OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule
Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG ist bei Klausurstellern stets beliebtes Prüfungsthema, nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Fallgestaltungen und der zumeist erforderlichen genauen Abwägung mit gegenläufigen Belangen. Neue Rechtsprechung zum Thema sollte daher besonders Examenskandidaten bekannt sein.
Doch auch für die jüngeren Semester lohnt sich die Lektüre des hier besprochenen Urteils des OVG Hamburg (Az. Beschl. v. 20.12.2019, Az. 1 Bs 6/20): Mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und Fragen der tauglichen Ermächtigungsgrundlage werden insbesondere Fragen des allgemeinen Verwaltungsrechts relevant.
Sachverhalt: (verkürzt und abgewandelt)
Eine 16-jährige Schülerin nahm am Schulunterricht ihrer Berufsschule in Hamburg nur vollverschleiert teil, d.h. sie trug während des Unterrichts einen Gesichtsschleier (Niquab), der nur die Augen ausspart. Auch nach mehrmaliger Aufforderung durch Lehrkräfte und Schulleitung, während der Unterrichtszeiten keinen Gesichtsschleier zu tragen, erschien die Schülerin mit unveränderter Bekleidung zum Unterricht.
Daraufhin forderte die Schulaufsichtsbehörde in einem Bescheid die Mutter der Schülerin dazu auf, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter künftig ohne Gesichtsschleier zur Schule erscheint. Ihre Tochter sei schulpflichtig und es sei Aufgabe der Mutter, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter regelmäßig am Unterricht teilnehme. Die Teilnahme erfordere aber, dass eine volle Kommunikation und aktive Mitwirkung am Unterrichtsgeschehen möglich sei, was der Gesichtsschleier aber verhindere. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Dies sei aufgrund des erheblichen öffentlichen Interesses an der Erfüllung der Schulpflicht erforderlich.
Gegen diesen Bescheid legte die Mutter fristgerecht den (unterstellt) erforderlichen Widerspruch ein und stellte einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Sie trägt vor, das Tragen des Schleiers sei Ausdruck der religiösen Überzeugung ihrer Tochter und werde von ihr als verpflichtendes religiöses Gebot angesehen. Auch fehle eine gesetzliche Grundlage für das Verbot der Vollverschleierung im Rahmen des Schulunterrichts.
Wie wird das Gericht über den zulässigen Antrag entscheiden?
Entscheidung
Es handelt sich vorliegend um einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO. Dies folgt daraus, dass die Antragstellerin in der Hauptsache im Wege einer Anfechtungsklage gegen den Bescheid vorgehen müsste und der Widerspruch aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung hat.
Anm.: Ein Antrag nach § 123 VwGO ist demgegenüber subsidiär, § 123 Abs. 5 VwGO. In der Klausur sind die verschiedenen Möglichkeiten vorläufigen Rechtsschutzes kurz voneinander abzugrenzen, wobei in Fällen wie diesem die Zuordnung zu § 80 V VwGO recht eindeutig ist, sodass die Ausführungen nicht zu lang sein sollten.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend begründet gemäß den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO.
Beachte: Für die formelle Rechtmäßigkeit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung kommt es nicht darauf an, dass die Begründung inhaltlich tragfähig ist. Entscheidend ist allein, dass die Beweggründe der Behörde in einer auf den Einzelfall bezogenen Art und Weise, d.h. nicht nur durch Wiederholung des Gesetzestextes oder Verwendung bloßer Floskeln, dargelegt sind.
Daher hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur Erfolg, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin dem Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt. Dies richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache – d.h. kurzgefasst, der Antrag hat Erfolg, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.
Anm.: In der Klausur sollte hier auf die richtige Terminologie geachtet werden: Geprüft wird nicht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Vielmehr nimmt das Gericht eine eigene Interessenabwägung vor und ist dabei nicht an die Angaben der Behörde gebunden.
Das OVG Hamburg verneint hier bereits das Bestehen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage.Nach § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG sei es zwar möglich, an die Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht durch schulpflichtige Schüler eine sog. Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Nicht eindeutig ist hierbei aber, was unter „Teilnahme“ am Unterricht zu verstehen ist, insbesondere ob dies nur die körperliche Anwesenheit oder auch die aktive Mitwirkung am Unterricht erfordert (siehe hierzu Rz. 14 ff. der Entscheidung).
Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass schon eine Nichtteilnahme vorliegt, wenn der Schüler zwar körperlich anwesend ist, aber nicht aktiv am Unterrichtsgeschehen mitwirkt, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt, wenn jemand einen Gesichtsschleier trägt: Die Antragsgegnerin trägt zwar vor, durch die Verschleierung sei eine Kommunikation nicht möglich, sodass schon von einer Nichtteilnahme am Unterricht auszugehen sei. Dem hält das OVG Hamburg entgegen:
„Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich (dieses – wohl aufgrund der Annahmen aus einem konkreten Bezugsfall – eher verneinend: Thorsten Anger, Islam in der Schule, Diss. jur., 2003, S. 199 ff.). Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“ (Rz. 18)
Somit ist die Voraussetzung der mehrfachen Nichtteilnahme am Unterricht nicht erfüllt und § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG scheidet als Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid aus.
