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Schlagwortarchiv für: Vorläufiger Rechtsschutz

Dr. Philip Musiol

VG Berlin zum Carsharing: Gemeingebrauch oder Sondernutzung?

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verwaltungsrecht

Das VG Berlin hatte am 01.08.2022 über einen Eilantrag von zwei Carsharing-Unternehmen zu entscheiden (Az. 1 L 193/22). Inhaltlich befasst sich die Entscheidung mit der Frage, ob es sich beim Abstellen von für stationsungebundenes Carsharing genutzten Fahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum um erlaubnisfreien straßenrechtlichen Gemeingebrauch oder um genehmigungspflichtige Sondernutzung handelt.

I. Sachverhalt

Die antragstellenden Carsharing-Unternehmen bieten in Berlin stationsungebundenes Carsharing an. Sie stellen also ihren Kunden die Pkw ohne festen Abhol- und Rückgabeort zur Verfügung. Die Kunden mieten die Pkw dabei über eine App, über die sich die Pkw auch lokalisieren, öffnen und nach Ende der Benutzung wieder schließen lassen. Nach Ende der Nutzung werden die Pkw im öffentlichen Verkehrsraum (auf Parkplätzen) abgestellt.

Nach dem zum 1. September 2022 geänderten Berliner Straßengesetz sollen auf das gewerbliche Anbieten von Carsharing-Fahrzeugen, die selbstständig reserviert und genutzt werden können, die Vorschriften über die Sondernutzung öffentlicher Straßen anwendbar sein. Danach wären die antragstellenden Unternehmen unter anderem verpflichtet, eine Sondernutzungserlaubnis zu beantragen und Gebühren zu entrichten. Mit ihrem Antrag begehrten die Antragstellerinnen im vorläufigen Rechtsschutz die Feststellung, dass das von ihnen betriebene Carsharing keine erlaubnispflichtige Sondernutzung öffentlicher Straßen darstellt.

II. Die Entscheidung

Das VG Berlin gab den Antragstellerinnen Recht. Die Vorschriften über die Sondernutzung öffentlicher Straßen seien nicht anwendbar, weil es sich bei stationsungebundenem Carsharing um erlaubnisfreien Gemeingebrauch handele. Dies gelte auch für das Abstellen der Pkw im öffentlichen Raum. Denn zu der bestimmungsgemäßen Nutzung der öffentlichen Straßen gehöre neben dem fließenden Verkehr auch der ruhende Verkehr (also das Parken), solange das betreffende Fahrzeug zum Verkehr zugelassen und betriebsbereit sei. Nach Ansicht des VG Berlin überwiegt der gewerbliche Zweck, den die Antragstellerinnen mit dem Abstellen der Pkw verfolgen, auch nicht den Zweck der Benutzung der Straßen zum Verkehr.

III. Einordnung der Entscheidung

Es handelt sich zwar „nur“ um eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz, gegen die zudem Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht eingelegt werden kann. Aber dennoch lohnt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Entscheidung: Denn die Frage, ob die (teilweise) gewerbliche Nutzung von öffentlichen Straßen Gemeingebrauch oder Sondernutzung ist, lässt sich auf vielerlei Fallkonstellationen (u.a. E-Scooter, Mietfahrräder) übertragen. Außerdem lassen sich sämtliche Fragestellungen hierzu ohne vertieftes Spezialwissen argumentativ beantworten, was die Thematik besonders examensrelevant macht.

Die Frage, ob es sich bei der Nutzung öffentlicher Straßen und Wege um Sondernutzung oder Gemeingebrauch handelt, richtet sich nach dem Landesrecht (s. etwa §§ 14, 18 StrWG NRW; §§ 16, 19 HmgWG). Nach den landesrechtlichen Vorschriften, die sich im Wesentlichen entsprechen, fällt unter den erlaubnisfreien Gemeingebrauch jeder Gebrauch der öffentlichen Straßen im Rahmen der Widmung und der verkehrsrechtlichen Vorschriften. Kein Gemeingebrauch liegt demgegenüber vor, wenn die Straße nicht vorwiegend zum Verkehr benutzt wird, dem sie zu dienen bestimmt ist. Die Bestimmung des Zwecks, zu dem die Straße benutzt wird, erfolgt dabei nach dem äußeren Erscheinungsbild der Straßennutzung. Sofern die Verkehrszwecke mit anderen Zwecken zusammentreffen, kommt es darauf an, was der vorrangige Zweck der Straßennutzung ist (BVerwG, Beschl. v. 28.08.2012 − 3 B 8/12, NVwZ 2012, 1623 Rn. 9 ff.). So viel zu der Ausgangslage.

In einem zweiten Schritt ist Arbeit am Fall gefragt: Es muss konkret herausgearbeitet werden, welchen Zweck der Anbieter (Carsharing/E-Scooter/Fahrräder) durch das Abstellen seiner Fortbewegungsmittel im öffentlichen Raum vorrangig verfolgt. Klar ist dabei, dass der Anbieter stets zumindest auch gewerbliche Zwecke verfolgt, da er die Nutzung der Fortbewegungsmittel nur gegen Abschluss eines Mietvertrags anbietet. Anerkannt ist, dass mit dem Anbieten von Waren oder Dienstleistungen (Aufstellen von Kaugummiautomaten oder Altkleidercontainern) verkehrsfremde Zwecke verfolgt werden. Gleichzeig liegt es in der Natur der Sache, dass die Pkw oder E-Scooter von den Kunden der Unternehmen zu Fortbewegungszwecken und damit zur Ortsveränderung genutzt werden. Für die Annahme, dass die Pkw zur Benutzung der Straßen zum Verkehr im öffentlichen Raum abgestellt werden, spricht weiterhin der Umstand, dass sie nach jedem Abstellen wieder zu Zwecken der Ortsveränderung in Betrieb genommen werden sollen. Wie gesehen fällt sowohl der fließende als auch der ruhende Verkehr unter den Begriff des Gemeingebrauchs. Entscheidend kommt es also auf eine Abwägung zwischen den verfolgten Zwecken an.

Hier gibt es wohl keine eindeutig richtige oder falsche Lösung: So hat OVG Münster entschieden, dass das Abstellen von Mietfahrrädern im öffentlichen Straßenraum eine erlaubnispflichtige Sondernutzung sei (Beschluss vom 20.11.2020 – 11 B 1459/20, NJW 2020, 3797), zehn Jahre zuvor ordnete das OVG Hamburg das Abstellen von Mietfahrrädern auf öffentlichen Wegeflächen dem Gemeingebrauch zu (Beschluss vom 19. 6. 2009 – 2 Bs 82/09, NVwZ-RR 2010, 34). Das OVG Münster begründete seine Entscheidung damit, dass die im öffentlichen Straßenraum abgestellten Fahrräder nicht nur Mietgegenstand seien, sondern vielmehr eine Aufforderung zum Abschluss eines Vertrages enthielten (wobei es offenlässt, ob es sich um eine invitatio ad offerendum oder eine offerta ad incertas personas handelt). Dieses Argument gilt für Mietfahrräder und E-Scooter gleichermaßen: Es liegt nahe, dass potenzielle Kunden den Entschluss zur Nutzung eines Mietfahrrads oder eines E-Scooters erst spontan fassen, nachdem sie im öffentlichen Verkehrsraum auf das abgestellte und betriebsbereite Fortbewegungsmittel aufmerksam werden. Damit kommt im öffentlichen Raum abgestellten Fahrrädern und Rollern eine nicht unerhebliche Werbewirkung zu. Hiervon ist die Konstellation des Carsharings zu unterscheiden: Kunden eines Carsharing-Unternehmens werden einen Pkw typischerweise nicht aufgrund eines spontanen Entschlusses in Anspruch nehmen. Vielmehr liegt nahe, dass sie einen Pkw nur dann nutzen – und ggf. zuvor mittels der App lokalisieren – wenn sie schon zuvor den Entschluss zur Nutzung gefasst haben. Vor diesem Hintergrund ließe sich vertreten, dass insoweit der gewerbliche Zweck – verglichen mit den zuvor genannten anderen Beispielen – gegenüber der Nutzung der Straße zu Verkehrszwecken weiter in den Hintergrund rückt.

