrang, nicht anwendbar (Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 19). Kollidierend ist das nationale Recht aber nur, wenn es eine Regelungsmaterie betrifft, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist (vgl. auch Art. 51 Abs. 1 S. 1 HS. 2 GRCh: „Durchführung des Rechts der Union“).
„Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. […] Die Anwendung der Unionsgrundrechte ist hier Konsequenz der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Wenn die Union im Rahmen dieser Befugnisse Regelungen schafft, die in der gesamten Union gelten und einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein. Diesen Grundrechtsschutz gewährleistet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die deutschen Grundrechte sind in diesen Fällen nicht anwendbar, weil dies das Ziel der Rechtsvereinheitlichung konterkarieren würde“ (Rn. 42, 44).
Abzugrenzen ist der Anwendungsvorrang vom sog. Geltungsvorrang, der für das Unionsrecht nicht gilt und damit dem nationalen Recht einen Reservevorbehalt für den Fall bietet, dass das unionsgrundrechtlich gewährleistete Schutzniveau wegbricht.
„Die Nichtanwendung […] lässt die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes als solche unberührt. Sie bleiben dahinterliegend ruhend in Kraft. Dementsprechend erkennt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung einen die Überprüfung an den Grundrechten des Grundgesetzes ausschließenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur unter dem Vorbehalt an, dass der Grundrechtsschutz durch die stattdessen zur Anwendung kommenden Grundrechte der Union hinreichend wirksam ist […]. Maßgeblich ist insoweit eine auf das jeweilige Grundrecht des Grundgesetzes bezogene generelle Betrachtung. Nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts – zumal unter Geltung der Charta – ist entsprechend ständiger Rechtsprechung davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind“ (Rn. 47).
Bei dem Datenschutzrecht, das mittlerweile in der DSGVO geregelt ist, handelt es sich um eine vollständig vereinheitlichte Materie des Unionsrechts. Daher genießt das gesamte Unionsrecht Anwendungsvorrang vor dem gesamten nationalen Recht, mithin auch vor den Art. 2 und Art. 1 GG. Folglich kann sich B – wenn überhaupt – nur auf die entsprechenden Charta-Grundrechte berufen, die in Art. 7 und Art. 8 GRCh verbürgt sind.
(2) Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht auch dafür zuständig ist, über eine Beschwerde zu entscheiden, die sich auf eine mögliche Verletzung von Grundrechten der GRCh und nicht des GG stützt.
„Die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts für die Unionsgrundrechte folgt aus Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit den grundgesetzlichen Vorschriften über die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Grundrechtsschutzes. Das Bundesverfassungsgericht nimmt entsprechend seiner Aufgabe, gegenüber der deutschen Staatsgewalt umfassend Grundrechtsschutz zu gewähren, im Bereich der Anwendung vollständig vereinheitlichten Unionsrechts gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG durch eine Prüfung der Rechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG seine Integrationsverantwortung wahr“ (Rn. 53).
Damit kontrolliert das Bundesverfassungsgericht die Anwendung des Unionsrechts am Maßstab der Unionsgrundrechte, soweit die Grundrechte des GG durch den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang verdrängt werden. An der danach gegebenen Beschwerdebefugnis der B ändert sich insbesondere nicht dadurch etwas, dass sie die Grundrechte des Grundgesetzes und nicht die Grundrechte der Charta nennt: „Wird nur die falsche Norm benannt, aber in der Sache substantiiert vorgetragen, wird hierdurch die Verfassungsbeschwerde nicht unzulässig.“
b) Während Form und Frist (§§ 93 Abs. 1, 23 Abs. 1 BVerfGG) gewahrt sind und auch der Rechtsweg erschöpft ist, müsste B zudem den Anforderungen an die Subsidiarität genügen, indem sie weitere Möglichkeiten ergreift, um die gerügte Grundrechtsverletzung abzuwenden.
„[Dazu musste sie] vor der Inanspruchnahme des beklagten Suchmaschinenbetreibers [aber] nicht zuerst [von F] als Inhalteanbieter die Unterlassung der Verbreitung des streitgegenständlichen [Beitrags] verlangen. Die Bereitstellung des Beitrags im Internet durch den Inhalteanbieter und sein Nachweis durch den Suchmaschinenbetreiber stellen zwei verschiedene Maßnahmen dar, die als je eigene Datenverarbeitungsmaßnahmen grundrechtlich je für sich zu beurteilen sind“ (Rn. 30).
Die Verfassungsbeschwerde ist demnach zulässig.