Anm: Das VG Hamburg war zusätzlich noch davon ausgegangen, dass hier die unzuständige Behörde gehandelt hatte. Ob dem tatsächlich so ist, wird in der Entscheidung des OVG Hamburg bezweifelt (Rz. 9 ff.), konnte aber offen bleiben, da inzwischen jedenfalls die zuständige Widerspruchsbehörde einen Widerspruchsbescheid erlassen hatte.
Die Antragsgegnerin stützte den Bescheid hilfsweise auf die polizeiliche Generalklausel (§ 3 Abs. 1 SOG) und sah in dem „Nichtgelingen einer schulischen Qualifikation“ und der Wahrscheinlichkeit der späteren Inanspruchnahme von Sozialleistungen eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Indes ist schon zu bezweifeln, ob die Voraussetzungen der Norm bei Nichterreichen eines Schulabschlusses überhaupt erfüllt wären. Jedenfalls würde dies jedoch gerade auf einem Ausschluss vom Unterricht aufgrund der Vollverschleierung beruhen – ob ein solcher möglich ist, ist aber gerade fraglich. Im Übrigen scheidet ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel auch aufgrund der Spezialität des HmbSG aus.
Weitere Reglungen kommen hier nicht in Betracht, sodass eine Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid nicht besteht.
In der Ausgangsentscheidung ist das VG Hamburg weiterhin darauf eingegangen, ob nach der jetzigen Rechtslage unmittelbar von der Tochter eine Teilnahme am Schulunterricht ohne Gesichtsschleier verlangt werden könnte. Dies wurde mit überzeugenden Argumenten verneint und auch vom OVG nicht beanstandet:
Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. (Anm: in der Klausur sollte hier kurz auf die Geltung von Grundrechten in Sonderstatusverhältnissen eingegangen werden)
„„Wesentliche Entscheidungen“ zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie den grundrechtsrelevanten Bereich betreffen und wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1981, a.a.O., juris Rn. 44). Insbesondere bedarf die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 53).
Das Tragen des Gesichtsschleiers während des Unterrichts weist Grundrechtsrelevanz im Hinblick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG der Schüler auf. In deren Schutzbereich wird eingegriffen, wenn der Betroffene gegen ein religiöses Verhaltensgebot, dass aus seiner Sicht zwingenden Charakter hat, verstoßen würde. Hierfür kommt es nicht darauf an, dass eine Vielzahl von Anhängern desselben Glaubens das Gebot für zwingend erachtet:
„Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird (…)dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 48).
Vorliegend war davon auszugehen, dass es sich bei den Bekleidungsvorschriften aus Sicht der 16-jährigen Schülerin um ein imperatives Gebot handelte. Verlangt man von ihr, ohne den Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, um ihre Schulpflicht zu erfüllen, so handelt es sich um eine grundrechtsrelevante und damit wesentliche Entscheidung. Zu fordern ist daher eine spezielle Rechtsgrundlage, die im Hamburger Schulgesetz gegenwärtig nicht existiert. Nach jetziger Rechtslage wäre die Anordnung, ohne Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, daher rechtswidrig.
Ob ein entsprechendes Gesetz verfassungskonform wäre, war hier nicht zu entscheiden.
Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin als Adressatin des Verwaltungsakts jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Anfechtungsklage wäre somit erfolgreich.Eine weitere Interessenabwägung ist nicht erforderlich – am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheids besteht kein schützenswertes Interesse. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt, das Gericht wird gem. § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherstellen.
Was bleibt?
Das Urteil bietet einen idealen Ausgangspunkt für eine Klausur im Verwaltungsrecht, um die Grundlagen des Verfahrens im vorläufigen Rechtsschutz zu prüfen. Besondere Schwierigkeiten insbesondere im Hinblick auf den Aufbau als auch auf die Ermächtigungsgrundlage ergeben sich daraus, dass die Mutter der Schülerin, nicht aber die Schülerin selbst Adressatin des Bescheids ist. Zuletzt werden auch grundrechtliche Fragestellungen relevant, sodass es sich in jedem Fall lohnt, sich mit der Entscheidung auseinanderzusetzen.
Es liegt eine Verpflichtung der Eltern zur Sicherstellung der Schulpflicht vor. Dies mit der Auflage, einem Gesichtsschleier entgegezuwirken, entsprechend einer Schulordnungsgewalt.
Schulpflichtverletzung sollte „ordnungswidrige Gefahr“ sein können.
Beteiligte Eltern sollten grundsätzlich entsprechend als polizeirechtliche Störer polizeirechtlich in Anspruch zu nehmen sein können.
Eine gesetzliche Grundlage sollte damit grundsätzlich möglich scheinen können.
Fraglich kann wirken, inwieweit eine entsprechende Auflage gegebenenfalls insolierzt rechtlich angreifbar sein kann und rechtmäßig sein kann.
M.E. sollte eine isolierte rechtliche Angreifbarkeit denkbar scheinen können.
Eine Auflage sollte grundsätzlich eventuell rechtlich noch zulässig möglich scheinen können, soweit sie verhältnismäßig einschränkend nur als Mitwirkungspflicht aufzufassen sein kann.
Weitergehende Frage kann die mögliche Zulässigkeit eines dauerhaften Schul-, oder Unterrichtsausschlusses sein, soweit sich dauerhaft geweigert ist, einen Gesichtsschleier abzulegen.