Wichtig ist, dass die beiden möglichen Zwecksetzungen erkannt, benannt und sauber gegenübergestellt werden. Aufgrund der „Flut“ von E-Scootern in den Innenstädten und der wachsenden Beliebtheit von Carsharing-Angeboten handelt es sich sicherlich um eine Thematik, die in Zukunft noch häufiger die Gerichte und Prüfungsämter beschäftigen wird.

08.08.2022/1 Kommentar/von Dr. Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Philip Musiol2022-08-08 07:02:162022-10-24 14:49:28VG Berlin zum Carsharing: Gemeingebrauch oder Sondernutzung?
Dr. Lena Bleckmann

OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG ist bei Klausurstellern stets beliebtes Prüfungsthema, nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Fallgestaltungen und der zumeist erforderlichen genauen Abwägung mit gegenläufigen Belangen. Neue Rechtsprechung zum Thema sollte daher besonders Examenskandidaten bekannt sein.
Doch auch für die jüngeren Semester lohnt sich die Lektüre des hier besprochenen Urteils des OVG Hamburg (Az. Beschl. v. 20.12.2019, Az. 1 Bs 6/20): Mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und Fragen der tauglichen Ermächtigungsgrundlage werden insbesondere Fragen des allgemeinen Verwaltungsrechts relevant.
Sachverhalt: (verkürzt und abgewandelt)
Eine 16-jährige Schülerin nahm am Schulunterricht ihrer Berufsschule in Hamburg nur vollverschleiert teil, d.h. sie trug während des Unterrichts einen Gesichtsschleier (Niquab), der nur die Augen ausspart. Auch nach mehrmaliger Aufforderung durch Lehrkräfte und Schulleitung, während der Unterrichtszeiten keinen Gesichtsschleier zu tragen, erschien die Schülerin mit unveränderter Bekleidung zum Unterricht.
Daraufhin forderte die Schulaufsichtsbehörde in einem Bescheid die Mutter der Schülerin dazu auf, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter künftig ohne Gesichtsschleier zur Schule erscheint. Ihre Tochter sei schulpflichtig und es sei Aufgabe der Mutter, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter regelmäßig am Unterricht teilnehme. Die Teilnahme erfordere aber, dass eine volle Kommunikation und aktive Mitwirkung am Unterrichtsgeschehen möglich sei, was der Gesichtsschleier aber verhindere. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Dies sei aufgrund des erheblichen öffentlichen Interesses an der Erfüllung der Schulpflicht erforderlich.
Gegen diesen Bescheid legte die Mutter fristgerecht den (unterstellt) erforderlichen Widerspruch ein und stellte einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Sie trägt vor, das Tragen des Schleiers sei Ausdruck der religiösen Überzeugung ihrer Tochter und werde von ihr als verpflichtendes religiöses Gebot angesehen. Auch fehle eine gesetzliche Grundlage für das Verbot der Vollverschleierung im Rahmen des Schulunterrichts.
Wie wird das Gericht über den zulässigen Antrag entscheiden?
Entscheidung
Es handelt sich vorliegend um einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO. Dies folgt daraus, dass die Antragstellerin in der Hauptsache im Wege einer Anfechtungsklage gegen den Bescheid vorgehen müsste und der Widerspruch aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung hat.

Anm.: Ein Antrag nach § 123 VwGO ist demgegenüber subsidiär, § 123 Abs. 5 VwGO. In der Klausur sind die verschiedenen Möglichkeiten vorläufigen Rechtsschutzes kurz voneinander abzugrenzen, wobei in Fällen wie diesem die Zuordnung zu § 80 V VwGO recht eindeutig ist, sodass die Ausführungen nicht zu lang sein sollten.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend begründet gemäß den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO.

Beachte: Für die formelle Rechtmäßigkeit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung kommt es nicht darauf an, dass die Begründung inhaltlich tragfähig ist. Entscheidend ist allein, dass die Beweggründe der Behörde in einer auf den Einzelfall bezogenen Art und Weise, d.h. nicht nur durch Wiederholung des Gesetzestextes oder Verwendung bloßer Floskeln, dargelegt sind.

Daher hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur Erfolg, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin dem Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt. Dies richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache – d.h. kurzgefasst, der Antrag hat Erfolg, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.

Anm.: In der Klausur sollte hier auf die richtige Terminologie geachtet werden: Geprüft wird nicht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Vielmehr nimmt das Gericht eine eigene Interessenabwägung vor und ist dabei nicht an die Angaben der Behörde gebunden.

Das OVG Hamburg verneint hier bereits das Bestehen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage.Nach § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG sei es zwar möglich, an die Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht durch schulpflichtige Schüler eine sog. Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Nicht eindeutig ist hierbei aber, was unter „Teilnahme“ am Unterricht zu verstehen ist, insbesondere ob dies nur die körperliche Anwesenheit oder auch die aktive Mitwirkung am Unterricht erfordert (siehe hierzu Rz. 14 ff. der Entscheidung).
Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass schon eine Nichtteilnahme vorliegt, wenn der Schüler zwar körperlich anwesend ist, aber nicht aktiv am Unterrichtsgeschehen mitwirkt, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt, wenn jemand einen Gesichtsschleier trägt: Die Antragsgegnerin trägt zwar vor, durch die Verschleierung sei eine Kommunikation nicht möglich, sodass schon von einer Nichtteilnahme am Unterricht auszugehen sei. Dem hält das OVG Hamburg entgegen:
„Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich (dieses – wohl aufgrund der Annahmen aus einem konkreten Bezugsfall – eher verneinend: Thorsten Anger, Islam in der Schule, Diss. jur., 2003, S. 199 ff.). Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“ (Rz. 18)
Somit ist die Voraussetzung der mehrfachen Nichtteilnahme am Unterricht nicht erfüllt und § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG scheidet als Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid aus.

Anm: Das VG Hamburg war zusätzlich noch davon ausgegangen, dass hier die unzuständige Behörde gehandelt hatte. Ob dem tatsächlich so ist, wird in der Entscheidung des OVG Hamburg bezweifelt (Rz. 9 ff.), konnte aber offen bleiben, da inzwischen jedenfalls die zuständige Widerspruchsbehörde einen Widerspruchsbescheid erlassen hatte.