2. Begründetheit
Begründet ist die Verfassungsbeschwerde, wenn B durch das Urteil des Bundesgerichtshofs in zumindest einem ihrer Unionsgrundrechte verletzt ist. Infrage kommt eine Verletzung der Art. 7, Art. 8 GRCh. Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht nicht die richtige Anwendung des einfachen Rechts – hier des Art. 17 DSGVO – sondern ist im Rahmen der Verfassungsbeschwerde darauf beschränkt, die Beachtung der Grundrechte zu kontrollieren.
a) Zunächst müsste der entsprechende Schutzbereich eröffnet sein.
„Art. 7 GRCh begründet das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie der Kommunikation, Art. 8 GRCh das Recht auf Schutz personenbezogener Daten. […] Die Gewährleistungen der Art. 7 und Art. 8 GRCh sind dabei eng aufeinander bezogen. Jedenfalls soweit es um die Verarbeitung personenbezogener Daten geht, bilden diese beiden Grundrechte eine einheitliche Schutzverbürgung. […] Das gilt insbesondere für den Schutz Betroffener vor Nachweisen einer Suchmaschine. […] Art. 7, Art. 8 GRCh schützen vor der Verarbeitung personenbezogener Daten und verlangen die „Achtung des Privatlebens“. Unter personenbezogenen Daten werden dabei – wie nach dem Verständnis des deutschen Verfassungsrechts zu Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG – alle Informationen verstanden, die eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person betreffen […]“ (Rn. 99 f.).
Der Schutzbereich der Art. 7, Art. 8 GRCh ist folglich eröffnet.
b) B müsste ferner in dem durch Art. 7, Art. 8 GRCh garantierten Gewährleistungsbereich beeinträchtigt sein. Problematisch ist dabei, dass B nicht unmittelbar durch den Staat, sondern vielmehr durch das Verhalten des G in ihren grundrechtlichen Positionen berührt ist. Es handelt sich mithin nicht um ein Vertikalverhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern um eine horizontale Beziehung zwischen Privaten.
„Eine Lehre der „mittelbaren Drittwirkung“, wie sie das deutsche Recht kennt […] wird der Auslegung des Unionsrechts dabei nicht zugrunde gelegt. Im Ergebnis kommt den Unionsgrundrechten für das Verhältnis zwischen Privaten jedoch eine ähnliche Wirkung zu. Die Grundrechte der Charta können einzelfallbezogen in das Privatrecht hineinwirken“ (Rn. 97).
Auf dieser Grundlage liegt eine Beeinträchtigung dadurch vor, dass der Staat seiner aus den Grundrechten erwachsenden Schutzpflicht dadurch nicht nachgekommen ist, dass der Bundesgerichtshof die Grundrechte der B für nachrangig erklärt und insoweit keinen Schutz gewährt hat.
c) Die Beeinträchtigung könnte allerdings unionsrechtlich gerechtfertigt sein. Die Grundrechte nach Art. 7, Art. 8 GRCh können nach Art. 52 Abs. 1 GRCh und unter Beachtung der Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 GRCh eingeschränkt werden (Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 8 Rn. 11). Als gesetzliche Grundlage fungiert Art. 6 DSGVO, der eine Datenverarbeitung unter den dort genannten Voraussetzungen für zulässig erklärt. Während die Vorschrift selbst als unionsrechtskonform anzusehen ist, sind im Rahmen ihrer konkreten Anwendung die Grundrechte des Beschwerdeführers gegen die Rechte und Freiheiten anderer abzuwägen, vgl. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh. Dazu kommen nicht nur die Grundrechte des F und des G, sondern auch die Informationsinteressen der Nutzer in Betracht.
(1) „Auf Seiten des beklagten Suchmaschinenbetreibers ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh einzustellen. Demgegenüber kann er sich für die Verbreitung von Suchnachweisen nicht auf Art. 11 GRCh berufen [da es sich dabei nicht um eine Meinungsäußerung handelt]. Einzustellen sind jedoch die von einem solchen Rechtsstreit möglicherweise unmittelbar betroffenen Grundrechte Dritter und damit vorliegend die Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter [Art. 11 GRCh]. Zu berücksichtigen sind darüber hinaus die Informationsinteressen der Nutzer“ (Rn. 102).
