BVerfG: „Kuttenverbot“ für Rocker verfassungsgemäß
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 9.7.2020 (Az. 1 BvR 2067/17, 1 BvR 424/19, 1 BvR 4423/18) die Verfassungsbeschwerden mehrerer lokaler Teilgruppierungen sowie einzelner Mitglieder verschiedener Motorradclubs (MC Gremium, Hells Angels und Bandidos) gegen das aus § 9 Abs. 3 VereinsG folgende „Kuttenverbot“ und die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG abgewiesen (vgl. unseren Bericht zur Erhebung der Verfassungsbeschwerden: Vereinsrecht: Verschärfung des Kennzeichenverbotes).
I. Sachverhalt
Der Gesetzgeber hatte mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (VereinsG) vom 10.3.2017 den § 9 Abs. 3 VereinsG ins das Vereinsgesetz eingefügt und die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG verändert. § 9 Abs. 1 VereinsG regelte schon bislang ein Verbot öffentlich, in einer Versammlung oder medial die Kennzeichen eines verbotenen Vereins zu verwenden. Der neu gefasste § 9 Abs. 3 VereinsG erstreckt dieses in § 9 Abs. 1 VereinsG enthaltene Verbot nunmehr auch auf Kennzeichen, die in „im Wesentlichen gleicher Form“ von nicht verbotenen Teilorganisationen oder von selbstständigen Vereinen verwendet werden. Die Norm lautet:
„Absatz 1 gilt entsprechend für Kennzeichen eines verbotenen Vereins, die in im Wesentlichen gleicher Form von anderen nicht verbotenen Teilorganisationen oder von selbständigen Vereinen verwendet werden. Ein Kennzeichen eines verbotenen Vereins wird insbesondere dann in im Wesentlichen gleicher Form verwendet, wenn bei ähnlichem äußerem Gesamterscheinungsbild das Kennzeichen des verbotenen Vereins oder Teile desselben mit einer anderen Orts- oder Regionalbezeichnung versehen wird.“
Zuwiderhandlungen gegen dieses Verbot stellt § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG unter Strafe: Möglich sind eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe.
Die Beschwerdeführer richteten sich gegen die geänderten Normen: Ihre Mitglieder tragen typische Symbole wie den „Death Head“ der Hells Angels oder den „Fat Mexican“ der Bandidos als einheitlich genutztes Vereinslogo auf ihren „Kutten“ und haben dieses Logo nicht selten auch auf dem Körper tätowiert. Allerdings seien die Teilorganisationen, denen sie angehören – was insbesondere einzelne Ortsverbände betrifft –, nicht verboten, sodass das Kennzeichenverbot sich für sie als nachträglich ausgesprochene „Sippenhaft“ darstelle. Durch die Neuregelung sei das Kennzeichenverbot eben nicht mehr – wie bislang – streng akzessorisch zum Vereinsverbot, sondern erstrecke sich auch auf von dem Verbot nicht Betroffene. Dadurch sehen sich die Beschwerdeführer unter anderem in ihrem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), in ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG) und ihrer Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) verletzt.
II. Die Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführer jedoch abgelehnt. Dabei hat das Gericht bewusst offen gelassen, ob die vereinsrechtlichen Kennzeichenverbote vorrangig an der Versammlungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG oder an der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG zu messen sind, da die Eingriffe in diese Grundrechte ohnehin gerechtfertigt seien. Dennoch ließ das Gericht eine Tendenz erkennen, vorrangig Art. 9 Abs. 1 GG heranzuziehen, wozu es ausführt:
„Es spricht viel dafür, die Kennzeichenverbote in erster Linie an Art. 9 GG zu messen (vgl. BVerfGE 28, 295 <310>; 149, 160 <192 Rn. 98; 200 f. Rn. 113 f.>). Das gilt jedenfalls für die Rechte von Vereinigungen selbst und von deren Mitgliedern. Daneben kann die Verwendung von Kennzeichen durch nicht organisierte Einzelpersonen – wie bei § 86a StGB – auch als Ausdruck einer Meinung an Art. 5 Abs. 1 GG zu messen sein (vgl. BVerfGE 93, 266 <289>), doch knüpft die Verbotsnorm weiter an das Verbot einer Vereinigung an, deren Symbole aus der Öffentlichkeit verbannt werden sollen (vgl. BTDrucks 14/7386 [neu], S. 49; BTDrucks 18/9758, S. 7).“
1.Verletzung von Art. 9 Abs. 1 GG
Auf dieser Grundlage hat sich das Gericht zunächst mit einer möglichen Verletzung der Vereinigungsfreiheit auseinander gesetzt.
a) Eingriff in den Schutzbereich
Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Eine Vereinigung ist dabei ein freiwilliger Zusammenschluss mehrerer Personen, der auf eine gewisse Dauer angelegt ist und über eine gewisse organisatorische Festigkeit sowie eine gemeinsame Willensbildung verfügt und zu einem gemeinsamen Zweck erfolgt. Geschützt ist sowohl für die Mitglieder als auch für die Vereinigung selbst das Recht auf Entstehen und Bestehen in der gemeinsamen Form, aber auch die Mitgliederwerbung und die Selbstdarstellung sowie das Namensrecht. Die öffentliche Verwendung der Vereinskennzeichen stellt in diesem Zusammenhang einen Beitrag zur Erhaltung der Vereinigung dar, dient aber auch der Mitgliederwerbung und der Selbstdarstellung.
„Für die Identität der hier beteiligten Motorrad-Vereinigungen ist das öffentliche Verwenden der Kennzeichen auf ihren „Kutten“ sogar von grundlegender Bedeutung. Die für die jeweilige Dachorganisation stehenden „Top-Rocker“ und „Central Patches“ sind aus ihrer Sicht wie der Name der Vereinigung (vgl. BVerfGE 30, 227 <241 f.>) Ausdruck des Zusammenhalts und der gemeinsamen Identität; sie werden seit Jahrzehnten weitgehend unverändert genutzt, haben einen hohen Wiedererkennungseffekt und dienen auch der Anwerbung neuer sowie der Anbindung aktueller Mitglieder (dazu u.a. Bock, JZ 2016, S. 158 ff.).“
Durch die Neuregelung des § 9 Abs. 3 VereinsG sowie des § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG wird die Verwendung des Vereinskennzeichens verboten bzw. die Zuwiderhandlung gegen dieses Verbot unter Strafe gestellt, sodass sie als zwangsläufige Folge eines Vereinsverbots zu einer gezielten Verkürzung der Vereinigungsfreiheit führt. Sie stellt mithin einen Eingriff dar.
b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Dieser Eingriff ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts allerdings gerechtfertigt, da er insgesamt keine unverhältnismäßige Einschränkung der Vereinigungsfreiheit bedeutet:
Zunächst verfolgt der Gesetzgeber mit dem Kennzeichnungsverbot ein legitimes Ziel: Er möchte abstrakte Gefahren abwehren, die mit dem Kennzeichen verbunden sind und das Vereinsverbot tatsächlich durchsetzen. Daher ist auch nur die Verwendung solcher Kennzeichen verboten, die „in im Wesentlichen gleicher Form“ verwendet werden, bei denen also erkennbar ist, dass sich die Träger des Kennzeichens eindeutig mit der verbotenen Vereinigung identifizieren, die dieses Kennzeichen in ähnlicher Form ebenfalls verwendet. Entscheidend ist ein ähnliches äußeres Gesamterscheinungsbild. Davon ist – wie § 9 Abs. 3 S. 2 VereinsG klarstellt – beispielsweise auszugehen, wenn die nicht verbotene Vereinigung das Kennzeichen der verbotenen Vereinigung lediglich mit einer abweichenden Ortsbezeichnung weiter verwendet.
Darüber hinaus ist das Kennzeichenverbot zur Erreichung dieser Ziele auch geeignet, wie das Gericht ausführt:
„Wären die Kennzeichen der im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 GG verbotenen Vereinigung mit einer abweichenden Ortsbezeichnung weiter präsent, liefe der Versuch, organisierte Aktivitäten zu unterbinden, die der Rechtsordnung fundamental zuwiderlaufen, weitgehend leer. Der Gesetzgeber darf insoweit davon ausgehen, dass eine Schwestervereinigung, die sich wie der verbotene Verein nach außen präsentiert, gleichermaßen für die strafbaren Aktivitäten oder verfassungswidrigen Bestrebungen des verbotenen Vereins steht (BTDrucks 18/9758, S. 8). Die hier angegriffenen Regelungen fördern jedenfalls den Zweck, die Kennzeichen verbotener Vereine effektiv aus der Öffentlichkeit zu verbannen.“
Das Kennzeichenverbot ist auch erforderlich, um die verfolgten Ziele zu erreichen. Insofern steht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, wobei nicht erkennbar ist, dass er diese mit seiner Einschätzung, dass weniger einschneidende, ebenso effektive Mittel nicht ersichtlich sind, überschritten hat.
Das Kennzeichenverbot ist auch angemessen, die eintretenden Nachteile stehen nicht außer Verhältnis zu den erstrebten Vorteilen. Zwar stellt das Verbot für die Beschwerdeführer einen schweren Eingriff in ihre Vereinigungsfreiheit dar. Denn gerade das öffentliche Tragen der Vereinskennzeichen als Teil ihrer Selbstdarstellung ist für sie besonders wichtig, um ihre Zugehörigkeit zur Vereinigung zu verdeutlichen. Die besondere Bedeutung des Vereinskennzeichens zeigt sich bereits dadurch, dass die betroffenen Vereinigungen regelmäßig detailliert regeln, wer unter welchen Voraussetzungen ihre Kennzeichen in der Öffentlichkeit verwenden darf. Verschärft wird die Schwere des Verbots zudem dadurch, dass die Verwendung der Kennzeichen in der Öffentlichkeit, in einer Versammlung sowie ihre mediale Verbreitung nunmehr nach § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG strafbewehrt ist. Demgegenüber muss jedoch ebenfalls berücksichtigt werden, dass eben nicht jedwede Verwendung des Kennzeichens untersagt ist, sondern die private Verwendung weiterhin zulässig bleibt. Außerdem wird nur die Verwendung „in wesentlich gleicher Form“ verboten, sodass das Kennzeichenverbot nur dann eingreift, wenn das äußere Gesamterscheinungsbild dem Kennzeichen der verbotenen Vereinigung insgesamt erkennbar ähnelt. Zwar wirkt die Strafbewehrung des Verbots eingriffserhöhend, allerdings handelt es sich allein um ein Vergehen, das mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe belegt wird, wobei das Gericht nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 VereinsG unter Umständen sogar ganz von einer Bestrafung absehen kann. Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber gewichtige Interessen:
„Insbesondere ist das Kennzeichenverbot untrennbar mit einem Vereinsverbot verknüpft, das als Instrument präventiven Verfassungsschutzes auf den Schutz von Rechtsgütern hervorgehobener Bedeutung zielt (vgl. BVerfGE 149, 160 <196 Rn. 104>). Nur in Art. 9 Abs. 2 GG ausdrücklich genannte Gründe – der eine Vereinigung prägende, also organisierte Verstoß gegen Strafgesetze (a.a.O., Rn. 106), die kämpferisch-aggressive Ausrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung (a.a.O., Rn. 108) und die Ausrichtung auf Gewalt in den internationalen Beziehungen oder vergleichbare völkerrechtswidrige Handlungen und damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung (a.a.O., Rn. 112) – rechtfertigen ein Verbot. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Verwendung von Kennzeichen verboten werden, da dieses Verbot dem Vereinsverbot materiell folgt. Damit tragen die Rechtsgüter, zu deren Schutz eine Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG ausdrücklich verboten werden kann, auch das Verbot ihre Kennzeichen, öffentlich, in einer Versammlung oder medial verbreitet zu verwenden.“
Vor diesem Hintergrund ist der Eingriff in Art. 9 Abs. 1 GG gerechtfertigt.
2. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG
Diese Erwägungen überträgt das Gericht auch auf die Prüfung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var 1 GG: Auch ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist gerechtfertigt: Die angegriffenen Normen sind allgemeine Gesetze i.S.v. Art. 5 Abs. 2 S. 1 GG, da sie die in Art. 9 Abs. 2 GG benannten Rechtsgüter schützen und nicht an den konkreten Inhalt des Kennzeichens, sondern allein an das formale Verbot der Vereinigung anknüpfen. Zudem kann dem Bedeutungsgehalt des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG bei der Auslegung und Anwendung von § 9 Abs. 3 VereinsG sowie § 20 Abs. 1 Nr. 5 VereinsG ohne Weiteres Rechnung getragen werden, sodass auch kein Verstoß gegen die Wechselwirkungslehre vorliegt.
3. Verletzung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG
Letztlich lehnt das Gericht auch eine Verletzung der Eigentumsfreiheit des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ab. Zwar erkennt das Bundesverfassungsgericht an, dass die Kennzeichen, die auf den „Kutten“ der Vereinsmitglieder angebracht sind, ebenso wir die „Kutten“ selbst in den Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG fallen und sie damit durch das Verbot, diese in der Öffentlichkeit zu verwenden, in der Nutzung ihrer Eigentumsposition eingeschränkt werden. Diese Beeinträchtigungen seien jedoch gerechtfertigt, wie das Gericht knapp ausführt:
„Die angegriffenen Normen bewirken keine Enteignung (vgl. BVerfGE 20, 351 <359>), sondern eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Verwendungsverbote sind insofern Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums und aus den für die Einschränkungen der Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 GG geltenden Gründen verhältnismäßig.“
Damit scheidet auch eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG aus.
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass, sich erneut mit der in Klausuren immer wieder beliebten Meinungsfreiheit sowie der Eigentumsfreiheit auseinanderzusetzen, sondern sollte auch als Anknüpfungspunkt genutzt werden, um sich vertieft mit dem in der Prüfungsvorbereitung häufig stiefmütterlich behandelten Art. 9 Abs. 1 GG zu beschäftigen. Denn wie die Entscheidung zeigt, kann das Grundrecht nicht allein im Hinblick auf ein vollständiges Vereinsverbot, sondern auch für damit zusammenhängende Maßnahmen erhebliche Bedeutung gewinnen. Die dargestellte Entscheidung hat der Thematik erneut Aktualität verliehen, wodurch auch in Prüfungen jederzeit erwartet werden muss, dass sie aufgegriffen wird.
Strafrecht sollte hier mit Grundrechte schützen.
Darin kann Grundrechtskollision zum Tragen kommen.
Der Schutzbereich spezieller Freiheitsrechte schiene dabei wohl nur möglich eröffnet, soweit hier strafrechtlich relevante Verbotenheit zurücktreten muss.
Das kann von der Beeinträchtigung geschützter Interessen abhängen.
Hier, inwieweit eine nicht strafrechtlich relevant verbotene Wirkung genügend klar und sicher abgrenzbar wirkt.
Sofern hier eine entsprechend genügend klare Abgrenzbarkeit verneint ist, muss dies nicht unvertretbar unverhältnismäßig wirken.
Daher kann hier eine strafrechtlich relevante Verbotenheit vertretbar wirken.
Demgegenüber sollte der Schutzbereich spezieller Freiheitsgrundrechte und diesbezüglicher Grundrechtschutz zurücktreten müssen.
Denkbar könnte daher scheinen, dass hier eher nur der Schutzbereich des Grundrechtes auf allgemeine Handlungsfreiheit eröffnet sein kann.
Eine entsprechende strafrechtliche Beschränkung davon schiene demnach nur ebenfalls jedenfalls wohl verhältnismäßig gerechtfertigt und deshalb zulässig.