Die Antragsgegnerin stützte den Bescheid hilfsweise auf die polizeiliche Generalklausel (§ 3 Abs. 1 SOG) und sah in dem „Nichtgelingen einer schulischen Qualifikation“ und der Wahrscheinlichkeit der späteren Inanspruchnahme von Sozialleistungen eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Indes ist schon zu bezweifeln, ob die Voraussetzungen der Norm bei Nichterreichen eines Schulabschlusses überhaupt erfüllt wären. Jedenfalls würde dies jedoch gerade auf einem Ausschluss vom Unterricht aufgrund der Vollverschleierung beruhen – ob ein solcher möglich ist, ist aber gerade fraglich. Im Übrigen scheidet ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel auch aufgrund der Spezialität des HmbSG aus.
Weitere Reglungen kommen hier nicht in Betracht, sodass eine Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid nicht besteht.
In der Ausgangsentscheidung ist das VG Hamburg weiterhin darauf eingegangen, ob nach der jetzigen Rechtslage unmittelbar von der Tochter eine Teilnahme am Schulunterricht ohne Gesichtsschleier verlangt werden könnte. Dies wurde mit überzeugenden Argumenten verneint und auch vom OVG nicht beanstandet:
Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. (Anm: in der Klausur sollte hier kurz auf die Geltung von Grundrechten in Sonderstatusverhältnissen eingegangen werden)
„„Wesentliche Entscheidungen“ zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie den grundrechtsrelevanten Bereich betreffen und wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1981, a.a.O., juris Rn. 44). Insbesondere bedarf die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 53).
Das Tragen des Gesichtsschleiers während des Unterrichts weist Grundrechtsrelevanz im Hinblick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG der Schüler auf. In deren Schutzbereich wird eingegriffen, wenn der Betroffene gegen ein religiöses Verhaltensgebot, dass aus seiner Sicht zwingenden Charakter hat, verstoßen würde. Hierfür kommt es nicht darauf an, dass eine Vielzahl von Anhängern desselben Glaubens das Gebot für zwingend erachtet:
„Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird (…)dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 48).
Vorliegend war davon auszugehen, dass es sich bei den Bekleidungsvorschriften aus Sicht der 16-jährigen Schülerin um ein imperatives Gebot handelte. Verlangt man von ihr, ohne den Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, um ihre Schulpflicht zu erfüllen, so handelt es sich um eine grundrechtsrelevante und damit wesentliche Entscheidung. Zu fordern ist daher eine spezielle Rechtsgrundlage, die im Hamburger Schulgesetz gegenwärtig nicht existiert. Nach jetziger Rechtslage wäre die Anordnung, ohne Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, daher rechtswidrig.
Ob ein entsprechendes Gesetz verfassungskonform wäre, war hier nicht zu entscheiden.
Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin als Adressatin des Verwaltungsakts jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Anfechtungsklage wäre somit erfolgreich.Eine weitere Interessenabwägung ist nicht erforderlich – am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheids besteht kein schützenswertes Interesse. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt, das Gericht wird gem. § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherstellen.
Was bleibt?
Das Urteil bietet einen idealen Ausgangspunkt für eine Klausur im Verwaltungsrecht, um die Grundlagen des Verfahrens im vorläufigen Rechtsschutz zu prüfen. Besondere Schwierigkeiten insbesondere im Hinblick auf den Aufbau als auch auf die Ermächtigungsgrundlage ergeben sich daraus, dass die Mutter der Schülerin, nicht aber die Schülerin selbst Adressatin des Bescheids ist. Zuletzt werden auch grundrechtliche Fragestellungen relevant, sodass es sich in jedem Fall lohnt, sich mit der Entscheidung auseinanderzusetzen.

25.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-02-25 08:53:512020-02-25 08:53:51OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule
Dr. Maike Flink

BVerfG: Keine „rechte“ Versammlung vor links-geprägtem Kulturzentrum

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat am 11.1.2020 (Az. 1 BvQ 2/20) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einer dem rechten politischen Spektrum zuzuordnenden Gruppierung abgelehnt. Diese hatte unter Berufung auf ihre Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 Abs. 1 GG begehrt, eine Demonstration – entgegen der Entscheidung der zuständigen Behörde – an dem von ihr gewünschten Versammlungsort durchführen zu dürfen. Die Entscheidung des Gerichts ist dabei gleich unter mehreren Gesichtspunkten von hoher Examensrelevanz: Wegen ihrer enormen Aktualität bietet sie sich hervorragend als Anknüpfungspunkt verfassungsrechtlicher Fragen in einer mündlichen Prüfung an, zudem gibt sie Gelegenheit sich noch einmal umfassend mit den Voraussetzungen der – in der Examensvorbereitung häufig zu Unrecht vernachlässigten – einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG und der in Prüfungen beliebten Versammlungsfreiheit auseinanderzusetzen.
 
I. Sachverhalt
Der – dem rechten politischen Spektrum zuzuordnende – Antragsteller wollte im Zeitraum vom 11.1.2020 (15 Uhr) bis zum 12.1.2020 (7 Uhr) eine Versammlung in einer Entfernung von 20 Metern zur „Roten Flora“ in Hamburg durchführen. Die „Rote Flora“ gilt als Zentrum der Autonomen-Szene, der unter anderem Mitglieder linksradikaler Bewegungen angehören. Das Motto der Veranstaltung sollte „Rote Flora – ein Ort undemokratischer Denkweise und Verfassungsfeindlichkeit“ lauten. Die Versammlungsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg erteilte dem Antragsteller die – für sofort vollziehbar erklärte – Auflage, die Veranstaltungen an einem anderen, etwa einen Kilometer von der „Roten Flora“ entfernten Ort stattfinden zu lassen. Dies begründete die Behörde damit, dass andernfalls mit gewalttätigen Ausschreitungen gerechnet werden müsse. Denn der Antragsteller – und damit der Veranstalter der Versammlung – sei eher dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen, sodass eine Versammlung vor der „Roten Flora“, die gerade Zentrum des linksextremistischen Spektrums sei, als besondere Provokation verstanden werden könnte. Gestützt auf die in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen sei mit einer Mobilisierung der linksextremen Szene und mit einer von ihr ausgehenden massiven Gewalttätigkeit zu rechnen. Insbesondere sei davon auszugehen, dass mit gefährlichen Gegenständen von den Dächern der „Roten Flora“ und umliegenden Gebäuden geworfen werden könnte. Die Behörde sehe sich – unabhängig von der Zahl der eingesetzten Polizisten – nicht in der Lage, diese Gefahr zu verhindern. Der Antragsteller erhob daraufhin Widerspruch und beantragte – erfolglos – verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz.
 
II. Die Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht trifft eine vorläufige Regelung eines Zustandes im Wege der einstweiligen Anordnung „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“ (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Maßgebliches Kriterium sind insofern die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits in der Hauptsache, d.h. einer durch den Antragsteller erhobenen Verfassungsbeschwerde (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Daher beschränkt sich die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG regelmäßig darauf, ob eine solche Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Ist der Ausgang einer möglichen Verfassungsbeschwerde jedoch vollkommen offen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch später keinen Erfolg hätte.
 
1. Die Anforderungen des Art. 8 GG
Dem Antragsteller entstehen indes für den Fall, dass die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, nur dann Nachteile, wenn eine spätere Verfassungsbeschwerde überhaupt denkbar wäre, er sich also auf eine möglicherweise verletzte Grundrechtsposition stützen kann. In Betracht kommt insofern eine mögliche Verletzung der aus Art. 8 Abs. 1 GG folgenden Versammlungsfreiheit. Gemäß Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln, wobei dieses Recht gem. Art. 8 Abs. 2 GG für Versammlungen unter freiem Himmel durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden kann.
In diesem Zusammenhang steht es dem Veranstalter auch frei, die Modalitäten der Versammlung frei zu wählen, d.h. sowohl die Versammlungszeit als auch den Versammlungsort selbst zu bestimmen.

„Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll. Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet das Grundrecht den Grundrechtsträgern so nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>). Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen – gegebenenfalls auch in Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung bringen können.“ (BVerfG v. 22.2.2011– 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201, 1204 Rn. 64)

Jedoch ist kein Zutrittsrecht zu nicht allgemein oder nur zu bestimmten Zwecken zugänglichen Orten vom Gewährleistungsinhalt des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst. Denn Art. 8 Abs. 1 GG verbürgt die Durchführung von Versammlungen an Orten, die einem allgemeinen öffentlichen Verkehr geöffnet sind und Orte öffentlicher Kommunikation bilden. Klassischerweise fällt hierunter insbesondere der öffentliche Straßenraum. Für die Frage, ob ein anderer Ort als der öffentliche Straßenraum ein öffentlicher Kommunikationsraum ist, ist das Leitbild des öffentlichen Forums maßgeblich. Dieses ist dadurch charakterisiert, dass dort, im Gegensatz zu Orten, die nur eine bestimmte Funktion haben, eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht. Ein solchermaßen für die Allgemeinheit geöffneter Ort kann nicht gegen politische Auseinandersetzung in Form einer Versammlung abgeschirmt werden. Denn die kollektive Meinungskundgabe und die Möglichkeit, in öffentlichen Foren Aufmerksamkeit zu erregen, sind konstitutive Elemente der Demokratie.
Im vorliegenden Fall sollte die Versammlung auf der Straße in unmittelbarer Nähe zur „Roten Flora“ durchgeführt werden. Die Wahl dieses Veranstaltungsortes – nämlich der öffentliche Straßenraum – ist ohne Zweifel von der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst. Eine spätere, darauf gestützte Verfassungsbeschwerde ist mithin denkbar. Dem Antragsteller können somit bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung Nachteile entstehen.
 
2. Die Folgenabwägung des Gerichts im Einzelnen
Daher kommt es entscheidend darauf an, welche Folgen eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, und welche Nachteilen demgegenüber entstünden, wenn die bergehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch später keinen Erfolg hätte. Seitens des Antragstellers ist – wie dargestellt – eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG denkbar. So formuliert auch das BVerfG:

„Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die versammlungsbeschränkende Auflage mit der Verfassung nicht vereinbar ist, so wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, das grundsätzlich auch die Bestimmung des Versammlungsorts umfasst. Der von dem Antragsteller ins Auge gefasste Versammlungsort in unmittelbarer Nähe der „Roten Flora“ ist für die geplante Versammlung und ihr gerade auf die „Rote Flora“ bezogenes kommunikatives Anliegen von erheblicher Bedeutung. Der Antragsteller hätte aber die Möglichkeit gehabt, die Versammlung – wenngleich an einem etwa einen Kilometer entfernten anderen Ort – unter dem vorgesehenen Motto und in der vorgesehenen Form überhaupt durchzuführen.“

Insofern muss in die Waagschale geworfen werden, dass der Antragsteller zwar in seinem Recht zur freien Wahl des Versammlungsortes verletzt ist, ihm aber – wenngleich unter der Auflage einer abweichenden Ortswahl – die Durchführung der Versammlung dennoch möglich gewesen wäre. Demgegenüber steht eine drohende Beeinträchtigung höchstwertiger Rechtsgüter wie Leib und Leben auch unbeteiligter Dritter, wie beispielsweise von Passanten, die das Gebiet um die „Rote Flora“ lediglich zufälligerweise betreten. So führt auch das Gericht aus:

„Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die Versammlung am ursprünglich vorgesehenen Ort […] wegen der von der Versammlungsbehörde befürchteten, nicht anders abwendbaren gewalttätigen Ausschreitungen nach § 15 Abs. 1 VersG hätte untersagt werden dürfen, so wäre es zu einer Gefährdung und gegebenenfalls auch Schädigung auch höchstwertiger Rechtsgüter einer ganz erheblichen Zahl von Personen gekommen, obwohl der Auslöser hierfür – die Versammlung an dem ursprünglich vorgesehenen […] Ort – wegen Vorliegens der Voraussetzungen eines polizeilichen Notstands rechtmäßigerweise hätte verhindert werden können.“

Angesichts der erheblichen Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben auch Unbeteiligter muss das Interesse des Veranstalters an der freien Wahl des Versammlungsortes zurücktreten. Die ihm entstehenden Nachteile wiegen nicht so schwer, dass dies die zu befürchtenden Folgen auch für gänzlich unbeteiligte Dritte aufwiegen könnte.
 
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass, sich mit den Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG auseinander zu setzen, sondern greift zugleich bekannte Probleme der Versammlungsfreiheit auf. Insbesondere eine saubere Herausarbeitung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit sollte jedem Examenskandidaten gelingen. Dabei gilt es nicht nur, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Leitbild des öffentlichen Forums zu verinnerlichen. Jedenfalls in der mündlichen Prüfung erscheint auch eine Anknüpfung an die Problematik gewaltbereiter Gegendemonstrationen denkbar: Was wäre, wenn der Veranstalter seine Versammlung hätte durchführen dürfen, diese auch friedlich verlaufen wäre, die Polizei sie aber dennoch wegen der gewalttätigen Gegendemonstration linksextremistischer Gruppierungen aufgelöst hätte? Zudem bietet die Entscheidung die Möglichkeit, verwaltungsrechtliche Problemstellungen mit den Prüflingen zu erörtern, denn sie weist einerseits mit Blick auf die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einen Bezug zum vorläufigen Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren und insbesondere den Voraussetzungen des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auf. Andererseits ist auch der Sprung in das Versammlungsrecht nicht weit.

17.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-02-17 10:00:462020-02-17 10:00:46BVerfG: Keine „rechte“ Versammlung vor links-geprägtem Kulturzentrum
Carlo Pöschke

BVerfG: Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt

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Ungefähr drei Monate sind vergangen, seit eine nächtliche Sitzung des Deutschen Bundestags für unerwartetes Aufsehen sorgte: Obwohl ein Abgeordneter der Fraktion „Alternative für Deutschland“ (AfD) die Beschlussfähigkeit des Bundestags bezweifelte und Schätzungen zufolge nur noch ca. 100 der 709 Parlamentarier im Sitzungssaal anwesend waren, wurde die Abstimmung u.a. über zwei europarechtliche Datenschutzvorlagen fortgesetzt. Am Tag danach erklärte die AfD-Vize-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch, es werde geprüft, was gegen die Willkür, „mit der ein offenkundig nicht beschlussfähiger Bundestag in tiefer Nacht unter erkennbar offener Missachtung der Geschäftsordnung Gesetze durchdrückt“, unternommen werde könne. Daraufhin reichte die AfD-Bundestagsfraktion beim BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, die es dem Bundespräsidenten untersagen sollte, die durch den Bundestag beschlossenen Gesetze gegenzuzeichnen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Mit Beschluss vom 17.09.2019 – 2 BvQ 59/19, BeckRS 2019, 21913 lehnte der Zweite Senat den Erlass der einstweiligen Anordnung ab. Da der Vorgang auch erhebliche mediale Aufmerksamkeit erfahren hat, liegt die gesteigerte Prüfungsrelevanz auf der Hand. Gleichzeitig bietet die Entscheidung die Gelegenheit, die Grundlagen der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG zu wiederholen, die im Studium im Vergleich zum vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nach §§ 80 Abs. 5, 80a, 123 VwGO häufig nur geringe Aufmerksamkeit erfährt.

A. Sachverhalt (im Wesentlichen den Gründen des Beschlusses entnommen, leicht abgewandelt)

Doch was genau ist geschehen?

Die 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages dauerte vom 27. bis in die frühen Morgenstunden des 28.06.2019. Als Tagesordnungspunkte 22a und 22b rief die Vizepräsidentin des Bundestages zwei Gesetzentwürfe zur Beratung auf. Bevor die Abgeordneten mit den Abstimmungen über die Gesetzentwürfe begannen, bezweifelte am 28.06.2019 gegen 1:27 Uhr ein Abgeordneter der AfD-Fraktion die Beschlussfähigkeit der Versammlung, woraufhin die Bundestagsvizepräsidentin für den Sitzungsvorstand erwiderte, dass nach dessen Meinung die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Schätzungen zufolge waren jedoch nur ca. 100 der 709 Bundestagsabgeordneten im Plenarsaal anwesend. Für den Sitzungsvorstand war es auch eindeutig erkennbar, dass weniger als die Hälfte der Bundestagsabgeordneten im Plenarsaal anwesend waren. Dennoch wurden zunächst die beiden Gesetzentwürfe sowie später noch ein dritter Entwurf zur Abstimmung gestellt. Alle erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Die AfD-Bundestagsfraktion stellte beim BVerfG daraufhin schriftlich einen den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Der Antrag war darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis auf Weiteres zu untersagen, die durch den Bundestag beschlossenen Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden.

Nach Ansicht der AfD-Fraktion verletzte die Nicht-Durchführung des sog. Hammelsprungs nicht nur § 45 Abs. 2 iVm. § 51 GOBT, sondern v.a. auch den Grundsatz der parlamentarischen Demokratie und speziell die Mitwirkungsrechte des gesamten Bundestags bei der Gesetzgebung. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG sei zulässig. Zunächst sei ein Organstreit in der Hauptsache grundsätzlich zulässig, denn eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte des Bundestages infolge des offensichtlich willkürlichen Vorgehens der Sitzungsleitung sei keineswegs ausgeschlossen. Gegen die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung könne ferner nicht eingewendet werden, dass im noch anzustrengenden Organstreitverfahren nicht der Bundespräsident, sondern v.a. der Bundestag selbst als Antragsgegner in Betracht komme. Auch werde es in der späteren Hauptsache nur um die Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte gehen und nicht wie hier um eine vorläufige Unterlassung. Jedoch könnten die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages anders nicht effektiv geschützt werden. Der Antrag sei schließlich auch begründet. Selbst unter Anlegung strenger Maßstäbe sprächen im Rahmen einer Folgenabwägung die besseren Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung. Für den Fall, dass dem Eilantrag stattgegeben werde, der Hauptsacheantrag aber ohne Erfolg bliebe, entstehe kein nennenswerter Schaden. Die betroffenen Gesetze träten lediglich einige Monate später in Kraft, was durch die Gewissheit ihrer formellen Verfassungskonformität kompensiert werde. Hingegen sei das rasche Inkrafttreten der Gesetze vergleichsweise ohne Wert, denn sie seien mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit bemakelt. Für Rechtsfrieden könnten sie so nicht sorgen. Sollte hingegen der Eilantrag abgelehnt werden, der Organstreit in der Hauptsache aber erfolgreich sein, entstehe eine Art „verfassungsrechtlicher Notstand“. Denn das Bundesverfassungsgericht könne im Organstreitverfahren nur die Verletzung von Organrechten feststellen, nicht aber einen verfassungswidrig zustande gekommenen Rechtsakt für nichtig erklären. Es wären dann formell verfassungswidrige, aber weiterhin fortgeltende Gesetze in der Welt. Nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden. Daher dürften sie jetzt jedenfalls noch nicht ausgefertigt werden.

Hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Aussicht auf Erfolg?

B. Rechtliche Würdigung

Das BVerfG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung „abgelehnt“. Bereits am Tenor wird damit deutlich, dass sich die Entscheidung strukturell in die Rechtsprechung des BVerfG einfügt, die nicht zwischen Zulässigkeit und Begründetheit abgrenzt (vgl. dazu auch MKSB/Graßhof, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 32 Rn. 37 f.). Auch wenn die praktische Bedeutung dieser Abgrenzung gering ist, ist Klausurbearbeitern gleichwohl zu raten, die Prüfung nach den Erfolgsaussichten der Übersichtlichkeit halber wie gewohnt in Zulässigkeit und Begründetheit zu gliedern.

Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung hat also Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Der Antrag müsste zulässig sein.

1. Eröffnung des Rechtswegs zum BVerfG

Dazu müsste zunächst der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet sein, was dann der Fall ist, wenn das mit dem Hauptsacheverfahren verfolgte oder zu verfolgende (sog. isolierter Eilantrag) Anliegen einer der in Art. 93 Abs. 1 GG, § 13 BVerfGG abschließend aufgezählten Verfahrensarten zuzuordnen ist. Im Hauptsacheverfahren wäre ausweislich der Begründung des Antrags zu klären, ob durch das Vorgehen der Sitzungsleitung verfassungsmäßige Rechte des Bundestags verletzt wurden. Einschlägig wäre damit in der Hauptsache ein Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG, sodass auch vorliegend der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet ist.

2. Zuständigkeit des BVerfG

Gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG ist das BVerfG zur Entscheidung über Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zuständig.

3. Antragsberechtigung

Weiterhin müsste die AfD-Fraktion antragsberechtigt sein. Die Antragsberechtigung ergibt sich dabei aus dem betreffenden Hauptsacheverfahren. Antragsberechtigt sind somit die Beteiligten des Hauptsacheverfahrens. Die Beteiligungsfähigkeit im Organstreitverfahren richtet sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG. Nach § 63 BVerfGG sind der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestags und des Bundesrats mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe beteiligungsfähig. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ist hinsichtlich der Beteiligungsfähigkeit weiter gefasst und lässt die Anträge eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das GG oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, zu. Eine Fraktion wird durch §§ 10 ff., 57 Abs. 2, 75 f. GOBT mit eigenen Rechten ausgestattet und ist damit ein Teil des Bundestags iSd. § 63 BVerfGG bzw. ein anderer Beteiligter iSd. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Die AfD-Fraktion ist somit im Organstreitverfahren beteiligungsfähig und damit auch im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung antragsberechtigt.

4. Keine Vorwegnahme der Hauptsache

Außerdem dürfte die einstweilige Anordnung nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, da sie nur der vorläufigen Regelung eines Zustands dient. Vorliegend begehrt die Antragstellerin dem Bundespräsidenten bis auf Weiteres zu untersagen, die durch den Bundestag beschlossenen Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Auch nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens könnte der Bundespräsident die beschlossenen Gesetze noch gegenzeichnen und im Bundesgesetzblatt verkünden. Dadurch würden die Folgen der einstweiligen Anordnung gleichsam rückgängig gemacht. (Salopp formuliert könnte man sagen, Gegenzeichnung und Verkündung werden durch eine einstweilige Anordnung bloß aufgeschoben, nicht aufgehoben.) Die einstweilige Anordnung nimmt daher die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweg.

 5. Form

Die Formvorschriften des § 23 Abs. 1 BVerfGG wurden gewahrt.

Anmerkung: An dieser Stelle wurde der Sachverhalt aus didaktischen Gründen leicht abgewandelt: Das BVerfG hat im zu entscheidenden Fall zusätzlich die Frage aufgeworfen (aber letztendlich dahinstehen lassen), ob der Antrag überhaupt den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügt. Dies sei fraglich, da sich aus der bisherigen Begründung womöglich nicht deutlich genug ergebe, welche organschaftliche Rechtsposition die Antragstellerin in einem etwaigen Organstreitverfahren gedenkt geltend zu machen.

6. Zwischenergebnis

Der Antrag ist zulässig.

II. Begründetheit

Fraglich ist, ob der Antrag auch begründet ist.

Im Rahmen der (vom BVerfG nicht explizit als Begründetheitsprüfung bezeichneten) Begründetheitsprüfung arbeitet das BVerfG nach ständiger Rechtsprechung anders als vom verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz bekannt mit einer spezifischen Folgenabwägung, bei der die konkreten Erfolgsaussichten der Hauptsache grds. außer Betracht bleiben. Stattdessen rekurriert das Gericht auf die sog. Doppelhypothese, bei der die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, abgewogen werden mit den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Hauptsacheverfahren aber letztlich der Erfolg zu versagen wäre. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 32 Abs. 1 BVerfGG („Abwehr schwerer Nachteile“, „Verhinderung drohender Gewalt“, „anderer wichtiger Grund“) gehen bei dieser Formel im Begriff des Nachteils auf. Das BVerfG tritt in die Abwägung nach der Doppelhypothese jedoch nur ein, wenn sich das Hauptsacheverfahren weder als offensichtlich unzulässig noch als offensichtlich unbegründet erweist (hierzu m.w.N. BeckOK BVerfGG/Walter, 7. Ed. 01.06.2019, § 32 Rn. 42 f.).

1. Offensichtliche Unzulässigkeit oder Unbegründetheit in der Hauptsache

Die Hauptsache dürfte nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet sein. Dies wäre der Fall, wenn das Gericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung der Auffassung ist, dass kein Gesichtspunkt erkennbar ist, der dem Hauptsacheverfahren zum Erfolg verhelfen könnte.

Das BVerfG schneidet in dem Beschluss jedoch Zulässigkeits- und Begründetheitsfragen des Hauptsacheverfahrens nicht einmal an, sondern löst den Fall über die bereits angesprochene spezifische Folgenabwägung. Dies ist typisch für Entscheidungen des BVerfG über einstweilige Anordnungen, da in der verfassungsgerichtlichen Praxis die Zulässigkeit und Begründetheit des Hauptsacheverfahrens noch nicht abschließend geklärt sein müssen. Um auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Fragen in der gutachterlichen Bearbeitung eingehen zu können, ist Klausurbearbeitern dennoch zu empfehlen, die Zulässigkeit und Begründetheit des Hauptsacheverfahrens inzident zu prüfen.

Als erster problematischer Punkt einer inzidenten Zulässigkeitsprüfung wäre damit die Frage zu beantworten, wer der Antragsgegner ist und ob dieser ebenfalls beteiligungsfähig gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG ist. Die AfD-Fraktion führt in ihrem Antrag bereits selbst aus, dass im noch anzustrengenden Organstreitverfahren nicht der Bundespräsident, sondern v.a. der Bundestag selbst als Antragsgegner in Betracht komme. Da vorliegend jedoch die Stellvertreterin des Bundestagspräsidenten handelte, erscheint es naheliegender, den Bundestagspräsidenten als Antragsgegner zu wählen. Dabei handelt der Stellvertreter des Präsidenten bei der Leitung von Bundestagssitzungen als „amtierender Präsident“ iSd. § 8 Abs. 1 GOBT. Der Bundestagspräsident wird z.B. durch §§ 7 Abs. 1 S. 1, S. 2 a.E., 22 S. 1 GOBT auch mit eigenen Rechten ausgestattet und ist damit sowohl gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG als auch nach § 63 BVerfGG beteiligungsfähig.

Ebenfalls näheren Ausführungen bedarf es bei der Frage, ob die AfD-Fraktion auch antragsbefugt ist, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 64 Abs. 1 BVerfGG. Dazu müsste die Antragstellerin geltend machen, d.h. die Möglichkeit aufzeigen, dass sie oder das Organ, dem sie angehört, durch die Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners (hier: Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines Hammelsprungs durch den Sitzungsvorstand) in ihren ihr durch das GG übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Weil das Organstreitverfahren ein kontradiktorisches Streitverfahren ist, bei dem der Antragsteller eine Verletzung eigener durch das GG übertragener Rechte oder im Rahmen einer Prozessstandschaft die Verletzung von Rechten der Organs, dem er angehört, geltend machen muss, genügt eine Berufung auf eine bloße Missachtung der GOBT oder objektiver Verfassungsprinzipien nicht. Im vorliegenden Fall erscheint eine Verletzung eigener verfassungsrechtlicher Rechte der AfD-Fraktion nicht einmal möglich, da der Sitzungstermin bekannt war und die gesamte Fraktion an der Sitzung des Bundestags hätte teilnehmen können. Gleiches gilt, soweit die AfD-Fraktion prozessstandschaftlich die Rechte des Bundestags geltend machen würde: Der Sitzungstermin wurde rechtzeitig bekanntgemacht und Hinweise zu etwaigen Behinderungen der parlamentarischen Abläufe im Vorfeld lagen nicht vor. Auch das Gesetzgebungsrecht des Bundestags wurde nicht beeinträchtigt, da die Verweigerung des Hammelsprungs gerade dazu führte, dass es zu den Gesetzesbeschlüssen kommen konnte (hierzu s. Deger, Verfassungsblog v. 14.08.2019).

Somit könnte man (jedenfalls in einer Klausurbearbeitung) den Antrag bereits wegen offensichtlicher Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens als unbegründet ansehen.

2. Folgenabwägung

Der Zweite Senat hingegen ist von einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens ausgegangen und hat somit direkt die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegen die Folgen abgewogen, die eintreten würden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.

Nach Ansicht des Gerichts drohte der AfD-Fraktion kein schwerer Nachteil, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde und ein Organstreitverfahren später Erfolg hätte. Das Argument, für diesen Fall sei der Eintritt einer Art „verfassungsrechtlichen Notstands“ zu befürchten, überzeugte das BVerfG nicht. Denn:

„Was […] [die AfD-Fraktion] […] in der Sache rügt, ist das Auseinanderfallen der möglichen Rechtsfolgen von Organstreitverfahren einerseits und Normenkontrollverfahren andererseits. Nach § 67 BVerfGG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über einen Organstreit nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt; Rechtsfolge der abstrakten Normenkontrolle kann hingegen nach § 78 BVerfGG die Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht sein. Eine Rechtsschutzlücke für mögliche Antragsteller des Organstreits folgt hieraus jedoch nicht, sondern dies ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GG, dem objektiven Normenbeanstandungsverfahren mit dem Organstreit ein kontradiktorisches Streitverfahren ausschließlich zur Klärung eines bestimmten Verfassungsrechtsverhältnisses zur Seite zu stellen. Für eine sich von diesem gesetzlich gezogenen Rahmen lösende Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist kein Raum […].“

Auch durch das Inkraftbleiben eines zunächst formell verfassungswidrigen Gesetzes im Falle eines späteren Erfolgs im Organstreitverfahren stelle – so das BVerfG – keinen schweren Nachteil für die AfD-Fraktion dar. An dieser Stelle verweist das Gericht erneut auf eine grundgesetzliche Kompetenzentscheidung: Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz sei grds. nachgelagerter, kassatorischer Rechtsschutz, wobei das BVerfG insb. die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten zu respektieren habe.

Ebenfalls nicht überzeugte das Gericht das Argument, nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die fraglichen Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden. Dazu führt das BVerfG in seiner Entscheidung aus, dass der

„Bundestag […] zu jedem Zeitpunkt erneut über die seitens der Antragstellerin bemängelten Gesetze abstimmen [kann], und zwar unabhängig sowohl von einem Erlass der einstweiligen Anordnung als auch von einer Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin in einem späteren Organstreitverfahren.“

Im Ergebnis gewichtete das BVerfG somit ein späteres Inkrafttreten der verabschiedeten Gesetze für den Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Hauptsacheantrag aber ohne Erfolg bleibt, schwerer als die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte. Dies auch deshalb, weil die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes stets einen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darstellt und daher bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung unter diesen Umständen ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist.

3. Zwischenergebnis

Der Antrag der AfD-Fraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

III. Ergebnis

Der Antrag hat keinen Erfolg.

C. Stellungnahme/Ausblick

Was bleibt?

  • Die Entscheidung des BVerfG ist im Ergebnis richtig, das allgemeine Vorgehen des Verfassungsgerichts bei der Prüfung von einstweiligen Anordnungen erweist sich jedoch als wenig systematisch. Weshalb auf eine Unterteilung zwischen Zulässigkeit und Begründetheit verzichtet wird, ist nicht ersichtlich. Ebenfalls nicht erklären lässt sich, weshalb statt auf eine summarische Prüfung wie beim verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz auf eine Folgenabwägung gesetzt wird: Laut BVerfG müssen „bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung […] die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht […] bleiben“, um im gleichen Atemzug festzustellen, dass dies nicht gelte, wenn sich die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Gerade dadurch wird jedoch der Erlass der einstweiligen Anordnung vom prognostischen Ausgang des Hauptsacheverfahrens abhängig gemacht. Der Unterschied zwischen Folgenabwägung und summarischer Prüfung ist daher höchstens graduell. Prüflingen ist dennoch zu raten, die Terminologie und die Struktur der Prüfung durch das BVerfG mit Ausnahme der bereits geschilderten Abweichungen in die eigene gutachterliche Falllösung zu übernehmen, um dem Prüfer zu zeigen, dass die Unterschiede zwischen verwaltungsgerichtlichem Eilrechtsschutz und einstweiliger Anordnung nach § 32 BVerfGG bekannt sind.
  • Der vorliegende Fall kann nicht nur als Ganzes, sondern auch in vielfältigen anderen Konstellationen in verfassungs- oder verwaltungsgerichtlichen Klausuren Bedeutung erlangen. Insb. kann die Problematik um die Verweigerung eines Hammelsprungs immer dann eingestreut werden, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes geprüft werden soll. Bei der Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 76 ff. GG) iRd. formellen Verfassungsmäßigkeit wäre dann zu prüfen, ob die Geschäftsordnungsvorschriften der §§ 45, 51 GOBT durch die Verweigerung des Hammelsprungs verletzt wurden (zu dieser Frage ausführlicher Deger, Verfassungsblog v. 14.08.2019). Kommt man zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von §§ 45, 51 GOBT vorliegt, wäre weiter zu erörtern, ob ein bloßer Verstoß gegen Geschäftsordnungsvorschriften vorliegt oder ob §§ 45, 51 GOBT zudem Verfassungsrecht konkretisieren. Nur im letztgenannten Fall führt eine Missachtung von §§ 45, 51 GOBT auch zur Verfassungswidrigkeit des betreffenden Gesetzes.

07.10.2019/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2019-10-07 09:17:412019-10-07 09:17:41BVerfG: Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt
Dr. Lena Bleckmann

Wahl-O-Mat verfassungswidrig – Entscheidung des VG Köln

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Nur wenige Tage vor der Europawahl in Deutschland am 26. Mai 2019 entschied das Verwaltungsgericht Köln, der allseits viel genutzte „Wahl-O-Mat“, der von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Verfügung gestellt wird, sei verfassungswidrig und dürfe daher vorerst nicht weiter betrieben werden.

Die Entscheidung gibt Anlass, die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO sowie den speziellen Anspruch politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 GG i.V.m. Art 3 GG zu wiederholen. Auch aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit kann von besonderer Prüfungsrelevanz der Entscheidung ausgegangen werden.
Was ist passiert?
Wie vor jeder größeren Wahl stellte die Bundeszentrale für politische Bildung auch zur Europawahl einen Wahl-O-Mat zur Verfügung. Hierbei kann der Nutzer zu insgesamt 38 Thesen Stellung beziehen und anschließend eine Gewichtung vornehmen, welche der Thesen ihm persönlich besonders wichtig sind. Sodann kann der Nutzer bis zu acht politische Parteien auswählen, mit denen seine Position verglichen werden soll. Das Ergebnis wird auf einer Übersichtsseite mit Zugang zu den detaillierten Antworten der einzelnen Parteien dargestellt.
Gegen dieses Anzeigeformat wendete sich nun die Partei Volt Deutschland. Diese ist seit März 2018 in Deutschland als Partei registriert und Teil der paneuropäischen Partei Volt Europa. Volt Deutschland ist – gerade im direkten Vergleich mit den etablierten Parteien – noch vergleichsweise unbekannt. Die Partei ist der Ansicht, die Auswahlmöglichkeiten und Anzeigepraxis benachteilige neue und kleine Parteien dadurch, dass lediglich acht Parteien in den direkten Vergleich miteinbezogen werden können. Es sei nicht einmal ein Vergleich mit allen zurzeit im Europaparlament vertretenen Parteien – 14 an der Zahl – möglich.
Wer sich mit mehr als acht Parteien vergleichen wolle, müsse den Vorgang mehrmals wiederholen und die jeweiligen Ergebnisse notieren. Hierunter litten in erster Linie kleinere Parteien, da Nutzer für eine schnelle Orientierung häufig nur die bereits bekannten Parteien auswählten, die auf der Anzeigeseite auch zuoberst angezeigt würden. Aufgrund der großen Bedeutung des Wahl-O-Mats für die politische Meinungsbildung begehrt Volt die Änderung dieses Anzeigeverfahrens. Nachdem die Bundeszentrale für politische Bildung selbst eine Änderung ablehnte, beantragte Volt am 15. Mai 2019 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Verwaltungsgericht Köln. (siehe zu den Gründen auch die Pressemitteilung von Volt Deutschland vom 15. Mai 2019).
Die Entscheidung des VG Köln
Das Verwaltungsgericht gab der Antragstellerin Recht: Kleinere Parteien seien durch den Anzeigemechanismus benachteiligt, wofür die Antragsgegnerin keine ausreichenden Rechtfertigungsgründe habe vorbringen können. In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es:
„Hierin sieht die Kammer eine faktische Benachteiligung kleinerer bzw. unbekannterer Parteien, zu denen auch die Antragstellerin gehöre. Dieser Anzeigemechanismus verletze jedenfalls mittelbar das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.“
Die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe seien nicht geeignet gewesen, die Verletzung der Chancengleichheit zu rechtfertigen. Der weitere Einwand der Antragsgegnerin, die Umsetzung der einstweiligen Anordnung sei technisch nicht möglich, sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden.“
(Siehe Pressemitteilung des VG Köln vom 20. Mai 2019)
 
Die Entscheidung in einer Klausur
Die Entscheidung bietet eine hervorragende Grundlage für eine Klausur im Verwaltungsrecht. Schwerpunkte dürften die Prüfung der Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sowie die Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG sein. Folgend soll ein Überblick über die wichtigsten Punkte gegeben werden. Es ist anzumerken, dass die Argumentation nicht unmittelbar der Pressemitteilung des Gerichts entnommen werden konnte, sodass in erster Linie auf die von den Parteien im Voraus vorgebrachten Argumente abgestellt wird.
Zulässigkeit
Im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist beim Prüfungspunkt „Statthafte Antragsart“ stets zu einem Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO abzugrenzen, das nur einschlägig ist, sofern sich der Antrag gegen einen adressat-belastenden Verwaltungsakt richtet. Ein solcher liegt nicht vor, sodass nur § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht kommt. Hier ist wiederum zwischen Sicherungs- und Regelungsanordnung abzugrenzen. Die Partei begehrt hier nicht nur eine bloße Zustandssicherung, sondern eine vorläufige Regelung in der Form, dass der Bundeszentrale für politische Bildung das Betreiben des Wahl-O-Mats in der jetzigen Form untersagt wird.
Im Rahmen der besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen ist die Antragsbefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog sauber herauszuarbeiten – sie liegt grundsätzlich vor, wenn der Antragsteller auch in der Hauptsache klagebefugt ist, was inzident zu prüfen ist. Hier scheint eine Verletzung von Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG nicht schlechterdings ausgeschlossen, sodass die Antragsbefugnis im Ergebnis zu bejahen ist. Bearbeiter können auch auf die Möglichkeit der Verletzung eines Anspruchs aus § 5 Abs. 1 PartG eingehen, der jedoch im Ergebnis nicht einschlägig sein dürfte, da Volt Deutschland nicht den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung begehrt.
Der richtige Antragsgegner entspricht ebenfalls dem Klagegegner in der Hauptsache. Eine Verpflichtungsklage in der Hauptsache scheidet aus, sodass sich der Klagegegner nicht aus § 78 VwGO analog, sondern aus dem Rechtsträgerprinzip als allgemeinem Prozessgrundsatz ergibt. Rechtsträger der Bundeszentrale für politische Bildung ist der Bund – mithin ist dieser auch im Rahmen des § 123 VwGO richtiger Antragsgegner.
Eine Antragsfrist ist nicht einzuhalten.
Siehe eine für ausführliche Prüfung der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die klausurmäßige Aufbereitung einer früheren Entscheidung des VG Köln zum Wahl-O-Mat: https://red.ab7.dev/vg-koln-eilantrag-der-ddp-gegen-wahl-o-mat-abgelehnt/
 
Begründetheit – Insbesondere: Der Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit
Der Antrag ist begründet, wenn der Antragsteller Tatsachen glaubhaft macht, die einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund begründen und wenn die gewünschte gerichtliche Entscheidung nicht über das hinausgeht, was der Antragsteller im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verlangen kann.
Schwerpunkt der Prüfung ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Dieser kann sich aus einer Verletzung des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.
Der sachliche Geltungsbereich dieses Rechts beschränkt sich nicht auf die Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen, sondern auf deren Tätigkeit schlechthin (vgl. Maunz/Dürig/Klein GG Art. 21 Rn. 297). Das Recht ergibt sich nach dem BVerfG „aus der Bedeutung, die der Freiheit der Parteigründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche Demokratie zukommt“ (vgl. dazu. BVerfGE 85, 264 (297)). In der Klausur bietet es sich an, die Verletzung des Rechts anhand des bekannten Aufbaus für die Prüfung der Verletzung von Gleichheitsrechten zu prüfen.
Ungleichbehandlung
Alle Parteien müssen die gleichen Chancen auf das Gehört- und Gewähltwerden haben, um ihrem Mitwirkungsauftrag an der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG nachzukommen (vgl. Gröpl/Windhorst/von Coelln/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 21 Rn. 28). Der Staat soll keinen Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen.
Gerade im Zusammenhang mit Wahlen erlangt dieser Grundsatz besondere Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht führte hierzu aus:
„Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb ist in diesem Bereich – ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen(…).“ (BVerfGE 120, 82 (105)).
Das bedeutet: Die Anforderungen an die Gleichbehandlung der Parteien durch die öffentliche Gewalt sind durch die sich aus Art. 38 Abs. 1 GG ergebenden Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verschärft – der Staat darf nichts tun, um die unterschiedlichen Wettbewerbschancen der Parteien bei Wahlen zu beeinflussen (siehe dazu BVerfGE 85, 264 (297)).
Die Anzeigepraxis des Wahl-O-Mats, bei der nur die Übereinstimmung mit jeweils acht Parteien in einem Durchgang verglichen werden kann, könnte indes eine Beeinflussung der Wettbewerbschancen darstellen. Die meisten Nutzer werden lediglich einen Vergleich vornehmen und dabei ihre Position mit den Parteien vergleichen wollen, die ihm bereits bekannt sind. Die Positionen unbekannterer Parteien bleiben dem Nutzer so unbekannt, sodass diese nicht die gleiche Chance des Gehörtwerdens erlangen. Dies wird dadurch verstärkt, dass die etablierten Parteien auf der Auswahlseite ganz oben angezeigt werden. Diese Einschätzung ändert sich nicht dadurch, dass der Nutzer die Möglichkeit hat, mehrere Vergleichsvorgänge durchzuführen. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Speicherung der Ergebnisse gestaltet sich dieses Vorgehen äußerst umständlich und dürfte nur in Einzelfällen tatsächlich stattfinden.
Mithin liegt eine Ungleichbehandlung kleinerer Parteien vor.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
An dieser Stelle ist besonders zu betonen, dass es sich bei dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit um eine streng formale Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes handelt, sodass die Ungleichbehandlung von Parteien nur aus zwingenden Gründen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann (siehe dazu ausführlich Maunz/Dürig/Klein GG Art. 21 Rn. 306 ff.).
Die Rechtfertigungsgründe, die die Bundeszentrale für politische Bildung hierzu vorgebracht hat, sind im Einzelnen nicht bekannt. Das VG Köln beschränkt sich darauf festzustellen, „die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe seien nicht geeignet gewesen, die Verletzung der Chancengleichheit zu rechtfertigen. Der weitere Einwand der Antragsgegnerin, die Umsetzung der einstweiligen Anordnung sei technisch nicht möglich, sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden“(siehe Pressemitteilung des VG Köln vom 20. Mai 2019).
Volt Deutschland argumentierte insbesondere, dass dem Wahl-O-Mat vergleichbare Dienste gewährleisteten, dass die Positionen aller Parteien gleichermaßen zugänglich seien: „Denkbar wäre, dass den Nutzer*innen einfach alle 41 zur Wahl stehenden Parteien angezeigt werden. Das wäre wohl die fairste und beste Lösung, die auch bereits von anderen vergleichbaren Diensten genutzt wird“ (siehe Pressemitteilung von Volt Deutschland vom 15. Mai 2019).
Diese Argumentation scheint das VG Köln zu folgen. Ein zwingender Grund für die Ungleichbehandlung besteht nicht. Mithin ist das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG verletzt. Ein Anordnungsanspruch besteht.
Anordnungsgrund
Die besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich unproblematisch aus der unmittelbar bevorstehenden Europawahl.
Keine Vorwegnahme der Hauptsache
An dieser Stelle des Gutachtens sollte der Bearbeiter stets betonen, dass die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich nicht dazu führen soll, dass der Antragsteller bereits alles Erwünschte erreicht hat, sodass das Verfolgen der Hauptsache überflüssig würde. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dort zu machen, wo dem Antragsteller bei Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare Nachteile drohen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. So gestaltet es sich hier: Wenngleich die Partei mit der Abschaltung bzw. Änderung des Anzeigeformats des Wahl-O-Mats bereits alles erreicht hat, was sie erreichen wollte, so würden ihr bei einem Verweis auf das Abwarten der Hauptsache unzumutbare Wettbewerbsnachteile bei der anstehenden Europawahl drohen. Insoweit ist die Untersagung des Betreibens des Wahl-O-Mats in der jetzigen Form keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.
Summa und Ausblick
Eine Fallgestaltung wie die vorliegende bietet dem Klausursteller die Möglichkeit, Grundlagen des Verwaltungs- und Verfassungsrechts abzuprüfen und dem Bearbeiter im Rahmen der Prüfung des Anordnungsanspruchs Raum für eigene Überlegungen und Argumentation zu lassen. Fälle der Ungleichbehandlung von Parteien sind stets aktuell und ein beliebtes Prüfungsthema – sie sollten von Examenskandidaten keinesfalls vernachlässigt werden.
Insoweit ist auch auf die kürzlich ergangene Entscheidung des BVerfG zu einem Wahlwerbespot der NPD zu verweisen, siehe dazu: https://red.ab7.dev/bverfg-keine-ausstrahlung-von-npd-wahlwerbespot/
Nachdem die Bundeszentrale für politische Bildung ursprünglich  angekündigt hatte, Beschwerde gegen den Beschluss des VG Köln einzulegen, haben sich die Beteiligten außergerichtlich geeinigt. Der Wahl-O-Mat ist nun wieder online. 

 

24.05.2019/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-05-24 08:10:302019-05-24 08:10:30Wahl-O-Mat verfassungswidrig – Entscheidung des VG Köln
Redaktion

Schema: Der Antrag nach § 123 VwGO

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Schema: Vorläufiger Rechtsschutz – der Antrag nach § 123 VwGO

Zu unterscheiden sind:

  • Sicherungsanordnung, § 123 I 1 VwGO

    – Spezialfall
    – Ziel: Sicherung eines bestehenden Zustandes durch die vorbeugende Abwehr von drohenden Beeinträchtigungen.
  • Regelungsanordnung, § 123 I 2 VwGO

    – Ziel: Erlangung einer vorläufigen Regelung, idR einer Zustandsverbesserung.

A. Zulässigkeit des Antrags vor dem Verwaltungsgericht

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs für den Antrag
(+), wenn der Verwaltungsrechtsweg in der Hauptsache eröffnet ist (§ 123 II VwGO). Die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs in der Hauptsache richtet sich nach § 40 I 1 VwGO.

II. Statthaftigkeit des Antrags
– Richtet sich nach dem Antrag
– Gem. § 123 V VwGO nur statthaft, wenn kein Fall der §§ 80, 80a VwGO vorliegt.
„Faustregel“: Der Antrag nach § 123 VwGO ist regelmäßig statthaft, wenn in der Hauptsache eine Verpflichtungs-, Leistungs- oder Feststellungsklage statthaft ist.

III. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
(+), wenn der Antragsteller in der Hauptsache klagebefugt ist.

IV. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis 
– Vorheriger Antrag an zuständige Behörde
– Hauptsacheverfahren nicht offensichtlich unzulässig
– Kein einfacherer und schnellerer Weg 

V. Keine Frist

VI. Antragsgegner
Richtet sich nach Klageart in der Hauptsache:
Im Rahmen der Verpflichtungsklage gilt § 78 VwGO analog, im Rahmen von Leistungs- und Feststellungsklage gilt das Rechtsträgerprinzip als allgemeiner Prozessgrundsatz.

VI. Beteiligten- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO

B. Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn der Antragsteller Tatsachen glaubhaft macht, die einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund begründen (§ 123 III VwGO i.V.m. §§ 920 II, 294 ZPO).

I. Anordnungsanspruch
Materieller Anspruch auf die begehrte Begünstigung.
– Im Falle einer Sicherungsanordnung muss ein sicherungsfähiges Recht bzw. ein Unterlassungsanspruch bestehen.
– Im Falle einer Regelungsanordnung muss der geltend gemachte Anspruch bestehen.

II. Anordnungsgrund
Antragsteller muss die Gefahr vollendeter Tatsachen glaubhaft machen können bzw. die besondere Eilbedürftigkeit darlegen. Hier erfolgt eine umfassende Güter- und Interessenabwägung.

III. Rechtsfolge

Besteht eine Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund, muss das VG die einstweilige Anordnung erlassen. Ermessen besteht nur bzgl. des Inhalts der Anordnung. Es gilt jedoch:
– Keine Vorwegnahme der Hauptsache.
– Ausnahmsweise Vorwegnahme der Hauptsache, wenn andernfalls überhaupt kein effektiver Rechtsschutz gewährt werden kann (Art. 19 IV GG) und dies zur Verhinderung schwerer Nachteile unerlässlich ist.

 

Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

19.01.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-01-19 10:00:432017-01-19 10:00:43Schema: Der Antrag nach § 123 VwGO

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