(2) Die kollidierenden Grundrechte und Interessen sind im Rahmen einer Abwägung in Einklang zu bringen. Dabei hält es das Bundesverfassungsgericht für die Wahrung der Rechte aus Art. 16 und Art. 11 GRCh für maßgeblich, dass Inhalte mithilfe von Suchmaschinen, insbesondere auch mittels namensbezogener Abfragen aufgefunden werden können. B sei dadurch zwar nicht nur in der Sozial-, sondern auch in ihrer Privatsphäre betroffen, jedoch stehe dem das allgemeine Interesse an der praktischen Wirksamkeit des Kündigungsschutzes gegenüber.
„Der Beitrag bezieht sich auf ein in die Gesellschaft hineinwirkendes Verhalten der […] und des von ihr geführten Unternehmens, nicht aber allein auf ihr Privatleben und ist in Hinblick hierauf durch ein hier noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt. Diesbezüglich muss die Beschwerdeführerin belastende Wirkungen – auch in ihrem privaten Umfeld – weitergehend hinnehmen als gegenüber Beiträgen über ihr privates Verhalten“ (Rn. 128).
Entgegen der Behauptung der B handele es sich bei dem Beitrag auch nicht um eine Schmähung, was nur der Fall wäre, „wenn es ohne Sachbezug allein um die Verunglimpfung der Person geht […]. Davon kann hier keine Rede sein. Vielmehr steht der Beitrag in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung der Beschwerdeführerin als Geschäftsführerin einer Arbeitgeberin mit der Belegschaft“ (Rn. 130).
Entscheidend ist schließlich auch der Zeitfaktor, der dadurch zu Tragen kommt, dass die Weiterverbreitung des Beitrags auch unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit nicht mehr gerechtfertigt sein kann.
„Der Zeitablauf kann sowohl das Gewicht des öffentlichen Interesses als auch das der Grundrechtsbeeinträchtigung modifizieren. […] Letztlich sieht [das Gericht] einen solchen Anspruch auf Auslistung im vorliegenden Fall aber als jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben an. Maßgeblich stellt es insoweit darauf ab, dass die Beschwerdeführerin mit dem Interview selbst in die Öffentlichkeit getreten ist, an dem Thema ein fortdauerndes öffentliches Interesse besteht, sie nach wie vor als Geschäftsführerin unternehmerisch tätig ist und der Zeitraum von sieben Jahren in Bezug auf die fortdauernde Aktualität des Themas nicht übermäßig lang ist. Dies trägt den Garantien der Grundrechtecharta hinreichend Rechnung; es lässt eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Grundrechte nicht erkennen und ist als fachrechtlich vertretbar vom Bundesverfassungsgericht nicht zu beanstanden“ (Rn. 131).
Damit überwiegen die Grundrechte und Interessen anderer die grundrechtlich geschützten Belange der B, weswegen ihre Verfassungsbeschwerde mangels Begründetheit keinen Erfolg hat.
Abwandlung:
Im Gegensatz zu vollständig vereinheitlichendem Unionsrecht, wie etwa einer Verordnung oder einer vollharmonisierenden Richtlinie, können in nicht vollständig vereinheitlichten Bereichen die Grundrechte des Grundgesetzes das grundrechtliche Schutzniveau der Union regelmäßig mitgewährleisten (Rn. 59). Daher prüft das Bundesverfassungsgericht „innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Das ergibt sich schon aus Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet [aber] nicht, dass insoweit die Grundrechtecharta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind“ (Rn. 42).
Daher sind die Grundrechte des GG – und nicht die der GRCh – heranzuziehen, wenn es sich um eine Materie handelt, hinsichtlich derer seitens der Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume bestehen, wie etwa im Falle einer mindestharmonisierenden Richtlinie. Diese Abgrenzung ist im Rahmen der Beschwerdebefugnis zu treffen, woraufhin im Rahmen der Begründetheit die gewohnte Grundrechtsprüfung am Maßstab des GG zu erfolgen hat. Der unionsrechtliche Einschlag ergibt sich daraus, dass die Grundrechte des GG im Lichte der GRCh auszulegen sind. Dies ähnelt dem Konstrukt, mit dem Bestimmungen der EMRK nach Art. 1 Abs. 2 GG Eingang in die Interpretation der deutschen Grundrechte gefunden haben.
