Das Betreuungsgeld: Mangels Kompetenz des Bundesgesetzgebers verfassungswidrig und nichtig
Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag veröffentlichen zu können. Er stammt erneut von Patrick Otto, Studium in Hannover, studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Volker Epping) sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft (Prof. Dr. Veith Mehde).
Das Betreuungsgeld: Mangels Kompetenz des Bundesgesetzgebers verfassungswidrig und nichtig
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bzgl. des Betreuungsgeldes vom 21. Juli 2015 sorgte sowohl in der Presse- und Medienlandschaft wie auch in der Politik für viel Aufsehen. Das BVerfG stellte in diesem fest, dass das Betreuungsgeld verfassungswidrig und nichtig ist, da dem Bundegesetzgeber die Kompetenz zu dessen Erlass fehle. Patrick Otto fasst die Hintergründe, rechtlichen Probleme und Kernaussagen des Urteils zusammen und gibt eine Bewertung des Urteils ab.
Leitsätze des Autors
1. Der Begriff der öffentlichen Fürsorge in Art. 74 I Nr. 7 GG ist nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BVerfG sehr extensiv auszulegen, sodass hierunter jede Regelung fällt, die darauf abzielt, eine Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen einhergehenden Lebenssituation zu beseitigen oder zu mindern.
2. Die Anforderungen an die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet i.S.d. Art. 72 II GG ist besonders restriktiv auszulegen und nur dann gegeben, wenn sich die Lebensverhältnisse in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.
3. Aus den Grundrechten folgt in jedem Fall keine Pflicht zur Einführung eines Betreuungsgeldes, da dies nicht mehr vom staatlichen Schutzauftrag gedeckt ist.
Vereinfachte Sachverhaltsdarstellung
Der Bundestag hat die Einführung des äußerst umstrittenen Betreuungsgeldes zum 1.8.2013 beschlossen (BGBl. I, 254). Dieses gewährt den Eltern in der Zeit vom 15. bis zum 36. Lebensmonat ihres Kindes einkommensunabhängig eine Zusatzleistung des Staates i.H.v. zunächst 100 EUR und inzwischen 150 EUR, sofern das Kind weder eine öffentlich geförderte Tageseinrichtung noch Kindertagespflege in Anspruch nimmt. Die Freie und Hansestadt Hamburg sah sich durch die bundesgesetzliche Einführung des Betreuungsgeldes in ihrer Landeskompetenz beeinträchtigt und leitete daher gegen die §§ 4a bis 4d des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) ein abstraktes Normenkontrollverfahren gem. Art. 93 I Nr. 2 und Nr. 2a GG und § 76 I Nr. 1, II BVerfGG vor dem BVerfG ein.
Rechtliche Probleme
Im Kern ergeben sich beim Betreuungsgeld drei rechtliche Probleme. Einerseits geht es in zwei voneinander getrennten Fragestellungen darum, ob der Bund überhaupt die Kompetenz dazu hat, das Betreuungsgeld selbst zu regeln oder ob dies nicht allein Sache der Länder ist. Anderseits ist fraglich, inwieweit das Betreuungsgeld möglicherweise gegen Grundrechte verstößt. Hinsichtlich der Kompetenz hatte sich das BVerfG mit der Frage zu befassen, ob das Betreuungsgeld unter die „öffentliche Fürsorge“ gem. Art. 74 I Nr. 7 GG fällt. In seiner bisherigen Judikatur wurde dieser Begriff stets extensiv ausgelegt. Das Korrektiv wurde dann wiederum in der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse respektive der Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit gem. Art. 72 II GG gesehen, über welches viele bundesgesetzliche Regelungen dann doch wieder in den Kompetenzbereich der Länder fallen, da sie nicht im Bundesgebiet einheitlich geregelt werden müssen. Bezogen auf die Grundrechte hat sich das BVerfG vor allem dazu zu verhalten, ob das Betreuungsgeld entweder als staatliches Leistungsrecht aus den Grundrechten unmittelbar folgt oder sogar selbst gegen die Gleichheitsrechte aus Art. 3 I, II GG sowie gegen Art. 6 I, II GG verstößt.
Lösung des BVerfG
1. Das BVerfG trifft zunächst Ausführungen zum Begriff der „öffentlichen Fürsorge“, wobei es seiner bisher großzügigen Linie treu bleibt und insoweit ausführt: „Der Begriff der öffentlichen Fürsorge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ist nicht eng auszulegen (vgl. BVerfGE 88, 203 <329 f.>; 97, 332 <341>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 7. Oktober 2014 – 2 BvR 1641/11 -, juris, Rn. 135). Er setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potenzieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute (ähnlich BVerfGE 88, 203 <329 f.>; 97, 332 <342>; 106, 62 <134>) – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen (vgl. BVerfGE 88, 203 <329 f.>) einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt.“ Im konkreten Fall lässt das BVerfG hierfür genügen, dass der Gesetzgeber mit Einführung des Betreuungsgeldes auf die Belastung von Familien mit Kleinkindern und eine damit verbundene besondere Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit reagieren wollte.
2. Sodann geht es auf die Anforderungen zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse bzw. der Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit gem. Art. 72 II GG ein, die letztlich den Schwerpunkt der Urteilsbegründung darstellt. Betrachtet wird jedoch hauptsächlich die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse, da die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit auch nicht der Intention des Gesetzgebers entspricht, wenngleich das BVerfG nochmals die allgemeinen Voraussetzungen der Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit darlegt und für die hier zu entscheidende Sache verneint. Grundsätzlich sei eine Annahme der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse indes nur unter sehr engen Voraussetzungen gegeben: „Eine Bestimmung ist zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nicht schon dann erforderlich, wenn es nur um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen oder um eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse geht. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist aber dann bedroht und der Bund zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet (vgl. BVerfGE 106, 62 <144>; 111, 226 <253>; 112, 226 <244>). Ein rechtfertigendes besonderes Interesse an einer bundesgesetzlichen Regelung kann auch dann bestehen, wenn sich abzeichnet, dass Regelungen in einzelnen Ländern aufgrund ihrer Mängel zu einer mit der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse unvereinbaren Benachteiligung der Einwohner dieser Länder führen und diese deutlich schlechter stellen als die Einwohner anderer Länder (vgl. BVerfGE 106, 62 <153 f.>; 112, 226 <244 f.>).“
Vor diesem Hintergrund wird gleichsam zurückgewiesen, dass es sich bei dem Betreuungsgeld um ein Instrument zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse handele. Die Gründe, die sich aus den Gesetzgebungsmaterialien ergeben, seien insoweit nicht tauglich und werden vom Gericht in bisweilen rigoroser Manier nahezu allesamt zurückgewiesen. Zunächst geht es darauf ein, dass der Gesetzgeber die Einführung des Betreuungsgeldes als Kopplung zum Anspruch auf eine Betreuung in Kindertagestätten ansieht. Dieser Verknüpfungswille habe wiederum keinerlei Auswirkungen auf das kompetenzrechtliche Schicksal. Isoliert betrachtetet trage das Betreuungsgeld daher nicht zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse bei. Zwar erkennt das BVerfG durchaus an, dass in den Ländern unterschiedliche Regelungswerke vorhanden sind, jedoch habe der Gesetzgeber nicht hinreichend dargelegt, dass das Betreuungsgeld diese beseitige, da keinerlei Anrechnungsvorschriften bestehen und entsprechende Landesregelungen auch lediglich in Bayern, Thüringen und Sachsen existieren. Fernerhin müsse dabei stets der Ausgleich spezifisch föderaler Nachteile der Einwohner einzelnen Länder bezweckt werden. Einzig hören ließe sich, dass durch das Betreuungsgeld gewissermaßen präventiv einer Überlastung der Kindertagesstätten und damit der Gefahr der Nichterfüllung des gesetzlichen Kita- Anspruchs entgegengewirkt wird. Dieses Lenkungsziel folge wiederum nicht der gesetzgeberischen Entscheidung und bleibe daher außer Acht. Das BVerfG führt aus, dass sich eine andere Lesart der §§ 4a bis 4d BEEG auch nicht aus dem verfassungsgerichtliche Verfahren ergeben hätte. Zudem müsse jede Fürsorgeleistung für sich genommen hinsichtlich Art. 72 II GG untersucht werden und ein pauschaler Verweis auf bereits bestehende anderweitige Regelungen genüge nicht. Eine Ausnahme hiervon sei nur dann möglich, wenn die jeweiligen Förderinstrumente objektiv in einem sachlichen Unteilbarkeitsverhältnis stehen. Das Betreuungsgeld trage insoweit diesen Anforderungen in keiner Weise hinreichend Rechnung. Generell gibt das BVerfG auch zu erkennen, dass Materien, die sachlich unteilbar sind, nur in ganz seltenen Ausnahmefällen vorlägen, denn dazu müsse die betreffende Regelung ein integraler Bestandteil der anderen sein, dessen Herausbrechen die Tragfähigkeit der Gesamtkonstruktion gefährde.
Zuletzt befasst sich das BVerfG unter Würdigung der historischen Entwicklung mit der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in Bezug auf Art. 72 II GG. Diese stehe dem Gesetzgeber zwar grundsätzlich zu, jedoch sei dieser keinesfalls als von verfassungsrechtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Entscheidungsspielraum zu interpretieren, sondern erstrecke sich nur auf die Einschätzung und Bewertungen tatsächlicher Entwicklungen.
3. Inhaltlich äußerte sich das Gericht indes nicht mehr zum Betreuungsgeld, wenngleich der Antragsteller noch hervorgehoben hatte, dass es sich hierbei auch um einen nicht gerechtfertigten Eingriff in Grundrechte handele. Das BVerfG äußerte sich lediglich sehr kurz dahingehend, dass aus der schutzrechtlichen Dimension der Grundrechte in jedem Fall keine Pflicht zur Zahlung eines Betreuungsgeldes oder eines Äquivalents bestehe, da Art. 6 I, II GG keine konkreten Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen gewähren.
4. Folglich erklärte das BVerfG das Betreuungsgeld für verfassungswidrig und damit nichtig (§ 78 S. 1 BVerfGG). Auch sah das BVerfG davon ab, eine Übergangsregelung gem. § 35 BVerfGG zu schaffen, da sie diese nicht als erforderlich ansah, sondern der herkömmliche Vertrauensschutz aus § 79 II S. 1 BVerfGG i.V.m. § 45 II SGB X genüge.
Bewertung
Die Entscheidung des BVerfG vermag sowohl in der Begründung wie auch im Ergebnis zu überzeugen, wenngleich die Entscheidung gegen das Bereuungsgeld nicht sonderlich verwundert, sondern absehbar war. Das BVerfG zeigt wiederum sehr schön auf, welche Voraussetzungen an eine Bundeskompetenz im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung geknüpft sind, insbesondere mit Blick auf die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet. Daneben wird sie hoffentlich den Trend des Bundesgesetzgebers eindämmen, originäre Ländermaterien selbst in die Hand zu nehmen und damit das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes ins Wanken zu bringen.
Patrick Otto
Studium in Hannover. Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Volker Epping) sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft (Prof. Dr. Veith Mehde, Mag.rer.publ.)
An sich war diese Entscheidung genau so, wie sie dann auch aus Karlsruhe kam, zu erwarten: Nur unverbesserliche Parteipolitiker mit einer gewissen Sturheit sahen das anders. Daher ist die Entscheidung in ihrer nüchternen Klarheit sehr zu begrüßen – und vielleicht auch ein Lehrstück für künftige „Polit-Gesetze“.