IV. Ausblick
Obwohl es sich in einer Konstellation, wie sie Vergessen II zugrunde lag, nicht mehr um eine Prüfung anhand der Grundrechte des GG, sondern um die der GRCh handelt, dient die bereits bekannte Methode der deutschen Grundrechtsdogmatik doch als sinnvolle Blaupause, um sie über den unionalen Grundrechtskatalog zu legen. Der Umgang mit der GRCh muss daher nicht von Neu auf erlernt, sondern die bereits erprobte Grundrechtsprüfung in die nächsthöhere unionale Tonart transponiert werden. Dabei hat sie sich selbstverständlich an den geeigneten Stellschrauben auf die Klänge des Unionsrechts einzustellen: So bedarf es bereits im Rahmen der Beschwerdebefugnis einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Frage, welcher Grundrechtskatalog überhaupt einschlägig sein soll, indem nach Voll- und Teilharmonisierung differenziert wird. Auch sind die Schutzbereiche der einzelnen Garantien der GRCh stets autonom auszulegen, wobei doch der anhand des GG angereicherte Assoziationshaushalt dem Examenskandidaten dabei helfen kann, den Gewährleistungsinhalt der GRCh zu entziffern. Schließlich ist im Rahmen der Rechtfertigung stets Art. 52 GRCh im Blick zu behalten, der mit dem Verweis auf „Rechte und Freiheiten anderer“ funktional auch die Konstellation umfasst, das nach der deutschen Grundrechtsdogmatik als mittelbare Drittwirkung bekannt ist. Zudem können sich erhöhte Rechtsfertigungsanforderungen aus grundrechtsimmanenten Schranken wie etwa in Art. 8 Abs. 2 GRCh ergeben. Dies erinnert an die grundrechtsspezifisch erhöhten Voraussetzungen, wie sie etwa in Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2 oder auch Art. 9 Abs. 2 GG zu finden sind.
Was das Verhältnis von Vergessen I und II zu der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit unionalem Bezug anbelangt, handelt es sich um ein jeweils umgekehrtes Verhältnis von Prüfungsmaßstab und Prüfungsgegenstand. So führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass die bisherige „Rechtsprechung auf Fallkonstellationen bezogen [war], in denen – mittelbar oder unmittelbar – die Gültigkeit von Unionsrecht selbst in Frage stand. Es handelte sich um Fälle, in denen darüber zu entscheiden war, ob das Bundesverfassungsgericht die Wirksamkeit entweder von bestimmten Entscheidungen (vgl. etwa BVerfGE 129, 186, 198 f. – Investitionszulagengesetz) oder Rechtsvorschriften (vgl. etwa BVerfGE 73, 339, 374 ff. – Solange II; 102, 147, 160 ff. – Bananenmarktordnung) der Union selbst oder aber von deutschen Normen, die zwingendes Unionsrecht innerstaatlich umsetzen (vgl. etwa BVefGE 118, 79, 95 f. m.w.N. – Emissionshandel), prüfen kann. Da die Verwerfung oder Ungültigerklärung von Unionsrecht allein dem Europäischen Gerichtshof vorbehalten ist, hat das Bundesverfassungsgericht dort auf eine vorherige eigene Grundrechtsprüfung ganz verzichtet. […] [In Vergessen II] stehen jedoch nicht Gültigkeit oder Wirksamkeit von Unionsrecht in Frage, sondern die richtige Anwendung vollvereinheitlichten Unionsrechts im Lichte der für den Einzelfall konkretisierungsbedürftigen Grundrechte der Charta. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Kontrolle einer Entscheidung eines deutschen Fachgerichts daraufhin, ob es bei der ihm obliegenden Anwendung des Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Charta Genüge getan hat“ (Rn. 51 f.).
Kurz: Bisheriger Prüfungsgegenstand war das Unionsrecht selbst und Prüfungsmaßstab das deutsche Grundgesetz, und zwar inwieweit es nach Art. 23 Abs. 1, Art. 79 Abs. 3 zur Überprüfung unionaler Sachverhalte herangezogen werden darf. In Vergessen I und II ist Prüfungsgegenstand ein nationaler Rechtsakt und Prüfungsmaßstab das Unionsrecht – entweder direkt, wenn der Unionsrechtsakt vollharmonisierend wirkt oder als Auslegungsmaxime für den nationalen Grundrechtskatalog bei Umsetzungsspielräumen der Mitgliedstaaten. Damit erweitert sich das Instrumentarium, das zu einer unionsrechtlichen Überprüfung nationaler Rechtsakte zur Verfügung steht. Waren es zuvor die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV und dessen grundrechtliche Absicherung durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, die allerdings nur im Falle evidenter Verstöße greift, sind es nunmehr die Grundrechte der GRCh selbst, die Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht sein können. Dies erweitert zwar den Prüfungsstoff, der in einer Examensklausur abgefragt werden kann, erhöht dafür aber die durch das nationale Recht inspirierte Transferleistung des Examenskandidaten und schließlich die Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsbürger.