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Schlagwortarchiv für: StPO

Alexandra Alumyan

BVerfG: § 362 Nr. 5 StPO ist nichtig

Aktuelles, BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, StPO, Strafrecht, Uncategorized, Verfassungsrecht

Wohl zähneknirschend unterzeichnete Bundespräsident Steinmeier das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, um anschließend seine verfassungsrechtlichen Bedenken zu äußern, die sich nunmehr als berechtigt herausstellten:

„[…] Für den Bundespräsidenten ergibt sich keine abschließende Gewissheit über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, die die Versagung der Ausfertigung rechtfertigen würde. Angesichts der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken rege ich allerdings an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen“ (Hier zur Wiederholung des Klassikers „Prüfungsrecht des Bundespräsidenten“)


Der Zweite Senat des BVerfG hat durch Urteil vom 31.10.2023 den erst am 30.12.2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Bereits vor Verabschiedung des „Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ zweifelte der Gesetzgeber die Verfassungskonformität des § 362 Nr. 5 StPO aus zwei Gründen an: Ein möglicher Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot („ne bis in idem“), gem. Art. 103 Abs. 3 GG, und gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot, gem. Art. 20 Abs. 3 GG.

Folgender Beitrag widmet sich zunächst den juristischen Grundlagen des Urteils und fasst sodann die wesentlichen Entscheidungsgründe und Argumente des BVerfG zusammen. Die zitierten Randnummern entsprechen der Nummerierung der elektronischen Urteilsveröffentlichung des BVerfG.

I. Verfassungsbeschwerde eines von Mord und Vergewaltigung Freigesprochenen

Anlass, zu dieser Frage Stellung zu beziehen, bot die Verfassungsbeschwerde eines Betroffenen, der im Jahr 1983 von Mord und Vergewaltigung an einer Schülerin freigesprochen wurde. Im Nachhinein tauchten Beweismittel auf, die einen erneuten Tatverdacht begründeten. Deswegen wurde 2022 ein Haftbefehl gegen den Betroffenen erlassen und es drohte eine Wiederaufnahme des vergangenen Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen: Diese Wiederaufnahme stützte sich auf § 362 Nr. 5 StPO, der einen der fünf Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO normiert(e) und erst jüngst durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021, in Kraft getreten am 30.12.2021, eingeführt wurde. Gegen die Maßnahme erhob der Betroffene eine Verfassungsbeschwerde, in welcher er die Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG rügte.

II. Crashkurs: „ne bis in idem“, § 362 Nr. 5 StPO und das Rückwirkungsverbot

Bevor wir uns den Entscheidungsgründen des BVerfG widmen, frischen wir schnell unser Wissen zu den drei wichtigsten Themen der Entscheidung auf:

1. Grundsatz „ne bis in idem“

Der Grundsatz „ne bis in idem“, welcher seinen Ursprung im römischen Recht hat (lat. nicht zweimal in derselben Sache), statuiert das Verbot mehrfacher Strafverfolgung bzw. das Verbot mehrfacher Bestrafung wegen derselben Tat. Das in Art. 103 Abs. 3 GG normierte grundrechtsgleiche (Prozess-)Recht dient der Rechtssicherheit des Betroffenen, indem es die Strafverfolgung wegen derselben Tat auf einen einzigen Versuch beschränkt (v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte/Aust, 7. Aufl. 2018, GG Art. 103 Rn. 179). Dabei sind mehrere Konstellationen denkbar: So soll ein bereits Bestrafter nicht erneut wegen derselben Tat verfolgt oder bestraft werden können, ebenso wie ein Betroffener, der rechtskräftig freigesprochen wurde, nicht erneut wegen desselben Verdachts belangt werden kann.  Ein Strafverfahren dürfe nicht unendlich lang sein – das Urteil am Ende eines Strafverfahrens hat Zäsurwirkung. Der Grundsatz „ne bis in idem“ solle die materielle Gerechtigkeit zugunsten der Rechtssicherheit zurückdrängen.

2. Regelungsgehalt des § 362 Nr. 5 StPO

Eine Ausnahme von dem Grundsatz bildet der Katalog des § 362 StPO, welcher verschiedene Gründe zur Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten des Betroffenen auflistet. Der Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO bezog sich auf Straftaten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht, unverjährbar und damit besonders schwerwiegend sind. Die Wiederaufnahme wäre dann einzuleiten, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht würden, die im damaligen, abgeschlossenen Verfahren keine Berücksichtigung fanden. Die neuen Indizien sollten ferner eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung (wegen der benannten Delikte) in der neuen Hauptverhandlung mit sich bringen. Ziel der Wiederaufnahme nach Nr. 5 war es, durch Beseitigung des Freispruchs materielle Gerechtigkeit herzustellen und die strafverfahrensrechtliche Entscheidung zu korrigieren.

3. Rückwirkungsverbot

Das Rückwirkungsverbot findet seine gesetzliche Verankerung in Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Das Verbot dient dem Vertrauensschutz des Bürgers, welcher sich darauf verlassen können soll, dass die Rechtslage, die er seinem Handeln zugrunde gelegt hat, sowie die Rechtsfolgen, die sich aus seinem Handeln ergeben haben, nicht rückwirkend geändert werden.

Allerdings ist zwischen der „echten Rückwirkung“ und der „unechten Rückwirkung“ zu unterscheiden, denn nur erstere unterfällt dem Rückwirkungsverbot, während letztere verfassungsrechtlich unbedenklich und damit auch zulässig ist.

Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn sich das neue Gesetz auf bereits abgeschlossene Sachverhalte belastend auswirkt: Ein in der Vergangenheit liegender Sachverhalt wurde nach der alten Rechtslage in der Weise X behandelt und wird nunmehr rückwirkend durch das neue Gesetz in der Weise Y behandelt und es treten andere, den Betroffenen belastende Rechtsfolgen ein, die bei Fortgeltung der alten Rechtslage nicht eingetreten wären. Aufgrund des erreichten Grades der Abgeschlossenheit des Sachverhalts entsteht ein schutzwürdiges Vertrauen in die abschließende Wirkung der Rechtslage. Ausnahmsweise ist eine echte Rückwirkung zulässig, z.B., wenn aufgrund der Unklarheit und Verworrenheit der Rechtslage erst gar kein Vertrauen entstehen konnte; wenn ein nur unbedeutsamer Eingriff in den abgeschlossenen Sachverhalt entsteht; oder wenn zwingende Gründe des Allgemeinwohls keine andere Entscheidung zulassen können.

Von einer unechten Rückwirkung hingegen spricht man, wenn sich das Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte auswirkt, die schon vor Inkrafttreten des Gesetzes in Gang gesetzt worden sind. Zwar sind auch hierbei Fälle denkbar, in denen eine unechte Rückwirkung zu unverhältnismäßigen Ergebnissen führen kann, allerdings ist im Grundsatz zunächst von ihrer Zulässigkeit auszugehen.

Beispiel: Wenn etwa eine Neuerung des JAG veränderte Examensvoraussetzungen für das Jurastudium vorsehen würde, so darf keine „echte“ Rückwirkung dahingehend erzeugt werden, dass denjenigen, die ihr Staatsexamen bereits haben, der Abschluss aberkannt wird, weil sie die neuen Voraussetzungen nicht erfüllen. Diese sind aufgrund der Abgeschlossenheit des Sachverhalts („fertiges Staatsexamen“) schutzwürdig und sollen auf die Verbindlichkeit der alten Rechtslage vertrauen können. Anders sieht es allerdings für diejenigen aus, die zwar das Jurastudium begonnen haben, das Staatsexamen aber noch nicht unmittelbar ansteht: Hierbei handelt es sich um einen bereits begonnenen Sachverhalt („auf dem Weg zum Staatsexamen“), der noch nicht abgeschlossen ist. Die betroffenen Studenten können ihr Verhalten noch anpassen und nach der neuen Rechtslage ausrichten, sodass eine Änderung der Rechtslage keinen unzulässigen Eingriff darstellt, die Rückwirkung ist in diesem Fall eine „unechte“!

III. Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts

1. Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot, Art. 103 Abs. 3 GG

In seiner Entscheidung tenoriert das BVerfG, dass Art. 103 Abs. 3 GG („ne bis in idem“) dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit verleiht und diese grundgesetzliche Entscheidung absolut wirke. Dies bedeute, so das BVerfG, dass Art. 103 Abs. 3 GG einer Abwägung mit anderen Verfassungsgütern nicht zugänglich sei. Das Gericht spricht insofern von einer Abwägungsfestigkeit.

Arg. 1: Systematik

Diese Wertung ergebe sich bereits aus der systematischen Nähe zu Art. 103 Abs. 2 GG, welcher gegenüber dem Gesetzgeber das ausdrückliche und ausnahmslose Verbot, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen, statuiert. Das Verbot des Art. 103 Abs. 2 GG wirke absolut, weswegen ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als gleichermaßen absolutes Verbot angebracht sei (vgl. Rn. 84).

Arg. 2: Telos der Norm

Art. 103 Abs. 3 GG dient der Rechtssicherheit des Einzelnen in Bezug auf die Endgültigkeit eines strafgerichtlichen Urteils (s.o.). Das dahingehend entwickelte Vertrauen würde ausgehebelt werden, wenn es stets der freien Abwägung zugunsten des Strafanspruchs des Staates zugänglich wäre und damit nicht mehr endgültige, sondern nur noch vorläufige Wirkung hätte. Art. 103 Abs. 3 GG diene zugleich dem Schutz der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen, welcher im Rahmen eines faktisch unendlichen Prozesses sonst zu einem „bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft“ werden würde (Rn. 88). Dabei sei zu beachten, dass gerade das Strafrecht einer der intensivsten Bereiche staatlicher Macht darstelle und der Staat sich mit der Einführung des Art. 103 Abs. 3 GG eine Selbstbeschränkung auferlegt habe, die er einzuhalten hat.

Arg. 3: Rechtsfrieden

Ein weiteres Argument stelle der Rechtsfrieden dar. In der Gesellschaft bestehe das „vom Einzelnen unabhängige Bedürfnis an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage“ (Rn. 89) – die moderne Rechtsordnung hat sich zur Befriedigung eben jenes Bedürfnisses gegen die Erreichung des „Ideals absoluter Wahrheit“ (Rn. 89), und vielmehr für die relative Wahrheit entschieden. Eine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ beabsichtige das Strafrecht nicht. Im Sinne des Rechtsfriedens seien daher auch unrichtige Entscheidungen in Kauf zu nehmen. Dem Geltungsanspruch eines Urteils entspreche es nicht, stets die Möglichkeit zu eröffnen, den Urteilsspruch anzuzweifeln – ansonsten würde das Vertrauen in die Effektivität der Streitentscheidung durch die Rechtsprechung, mithin der Rechtsfrieden, beeinträchtigt werden (vgl. Rn. 89).

Arg. 4: Belange der Opfer und der Angehörigen

Zu denken ist allerdings auch an die Belange der Opfer der mutmaßlichen Täter und der Angehörigen, deren Interesse an der Verfolgung der Straftat zunächst als hoch erscheinen dürfte. Ihr Anspruch auf effektive Strafverfolgung gegen den Staat folgt aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und S. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Durch dieses Leistungsgrundrecht sollen eine Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und ein allgemeines Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt ausgeräumt werden. Allerdings steht dies im Konflikt mit der seelischen Belastung der Opfer bzw. der Hinterbliebenen, welche aufrechterhalten bleibt, wenn ein Strafprozess wegen des „grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie ende“ (Rn. 134). Die Interessen und das Wohlbefinden der Opfer und der Angehörigen können daher, laut BVerfG, nicht zugunsten der Zulässigkeit der Wiederaufnahme i.S.d. Nr. 5 herangezogen werden.

Im Übrigen merkt das BVerfG an, dass der Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung nicht den Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis, etwa eine Verurteilung, beinhaltet. Dem Staat obliegt jedenfalls das effektive Tätigwerden. Solange eine Verfolgung erfolgt und der durchgeführten Strafverfolgung oder dem Strafverfahren keine schwerwiegenden Mängel anhaften, so ist dem Staat kein Vorwurf zu machen; auch nicht, wenn das Verfahren mit einem Freispruch endet.

2. Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG

Regelungsgegenstand des § 362 Nr. 5 StPO bildeten sowohl Strafverfahren, die vor Inkrafttreten, wie auch nach Inkrafttreten der Norm ihren Abschluss in Form eines Freispruchs gefunden haben (Rn. 148). Freispruch bedeutet, dass der dem Verfahren zugrundeliegende Tatverdacht sich nicht bestätigen konnte, und er schließt das Strafverfahren mit eben diesem Aussagegehalt ab. Ein Strafverfahren, das durch einen rechtskräftigen Freispruch beendet ist, stellt einen in der Vergangenheit liegenden, abgeschlossenen Sachverhalt dar. Sofern auf Grundlage des § 362 Nr. 5 StPO ein Verfahren, das vor Inkrafttreten der Norm abgeschlossen wurde, wiederaufgenommen würde, entfielen die Rechtswirkungen des Freispruchs und es läge eine echte Rückwirkung vor. Die Wiederaufnahmeregelung des § 362 Nr. 5 StPO verstoße mithin gegen das Rückwirkungsverbot. Eine Ausnahme von der Unzulässigkeit der echten Rückwirkung liegt, laut BVerfG, jedenfalls auch nicht vor.


IV. Sondervotum zur Vereinbarkeit mit dem Grundsatz „ne bis in idem“

Im Sondervotum äußern zwei Richter des BVerfG ihre abweichende Meinung zur Unvereinbarkeit des § 362 Nr. 5 StPO mit dem Grundsatz „ne bis in idem“.

1. Art. 103 Abs. 3 GG einschränkbar

Zunächst sei, laut Sondervotum, Art. 103 Abs. 3 GG abwägungsoffen. Der Grundsatz „ne bis in idem“ sei zwar eine Grundentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit, doch könne er ausnahmsweise unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durchbrochen werden. Dies zeigt etwa das Vorliegen anderer, verfassungskonformer Wiederaufnahmegründe (wie § 362 Nr. 1-4 StPO).

Ferner sei Art. 103 Abs. 3 GG zwar vorbehaltlos, nicht aber schrankenlos gewährleistet und unterliegt damit zumindest den verfassungsimmanenten Schranken: Dass ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht gar nicht eingeschränkt werden kann, bliebe eine Ausnahme und erfordere eine unmittelbare Ableitbarkeit aus dem Grundrecht der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG. Eine taugliche verfassungsimmanente Schranke wäre etwa die staatliche Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, die sich konkretisieren lässt auf das rügefähige Recht auf wirksame Verfolgung schwerster Straftaten.

2. Vergleich zu anderen Wiederaufnahmegründen

Die Wiederaufnahmegründe der § 362 I Nr. 1-4 StPO zeigen, dass das Vertrauen in den Bestand rechtskräftiger Entscheidungen bei Vorliegen schwerer Verfahrensmängel, bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundanforderungen im Verfahren oder bei einem glaubwürdigen Geständnis des Freigesprochenen sehr wohl weichen kann. Diesen Wiederaufnahmegründen liegt sinngemäß zugrunde, dass niemand wegen eines nachträglich bekannt gewordenen Defizits die „Früchte einer strafbaren Handlung genießen“ können soll (Rn. 13). Insbesondere durch die Einführung des in Nr. 4 benannten Wiederaufnahmegrundes sollte vermieden werden, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung dadurch erschüttert werden kann, dass sich ein Straftäter im Nachhinein seiner Straftat ohne Konsequenzen berühmen könnte. Nicht weniger problematisch verhalte es sich im Falle der von Nr. 5 erfassten Sachverhalte, dass jemand, der wegen schwersten Verbrechen dringend verdächtigt wird, endgültig straflos bliebe (Rn. 14).

Durch das Beibehalten der Nr. 1-4 stünde nun eine unklare Wertentscheidung im Raum, wie das Sondervotum anhand von zwei Beispielen veranschaulicht (Rn. 15): Ein Freigesprochener, der von einer nicht notwendigerweise durch ihn selbst gefälschten Urkunde profitiert hat, müsste eine erneute Strafverfolgung dulden – ein Freigesprochener hingegen, der wegen Mordes verdächtigt und erst Jahre später durch ein molekulargenetisches Gutachten überführt wird, bliebe straflos. Oder: Ein Täter gesteht ein Kriegsverbrechen und kann nach einem Freispruch erneut angeklagt werden, nicht aber sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der sich von einem Geständnis fernhält und damit vor einer erneuten Strafverfolgung geschützt bleibt.

3. Unverjährbarkeit

Der Gesetzgeber habe für einige Straftaten durch die Regelung ihrer Unverjährbarkeit eine Entscheidung zugunsten der lückenlosen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs getroffen, weswegen sich, laut Sondervotum, die Frage aufdränge, weshalb sich diese Wertentscheidung nicht auch durch Beibehalten der Nr. 5 widerspiegeln kann. Das Anliegen des Strafrechts, eine schuldangemessene Bestrafung schweren Unrechts zu verfolgen, verschärfe sich, je schwerer das Verbrechen und je erdrückender die neuen Tatsachen und Beweismittel sind.

4. Völkerrecht

Ferner sei eine Einschränkung des Mehrfachverfolgungsverbots auch aus dem Völkerrecht bekannt, wie Art. 4 Abs. 2 7. ZP-EMRK und die ausnahmsweise auch belastende Auslegung des Art. 14 VII IPbpR zeigen (Rn. 29).

5. Rechtsstaat

Zu Zeiten des Nationalsozialismus erfuhr der „ne bis in idem“-Grundsatz erhebliche Einbußen, die aber heute nicht mehr zu befürchten seien, zumal der Grundsatz heute in einem rechtsstaatlich abgesicherten Rahmen eingebunden ist. Schon tatbestandlich war eine Mehrfachverfolgung nur unter strengen Bedingungen möglich: Das in Nr. 5 genannte Verbrechen musste als vollendete Tat in täterschaftlicher Begehung vorliegen, während der Betroffene ein Freigesprochener gewesen sein muss, (d.h. ein zu mild Verurteilter war aus dem Täterkreis ausgeschlossen). Während das Sondervotum betont, dass die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift im Einzelnen diskutabel sein kann, so ist jedenfalls die Möglichkeit zuzugestehen, § 362 I Nr. 5 StPO verfassungskonform auszulegen und ggfs. eine Korrektur auf Rechtsfolgenseite vorzunehmen. Ein Missbrauch dieser Möglichkeit droht in dem Rechtsstaat, der die BRD geworden ist, nicht mehr.


V. Fazit

Im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit des § 362 Nr. 5 StPO war sich – im Ergebnis ­– der ganze Senat einig, da sich jedenfalls ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aufdrängte. Spannend ist, dass sich bei der Diskussion um den Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot sehr antagonistische Auslegungen offenbarten. Das uneinstimmig ergangene Votum verdeutlicht, dass die Frage um die zu treffende Wertentscheidung zwischen der materiellen Gerechtigkeit auf der einen Seite und der Rechtssicherheit auf der anderen Seite keine einfache war. Das Urteil ruft jedoch zu Recht in Erinnerung, dass gerade in einem Rechtsstaat dem staatlichen Strafanspruch klare Grenzen zu setzen sind – selbst in den Fällen, in denen der Ausgang eines formell wie materiell nicht zu beanstandenden Strafverfahrens dem gesellschaftlichen Gerechtigkeitsgefühl widersprechen mag.

07.02.2024/4 Kommentare/von Alexandra Alumyan
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Alumyan https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Alumyan2024-02-07 19:05:412024-02-13 16:06:04BVerfG: § 362 Nr. 5 StPO ist nichtig
Gastautor

Das Sanktionssystem im Jugendstrafrecht – von Erziehungsmaßregeln bis zur Jugendstrafe

Rechtsgebiete, StPO, Strafrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.

Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe? Einstellen oder aburteilen? Liest man sich erst einmal in die Grundlagen des Jugendstrafrechts ein, fällt auf: Das Jugendstrafrecht hat als Sonderstrafrecht für junge Täter*innen ein ganz eigenes Rechtsfolgensystem. Dieses nachvollziehen zu können, erfordert eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem JGG. Das Jugendstrafrecht geht mit Strafe nämlich deutlich anders um als das Erwachsenenstrafrecht. Es stellt den Erziehungsgedanken in den Vordergrund und nimmt Abstand von negativer Generalprävention. § 5 JGG enthält ein in sich geschlossenes eigenständiges System von Rechtsfolgen. § 5 JGG gilt für Jugendliche und über § 105 Abs. 1 JGG in großen Teilen für Heranwachsende und normiert als mögliche Rechtsfolgen eine Trias aus Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmitteln (§§ 13- 16 JGG) und der Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). § 5 Abs. 1 JGG erfasst die reinen Erziehungsmaßnahmen, Abs. 2 die Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe). Wegen des unterschiedlichen Schwerpunktes in der Zielsetzung der Sanktionen sind die Rechtsfolgen des JGG gegenüber denen des Erwachsenenstrafrechts ein „aliud“ (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 5 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 5 Rn. 9). Gemäß § 8 JGG können die möglichen Sanktionen auch miteinander kombiniert werden.

I. Erziehungsmaßregeln

Fangen wir vorne an: Erziehungsmaßregeln können aus Anlass der Straftat angeordnet werden. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Erziehungsmaßregeln sind (1) die strafrechtliche Verantwortlichkeit, (2) Erziehungsbedürftigkeit, (3) Erziehungsfähigkeit und (4) Erziehungsbereitschaft. Ob sie angeordnet werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes. Entscheidend ist, dass die Erziehungsmaßregeln aus der Sicht des Gerichts nur erzieherische, positiv-präventive Zwecke verfolgen dürfen; Gesichtspunkte der Sühne und Vergeltung dürfen keine Rolle spielen (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 9 Rn. 7). Die Erziehungsmaßregeln stehen unter dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie sind nicht dafür bestimmt, das Unrecht der Tat auszugleichen, sondern werden nur aus Anlass der Tat angeordnet. Was genau Erziehungsmaßregeln sind, normiert § 9 JGG: Nr. 1 die Erteilung von Weisungen, Nr. 2 die Anordnung, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 in Anspruch zu nehmen. Diese Aufzählung ist erschöpfend und gilt gemäß § 105 Abs. 1 JGG auch für Heranwachsende. § 10 JGG definiert wiederum Weisungen als „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen“. Kommen die Jugendlichen oder Heranwachsenden Weisungen schuldhaft nicht nach, so kann gemäß § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung zuvor erfolgt war. Dieser Arrest wird in der Form des § 16 JGG angeordnet, ist also Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest. Die Erziehungsmaßregel „Hilfe zur Erziehung“ gemäß § 12 JGG wird in § 105 JGG nicht erwähnt und gilt daher nur für Jugendliche.

II. Ahndungsmittel

Reichen Erziehungsmaßregeln hingegen nicht aus, so hat das Gericht auf Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe) zurückzugreifen. Die Ahndungsmittel berücksichtigen neben dem Erziehungsgedanken ebenso die Sanktionszwecke der Sühne und Vergeltung.

III. Zuchtmittel

Auf der zweiten Stufe der Rechtsfolgentrias stehen nun die Zuchtmittel. Zuchtmittel haben nicht die Rechtswirkung einer Strafe. Die Verhängung von Zuchtmitteln setzt voraus, dass einerseits Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen, andererseits die einschneidendere Ahndungsform der Jugendstrafe nicht geboten ist (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 13 JGG Rn. 4; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 13 Rn. 7 ff.).  § 13 Abs. 2 JGG enthält einen abschließenden Katalog von Zuchtmitteln: Die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen und den Jugendarrest. Die Verwarnung gemäß § 14 JGGgilt als mildestes Zuchtmittel. Sie kommt bei leichten Verfehlungen in Betracht. Die Verwarnung kann isoliert ausgesprochen oder mit anderen Maßnahmen kombiniert werden (§ 8 JGG). Die Ermahnung unterscheidet sich von der Verwarnung dadurch, dass sie kein Zuchtmittel ist, formlos erteilt wird und zur Einstellung des Verfahrens führt. Auflagen gemäß § 15 JGG dienen der Ahndung der Tat. Das mit den Auflagen angeordnete Verhalten ist eine echte tatbezogene Sühneleistung mit dem erzieherischen Zweck, den Jugendlichen und Heranwachsenden von weiteren Straftaten abzuhalten. Abs. 1 enthält dabei eine abschließende Regelung der im Jugendstrafrecht zulässigen Auflagen: Schadenswiedergutmachung, Entschuldigung, Arbeitsleistungen und Zahlung eines Geldbetrages. Bei schuldhafter Nichterfüllung von Auflagen kann das Gericht entsprechend § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest als Ungehorsamsarrest verhängen (§ 15 Abs. 3 JGG). Der Jugendarrest gemäß § 16 JGG ist Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 16 Rn. 27 ff.) und kann gegen Jugendliche sowie Heranwachsende verhängt werden. Jugendarrest ist kurzzeitiger Freiheitsentzug ohne Rechtswirkungen einer Strafe. Höchstmaß des Dauerarrestes ist ein Zeitraum von vier Wochen. Die oder der Verurteilte gilt nicht als vorbestraft.

IV. Jugendstrafe

In den §§ 17 ff. JGG finden sich die Vorschriften über die Jugendstrafe, dem letzten Glied der Rechtsfolgentrias. Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. Eine Jugendstrafe kann gegen Jugendliche und Heranwachsende verhängt werden. Voraussetzung für die Verhängung ist gemäß § 17 Abs. 2 JGG das Vorliegen einer „schädlichen Neigung“, die in der Tat hervorgetreten ist, das Nichtausreichen von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln zur Erziehung oder die Erforderlichkeit der Strafe aufgrund der Schwere der Schuld. Schädliche Neigungen liegen vor, „wenn bei dem Täter erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel zu beobachten sind, die ohne eine längere Gesamterziehung die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat angelegt waren und im Zeitpunkt des Urteils noch gegeben sind und deshalb weitere Straftaten befürchten lassen.“ Die besondere Schwere der Schuld ist regelmäßig nur bei Tötungsdelikten oder Delikten mit Todesfolge gegeben. § 18 JGG gibt als Dauer der Jugendstrafe als Mindestmaß 6 Monate, als Höchstmaß 10 Jahre an. Entgegen § 18 Abs. 1 JGG beträgt bei Heranwachsenden die Höchststrafe bis zu zehn Jahren, bei Mord und Vorliegen der besonderen Schwere der Schuld bis zu 15 Jahren (§ 105 Abs. 3 JGG). Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Dauer der Jugendstrafe nach der erforderlichen erzieherischen Einwirkung zu bemessen. § 18 Abs. 2 JGG steht damit im Kontrast zum Zumessungsprogramm des allgemeinen Strafrechts in § 46 StGB und bildet die Grundlage für eine eigenständige jugendstrafrechtliche Zumessungslehre.

V. Strafaussetzung zur Bewährung

Bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht regelmäßig die Vollstreckung der Strafe unter den Voraussetzungen des § 21 JGG zur Bewährung aus. Bei einer günstigen Prognose ist die Strafaussetzung zwingend vorgeschrieben. Voraussetzung für eine günstige Prognose ist die Erwartung, dass die oder der Jugendliche oder Heranwachsende künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird, und zwar aufgrund der Möglichkeiten in der Bewährungszeit und ohne die Einwirkung des Strafvollzuges. Die Strafaussetzung ist sowohl von einer günstigen Sozial- als auch von einer positiven Sanktionsprognose abhängig (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 21 JGG Rn. 8; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 21 Rn. 11ff.). Die Höchstgrenze der Strafaussetzung zur Bewährung beträgt zwei Jahre und richtet sich damit nach dem allgemeinen Strafrecht. Die Bewährungszeit darf gemäß § 22 JGG drei Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten.  Auflagen und Weisungen nach § 23 JGG sind als flankierende Maßnahmen zu der Strafaussetzung auf Bewährung möglich.

VI. Vorabentscheidung gemäß § 27 JGG

§ 27 JGG normiert keine eigenständige Rechtsfolge des Jugendstrafrechts im strafrechtlichen Sinne. Die Vorschrift erlaubt nur in bestimmten Fällen die Aufspaltung der sonst vorgeschriebenen einheitlichen Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage. Hinsichtlich des Schuldspruchs trifft das Gericht eine rechtskraftfähige Vorabentscheidung, während die Rechtsfolgenbestimmung in Ob und Maß zunächst noch aufgeschoben und vom Bewährungsverlauf abhängig gemacht wird (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 27 Rn. 2). Inhaltlich regelt die Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz „in dubio pro reo“, die dazu führt, dass begründete Zweifel an dem Vorliegen einer schädlichen Neigung im notwendigen Umfang nicht dazu führen, von vornherein in dubio pro reo von einer Jugendstrafe abzusehen, sondern die Entscheidung darüber bis zur endgültigen Gewissheit aufzuschieben. Die Regelung des § 27 JGG soll den Jugendlichen und Heranwachsenden eine Chance bieten, in der Bewährungszeit (§ 28 JGG) zu zeigen, dass die festgestellten schädlichen Neigungen nicht den Umfang haben, den die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert. Die Entscheidung nach § 27 JGG wird in das Bundeszentralregister, nicht jedoch in das Führungszeugnis eingetragen. Die Eintragungen werden entfernt, wenn der Schuldspruch getilgt oder in eine Entscheidung einbezogen wird, die in das Erziehungsregister einzutragen ist. Wird die schädliche Neigung im erforderlichen Umfang festgestellt, ist gemäß § 30 Abs. 1 JGG eine Jugendstrafe zu verhängen. Wird diese hingegen nicht festgestellt, wird der Schuldspruch gemäß § 30 Abs. 2 getilgt (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 30 Rn. 18, 19).

VII. Aburteilung

Haben sich Jugendliche oder Heranwachsende wegen mehrerer Straftaten strafbar gemacht, setzt das Gericht gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 JGG nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest. Dabei dürfen die gesetzlichen Höchstgrenzen des Jugendarrestes und der Jugendstrafe nicht überschritten werden.

Wurden mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen begangen und werden diese gleichzeitig abgeurteilt, gilt gemäß § 32 S. 1 JGG einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die auch nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Liegt das Schwergewicht im allgemeinen Strafrecht, so ist dieses anzuwenden.

Welche dieser Sanktionsmittel schlussendlich verhängt werden, liegt im Ermessen des zuständigen Jugendgerichtes. Entscheidend sind neben der Schwere der Tat insbesondere die Reife der Jugendlichen und Heranwachsenden, die Vorschläge der Jugendgerichtshilfe sowie das Nachtatverhalten.

VIII. Einstellungsmöglichkeiten im JGG

Ähnlich wie im Erwachsenenstrafrecht gibt es aber auch im Jugendstrafrecht Einstellungsmöglichkeiten. Es muss also nicht immer jede Verfehlung vor Gericht landen oder auch durch Urteil entschieden werden. § 45 JGG ermöglicht ein Absehen von der Verfolgung.  Die Staatsanwaltschaft kann ohne Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen. § 45 JGG ist eine der wesentlichen Grundlagen der Diversion im Jugendstrafverfahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 45 JGG Rn. 4). § 47 JGG ermöglicht die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht. Eingestellt werden kann, „wenn 1. die Voraussetzungen des § 153 der Strafprozeßordnung vorliegen, 2. eine erzieherische Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 2, die eine Entscheidung durch Urteil entbehrlich macht, bereits durchgeführt oder eingeleitet ist, 3. der Richter eine Entscheidung durch Urteil für entbehrlich hält und gegen den geständigen Jugendlichen eine in § 45 Abs. 3 Satz 1 bezeichnete Maßnahme anordnet oder 4. der Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist.“ Die Einstellung nach § 47 JGG bedarf gemäß Abs. 2 der Zustimmung der Staatsanwaltschaft, sofern nicht bereits der vorläufigen Einstellung zugestimmt wurde. Einer Zustimmung bedarf es ferner nicht, wenn die Einstellung im vereinfachten Jugendverfahren (§§ 76 ff. JGG) erfolgt und die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat.

In § 2 JGG ist klar normiert, dass der Erziehungsgedanke im Vordergrund zu stehen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Dieser Hintergedanke muss bei der Konfrontation mit dem Jugendstrafrecht auch stets beachtet werden. Nur mit diesem Hintergrund kann ein passender Umgang mit Jugendlichen und Heranwachsenden und die Prävention weiterer Taten erreicht werden. Dringend notwendig ist dafür die vertiefte Kenntnis des Sanktionssystems als „aliud“ zum Erwachsenenstrafrecht.

30.11.2022/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-11-30 10:00:002022-12-23 08:49:45Das Sanktionssystem im Jugendstrafrecht – von Erziehungsmaßregeln bis zur Jugendstrafe
Gastautor

Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick

Rechtsgebiete, Startseite, StPO, Strafrecht, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.

Begeht eine Erwachsene oder ein Erwachsener eine Straftat, passiert meist Folgendes: Wir arbeiten uns materiell-rechtlich durch die Straftatbestände des StGB und prozessrechtlich durch die Verfahrensvorschriften der StPO und des GVG. Wir finden die einschlägigen Paragrafen, klagen vor der Strafrichterin oder dem Strafrichter, dem Schöffengericht, dem Landgericht oder sogar Oberlandesgericht an und verhandeln meist öffentlich über die zu erwartende Strafe. Doch was geschieht, wenn die Täterin oder der Täter jünger als 21 Jahre alt ist?

Diese Fragestellung kann beispielsweise in der mündlichen Prüfung auftauchen und wird die Prüflinge häufig überraschend treffen. Denn leider wird dieses strafrechtliche Nebengebiet oftmals  vernachlässigt. Wie dann zu antworten ist, verraten wir im Folgenden:

Unterhalb der magischen Altersgrenze von 21 Jahren ist das Jugendstrafrecht einschlägig. Das Jugendstrafrecht ist ein strafrechtliches Nebengebiet und Sonderstrafrecht für junge Täterinnen. Für Ermittlungs- und Strafverfahren gegen die jungen Täterinnen gelten zwar grundsätzlich die Vorschriften der StPO, aber nur bis zu dem Punkt, an dem das Jugendgerichtsgesetz (JGG) oder allgemeine Grundsätze des JGG vorrangig sind. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht, das auf die Tat bezogen ist, ist das Jugendstrafrecht auf die jeweiligen Täter*innen bezogen. Im Vordergrund steht nicht die Strafe, sondern die Erziehung. Gemäß § 2 Abs. 1 JGG soll die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem erneuten Straftaten von Jugendlichen oder Heranwachsenden (Rückfallkriminalität) entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Aus diesem Grund sieht das JGG auch andere Rechtsfolgen vor als das Erwachsenenstrafrecht. Als Rechtsfolgen normiert sind Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmittel (§§ 13-16a JGG), und die Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). Aspekte der negativen Generalprävention dürfen allgemein nicht berücksichtigt werden.

I. Anwendbarkeit des JGG

Doch zunächst stellt sich die Frage: Auf wen ist das Jugendstrafrecht anwendbar? Kinder unter 14 Jahren sind nach § 19 StGB schuldunfähig. Diese Schuldunfähigkeit stellt ein Prozesshindernis dar, sodass Kinder unter 14 Jahren strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden können (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 10). Im Falle von vermehrter Kinderdelinquenz muss das Verhalten für ein Kind unter 14 Jahren jedoch nicht folgenlos bleiben. Das Jugendamt – insbesondere die jeweils zuständige Jugendgerichtshilfe – kann sich einschalten. Bei der Frage nach dem Anwendungsbereich des JGG hilft § 1 Abs. 2 weiter: „Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.“ Ausschlaggebend ist stets das Alter zum Zeitpunkt der Tat. Das heißt, dass auch eine jetzt 25-jährige Täterin nach Jugendstrafrecht behandelt werden kann, wen sie die Tat eben acht Jahre zuvor begangen hat. Ist zweifelhaft, ob die oder der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden, ergänzt § 1 Abs. 3 JGG. Bei Zweifeln über den genauen Tatzeitpunkt oder über das exakte Geburtsdatum gilt also die jeweils günstigere Rechtsfolge (in dubio pro reo) (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 1 JGG Rn. 25; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 3).

II. Gerichtliche Zuständigkeiten

Wer ist nun für dieses Sonderstrafrecht zuständig? Die örtliche Zuständigkeit folgt aus dem allgemeinen Strafverfahrensrecht; sie kann sich mithin nach den §§ 7 ff. StPO richten. Es ist aber in aller Regel das Gericht am Wohnort der Jugendlichen oder Heranwachsenden zuständig. Anders als bei Erwachsenen soll das Verfahren nämlich grundsätzlich bei dem Gericht stattfinden, wo seine Durchführung die Jugendlichen oder Heranwachsenden wegen des jugendlichen Alters am wenigsten belastet und dem die familiengerichtliche Zuständigkeit obliegt. Damit wird auch bezweckt, dass sowohl Jugendliche als auch Heranwachsende stets auf die gleichen Gesichter treffen und auf diese Weise dem Erziehungsgedanken besser Genüge getan werden kann. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 39, 40 und 41 JGG für Jugendliche, über § 108 Abs. 1 JGG für Heranwachsende. Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter ist gemäß § 39 JGG zuständig, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach dem JGG zulässige Nebenstrafe und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind.  Gemäß § 39 Abs. 2 JGG darf die Jugendrichterin oder der Jugendrichter auf Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nicht erkennen. Das Jugendschöffengericht ist gemäß § 40 JGG zuständig für alle Verfahren, für die nicht die Jugendrichterin oder der Jugendrichter oder die Jugendkammer beim Landgericht zuständig sind. Die Rechtsfolgenkompetenz ist im Gegensatz zum Jugendrichter oder zur Jugendrichterin und allgemeinen Schöffengericht grundsätzlich unbeschränkt. Wendet das Jugendschöffengericht Jugendstrafrecht an, hat es eine unbeschränkte Rechtsfolgenkompetenz und kann bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen eine Jugendstrafe bis zur gesetzlichen Höchstgrenze verhängen; wendet es hingegen Erwachsenenstrafrecht an, hat es eine Strafgewalt in Höhe von 4 Jahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 40 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 40 Rn. 4). Die Jugendkammer ist gemäß § 41 JGG erstinstanzlich zuständig vor allem für die Sachen, die nach allgemeinem Recht vor das Schwurgericht gehören, für umfangreiche Sachen, die die Jugendkammer nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht übernommen hat, sowie nach § 103 Abs. 1 JGG für verbundene Verfahren gegen Jugendliche und Erwachsene, sofern für die Erwachsenen die große Strafkammer zuständig wäre. Als Rechtsmittelgericht entscheidet die Jugendkammer über Berufungen gegen Urteile der Jugendrichterin oder des Jugendrichters und des Jugendschöffengerichtes. Sie entscheidet auch über Beschwerden gegen Verfügungen und Entscheidungen der Jugendrichterin oder des Jugendrichters sowie des Jugendschöffengerichtes.

III. Beteiligte im Jugendstrafverfahren

Grundsätzlich finden sich die gleichen Beteiligten im Jugendstrafverfahren, die auch im Erwachsenenstrafverfahren vorzufinden sind: Staatsanwaltschaft, Gericht und gegebenenfalls Verteidigerin. Bei der Staatsanwaltschaft besteht eine eigene Abteilung mit Jugendstaatsanwältinnen, das Gericht ist mit Jugendrichterinnen besetzt und auch die eingesetzten Schöffen sollten pädagogisch qualifiziert sein. Besondere Beteiligte in einem Jugendstrafverfahren ist aber die Jugendgerichtshilfe (JGH) oder auch Jugendhilfe im Strafverfahren (JiS). Die Bezeichnung variiert je nach Jugendamt. Die JGH wird gemäß § 38 JGG von den Jugendämtern in Zusammenwirken mit den Vereinigungen der Jugendhilfe ausgeübt. Die Mitarbeiterinnen der JGH werden durch die Polizei und/oder Staatsanwaltschaft über jedes Verfahren informiert, das gegen Jugendliche oder Heranwachsende eingeleitet worden ist. Sie beraten die Beschuldigten und deren Angehörige, helfen bei Schwierigkeiten, die sich durch das Verfahren ergeben können, interessieren sich für die Persönlichkeit und die besonderen Lebensumstände der Betroffenen. Sie klären Beweggründe für die Straftat und verhelfen dem Gericht zu einem ausgewogenen Urteil, indem sie die Gesprächsergebnisse in Form eines Jugendgerichtshilfeberichtes vorlegen sowie bei der Gerichtsverhandlung eine mündliche Stellungnahme abgeben, verbunden mit einem Vorschlag der zu ergreifenden Maßnahme. Die Zuständigkeit der JGH richtet sich nach dem Wohnort. Bei Minderjährigen ist der Wohnort der Eltern ausschlaggebend, § 87b SGB VIII. Die Zuständigkeiten innerhalb der JGH sind wiederum unterteilt nach Stadtbezirken.

IV. Grundsatz der Nichtöffentlichkeit

Bei einem Jugendstrafverfahren ist ferner § 48 JGG zu beachten. Danach gilt im Jugendstrafverfahren der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit. § 48 JGG gilt dabei nicht für Heranwachsende, jedoch kann gemäß § 109 Abs. 1 S. 4 JGG die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies „im Interesse des Heranwachsenden geboten“ ist. Maßgeblich für die Anwendung des § 48 JGG ist wiederum das Alter der Angeklagten oder des Angeklagten zur Tatzeit.

V. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

Damit schlussendlich Jugendliche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, muss deren strafrechtliche Verantwortlichkeit positiv festgestellt werden. Gemäß § 3 JGG sind dabei die Einsichtsfähigkeit, Steuerungsfähigkeit und der individuelle Entwicklungsstand zu überprüfen. Ob auch auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht anzuwenden ist, entscheidet sich anhand der Kriterien der Marburger-Richtlinie (§ 105 JGG). Kriterien sind unter anderem die mangelhafte Ausbildung der Persönlichkeit, Hilflosigkeit, Naivität, Neigung zu abenteuerlichen Unternehmungen, spielerische Einstellung zur Arbeit, mangelnder Anschluss an Altersgenossen, keine Lebensplanung sowie mangelnde Eigenständigkeit. Wohnen Heranwachsende beispielsweise noch im Elternhaus, haben noch keinen Abschluss und weisen auch sonst keine besondere Selbstständigkeit auf, liegt die Anwendung des Jugendstrafrechts nahe. Es wird also deutlich, dass das Jugendstrafrecht durchaus vom Erwachsenenstrafrecht divergiert. Wo im Erwachsenenstrafrecht der Versuch gescheitert ist, die Täter*innen umzuerziehen, da versucht das Jugendstrafrecht früher anzusetzen und die junge Bevölkerung mit erzieherischen Mitteln und Einfühlungsvermögen zurück auf den gesetzestreuen Weg zu bringen

23.11.2022/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-11-23 10:00:002022-12-23 08:49:55Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick
Redaktion

Die Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO)

Karteikarten, Strafrecht, Uncategorized

Die Untersuchungshaft wird durch schriftlichen Haftbefehl des Ermittlungsrichters angeordnet: §§ 114, 125 StPO

I. Voraussetzungen nach § 112 StPO

1. Dringender Tatverdacht

Wenn nach aktuellem Stand er Ermittlungen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist

2. Haftgrund nach § 112 II oder III StPO

Besonderheiten für Haftgrund nach § 112 III StPO: Verfassungskonforme Auslegung – Haftgrund nach § 112 II StPO muss hinzutreten, aber Lockerung der strengen Voraussetzungen an dessen Nachweis

3. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: § 112 I 2 StPO

4. Antrag durch Staatsanwaltschaft: § 125 StPO

Ausnahme: Gefahr im Verzug: Möglichkeit Haftbefehl von Amts wegen zu erlassen

II. Rechtsschutz

1. Haftbeschwer: § 304 StPO

Devolutiveffekt, kein Suspensiveffekt

2. Haftprüfungsverfahren: § 117 StPO

Kein Devolutiveffekt, kein Suspensiveffekt

17.10.2022/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2022-10-17 14:22:262023-10-04 14:41:25Die Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO)
Dr. Philip Musiol

BVerfG zur Zulässigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen der Polizei

Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Uncategorized, Verfassungsrecht

Mit Beschluss vom 29.07.2022 (2 BvR 54/22) entschied das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde eines mutmaßlichen Graffiti-Sprayers, der sich gegen die zwangsweise Durchführung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen (Anfertigung von Fingerabdrücken und Lichtbildaufnahmen) durch die Polizei richtete. Der Fall eignet sich als Grundlage für eine Klausur im Öffentlichen Recht ebenso wie als StPO-Zusatzfrage, da „Aufhänger“ der Grundrechtsprüfung eine strafprozessrechtliche Norm ist.

I.             Sachverhalt

Ausgangspunkt ist ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt: Im Juni 2021 brachte der zunächst unbekannte Graffiti-Sprayer G an einem Gebäude zwei großflächige, mit silberner Sprühfarbe ausgeführte Übermalungen der dort bereits in weißer und schwarzer Farbe angebrachten Schriftzüge „Toni F. Du Jude“ und „Antifa Boxen“ an. Dabei wurde G wurde er von einem Zeugen angesprochen, gefilmt und fotografiert. Dieser Zeuge gab bei seiner späterem Vernehmung an, er sei in der Lage, den Täter wiederzuerkennen. Die Eigentümerin des betroffenen Gebäudes stellte Strafantrag. Aufgrund eines anonymen Hinweises erkannten zwei Polizeibeamte den G auf den vom Zeugen gefertigten Lichtbildern wieder. Gegen G wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung eingeleitet.

So viel zur Vorgeschichte des Ermittlungsverfahrens, das selbst Gegenstand der Verfassungsbeschwerde wurde. Im Rahmen des besagten Ermittlungsverfahrens ordnete die zuständige Polizeibehörde die erkennungsdienstliche Behandlung des G an. Diese stützte die Polizei auf § 81b Alt. 1 und Alt. 2 StPO. Die polizeiliche Anordnung erstreckte sich auf ein sog. Fünfseitenbild, ein Ganzkörperbild, eine Personenbeschreibung, ein Spezialbild sowie auf einen Zehnfinger- und Handflächenabdruck, wobei die Begründung der Anordnung nicht zwischen den genannten Maßnahmen unterschied. G sei einer Tat nach § 303 Abs. 2 StGB verdächtig. Die erkennungsdienstliche Behandlung sei notwendig, da die angeordneten Maßnahmen für die Sachverhaltsaufklärung erforderlich seien. Insbesondere sei die Anfertigung von Lichtbildern erforderlich, damit der Zeuge den G darauf identifizieren oder entlasten könne. Denn die vom Zeugen angefertigten Bildaufnahmen seien von schlechter Qualität, ebenso könnte G die Tat vor Gericht abstreiten oder sich auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Darüber hinaus sei gegen G seit März 2013 in sieben Fällen – unter anderem auch wegen Sachbeschädigung durch Sprühen von Graffiti – ermittelt worden. Daher bestehe die begründete Wahrscheinlichkeit, dass G erneut strafrechtlich in Erscheinung treten werde. Die Anordnung sei erforderlich, um diese zu erwartenden Straftaten aufklären zu können, da es bislang keine entsprechenden Daten über G in den polizeilichen Datenbanken gebe.

G ging erfolglos gegen die Anordnung vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht vor. Er berief sich darauf, dass eine Anfertigung von Finger- und Handflächenabdrücken ungeeignet zur Sachverhaltsaufklärung sei, da am Tatort kein Vergleichsmaterial gefunden wurde. Außerdem bestreite er nicht, die Person auf den Aufnahmen des Zeugen zu sein und mit diesem gesprochen zu haben. Bemerkenswert ist, dass das Landgericht, das der Beschwerde des G nicht abhalf, die Rechtmäßigkeit der Anordnung nicht selbst überprüfte, sondern zur Begründung seiner Entscheidung vollumfänglich Bezug auf die polizeiliche Anordnung nahm, dieser sei „nichts hinzuzufügen“. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des G.

II.            Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Der G werde durch die Anordnung in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Zunächst befasste sich das Gericht mit der Eröffnung des Schutzbereichs der informationellen Selbstbestimmung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Es gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren. Davon werden alle Informationen, die über die Bezugsperson etwas aussagen können, umfasst. Die erkennungsdienstliche Behandlung fällt also in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung. Sodann wendet sich das BVerfG der Einschränkbarkeit des Grundrechts zu. § 81b Alt. 1 StPO kommt hiernach als Grundrechtsschranke in Betracht. Ein Grundrechtseingriff könne nach § 81b Alt. 1 StPO gerechtfertigt sein, wenn gegen den Betroffenen ein Strafverfahren geführt wird und gegen ihn ein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO besteht. Zudem müssen die einzelnen Maßnahmen jeweils für den Zweck der Durchführung des Strafverfahrens konkret notwendig sein. Diesem Maßstab werde die Entscheidung des Landgerichts nicht gerecht, dabei differenziert das BVerfG nach den verschiedenen Maßnahmen, die die Anordnung enthielt.

Zwar sei § 81b StPO anwendbar, da G Beschuldigter in einem Strafverfahren war und gegen ihn ein konkreter Anfangsverdacht nach § 152 Abs. 2 StPO bestand. Nach § 81b Alt. 1 StPO, worauf sich die Anordnung stützte, ist aber weiterhin erforderlich, dass die erkennungsdienstlichen Maßnahmen der Durchführung des Strafverfahrens und damit der Täterfeststellung dienen. Hierzu sind die Anfertigung von Zehnfinger- und Handflächenabdrücken ungeeignet. Die Ermittlung des Täters könne hierüber schon deshalb nicht erfolgen, weil am Tatort keine entsprechenden Abdrücke sichergestellt wurden.

Die Anfertigung der Lichtbildaufnahmen sei zur Ermittlung des Täters zwar nicht schon ungeeignet. Dennoch sei auch die Anordnung der Anfertigung eines Fünfseiten- und Ganzkörperbildes verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet. Insoweit wirft die Erforderlichkeit Fragen auf: Denn der Zeuge habe angegeben, dass er in der Lage sei, den Täter wiederzuerkennen. Eine entsprechende Gegenüberstellung hätte auch in der – zeitnah zu erwartenden – Hauptverhandlung erfolgen können. Beachtlich sei außerdem, dass G von den Polizeibeamten mittels der vom Zeugen gefertigten Lichtbildaufnahmen identifiziert wurde. Vor diesem Hintergrund sei nicht ersichtlich, wieso diese Aufnahmen für einen späteren Abgleich ungeeignet seien und weshalb es damit der erkennungsdienstlichen Aufnahmen bedurft hätte.

Darauf, ob § 81b Alt. 2 StPO den Eingriff rechtfertigen könnte, ging das Gericht nicht ein. Hierauf könne für die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Alt. 1 StPO kein Bezug genommen werden, da der Gesetzgeber präzise Verwendungszwecke vorgegeben habe. Das BVerfG stellte eine Verletzung der informationellen Selbstbestimmung des G durch die Anordnung der Maßnahmen fest, nicht nur durch die Erwähnung von § 81b Alt. 1 StPO in der Anordnung.  

III.          Einordnung

Es handelt sich um eine Entscheidung, die – eingekleidet in eine Urteilsverfassungsbeschwerde oder eine StPO-Zusatzfrage – von hoher Prüfungsrelevanz ist. Der Beschluss des BVerfG gibt Anlass, Grundkenntnisse im Verfassungs- und Strafprozessrecht zu wiederholen: Zum einen betrifft das die Fragen, wann ein konkreter Anfangsverdacht vorliegt und wer „Beschuldigter“ ist. Zum anderen bietet es sich an, das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung zu wiederholen. Das Grundrecht ist nicht normiert und muss daher in einer Klausur aus den Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet werden. Bei der gutachterlichen Prüfung ist darauf zu achten, dass Beschwerdegegenstand die letztinstanzliche Entscheidung des LG ist und der Prüfungsmaßstab des BVerfG auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts begrenzt ist.

Im Rahmen der Anwendung des § 81b StPO als Grundrechtsschranke ist trennscharf zwischen den beiden Alternativen der Norm zu trennen. Hieran ist jede einzelne Maßnahme, die Gegenstand der Anordnung ist, zu messen. Dies entspricht dem gesetzgeberischen Willen, der zwei verschiedene, präzise Verwendungszwecke für die erkennungsdienstliche Behandlung vorgegeben hat. Die beiden Alternativen des § 81b StPO verfolgen dabei völlig unterschiedliche Zielrichtungen: Einerseits geht es um die Aufklärung eines laufenden Verfahrens, andererseits geht es präventivpolizeiliche Maßnahmen, die sich auf zukünftige Verfahren beziehen. Gerade in einem grundrechtssensiblen Bereich, wie der erkennungsdienstlichen Behandlung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens, sollte die Ermittlungsbehörde strenge Anforderungen an ihr eigenes Handeln stellen. Dies erfordert die genaue Prüfung des Zwecks und der Eignung jeder einzelnen Maßnahme. Es würde der Systematik des § 81b StPO und dem Schutz des Betroffenen widersprechen, wenn ein und dieselbe Maßnahme auf zwei grundverschiedene Alternativen derselben Norm gestützt würde, und so eine nach 81b Alt. 2 StPO rechtmäßige Datenerhebung zur Kompensation für eine defizitär begründete Anordnung gemäß § 81b Alt. 1 StPO herangezogen werden könnte.

22.08.2022/1 Kommentar/von Dr. Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Philip Musiol2022-08-22 09:39:432022-10-24 14:46:02BVerfG zur Zulässigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen der Polizei
Redaktion

Strafrecht – Berlin/Brandenburg – Oktober 2020 – 1. Staatsexamen

Berlin, Brandenburg, Examensreport

Nachfolgend erhaltet ihr ein Gedächtnisprotokoll zu einer Examensklausur im Strafrecht, die im Oktober 2020 in Berlin/Brandenburg gestellt wurde. Ergänzungen und Korrekturanmerkungen sind wie immer gerne gesehen. Wir danken sehr herzlich für die Zusendung.
Unser Examensreport lebt von Eurer Mithilfe. Deshalb bitten wir Euch, uns Gedächtnisprotokolle Eurer Klausuren zuzuschicken, damit wir sie veröffentlichen können. Nur so können Eure Nachfolger genauso von der Seite profitieren, wie Ihr es getan habt.
 
A braucht Geld und will aus der Tiefgarage seines Wohnhauses, in der auch andere Mieter ihre Autos lagern, ein Auto stehlen. Er geht zu P und erklärt er wöllte ein Auto klauen und es P verkaufen. P sagt zu, 15.000 Euro für jedes Auto zu zahlen.
A geht in die Tiefgarage und öffnet mit einem Werkzeug ein Auto, schließt es kurz und fährt davon.
Um in dem gestohlenen Wagen nicht entdeckt zu werden, fährt A statt auf der Autobahn über diverse Landstraßen um den, mittlerweile telefonisch vereinbarten, Treffpunkt mit P zu erreichen. In einem dunkeln Dorf fährt er auf der Hauptstraße ordnungsgemäß an eine Kreuzung heran. Der von einer Nebenstraße kommende Mopedfahrer M sieht den A zu spät und muss eine Vollbremsung hinlegen, um nicht mit A zu kollidieren. Dabei stürzt M, ohne das Auto zu berühren und verletzt sich schwer. M bleibt bewegungsunfähig liegen. A denkt, da er nichts falsch gemacht habe und sich die beiden nicht berührt haben, müsse er nicht helfen. A fährt weiter.
B kommt mit seine Auto vom Nachbardorf mit 0,7 Promille Blutalkoholkonzentration auf der Straße entlanggefahren, auf der M liegt. B hat alkoholbedingte Ausfallerscheinungen und weiß das. Aufgrund der Alkoholisierung sieht er den M zu spät auf der Straße liegen und kann nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Er überfährt den M und verletzt ihn dabei schwer. B ruft jedoch sofort Hilfe herbei. Durch die Hilfeleistung konnte M später wieder voll genesen.
A hat P mittlerweile angetroffen und ihm das Auto übergeben. P überreicht dem A im Gegenzug einen Koffer mit (im Dunklen nicht erkennbaren) 15.000 Euro Falschgeld. A bemerkt nicht, dass es sich um Falschgeld handelt. A zeigt P noch wie man das Auto kurzschließt, um es zu starten und geht. P fährt weg. Später merkt A, dass es sich bei den von P überreichten Banknoten um Falschgeld handelt.
Strafbarkeit der Beteiligten?
 
Zusatzfrage
Im Verfahren schweigt A. Dies empfindet der Vater (V) des M als gehässig und entführt den A deshalb eines Abends. V fesselt den A an einen Stuhl ein schlägt ihn mehrfach. Daraufhin erzählt A dem V das komplette, wahre Unfallgeschehen. Kann V im Prozess über das, was A ihm deshalb erzählt hat, vernommen werden?

18.01.2021/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2021-01-18 09:00:442021-01-18 09:00:44Strafrecht – Berlin/Brandenburg – Oktober 2020 – 1. Staatsexamen
Gastautor

Rechtsprechungsüberblick Strafrecht und Strafprozessrecht 2019

Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, StPO, Strafrecht, Strafrecht AT, Strafrecht BT

Wir freuen uns, heute einen Beitrag von Charlotte Schippers veröffentlichen zu können. Die Autorin hat an der Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn (Lehrstuhl Thüsing).
 
Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung unbedingt erforderlich. Neue Urteile und Beschlüsse werden immer wieder als ein Teil der Prüfung herangezogen oder bei besonders wichtigen Entscheidungen ausdrücklich abgefragt. Der folgende Überblick soll für die examensrelevanten Entscheidungen in Strafsachen des Jahres 2019 als Stütze dienen und Ausgangspunkt für eine tiefere Auseinandersetzung sein.
 
Strafrecht
 
BGH, Beschl. v. 8.1.2019 – 1 StR 356/18: Bestätigung der Verurteilung gegen Waffenverkäufer im Fall des Amoklaufs in Münchener Olympia-Einkaufszentrum
Der BGH hat Anfang des Jahres das Urteil des LG München (19.1.2018 – 12 KLs 111 Js 239798/16) gegen den Verkäufer der Waffe, die der Amokläufer im Münchener Olympia-Einkaufszentrum verwendete, bestätigt, indem er die Rechtsmittel von Verteidigung und Nebenklage zurückwies: Der Verkäufer wurde durch das LG München wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen verurteilt. Eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord, wie sie auch die Nebenkläger forderten, lehnte das LG München ab, denn der notwendige doppelte Beihilfevorsatz fehle. Es liege aber eine Sorgfaltspflichtverletzung durch den illegalen Verkauf von Schusswaffen und Munition, der sogar selbst den Straftatbestand des § 52 Abs. 1 Nr. 2c WaffG verwirklicht, vor. Darüber hinaus sei der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs erkennbar und vorhersehbar. Das Dazwischentreten eines Dritten, also des Täters, stehe der Strafbarkeit nicht entgegen:

„[E]ine Mitverantwortung Dritter [führt] nur dann zum Wegfall des Zurechnungszusammenhangs zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten des Täters und dem eingetretenen Erfolg, wenn das für den Erfolg ebenfalls kausale Verhalten des Dritten außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt. Erforderlich ist demnach, dass die vom Täter ursprünglich gesetzte Ursache trotz des in den Kausalverlauf eingreifenden Verhaltens des Dritten wesentlich fortwirkt, der Dritte also hieran anknüpft. Hiervon ist jedenfalls in solchen Fallgestaltungen auszugehen, in denen sich in dem pflichtwidrigen Handeln des Dritten gerade das Risiko der Pflichtwidrigkeit des Täters selbst verwirklicht.“

Vgl. hier unsere ausführliche Besprechung.
 
Raserfälle: Relevant waren dieses Jahr auch die Verurteilungen von Rasern. Dies ist gerade mit Blick auf die Neueinführung des § 315d StGB ein hoch examensrelevantes Themengebiet, aber auch das mediale Interesse um die Verurteilungen wegen Mordes rückt entsprechende Urteile auch in den Fokus der Examensprüfer.
BGH, Beschl. v. 16.1.2019 – 4 StR 345/18: Bestätigung des Mordurteils gegen einen Raser
Anfang des Jahres hat der BGH ein Mordurteil gegen einen Raser bestätigt. Vorangegangen war die Entscheidung des LG Hamburg (Az.: 621 Ks 12/17) zu folgendem Sachverhalt: Bei einer Verfolgungsfahrt mit der Polizei in einem gestohlenen Taxi und fuhr der alkoholisierte A in der Innenstadt bewusst auf die Gegenfahrbahn. Diese war leicht kurvig und baulich von der übrigen Fahrbahn abgetrennt. A fuhr mit einer Geschwindigkeit von bis zu 155 km/h, bis er wegen Kollisionen mit dem Kantstein der Fahrbahn und einer Verkehrsinsel die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und nach Überqueren einer Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h frontal mit einem ihm mit nur ca. 20 km/h entgegenkommenden Taxi zusammenstieß. Einer der Insassen verstarb, zwei weitere wurden schwer verletzt.
Das LG ging bei seiner Entscheidung davon aus, dass A mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe, was auch der BGH bestätigte:

„[A war] bewusst, ,dass es mit hoher, letztlich unkalkulierbarer und nur vom Zufall abhängender Wahrscheinlichkeit zu einem frontalen Zusammenstoß mit entgegenkommenden Fahrzeugen kommen würde.‘ Ihm war auch ,bewusst, dass ein Frontalunfall mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod eines oder mehrerer direkter Unfallbeteiligter sowie eventuell zur Schädigung weiterer Personen führen würde.‘ All dies, auch der eigene Tod, wurde vom Angekl. gebilligt, weil er ,kompromisslos das Ziel, der Polizei zu entkommen‘, verfolgte.“

Das Vorliegen eines Mordmerkmals mag mit Blick auf die Verwendung eines gemeingefährlichen Mittels einschlägig sein, das ließ der BGH aber offen. Erfüllt sei vorliegend jedenfalls die Verdeckungsabsicht, da es A maßgeblich darauf ankam, zu entkommen.
Zu mehr Einzelheiten vgl. auch unsere Besprechung.
 
LG Berlin, Urt. v. 26.3.2019 – 532 Ks 9/18: Bedingter Tötungsvorsatz bei Autorennen
Im medialen Fokus stand bereits letztes Jahr das Urteil des LG Berlin, mit dem es zwei Raser, die bei einem illegalen Autorennen einen unbeteiligten Verkehrsteilnehmer getötet hatten, wegen Mordes verurteilte. Dieses erste Urteil hatte der BGH zwar aufgehoben, sodass das LG Berlin erneut entscheiden musste. Es blieb aber dabei, die Angeklagten wegen Mordes zu verurteilen: Zunächst maßgeblich war der Vorsatz. Die Angeklagten hätten das Risiko des Todes anderer Verkehrsteilnehmer erkannt, hätten aber – aus Gleichgültigkeit – dennoch entsprechend gehandelt. Dieses Bewusstsein habe schon in dem Zeitpunkt vorgelegen, in dem die volle Kontrolle über das Fahrzeug noch vorhanden gewesen sei – zur Erinnerung: Der BGH war davon ausgegangen, dass der Tötungsvorsatz erst nach der Tat gegeben sei und demnach unbeachtlich war.
An Mordmerkmalen bejahte das LG das Auto als gemeingefährliches Mittel, die Heimtücke, da das Opfer die Ampel bei Grün überquert habe und damit arglos gewesen sei, sowie niedrige Beweggründe.
Zu weiteren Details sei auf unsere ausführliche Besprechung verwiesen.
 
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.1.2019 – 2 Ws 341/18: Beendigung einer Beziehung als empfindliches Übel
Das OLG Karlsruhe hatte dieses Jahr darüber zu entscheiden, ob die Ankündigung der Beendigung einer Beziehung als ein empfindliches Übel bei der Strafbarkeit wegen (sexueller) Nötigung verstanden werden kann. Nachdem der Täter T die 17 Jahre alte O über ein soziales Netzwerk kennengelernt und mit dem falschen Profil X eine Internet-Beziehung aufgenommen hatte, traf er sich selbst als T mit O und kündigte an, dass, sollte sie sich weigern, mit ihm in sexuellen Kontakt zu treten, die Internet-Beziehung mit X beendet werde.
Das OLG entschied, dass T hierdurch den Tatbestand der sexuellen Nötigung gem. § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB verwirklicht habe, da bei der Frage, ob eine Drohung mit einem empfindlichen Übel vorliege, ein individuell-objektiver Maßstab zugrunde zu legen sei:

„Danach ist das angedrohte Übel dann empfindlich, wenn der in Aussicht gestellte Nachteil von solcher Erheblichkeit ist, dass seine Ankündigung geeignet erscheint, den Bedrohten im Sinn des Täterverlangens zu motivieren, und von dem Bedrohten in seiner Lage nicht erwartet werden kann, dass er der Bedrohung in besonnener Selbstbehauptung standhält. Mithin kommt es auf eine den Opferhorizont berücksichtigende Sichtweise und nicht auf einen besonnenen Durchschnittsmenschen an. Auch unter Berücksichtigung des Schutzgutes der Nötigungsdelikte – die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung – kommt deshalb der Individualität des Bedrohten und der Frage, weshalb gerade von ihm in seiner konkreten Situation ein Standhalten gegenüber der Drohung erwartet werden kann, entscheidende Bedeutung. Danach kann auch ein angedrohter Beziehungsabbruch ein empfindliches Übel darstellen, wenn dieser Beziehung für den Bedrohten ein hoher Stellenwert zukommt.“

Das OLG Karlsruhe ging mithin im Ergebnis von der Strafbarkeit des T wegen sexueller Nötigung aus, s. auch unsere Besprechung.
 
OLG Köln, Beschl. v. 4.4.2019 – 2 Ws 122/19: Strafbarkeit eines gedopten Profiboxers nach § 223 StGB
Das OLG Köln beschäftigte sich im April mit der Strafbarkeit eines gedopten Profiboxers wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB. Profiboxer T besiegte in einem Boxkampf seinen Kontrahenten; allerdings war die nachfolgende Dopingprobe im Hinblick auf das synthetische anabole Steroid Stanozolol positiv. Nach Bejahung des objektiven Tatbestandes der einfachen Körperverletzung – ein Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs wegen der eingesetzten Boxhandschuhe lehnte des OLG ausdrücklich ab – ist maßgeblich nach der rechtfertigenden Einwilligung zu fragen, die bei einem Sportwettkampf regelmäßig konkludent vorliegt. Hierbei ist ein Irrtum des Einwilligenden denkbar, denn der Gegner geht regelmäßig von einem anderen Leistungsniveau aus, als von dem, welches erst durch das Doping erzielt wird. So führt das OLG Köln aus:

„Die vom Teilnehmer eines Boxkampfes zumindest konkludent erteilte Einwilligung erstreckt sich ausschließlich auf solche Verletzungen, die bei regelkonformem Verhalten des Gegners üblich und zu erwarten sind. Doping als schwere Missachtung der anerkannten Sport- und Wettkampfregeln, die der Gegner nicht zu erwarten braucht, kann der wirksamen Einwilligung entgegenstehen.“

All dies steht unter dem Vorbehalt, dass das Doping dem Täter sicher nachgewiesen wird, was im konkreten Fall noch aussteht. Sollte dies jedenfalls der Fall sein, handelte er ohne Rechtfertigung und hat sich mithin wegen Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Vgl. hierzu unsere ausführlichere Besprechung.
 
BGH, Urt. v. 6.4.2019 – 5 StR 593/18: Konkretisierung des Gewahrsamswechsels bei kleinen, leicht transportablen Sachen
Im Frühjahr dieses Jahres hat der BGH eine Konkretisierung des Gewahrsamswechsels beim Diebstahl vorgenommen, wobei es insbesondere um die examensrelevante Frage der Begründung neuen Gewahrsams durch Verbringen der Sache in eine Gewahrsamsenklave ging. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Es ging um die Mitnahme von sechs Flaschen Alkohol, die der Täter T in einen Einkaufskorb und dann in seine Sporttasche legte, welche er verschloss, um die Flaschen ohne Bezahlung für sich zu behalten. Er wurde aber vor Verlassen des Ladens vom Ladendetektiv aufgehalten.
Zur Bestimmung, ob eine Wegnahme vorliegt, stellt der BGH auf die Gesamtumstände des konkreten Falls unter Berücksichtigung von Größe, Gewicht und Transportmöglichkeit der jeweiligen Sache ab:

„Danach macht es einen entscheidenden Unterschied, ob es sich bei dem Diebesgut um umfangreiche, namentlich schwere Sachen handelt, deren Abtransport mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, oder ob es nur um kleine, leicht transportable Gegenstände geht. Bei unauffälligen, leicht beweglichen Sachen […] lässt die Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache genügen. Steckt der Täter einen Gegenstand in Zueignungsabsicht in seine Kleidung, so schließt er allein durch diesen tatsächlichen Vorgang die Sachherrschaft des Bestohlenen aus und begründet eigenen ausschließlichen Gewahrsam.“

Das gilt unabhängig davon, wenn sich die handelnde Person noch im Gewahrsamsbereich des Berechtigten – hier des Supermarktes befindet. Für Fälle wie den Vorliegenden gilt daher:

„Für ohne Weiteres transportable, handliche und leicht bewegliche Sachen kann jedenfalls dann nichts anders gelten, wenn der Täter sie in einem Geschäft – wie hier – in Zueignungsabsicht in eine von ihm mitgeführte Hand-, Einkaufs-, Akten- oder ähnliche Tasche steckt; hierdurch bringt er sie in ebensolcher Weise in seinen ausschließlichen Herrschaftsbereich wie beim Einstecken in seine Kleidung.“

Die Strafbarkeit wegen vollendeten Diebstahls ist im vorliegenden Fall somit gegeben. S. zu diesem Urteil unsere Besprechung.
 
BGH, Beschl. v. 7.5.2019 – 1 StR 150/19: Niedrige Beweggründe bei Tötung des Intimpartners
Zu folgendem Fall (gekürzt) erging im Mai dieses Jahres ein Beschluss des BGH: Zwischen T und seiner Ehefrau F kam es vor allem wegen des täglichen Alkoholkonsums des T zu Streit, wobei sich F von T trennte und ihn aufforderte, aus ihrer Wohnung auszuziehen. Auch am nächsten Morgen beharrte sie auf ihrem Entschluss. Als sie das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, folgte T ihr mit einem Messer in der Jackentasche und dem Vorhaben, sie zu töten, sollte sie ihm keine weitere Chance geben. F verneinte das Ansinnen des T und wandte sich von ihm ab, sodass T ihr, die sich keines Angriffs versah, von hinten vier Mal in den Rücken stach. F drehte sich überrascht um und ging infolge weiterer gegen die Brust geführter Stiche zu Boden. T setzte sich sodann auf die auf dem Rücken liegende F und stach weiter wuchtig auf ihren Brustbereich ein, wobei ihre Versuche, die Stiche abzuwehren, erfolglos blieben. T ließ erst von ihr ab, als sie regungslos liegenblieb. F starb durch die Blutungen.
Die Überlegungen des LG München, es handle sich um einen Mord, bei welchem die Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe vorliegen, stimmte der BGH nur teilweise zu: Während das Merkmal der Heimtücke gegeben sei, sei hinsichtlich der niedrigen Beweggründe, anders als vom LG vorgenommen, weder maßgeblich darauf abzustellen,

„ob der Täter tatsachenfundiert auf den Fortbestand der Verbindung zum Opfer vertrauen durfte, noch darauf, wie der Zustand der Beziehung war, ob sich das Tatopfer aus nachvollziehbaren Gründen zur Trennung entschlossen hat, ob der Täter seinerseits maßgeblich verantwortlich für eine etwaige Zerrüttung der Partnerschaft war und ob er – dies ist ohnehin stets der Fall – ,die Trennungsentscheidung‘ des Partners ,hinzunehmen‘ hatte. Derartige Erwägungen sind zwar für die entscheidende Frage, ob die – stets als verwerflich anzusehende – vorsätzliche und rechtswidrige Tötung eines Menschen jeglichen nachvollziehbaren Grundes entbehrt, nicht ohne jede Bedeutung; allein der Umstand, dass sich die Trennung des Partners wegen des Vorverhaltens des Täters und des Zustands der Beziehung als „völlig normaler Prozess“ darstellt und (daher) von diesem hinzunehmen ist, ist aber nicht geeignet, die Tötung des Partners, die wie jede vorsätzliche und rechtswidrige Tötung verwerflich ist, als völlig unbegreiflich erscheinen zu lassen.“

Zu beachten ist bei der Prüfung auch, dass nach Auffassung des BGH der Umstand, dass die Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden darf.
 
BGH, Urt. v. 3.7.2019 – 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18: Grundsatzurteile zur Sterbehilfe
Medial auch im Fokus standen zwei Urteile zur Sterbehilfe, die der BGH diesen Sommer erlassen hat. Es ging um die Strafbarkeit zweier Ärzte: Der im Hamburger Verfahren angeklagte Facharzt erstellte für zwei Frauen, die sich an einen Sterbehilfeverein gewandt hatten, neurologisch-psychiatrische Gutachten zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Hierbei hatte er an der Festigkeit und Wohlerwogenheit ihrer Suizidwünsche keine Zweifel. Auf ihr Verlangen wohnte er auch der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente bei und unterließ Rettungsmaßnahmen. Eine Strafbarkeit nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB und nach § 323c StGB wurde bereits in der Vorinstanz aufgrund der Tatherrschaft der Frauen über die Todesherbeiführung verneint. Der andere Arzt, um dessen Strafbarkeit es im Berliner Verfahren ging, war Hausarzt der Suizidwilligen, die an einer nicht lebensbedrohlichen, aber stark krampfartige Schmerzen verursachenden Krankheit litt und bereits mehrere Suizidversuche unternommen hatte. Er besorgte ihr ein tödlich wirkendes Medikament und betreute sie, als sie nach der Einnahme des Medikaments bewusstlos wurde. Auch er nahm keine Rettungsmaßnahmen vor. Auch hier wurde die Strafbarkeit abgelehnt, denn die Beschaffung des Medikaments eine straflose Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung.
Zwar lagen die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit durch Unterlassen im Grundsatz wohl vor, wenn auch die Frage nach der Garantenstellung weitestgehend offen gelassen wurde. Allerdings verneinte der BGH die Pflicht zur Abwendung des Todeserfolgs:

„Beide Angeklagte waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet. Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon nicht die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen übernommen, was ihn zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Auch die Erstellung des seitens des Sterbehilfevereins für die Erbringung der Suizidhilfe geforderten Gutachtens sowie die vereinbarte Sterbebegleitung begründeten keine Schutzpflicht für deren Leben. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden.“ (Pressemitteilung Nr. 90/2019)

Konsequenterweise war daher auch nicht von einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB auszugehen. Im Ergebnis verneinte der BGH daher insgesamt die Strafbarkeit der Ärzte. Da sich im Rahmen der Sterbehilfe jedenfalls komplizierte Fälle stellen lassen, sind diese Entscheidungen besonders (examens-)relevant.
Vgl. hierzu auch unsere umfassende Besprechung.
 
Strafprozessrecht
 
BVerfG, Beschl. v. 5.7.2019 – 2 BvR 167/18: Neues zur Wahlfeststellung
Das BVerfG hat sich im Sommer mit der echten Wahlfeststellung beschäftigt. Zur Erinnerung: Die echte Wahlfeststellung kommt infrage, wenn sicher ist, dass der Täter einen von mehreren möglichen Straftatbeständen erfüllt hat, aber nicht klar ist, welches Delikt er tatsächlich vorliegt. Daher erfolgt nach Auffassung der Rechtsprechung bei rechtsethischer und physiologischer Vergleichbarkeit oder nach der h. L. bei Identität des Unrechtskerns eine wahlweise Bestrafung. Teilweise bestehen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Wahlfeststellung, insbesondere da es an einer gesetzlichen Grundlage fehle, die aber wegen ihrer strafbarkeitsbegründenden Wirkung erforderlich sei, vgl. Art. 103 Abs. 2 GG. Das BVerfG hat nun jedoch die Verfassungsmäßigkeit bejaht. Zunächst stellte es heraus, dass es sich um eine Entscheidungsregel des Strafverfahrens handle, die nicht den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berühre. Darüber hinaus sei auch kein Verstoß gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ festzustellen:

„In der Wahlfeststellungssituation hat das Tatgericht aufgrund des jeweils anwendbaren Straftatbestands zu prüfen, auf welche Strafe zu erkennen wäre, wenn eindeutig die eine oder die andere strafbare Handlung nachgewiesen wäre. Von den so ermittelten Strafen ist dann zugunsten des Angeklagten die mildeste zu verhängen. Dass sich hiernach die zu verhängende Strafe durch einen Vergleich (der für jede Sachverhaltsvariante konkret ermittelten Strafen) bestimmt, ändert nichts daran, dass das Tatgericht Art und Maß der Bestrafung einem gesetzlich normierten Straftatbestand entnimmt, genauer dem Gesetz, das für den konkreten Fall die mildeste Bestrafung zulässt.“

Auch der Unschuldsvermutung sei Genüge getan: Zwar könne dem Angeklagten eine konkrete, schuldhaft begangene Straftat nicht nachgewiesen werden, dennoch stünde zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte sicher einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen schuldhaft verwirklicht habe. Demnach ist die echte Wahlfeststellung als verfassungsgemäß zu betrachten.
Diesen Beschluss haben wir ebenfalls ausführlich besprochen.
 
 

11.11.2019/2 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-11-11 09:51:002019-11-11 09:51:00Rechtsprechungsüberblick Strafrecht und Strafprozessrecht 2019
Dr. Matthias Denzer

Karteikarte Untersuchungshaft; §§ 112 ff. StPO

Karteikarten, Strafrecht


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04.02.2019/0 Kommentare/von Dr. Matthias Denzer
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Dr. Lena Bleckmann

Grundlagen StPO: Ermittlung von Beweisverwertungsverboten

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Das Strafprozessrecht kommt bei Vielen im Studium zu kurz und dürfte eines der Gebiete sein, bei denen im Examen am häufigsten „auf Lücke“ gesetzt wird. Dabei lassen sich mit den häufigen StPO-Zusatzfragen am Ende der Klausur noch ein paar Punkte sammeln und für ihre Beantwortung genügen oft schon Grundlagenkenntnisse und Argumentationsgeschick. Ein beliebter Gegenstand solcher Zusatzfragen ist die Ermittlung von Beweisverwertungsverboten bei rechtswidriger Beweiserlangung. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Herangehensweise und die wichtigsten Stichpunkte zu diesem Thema geben.
I. Grundlage für ein Beweisverwertungsverbot
Zunächst ist zu unterscheiden, ob ein sog. Beweiserhebungsverboteinschlägig ist, oder ein bloßes Verwertungsverbot.
Beweiserhebungsverbote sind ausdrücklich normiert und verbieten die Erhebung zu einzelnen Beweisthemen oder unter Verwendung bestimmter Beweismittel oder ‑methoden. Verstößt eine Maßnahme gegen ein Beweiserhebungsverbot, können die hieraus gewonnen Erkenntnisse auch im Prozess nicht verwendet werden und weitere Überlegungen erübrigen sich. Die wichtigsten Beweiserhebungsverbote finden sich in § 100d Abs. 1 StPO (Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung), § 136a Abs. 3 S. 2 StPO (unzulässige Vernehmungsmethoden) und § 160a Abs. 1 S. 2 StPO (Erkenntnisse aus Maßnahmen gegen Berufsgeheimnisträger).
Schwieriger gestaltet sich die Ermittlung von Beweisverwertungsverboten. Hier ist zwischen selbständigen und unselbständigen Beweisverwertungsverboten zu unterscheiden.

  1. Selbständige Beweisverwertungsverbote

Solche regeln den Fall, dass Erkenntnisse unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihrer Erlangung im Prozess nicht verwendet werden dürfen. Diese Verbote können ausdrücklich normiert sein oder aus den Grundrechtenhergeleitet werden.
Bsp: Trotz Rechtmäßigkeit der Maßnahme dürfen Erkenntnisse aus dem Bereich privater Lebensgestaltung gemäß § 100d Abs. 2 S. 1 StPO nicht verwendet werden. Auch rechtmäßig mitgehörte Selbstgespräche des Betroffenen sind unverwertbar, dies ergibt sich u.a. aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. hierzu auch BGH, Urt. v. 22.12.2011 – 2 StR 209/10).

  1. Unselbständige Beweisverwertungsverbote

Diese sind indes die Folge rechtswidriger Beweisgewinnung und häufiger Klausurfall. Zu Beginn der Prüfung ist daher stets die Rechtmäßigkeit der in Frage stehenden Maßnahme zu überprüfen. Erst wenn diese verneint wurde stellt sich die Frage der Verwertbarkeit der erlangten Erkenntnisse.
Häufige Ursachen der Rechtswidrigkeit: Missachtung eines Richtervorbehalts; fehlerhafte Belehrung; fehlende Ermächtigungsgrundlage.
Wichtig: Aus der Rechtswidrigkeit allein folgt nie die Unverwertbarkeit! Ein solches allgemeines Beweisverwertungsverbot ist der StPO fremd und verstößt gegen den Amtsermittlungsgrundsatznach § 244 Abs. 2 StPO – hiernach hat das Gericht die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die von Bedeutung sind. Ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot ist daher die Ausnahme, die sachlich begründet werden muss.
II. Vorgehen bei festgestellten Beweisermittlungsfehlern
Ist für den jeweiligen Verstoß ein ausdrückliches Verwertungsverbot normiert (selbständiges Verwertungsverbot, s.o.), erübrigen sich weitere Überlegungen, die Verwertung des Beweises scheidet aus.
Ist das hingegen nicht der Fall, ist eine Einzelfallentscheidung geboten. Hier wird die von der Rechtsprechung entwickelte Abwägungslehre zugrunde gelegt. Folgende Punkte sind zu prüfen:
– „Rechtskreistheorie“:Schützt die verletzte Verhaltensnorm überhaupt den Rechtskreis des Betroffenen? Wenn nicht, scheidet ein Verwertungsverbot aus.
– Interessenabwägungzwischen Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses und den Rechten des Betroffenen. Kriterien sind hierbei u.a. die Intensität des Tatverdachts, die Schwere der Straftat und die Schwere des Beweiserhebungsfehlers. Auch die Möglichkeit einer rechtmäßigen Alternativerlangung ist von Bedeutung – wäre es den Strafverfolgungsorganen auch möglich gewesen, das Beweismittel auf rechtmäßige Weise zu erlangen, spricht dies gegen ein Verwertungsverbot.
– Zwingend zur Unverwertbarkeit führen hingegen Willkür undbewusste, planmäßige Verstößeder Strafverfolgungsorgane sowie Verstöße gegen grundlegende Rechte. So führen z.B. Verstöße gegen Belehrungspflichten beim Beschuldigten wegen Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes fast immer zu Beweisverwertungsverboten. Auch die bewusste Missachtung eines Richtervorbehalts kann zur Unverwertbarkeit führen.
III. Mögliche Ergebnisse
Wird ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot nach der Interessenabwägung bejaht, muss der Beweis im Prozess unberücksichtigt bleiben. Andernfalls ist es dennoch möglich, die Rechtswidrigkeit der Beweiserlangung zu berücksichtigen. Dies kann z.B. im Rahmen der Beweiswürdigung durch das Gericht oder im Rahmen der Strafzumessung erfolgen.

  1. Weitere Probleme im Zusammenhang mit Beweisverwertungsverboten   

a. Fortwirkung von Beweisverwertungsverboten
Von Fortwirkungspricht man, wenn ein früherer Verfahrensfehler Auswirkungen auf spätere Verfahrenshandlungen hat. Das Problem stellt sich häufig beim Verstoß gegen Belehrungspflichten. Wurde der Beschuldigte nicht ordnungsgemäß belehrt und legt ein Geständnis ab, ist dieses wegen des Verstoßes gegen § 136 Abs. 1 S. 2 StPO und den nemo-tenetur-Grundsatznicht verwertbar. Fraglich ist dann, wie es sich auswirkt, wenn der Beschuldigte erneut, diesmal mit ordnungsgemäßer Belehrung, vernommen wird und erneut gesteht. Insoweit ist anerkannt, dass der Verstoß bei der ersten Vernehmung fortwirkt. Der Beschuldigte geht nun davon aus, dass Leugnen ohnehin keinen Zweck mehr habe. Die Selbstbelastungsfreiheit ist weiterhin beeinträchtigt. Auch die Erkenntnisse aus der zweiten Vernehmung wären somit nicht verwertbar. Etwas anderes gilt nur, wenn eine sog. Qualifizierte Belehrungvorgenommen wird: Der Beschuldigte wird hierbei darauf hingewiesen, dass die Erkenntnisse aus der ersten Vernehmung nicht verwertbar sind. In diesem Fall wird die Fortwirkung durchbrochen.  
b. Vorhalt unzulässiger Erkenntnisse
Wurden indes Erkenntnisse auf anderem Wege erlangt, als durch fehlerhafte Vernehmung – etwa durch eine rechtswidrige Durchsuchung – sind die Grundsätze zur qualifizierten Belehrung allerdings nicht ohne weiteres übertragbar (siehe hierzu aktuell BGH, Urt. v. 3.5.2018 – 3 StR 390/17). Gesteht der Beschuldigte, weil ihm Erkenntnisse vorgehalten werden, die auf rechtswidrigem Wege erlangt wurden, findet eine Abwägung nach den oben aufgeführten Kriterien statt.
c. Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten
Von der anerkannten Möglichkeit der Fortwirkung zu unterschieden ist die Fernwirkung eines Verwertungsverbots. Hierbei geht es um die Frage, ob neue Beweismittel, die infolge von Erkenntnissen erhoben werden, die aufgrund eines Verwertungsverbots selbst nicht verwendet werden dürfen, auch von diesem Verbot erfasst werden.
Bsp: Bei einer rechtswidrigen Überwachung nach § 100d Abs. 2 S. 1 StPO wird ein Gespräch angehört, aus dem sich ein Versteck weiterer Beweismittel ergibt. Können diese im Prozess verwendet werden?
Nach der nur vereinzelt vertretenen „Fruit of the poisonous tree“-Lehrebesteht hier eine Fernwirkung, sodass auch die aufgefundenen Beweismittel nicht verwendet werden können.
Dem wird von der hM entgegengehalten, dass ein Fehler zu Beginn des Strafverfahrens dieses im Ganzen verhindern könnte. Ausnahmen können sich nur im Zusammenhang mit besonders schwerwiegenden Verstößen ergeben.
Fazit
Beweisverwertungsverbote sind ein immer wiederkehrendes Thema in Examensklausuren mit strafprozessrechtlichem Einschlag. Bei der ersten Lektüre kann der Eindruck entstehen, dass zur richtigen Lösung solcher Problemstellungen die Kenntnis einer Vielzahl von Entscheidungen notwendig ist. Zwar ist die Rechtsprechung zu dem Thema tatsächlich sehr umfangreich, in der Klausur im ersten Staatsexamen geht es allerdings nicht um die Kenntnis aller Einzelfälle, sondern um die systematische Problemlösung. Mit der hier vorgeschlagenen Vorgehensweise und etwas Fingerspitzengefühl für den Einzelfall sollte dies ohne Probleme gelingen.

31.01.2019/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-01-31 09:00:092019-01-31 09:00:09Grundlagen StPO: Ermittlung von Beweisverwertungsverboten
Dr. Yannik Beden, M.A.

Audi-Vorstand Stadler in Untersuchungshaft: Überblick zur U-Haft und Verdunkelungsgefahr

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Der Vorstandsvorsitzende der Audi-AG Rupert Stadler wurde gestern an seinem Wohnsitz festgenommen und sitzt aktuell in Untersuchungshaft. Seit Beginn der Dieselaffäre im Jahr 2015 soll der Chef der VW-Tochtergesellschaft aus den eigenen Reihen Hinweise erhalten haben, denen zufolge auch bei Fahrzeugen der Marke Audi manipulierte Abgassysteme verarbeitet und verkauft worden sind. Die Münchener Staatsanwaltschaft hatte bereits diverse Telefonate Stadlers abgehört und stellte diverse Unterlagen im Rahmen einer Razzia sicher. Aufgrund konkreter Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr erging letztlich ein Haftbefehl gegen den Vorstandsvorsitzenden. Die Staatsanwaltschaft befürchtete, dass Stadler Zeugen und/oder Beschuldigte im Abgasskandal möglicherweise beeinflussen werde. Sowohl für die schriftliche, als auch mündliche Examensprüfung müssen Kandidaten Grundkenntnisse zum Strafprozessrecht vorweisen können. Die Untersuchungshaft gem. §§ 112 ff. StPO muss von Prüflingen in ihren Grundzügen beherrscht werden. Aus aktuellem Anlass soll deshalb ein kurzer Überblick hierzu gegeben werden:
I. Arten der strafprozessualen Haft nach der StPO
Das Strafprozessrecht kennt verschiedene Arten der Haft, die unterschiedliche Zwecke verfolgen. Die Untersuchungshaft ist in §§ 112 ff. StPO geregelt und dient vornehmlich der effektiven Strafrechtspflege. Daneben besteht die Möglichkeit einer Ordnungs-bzw. Beugehaft gegenüber Zeugen nach §§ 51, 70 StPO. Ebenso kann eine Ordnungshaft entsprechend § 177 GVG angeordnet werden, wenn Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen den zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen des Gerichts nicht Folge leisten. Ein Haftbefehl kann auch gegen den Angeklagten ergehen, wenn sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung nicht genügend entschuldigt ist, § 230 Abs. 2 StPO. Im beschleunigten Verfahren kann zudem ein Haftbefehl gegen den Verdächtigen nach § 127b StPO erlassen werden. Darüber hinaus regelt die StPO in §§ 453c, 457 StPO die Vollstreckungshaft sowie die Strafhaft nach den §§ 449 ff. StPO.
II. Zweck der U-Haft: Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs
Die Untersuchungshaft dient der effektiven Durchführung des staatlichen Strafverfahrens und soll neben der Gewährleistung eines geordneten Verfahrens auch die spätere Strafvollstreckung sicherstellen (vgl. BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71; MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 2.). Da die Untersuchungshaft einen erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) bedeutet, darf sie nur unter strengen Voraussetzungen angeordnet werden. Die staatliche Gemeinschaft hat einen legitimen Anspruch auf eine vollständige Aufklärung der Tat sowie einer zeitnahen Bestrafung des Täters, welcher durch die Untersuchungshaft gesichert werden darf, wenn und soweit die Sicherung nur durch eine Inhaftierung des Verdächtigten möglich ist (vgl. BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71). Die Untersuchungshaft bedeutet letztlich also immer eine (verfassungsrechtliche) Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer effektiven, wirksamen Strafverfolgung (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 1).
III. Voraussetzungen der Untersuchungshaft
Die Prüfungspunkte der Untersuchungshaft ergeben sich unmittelbar aus §§ 112 – 113 StPO: Es bedarf eines dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten (1) und eines Haftgrundes (2). Zusätzlich muss die Untersuchungshaft dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (3). Wichtig: Der Prüfungspunkt des dringenden Tatverdachts dient oftmals als Einstieg in den materiellen Teil strafrechtlicher Klausuren / mündlichen Prüfungen!    
1. Dringender Tatverdacht
Der Beschuldigte muss der Tat „dringend verdächtig“ sein, § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein dringender Tatverdacht liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine „hohe“ bzw. „große“ Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (jüngst BGH Beschluss v. 11.1.2018 – AK 75/17, BeckRS 2018, 1024; BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71). Zum einen muss also die Täterwahrscheinlichkeit umfassend auf Grundlage der bestehenden Tatsachenbasis geprüft werden. Ebenso ist eine Prognose über die Verurteilungswahrscheinlichkeit zu erstellen (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 21). Bloße Vermutungen reichen also für eine Untersuchungshaft nicht aus (BGH Beschluss v. 18.10.2007 – 3 Sa 214/07, BeckRS 2007, 16872).
2. Haftgrund
Neben dem dringenden Tatverdacht bedarf es für die Anordnung von Untersuchungshaft eines Haftgrundes. Die von der StPO anerkannten Haftgründe sind in § 112 Abs. 2 Nr. 1 – 3 normiert.
a) Fluchtgefahr
112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO regelt den Haftgrund der Fluchtgefahr: Untersuchungshaft kann angeordnet werden, wenn festgestellt wird, dass „der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält“ bzw. „bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde“. Flüchtig ist, wer sich von seinem Lebensmittelpunkt (ggf. ins Ausland) absetzt, um für Ermittlungsbehörden und Gerichte unerreichbar zu sein und sich ihrem Zugriff zu entziehen. Verborgen hält sich der Beschuldigte, wenn er etwa unangemeldet, unter falschem Namen oder an einem unbekannten Ort lebt, um sich dem Verfahren zu entziehen (vgl. OLG Karlsruhe Beschluss v. 1.3.2004 – 3 Ws 44/04, BeckRS 2004, 04171). Die Fluchtgefahr stellt statistisch betrachtet den häufigsten Haftgrund dar. Allgemein gilt wieder, dass es einer hohen Wahrscheinlichkeit bedarf, auch wenn insoweit keine volle Überzeugung der Tatsachen notwendig ist (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 41).
b) Verdunkelungsgefahr
112 Abs. 2 Nr. 3 lit. a bis c regelt den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr. Die Vorschrift ist letztlich selbsterklärend. Das Verfahren wird durch den Beschuldigten verdunkelt, wenn er etwa Beweismittel vernichtet, auf Zeugen und/oder Mitbeschuldigte in unlauterer Weise einwirkt oder Dritte zu einem solchen Verhalten veranlasst. Notwendig ist allerdings, dass gerade das Verhalten des Beschuldigten die Gefahr eines erschwerten Verfahrens, also die Verdunkelung begründet. Ein Einwirken auf Beweispersonen setzt bei der Verdunkelungsgefahr eine unmittelbare oder mittelbare psychische Beeinflussung voraus, durch die die Beweislage zuungunsten der Wahrheit geändert werden soll. Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Zeuge durch Bedrohung zur Falschaussage veranlasst wird (OLG Köln Beschluss v. 1.6.2017 – 2 Ws 341/17, BeckRS 2017, 141453).
c) Ausnahme vom Erfordernis eines Haftgrundes bei Schwerkriminalität 
Nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO soll dann, wenn der Beschuldigte einer der in diesem Absatz genannten Straftaten verdächtig ist, Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen eines Haftgrundes nach § 112 Abs. 3 StPO angeordnet werden können. Die aufgelisteten Katalogtaten beinhalten Straftaten der Schwerkriminalität. Da auf den ersten Blick die Anordnung von Untersuchungshaft bereits bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts ohne jegliche Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr möglich ist, hat sich das Bundesverfassungsgericht früh für eine restriktivere Auslegung der Vorschrift ausgesprochen: In Anbetracht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Norm in Zusammenhang mit § 112 Abs. 2 StPO gelesen werden. Es müssen also Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne eine Inhaftierung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Straftat verhindert werden (BVerfG Beschluss v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243). Daraus folgt, dass es im Regelfall genügt, wenn eine Flucht oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen ist, wovon bei den genannten Katalogtaten üblicherweise auszugehen sein wird (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 93).  
3. Kein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn sie unverhältnismäßig ist, § 112 Abs. 1 S. 2 StPO. § 113 Abs. 1, 2 StPO kann insoweit als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verstanden werden. Das Gesetz sieht die Unverhältnismäßigkeit als Haftausschließungsgrund vor, sodass sie positiv festgestellt werden muss (BeckOK/Krauß, StPO, 29. Ed. 2018, § 112 Rn. 42 m.w.N.). Mildere Mittel können etwa sein, dass der Beschuldigte Personalpapiere abliefert (BeckOK/Krauß, StPO, 29. Ed. 2018, § 112 Rn. 46). Insgesamt muss stets geprüft werden, ob der Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen in Anbetracht des staatlichen Bedürfnisses nach einer effektiven Strafverfolgung unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht außer Verhältnis steht.
IV. Formalia
Die Untersuchungshaft wird von der Staatsanwaltschaft beim Richter beantragt. Zuständig ist bis zur Erhebung der öffentlichen Klage der Ermittlungsrichter, vgl. § 125 Abs. 1 StPO. Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht, welches mit der Sache befasst ist, zuständig (§ 125 Abs. 2 StPO). Wird der Beschuldigte ergriffen, ist er unverzüglich dem Richter vorzuführen, § 115 Abs. 1 StPO. Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft sehen die §§ 304 ff. StPO (Haftbeschwerde) sowie die §§ 117 ff. StPO (Antrag auf Haftprüfung) vor. Auch besteht die Möglichkeit, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen, § 116 StPO. Die Norm ist ebenfalls als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu verstehen („weniger einschneidende Maßnahmen“).
V. Summa
Die Untersuchungshaft ist nicht nur Theoriestoff der juristischen Ausbildung, sondern vielmehr Gegenstand alltäglicher Strafverfolgungsarbeit. Das jüngste Beispiel aus dem Hause Audi macht dies erneut deutlich. Examenskandidaten sollten die Grundzüge der Untersuchungshaft für Klausuren und die mündlichen Prüfung unbedingt beherrschen. Nicht zuletzt greifen Prüfer gerne auf die Untersuchungshaft zurück, um die materielle Strafrechtsprüfung prozessual einzukleiden.

19.06.2018/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-06-19 14:56:012018-06-19 14:56:01Audi-Vorstand Stadler in Untersuchungshaft: Überblick zur U-Haft und Verdunkelungsgefahr
Dr. Sebastian Rombey

Überblick: Examensrelevante Änderungen der StPO

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Die StPO gehört regelmäßig nicht zu den Kerngebieten des 1. Staatsexamens. Gleichwohl wird zumindest die Kenntnis soliden Grundwissens verlangt: selten als Einstieg in die materiell-rechtliche Prüfung (zB über den Erlass eines Haftbefehls gemäß §§ 112 ff. StPO oder die Prüfung einer Revision nach den §§ 333 ff. StPO), ab und an im Rahmen einer prozessualen Zusatzfrage zu einer materiell-rechtlichen Strafrechtsklausur, häufiger dagegen im Zuge der mündlichen Prüfung, die vermehrt von Praktikern abgehalten wird.
Auf Grund dieser Relevanz gibt der nachfolgende Beitrag einen Kurzüberblick über die examensrelevanten Änderungen der StPO:

  • Befangenheitsantrag nach § 26 I 2 StPO: Das Gericht kann nunmehr dem „Antragsteller aufgeben, ein in der Hauptverhandlung angebrachtes Ablehnungsgesuch innerhalb einer angemessenen Frist schriftlich zu begründen“, wobei das Gericht bei Nichteinhaltung der Frist den Befangenheitsantrag als unzulässig verwerfen kann.
  • Entnahme einer Blutprobe: § 81a II StPO wird dergestalt ergänzt, dass bei Verkehrsdelikten (§ 315a I Nr. 1, II, III, § 315c I Nr. 1a, II, III oder § 316 StGB) die richterliche Anordnung der Entnahme einer Blutprobe nicht mehr erforderlich ist.
  • Besonders examensrelevant, da die nachfolgenden Normen auch im öffentlichen Recht mit Blick auf verfassungsrechtliche Gewährleistungen im Mittelpunkt einer Prüfung stehen können: Neufassung der §§ 100a, 100b, 100c, 100d, 100e StPO: Der Einsatz des in der Tagespresse viel diskutierten Staatstrojaners wird für besonders schwerwiegende, enumerativ aufgezählte Straftaten gestattet. Die Telekommunikationsüberwachung wird im Zuge dessen erleichtert; die sog. Online-Durchsuchung eingeführt.
  • Besonders examensrelevant, da bislang in Rechtsprechung und Literatur umstritten: Die ggü. dem Beschuldigten bestehenden Belehrungspflichten nach § 136 II StPO werden deutlich erweitert. Soweit der Beschuldigte vor Beginn seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen möchte, sind ihm „allgemeine Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren“, wobei auf einen „bestehenden anwaltlichen Notdienst“ hinzuweisen ist.
  • Zur Wiederholung: Auf Grund der weitreichenden Folgen einer fehlerhaften Belehrung bis hin zum Entstehen eines Beweisverwertungsverbotes ist diese Neuerung als besonders relevant zu qualifizieren – bislang gern gestellte Fälle, in denen dem Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, allein ein anwaltliches Branchenbuch, das auf Deutsch verfasst ist, zur Verfügung gestellt wird, ohne auf den bestehenden anwaltlichen Bereitschaftsdienst bei Nacht hinzuweisen, sind von nun an mit einem Blick in das Gesetz lösbar.
  • Denn: Bei unzureichender Belehrung des Beschuldigten vor Beginn der Vernehmung dürften im Anschluss erfolgende Angaben grundsätzlich nicht mehr zu seinem Nachteil verwertet werden (vgl. etwa BGH, Urt. v. 29.10.1992 – 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372 = NJW 1993, 338).
  • Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Beschuldigte der Verwertung im Nachhinein ausdrücklich zustimmt, sein Schweigerecht nachweislich gekannt hat (BGH, Urt. v. 22. 11. 2001 – 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172 = NJW 2002, 975), die Fehlerhaftigkeit der Belehrung nicht beweisen kann (in dubio pro reo gilt im Verfahren nicht!) oder einen Verteidiger hat, der der Verwertung im Sinne der Widerspruchslösung nicht widerspricht (zu den Grenzen der Widerspruchslösung zuletzt BGH, Urt. v. 6.10.2016 – 2 StR 46/15, BGHSt 61, 266 = NJW 2017, 1332).
  • § 153a StPO wird in Zukunft dergestalt modifiziert, dass die Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen in der Revisionsinstanz ebenfalls möglich wird.
  • In ARD-Krimis oft falsch gemacht, nun aber rechtlich zutreffend: Durch Neufassung des § 163 III StPO haben Zeugen künftig die Pflicht, auch auf eine Ladung durch die Polizei hin, soweit es sich um Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft handelt, zu erscheinen sowie zur Sache auszusagen.
  • Parallel dazu hat auch der Verteidiger nicht nur im Rahmen der richterlichen oder staatsanwaltlichen, sondern auch bei der rein polizeilichen Vernehmung ein Anwesenheitsrecht, § 163a IV StPO.
  • Die Verlesung von Vernehmungsprotokollen wird für Fälle erweitert, in denen „die Verlesung lediglich der Bestätigung eines Geständnisses des Angeklagten dient und der Angeklagte, der keinen Verteidiger hat, sowie der Staatsanwalt der Verlesung zustimmen“, § 251 I Nr. 2 StPO.
  • Besonders examensrelevant: Die einfache Nötigung gemäß § 240 I, II, III StGB ist nun als Privatklagedelikt ausgestaltet, § 374 I Nr. 5 StPO.

22.02.2018/0 Kommentare/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2018-02-22 10:00:282018-02-22 10:00:28Überblick: Examensrelevante Änderungen der StPO
Redaktion

Schema: Vorläufige Festnahme, § 127 I, II StPO

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Schema: Vorläufige Festnahme, §127 StPO

A. § 127 I StPO
I. Objektives Rechtfertigungselement

1. Festnahmelage: Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat 


a) „Tat“

M1: Es genügt ein dringender Tatverdacht (= große Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer rechtswidrigen Tat ist).
Argument: Ansonsten liefe das Festnahmerecht faktisch leer, da niemand es mehr ausüben würde, in der Angst, sich dadurch selbst strafbar zu machen.

M2: Es muss tatsächlich eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige Tat vorliegen.
Argument: Eine Einschränkung der persönlichen Freiheit ist ein schwerwiegender Eingriff, der nicht von der subjektiven Sicht einer Privatperson abhängen kann.

b) Tatfrische
Aus den Gesamtumständen muss auf eine Begehung der Tat noch geschlossen werden kann. Dies erfordert insbesondere einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Tat.

2. Festnahmebefugnis: Jedermann, nach hM auch Polizeibeamte

3. Festnahmegrund: Fluchtverdacht oder Sicherung der sofortigen Identitätsfeststellung

4. Festnahmehandlung
Muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen: Über § 127 I StPO können nur das Festhalten als solches, sowie unvermeidbare Verletzungsfolgen gerechtfertigt werden.
 Ebenfalls durch § 127 I StPO gedeckt sind gleich effektive, mildere Mittel als die Freiheitsberaubung.
II. Subjektives Rechtfertigungselement
Festnahmeabsicht: Festnahme zum Zwecke der Strafverfolgung.
 
B. § 127 II StPO
I. Objektives Rechtfertigungselement

1. Festnahmelage: Vorliegen der Voraussetzungen eines Haftbefehls gem. § 112 StPO

a) Dringender Tatverdacht, § 112 I StPO

b) Haftgrund, § 112 II, III f. StPO

c) Verhältnismäßigkeit der Festnahme, § 112 I 2 StPO

2. Festnahmebefugnis: Die Staatsanwaltschaft und alle Polizeibeamten als Strafverfolgungsorgane.

3. Festnahmegrund: Gefahr im Verzug
– d.h. die Festnahme bzw. der Untersuchungszweck würde gefährdet, wenn die richterliche Entscheidung nach § 112 StPO abgewartet würde.
– Ob ein Fall von Gefahr im Verzug vorliegt, prüft das jeweilige Strafverfolgungsorgan nach pflichtgemäßem Ermessen.

4. Festnahmehandlung: Muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.

II. Subjektives Rechtfertigungselement
Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

06.04.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-04-06 10:00:082017-04-06 10:00:08Schema: Vorläufige Festnahme, § 127 I, II StPO
Gastautor

Prüfungsgespräch Strafrecht – Schwerpunkt StPO

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 Zu Beginn möchte die Redaktion von juraexamen.info darauf hinweisen, dass es sich um ein fiktives Gespräch handelt. Die tatsächlichen Angaben beruhen auf aktuellen Presseberichten, vgl. zB LTO vom 02.03.2016 oder Kölner Stadtanzeiger vom 02.03.2016.

Der nachfolgende Gastbeitrag stammt von Sebastian Brill. Der Autor ist wiss. Hilfskraft und Doktorand am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
willkommen zur mündlichen Prüfung im Strafrecht.
Ich hoffe, Sie haben in letzter Zeit – wie es sich für einen Juristen gehört – die derzeit in der Presse und auf den einschlägigen juristischen Internetseiten kursierenden Meldungen rund um einen Juraprofessor verfolgt.

P1, da Ihre Kollegen die Meldungen unter Umständen nicht mitbekommen haben sollten, könnten Sie den Sachverhalt mit besagtem Professor in aller Kürze schildern?
Ein Juraprofessor ist am 01.03.2016 vor dem Amtsgericht Köln zu einer Strafe von 9.000 Euro wegen Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden (Az. 583 Ds 46/15).
So ist es. Wissen Sie zufällig auch, worauf die Entscheidung beruhte? Andernfalls gebe ich Ihnen natürlich eine Hilfestellung.
Die Entscheidung beruhte auf einer Verständigung. Die gesetzliche Grundlage bildet hier § 257c StPO. Gemäß § 257c Abs. 1 S. 1 StPO kann sich das Gericht in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen. Nach dem Gesetzeswortlaut geht die Initiative dabei grundsätzlich vom Gericht aus. Hierbei kommt die Verständigung zustande, wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichtes zustimmen, § 257c Abs. 3 S. 4 StPO. Die Zustimmung des Nebenklägers, obwohl dieser Verfahrensbeteiligter i.S.d. § 257c Abs. 1 S. 1 StPO ist, ist dagegen nicht erforderlich.
Richtig! Was ist oftmals Bestandteil bei der Verständigung? Und was spricht gegen den sog. Deal im Strafverfahren?
Bestandteil der Verständigung soll gemäß § 257c Abs. 2 S. 2 StPO ein Geständnis sein. Dabei ist Inhalt der Verständigung, dass gegen ein Geständnis des Angeklagten auf eine mildere Strafe erkannt wird. Gegen den sog. Deal können vor allem rechtsstaatliche Bedenken angebracht werden. Eine große Gefahr besteht darin, dass sich das Gericht aufgrund des Geständnisses eine langwierige Beweisaufnahme erspart, obwohl noch etwaige Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten bestehen. Aus der Sicht des Angeklagten könnte zudem eine Drucksituation entstehen. Um die Gefahr einer höheren Strafe zu vermeiden, könnte er eher dazu bereit sein, ein (unwahres) Geständnis abzulegen und dadurch auf die Möglichkeit eines Freispruchs verzichten. Zudem besteht die Gefahr, dass bei gravierenden Straftaten Rechtsfolgen in Aussicht gestellt werden, die in einem groben Missverhältnis zum Tatvorwurf stehen. Schließlich kann es bei einer gescheiterten Abspracheverhandlung dazu kommen, dass der Richter womöglich voreingenommen ist.
Das kann man durchaus so sehen! P2, hinsichtlich des letzten Punkts, wo findet sich etwas zur Befangenheit des Richters und hat der Gesetzgeber die Gefahr bei gescheiterten Absprachen erkannt und geregelt?
Die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen findet sich in den §§ 22 ff. StPO. In dem vorliegenden Fall sind die Ausschließungsgründe der §§ 22, 23 StPO nicht einschlägig. Bei einer gescheiterten Absprache besteht durch das Geständnis allerdings gemäß § 24 Abs. 2 StPO die Gefahr, dass der Richter dem Angeklagten gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflusst. Bei einer gescheiterten Absprache könnte dies negative Folgen für den Angeklagten haben. Der Gesetzgeber hat die Gefahr allerdings erkannt und in § 257c Abs. 4 S. 3 StPO geregelt. Sofern die Bindungswirkung i.S.d. § 257c Abs. 4 S. 1, 2 StPO entfällt, darf das Geständnis des Angeklagten nicht verwertet werden. Nach Satz 4 muss das Gericht dem Angeklagten eine Abweichung unverzüglich mitteilen. Wichtig ist hierbei vor allem, dass das Gericht den Angeklagten gemäß § 257c Abs. 5 StPO ausdrücklich darauf hinweisen muss, unter welchen Voraussetzungen es von einer Absprache abweichen kann.
Sehr schön. Kommen wir mal zurück zu dem Fall des Professors. Wissen Sie zufällig, was bei diesem Fall noch besonders war? Ich werfe als kleine Hilfe mal den Öffentlichkeitsgrundsatz in den Raum.
Gemäß § 169 S. 1 GVG ist die Verhandlung vor dem Gericht öffentlich, d.h. dass grundsätzlich jedermann der mündlichen Hauptverhandlung beiwohnen darf. Damit soll eine Kontrolle des Verfahrens durch die Öffentlichkeit gewährleistet werden. Die Besonderheit in dem vorliegenden Fall bestand darin, dass dieser Grundsatz durchbrochen wurde. Die Verhandlung fand nämlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dies ist gemäß §§ 170 ff. GVG möglich. Im Fall des besagten Professors wurde die Öffentlichkeit gemäß § 171b S. 1 GVG ausgeschlossen. In der Hauptverhandlung kann es erforderlich sein, Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich oder Intimbereich des Angeklagten oder Zeugen zu erörtern. Aus § 68 StPO ergibt sich, dass solche Umstände angesprochen werden müssen, sofern es zur Wahrheitsforschung unerlässlich ist. Allerdings braucht dies auch mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 S. EMRK und dem Anspruch auf Achtung der Privatsphäre nicht zwingend öffentlich erfolgen.
Gut! Inzwischen erging ja das Urteil gegen den Professor, könnte dieser auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichten?
Gemäß § 302 Abs. 1 S. 1 StPO kann auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet werden. In dem Fall ist dem Urteil allerdings eine Verständigung i.S.d. § 257c StPO vorausgegangen, sodass eine Rechtsmittelverzichtserklärung gemäß § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausgeschlossen ist.
Auch das ist richtig. Stichwort Rechtsmittel, P3, welche Rechtsmittel sind Ihnen denn bekannt?
Als Rechtsmittel sind mir die Beschwerde, Berufung und Revision bekannt.
Jetzt scheint der Herr Professor noch immer keine Ruhe zu haben, denn aktuell läuft noch ein weiteres Strafverfahren wegen des Verdachts des Besitzes von kinderpornographischem Material. P3, warum wurde das nicht einfach direkt miteinbezogen?
Den Gegenstand des Urteils bildet die in der Anklage bezeichnete prozessuale Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Fraglich ist also, ob es sich hierbei um dieselbe Tat im strafprozessualen Sinn (§ 264 StPO) handelt oder um eine andere Tat, wonach eine Nachtragsanklage gemäß § 266 StPO erforderlich wäre. Unter der Tat im strafprozessualen Sinne versteht man einen bestimmten Vorfall, der bei natürlicher Betrachtung einen einheitlichen Geschehensablauf darstellt. Ein solcher ist zu bejahen, wenn zwischen den vorgeworfenen Verhaltensweisen des Beschuldigten eine innere Verknüpfung der Art besteht, dass die getrennte Behandlung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde. Da dies für eine genauere Bestimmung noch immer recht nebulös erscheint, können hierfür weitere Kriterien herangezogen werden, nämlich Tatzeit, Tatort, Tatobjekt und Tatbild. Durch die genannten Kriterien gelange ich zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei offensichtlich nicht um eine prozessuale Tat handelt, sodass es einer Nachtragsanklage gemäß § 266 StPO bedurft hätte.
Sehr gut! P1 hat uns geschildert, dass vor dem Amtsgericht Köln verhandelt wurde. Mit Blick auf das vergangene Verfahren von Herrn Edathy, hätte auch eine Anklage beim Landgericht Köln erfolgen können?
Gemäß § 1 StPO wird die sachliche Zuständigkeit der Gerichte durch das Gesetz über die Gerichtsverfassung bestimmt. Grundsätzlich ist diese gemäß § 6 StPO in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Im vorliegenden Fall geht es demnach um die sachliche Zuständigkeit in erster Instanz. Nach § 24 Abs. 1 GVG ist das Amtsgericht zuständig, sofern nicht eine Zuständigkeit des Landgerichts nach § 74 GVG oder des Oberlandesgerichts nach § 120 GVG vorliegt. Beim Besitz von Crystal Meth, sofern es sich nicht um eine nicht geringe Menge handelt, handelt es sich um ein Vergehen i.S.d. § 12 Abs. 2 StGB, sodass nicht die zwingende Zuständigkeit des Landgerichts i.S.d. § 24 Abs. 1 Nr.1 GVG begründet ist. Mangels weiterer Angaben ist auch eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe nicht zu erwarten, vgl. § 24 Abs. 2 GVG. Fraglich ist, ob ein Fall der beweglichen Zuständigkeit i.S.d. § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG aufgrund des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung vorliegt. Ein besonderer Umfang bzw. eine besondere Bedeutung kommt einem Fall zu, wenn er sich aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen aus der Masse der durchschnittlichen Strafsachen nach oben abhebt. Da es sich hierbei um einen Juraprofessor handelt, der im Besitz einer nicht geringen Menge Crystal Meth war, könnte lediglich das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit angeführt werden. Der Umfang und die Schwierigkeit der zu erwartenden Beweisaufnahme und auch das Ausmaß der Rechtsverletzung scheinen hierbei keine tragende Rolle zu spielen. Die besseren Argumente sprechen somit dafür, die bewegliche Zuständigkeit zu verneinen. Die Staatsanwaltschaft hat daher zutreffend Anklage beim Amtsgericht erhoben.
Auch das ist richtig. P1, wir machen jetzt noch einen kleinen Schlenker. Wann liegt eigentlich eine unzulässige Tatprovokation vor?
Eine unzulässige Tatprovokation liegt grundsätzlich vor, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person in einer dem Staat zuzurechnenden Weise durch einen Lockspitzel (Verdeckter Ermittler, Nicht offen ermittelnder Polizeibeamter oder Vertrauensperson) zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt. Hierbei kommt es im Einzelfall darauf an, mit welcher Erheblichkeit die Weckung der Tatbereitschaft oder die Intensivierung der Tatplanung erfolgte. Eine unzulässige Tatprovokation verstößt des Weiteren gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.
Sehr schön! P2, Stichwort Vertrauenspersonen, schildern Sie bitte noch kurz, was es hier für ein Problem geben könnte.
Bei Vertrauenspersonen handelt es sich um Privatpersonen, die bereit sind, die Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung von Straftaten auf längere Zeit – anders als Informanten – vertraulich zu unterstützen. Der Gesetzgeber hat allerdings lediglich die Betätigung des Verdeckten Ermittlers erfasst, siehe §§ 110a ff. StPO. Fraglich ist also, ob es für die Vertrauensperson einer konkreten gesetzlichen Normierung bedarf. Mit Blick auf den allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes könnte die Ansicht vertreten werden, der Einsatz von Vertrauenspersonen sei mangels Rechtsgrundlage als unzulässig einzustufen. Nach Ansicht der Rechtsprechung lässt sich ihr Einsatz wiederum über die Ermächtigungsgeneralklausel (§§ 161, 163 StPO) legitimieren.
Richtig! P3, jetzt stellen Sie sich mal vor, beim besagten Professor kam es zu einem unzulässigen Einsatz eines polizeilichen Lockspitzels. Was sind die Rechtsfolgen?
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH wurde der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK lediglich auf der Strafzumessungsebene begegnet. Der BGH war lange Zeit der Ansicht, dass weder ein Verfahrenshindernis noch ein Beweisverwertungsverbot die zwingende Folge sein müsse. Inzwischen hat sich allerdings der BGH mit der neueren Rechtsprechung des EGMR auseinandergesetzt, sodass die Strafzumessungslösung nicht weiterverfolgt wird und die Tatprovokation regelmäßig ein Verfahrenshindernis zur Folge hat.
Mit dieser treffenden Antwort soll das Prüfungsgespräch enden. Vielen Dank!

 
BGH, Urteil v. 10.06.2015 – 2 StR 97/14
AG Köln, Urteil v. 01.03.2016, Az. 583 Ds 46/15

04.04.2016/3 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2016-04-04 09:44:312016-04-04 09:44:31Prüfungsgespräch Strafrecht – Schwerpunkt StPO
Gastautor

Der Fall Edathy im Lichte der StPO

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Wie freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Philipp Karl veröffentlichen zu können. Der Autor hat sein Studium und Referendariat erfolgreich in Mannheim absolviert.
Gegenstand des Beitrags ist der Fall um den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy. Dieser hat nicht nur eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, sondern wirft auch einige problematische Rechtsfragen auf (zur Chronologie des Geschehens siehe hier). Diese Kombination macht den Fall, auch wenn er mittlerweile nicht mehr tagesaktuell ist, sicherlich reizvoll für die mündliche Prüfung.
Auf die Strafbarkeit von Amtsträgern, die den ehemaligen Abgeordneten Edathy (angeblich) vor strafrechtlichen Ermittlungen warnten, wurde hier bereits an anderer Stelle eingegangen (Der Fall Edathy im Prüfungsgespräch).
Im Folgenden geht es um strafprozessuale Probleme, die durch den Fall Edathy aufgeworfen werden.
Im Einzelnen wird auf die Begründung eines Anfangsverdachtes mit straflosem Verhalten, die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft und die Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO eingegangen.
 
Der Anfangsverdacht aufgrund straflosen Verhaltens
Besonders Interessant in rechtlicher Hinsicht ist, ob überhaupt ein ausreichender Verdachtsgrad als Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und die Durchführung der Wohnungsdurchsuchung vorlag.
Sowohl die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, als auch die Wohnungsdurchsuchung (§102 StPO) bedürfen des Vorliegens eines Anfangsverdachtes.
Der Anfangsverdacht wird als die nach kriminalistischer Erfahrung aufgrund begründeter Tatsachen bestehende Wahrscheinlichkeit verstanden, dass jemand Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist.
Der ehemalige Abgeordnete Edathy hatte sich zugegebenermaßen kostenpflichtig Bild- und Filmmaterial beschafft, welches von einer kanadischen Webseite angeboten wurde. Streitig blieb allein die rechtliche Einordnung des Materials. Es handelte sich wohl um Material, das nicht eindeutig als kinderpornografisch eingestuft werden konnte, sondern sich im Grenzbereich der Strafbarkeit befand.
Es können nämlich nicht jegliche Abbildungen nackter Kinder unter das Tatbestandsmerkmal der kinderpornographischen Schrift subsumiert werden. Nach der bis zum 27. Januar 2015 geltenden Fassung des § 184b StGB war es erforderlich, dass die Abbildungen sexuelle Handlungen von, an oder vor Kindern zum Gegenstand haben. Als sexuelle Handlung eines Kindes in diesem Sinne wurde von der Rechtsprechung auch die Einnahme einer unnatürlichen geschlechtsbezogenen Körperhaltung, durch die der Betrachter sexuell provoziert werden soll, erfasst.
Die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung wird nunmehr ausdrücklich durch den § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB n.F. unter Strafe gestellt, ohne dass damit allerdings, wegen der nach alter Rechtslage in diesem Sinne bereits vorgenommenen Gesetzesauslegung, eine Erweiterung der Strafbarkeit verbunden ist.
Die Abbildung nackter Personen in natürlichen oder vermeintlich natürlichen Lebenssituationen war und ist daher nicht ohne weiteres dazu geeignet eine Strafbarkeit nach § 184b StGB zu begründen. Der mit Wirkung vom 27. Januar 2015 neu geschaffene § 201a Abs. 3 StGB n.F. konnte wegen des Rückwirkungsverbotes auf den fraglichen Tatzeitraum ohnehin keine Anwendung finden.
Wenn nun der Besitz von Abbildungen, die keinen strafbaren Inhalt haben, in Frage steht, besteht nach kriminalistischer Erfahrung dennoch eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass jemand, der sich kostenpflichtig den Besitz an Abbildungen von nackten Kindern verschafft, aufgrund vermuteter sexueller Neigungen, auch im Besitz strafrechtlich relevanten Bild- und Filmmaterials sein könnte.
Anfangsverdacht wegen straflosen Verhaltens
Hieran schließt sich die Frage an, ob ein Anfangsverdacht auch auf strafloses Verhalten gestützt, von einem legalen Verhalten also auf ein illegales Verhalten geschlossen werden darf.
Wegen der Folgen, die sich für Betroffene allein aus einem bestimmten Tatverdacht, unabhängig davon, ob sich dieser später bewahrheitet, ergeben können, ist die Beantwortung dieser Frage für den Betroffenen von erheblicher Bedeutung.
Im Hinblick auf die tiefgreifenden Grundrechtseingriffe, zu welchen die Strafverfolgungsbehörden durch die Annahme eines Anfangsverdachtes ermächtigt werden, kann zur Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes die durch den Gesetzgeber vorgenommene Grenzziehung nicht außer Betracht bleiben.
Es ist Sache des Gesetzgebers im Rahmen der durch die Verfassung vorgegebenen Schranken die für ein geordnetes Zusammenleben als erforderlich erachteten Handlungsanweisungen in Gesetzesform zu konkretisieren und dabei die Grenze zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten zu ziehen. Innerhalb der hiernach gezogenen Grenzen muss der Einzelne, unabhängig von gesellschaftlichen Moralvorstellungen, die nicht im Gesetz ihren Niederschlag gefunden haben, darauf vertrauen dürfen von staatlicher Einflussnahme verschont zu bleiben.
Andernfalls würde strafloses Verhalten wegen bloßer Wahrscheinlichkeiten unter Generalverdacht gestellt, was zur Folge hätte, dass aufgrund vielfältigen, scheinbar neutralen, Verhaltens ein Anfangsverdacht mit entsprechendem Begründungsaufwand hergeleitet werden könnte.
Dies bedeutet nicht, dass ein an sich strafloses Verhalten für die Annahme eines Anfangsverdachtes bedeutungslos wäre. Es kann als Indiz in eine zur Begründung des Anfangsverdachts vorzunehmende Gesamtabwägung einbezogen werden. Unzulässig ist es aber den Anfangsverdacht für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat, ohne das Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte, allein auf erlaubtes Verhalten zu stützen.
Solche weiteren Anhaltspunkte sah das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 969/14), welches im Rahmen einer von dem Beschuldigten unter anderem gegen die Anordnung der Wohnungsdurchsuchung erhobenen Verfassungsbeschwerde zu entscheiden hatte, darin begründet, dass es sich bei dem von dem Beschuldigten bestellten Bild- und Filmmaterial eben nicht um eindeutig legales Material gehandelt habe, sondern das Material entweder bereits strafrechtlich relevant gewesen sei oder sich jedenfalls in einem Grenzbereich zur Strafbarkeit befunden habe. Das die Wohnungsdurchsuchung anordnende Gericht sei damit zur Begründung des Anfangsverdachtes gerade nicht davon ausgegangen der Beschuldigte habe sich ausschließlich legal verhalten.
Es handele sich um Grenzfälle, die schwierige rechtliche Wertungen erfordern. Diese Grenzziehung bei seinen Bestellungen zielsicher einzuhalten dürfte für den Beschuldigten schwer möglich gewesen sein, zumal der kanadische Anbieter auf seiner Webseite auch eindeutig strafrechtlich relevantes Material vertrieb. In solchen Grenzfällen sei es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, die darauf gestützte kriminalistische Erfahrung zur Begründung des Tatverdachtes heranzuziehen.
 
Die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft
Sehr umstritten ist auch die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft Hannover im „Fall Edathy“ (siehe zum Beispiel hier) gewesen.
Die Weitergabe persönlichkeitsrechtsrelevanter Informationen an die Presse bedarf als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer Ermächtigungsgrundlage.
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, welche die Strafverfolgungsbehörden dazu ermächtigen persönlichkeitsrechtsrelevante Informationen an die Presse weiterzugeben, ist in der StPO nicht zu finden.
Es gibt kein Recht der Strafverfolgungsbehörden zur Medienarbeit, sondern es wird stattdessen eine Pflicht zur Auskunftserteilung an die Presse in den jeweiligen Landespressegesetzen statuiert (im Fall der Staatsanwaltschaft Hannover: § 4 Niedersächsisches Pressegesetz)
Die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit ergibt sich daher erst mittelbar aus dem Informationsauftrag gegenüber der Presse und ist kein Selbstzweck um beispielsweise Imagewerbung zu betreiben.
Die Rechtmäßigkeit staatlicher Öffentlichkeitsarbeit ist im Lichte des Gesetzeszwecks zu beurteilen.
Das Informationsrecht der Presse und die damit notwendigerweise einhergehende Befugnis der Strafverfolgungsbehörden zur Informationserteilung, gelten nämlich nicht grenzenlos. Es kollidiert insoweit das Grundrecht der Pressefreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht desjenigen, der von den Informationen betroffen wird. Um die berührten Grundrechte in einen gerechten Ausgleich zu bringen, bedarf es einer umfassenden Güterabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände.
Dies kommt auch in Nr. 23 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) zum Ausdruck, wonach für jeden Einzelfall zu prüfen ist, ob das Berichterstattungsinteresse die berührten Persönlichkeitsrechte überwiegt.
Zu berücksichtigen sind einerseits die erheblichen Folgen für den Beschuldigten, die mit einer Berichterstattung über den Tatvorwurf einhergehen können. Trotz der bis zu einer Verurteilung geltenden Unschuldsvermutung, ist gerade bei Vorwürfen im Bereich der Kinderpornografie, allein mit dem Tatvorwurf eine Stigmatisierung verbunden, die selbst dann nicht vollständig beseitigt werden kann, wenn sich der Vorwurf letztlich als unzutreffende erweist. Bei bestimmten Ämtern wird unter Umständen allein schon durch den Tatvorwurf der öffentliche Druck so groß sein, dass ein Rücktritt, bevor die Vorwürfe abschließend bewertet werden konnten, unausweichlich ist.
Öffentlich ist grundsätzlich nur die Hauptverhandlung (§ 169 GVG), während das vorgelagerte Ermittlungsverfahren nichtöffentlich ausgestaltet ist.
Ein die Belange des Persönlichkeitsschutzes überwiegendes Interesse der Presse bereits in diesem frühen Verfahrensstadium mit Hilfe staatlicher Informationen berichten zu können, kann sich aus der Schwere der Tat, des Verdachtsgrades und der Stellung des Beschuldigten im öffentlichen Leben ergeben. Ist eine öffentliche Berichterstattung hiernach zulässig, werden regelmäßig gleichwohl Einschränkungen hinsichtlich des Umfangs der zu erteilenden Informationen geboten sein. Dies gilt zum einen hinsichtlich Informationen, die Rückschlüsse auf die Person des Beschuldigten ermöglichen und zum anderen hinsichtlich Informationen zur Art und zum Inhalt des konkreten Tatvorwurfes.
Eine Berichterstattung, welche die Identifizierung des Beschuldigten ermöglicht, ist nur bei sog. Personen der Zeitgeschichte zulässig. Aufgrund der Stellung des Beschuldigten Edathy, als bundesweit bekannter Innenpolitiker, war eine identifizierende Berichterstattung grundsätzlich zulässig. Die Art und der Zeitpunkt der Informationserteilung sind jedoch problematisch.
Die Öffentlichkeit wurde umfassend unterrichtet, bevor die Staatsanwaltschaft selbst ein abschließendes Urteil über die Strafbarkeit des Bildmaterials getroffen hatte. Dabei war bereits mit der Information über den Inhalt der Bilder eine maximale Schädigung des Beschuldigten in der öffentlichen Wahrnehmung verbunden, weil diese über Personen in herausgehobenen öffentlichen Stellungen ihr Urteil nicht allein in juristischen, sondern vor allem in moralischen Kategorien fällt.
Man mag den Besitz solcher Bilder mit guten Gründen für moralisch verwerflich, generell strafwürdig und den Besitzer solcher Bilder für charakterlich ungeeignet zur Wahrnehmung wichtiger politischer Aufgaben halten. Solange der Gesetzgeber hieraus aber nicht die entsprechenden Konsequenzen gezogen hat, muss derjenige, der sich auf dem Boden des geltenden Rechts bewegt hat, sein erlaubtes Verhalten nicht auf staatliche Veranlassung hin zum Gegenstand der öffentlichen Erörterung machen lassen. Eine moralische Aufarbeitung ist jedenfalls nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden.
Auch wenn die Staatsanwaltschaft Hannover letztlich bestimmte Bilder als strafrechtlich relevant einstufte und darauf ihre Anklage stützte, so hätte es Zurückhaltung hinsichtlich der öffentlichen Information über den Tatvorwurf bedurft. Die abschließende strafrechtliche Bewertung eines Sachverhaltes ist Sache des gesetzlichen Richters. Dies kommt auch in Nr. 23 RiStBV zum Ausdruck, wonach die Unterrichtung der Öffentlichkeit nicht dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen darf. Dies gilt umso mehr, als es sich scheinbar um Bildmaterial aus einem strafrechtlichen Randbereich, also nicht um eindeutig strafbares Verhalten handelte. Kommt das Gericht in einem solchen Fall später zu dem Ergebnis der Inhalt des Bildmaterials sei nicht strafbar, so ist dem Beschuldigten bereits ein nicht mehr zu reparierender Schaden entstanden.
Es ist zwar nachvollziehbar, dass seitens der mit den Ermittlungen befassten Staatsanwaltschaft das Bedürfnis bestand das eigene Vorgehen, welches massiver Kritik ausgesetzt war, mit Details zu dem Tatvorwurf zu rechtfertigen. Diesem Zweck ist die Öffentlichkeitsarbeit der Strafermittlungsbehörden nach der gesetzlichen Konzeption allerdings nicht zu dienen bestimmt.
 
Die Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO
Letztlich kam es zu keinem Urteil gegen Sebastian Edathy, da das Verfahren gemäß § 153a Abs. 2 StPO gegen die Zahlung von 5000 € eingestellt wurde. Die von der StPO vorgesehenen Möglichkeit der Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen dient der Prozessökonomie, zum anderen aber auch den Interessen des Beschuldigten, dem die Belastungen einer öffentlichen Hauptverhandlung erspart bleiben, ohne dass mit der Verfahrenseinstellung eine Schuldfeststellung verbunden ist.
Die Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO kommt nur bei Vergehen in Betracht und ist für diejenigen Fälle gedacht, in denen zwar im Gegensatz zu § 153 StPO ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, dieses aber durch Auflagen oder Weisungen im Sinne des nicht abschließenden Katalogs des § 153a Abs. 1 S. 2 StPO beseitigt werden kann, wobei allerdings die Schwere der Schuld der Einstellung nicht entgegenstehen darf.
Wenngleich mit der Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO keine Schuldfeststellung verbunden ist, so verbleibt für den Betroffenen, dennoch ein bitterer Beigeschmack. Er musste sich die Verfahrenseinstellung mittels der Erfüllung von Auflagen oder Weisungen „erkaufen“, was eigentlich der Unschuldsvermutung, welche mangels Schuldfeststellung fort gilt, widerspricht und öffentlich den Eindruck eines Schuldeingeständnisses erweckt. Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zu der Verfahrenseinstellung tatsächlich von einem Schuldeingeständnis abhängig gemacht. Ein Geständnis wirkt sich zwar anerkanntermaßen strafmildernd aus, sodass es denkbar erscheint, dass durch ein Schuldeingeständnis das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung so weit herabgesetzt wird, dass der Anwendungsbereich des § 153a StPO erst eröffnet wird. Allerdings war im konkreten Verfahren nicht die Tatsache des Besitzverschaffens und des Besitzes des konkreten Bild- und Filmmaterials streitig, sondern es ging lediglich um die rechtliche Bewertung des unstreitigen Sachverhalts. Das „Schuldeingeständnis“ des Angeklagten hat in einem solchen Fall keinen Mehrwert, da es für die Frage, ob sich der Angeklagte schuldig im Sinne der angeklagten Tat gemacht hat, keine Aussage trifft.
Man muss die Verfahrenseinstellung nicht gutheißen, unter Berücksichtigung der strafgerichtlichen Praxis ist sie allerdings nachvollziehbar und beruht nicht auf einem „Promi-Bonus“.
Folgende Gründe können für eine Anwendung des § 153a StPO im konkreten Fall angeführt werden:

  • Es handelte sich um eine vergleichsweise niedrige Anzahl von Bild- und Filmdateien, deren Besitz angeklagt wurde
  • Es handelte sich scheinbar um Bilder im Grenzbereich zur Strafbarkeit
  • Der angeklagte Tatzeitraum lag bereits mehrere Jahre zurück
  • Der Angeklagte war vorher noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten
  • Die berufliche und private Existenz des Angeklagten wurden bereits durch das Ermittlungsverfahren, die Anklage und die begleitende Berichterstattung zerstört

Unter Berücksichtigung dieser Umstände kam für den Fall einer Verurteilung daher nur eine Strafe im unteren Bereich des auf den fraglichen Tatzeitraum anwendbaren Strafrahmen des § 184b Abs. 4 StGB a.F. von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe in Betracht.

15.06.2015/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2015-06-15 08:30:062015-06-15 08:30:06Der Fall Edathy im Lichte der StPO
Gastautor

Fahndung über das Internet / Facebook: Sind die §§ 131 ff. StPO noch verfassungsgemäß?

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Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Dr. Jesko Baumhöfener veröffentlichen zu können. Der Autor ist als Strafverteidiger in Hamburg tätig. In seiner Kanzlei hat er sich unter anderem auf die Verteidigung im strafrechtlichen Revisionsverfahren spezialisiert.
 
Die Möglichkeiten zur Öffentlichkeitsfahndung nach einem Tatverdächtigen haben sich aufgrund der technischen Entwicklung verändert. Herkömmliche Methoden wie Steckbriefe, Ausschreibungen in Tageszeitungen oder Fahndungen bei „Aktenzeichen XY….ungelöst“ weichen der mit deutlich weniger Aufwand durchführbaren Fahndung über das Internet.
Die Ermächtigungsgrundlage für alle Öffentlichkeitsfahndungen nach einem Tatverdächtigen ist mit § 131 b StPO dieselbe; mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen für den Verfolgten. Die Fahndung mittels Steckbrief ist durch Abhängen desselben beendet. Die Fahndung über das Fernsehen mit deren Ausstrahlung. Die Tageszeitung von gestern ist heute vergessen. Im Gegensatz hierzu endet die Öffentlichkeitsfahndung über das Internet quasi nie. Einmal eingestellte Informationen über den Tatverdächtigen unterliegen nicht mehr der Kontrolle der Ermittlungsbehörden, sondern können sich durch Teilen und Hochladen aufklärungsgeneigter Bürger in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Weblogs verselbständigen und perpetuieren.
Sollte sich das Recht der technischen Entwicklung wegen der durch sie ermöglichten Strafverfolgungseffizienz beugen?
Fahndung über das Internet erfreut sich großer Beliebtheit
Polizeibehörden verschiedener Bundesländer setzen verstärkt auf Öffentlichkeitsfahndungen über das Internet. Nach einem Pilotprojekt der Polizeidirektion Hannover, bei dem Fahndungen direkt bei Facebook eingestellt waren und ein Foto oder eine Phantomskizze des Tatverdächtigen sowie eine ausführliche Sachverhaltsbeschreibung auf Facebook erschienen, kamen datenschutzrechtliche Bedenken auf, weil der Sever von Facebook sich nicht in Deutschland, sondern den USA befindet. Hiernach sind beispielsweise die Polizeidirektion Hannover, das Landeskriminalamt Niedersachsen und andere Polizeibehörden und Landeskriminalämter, dazu übergangen, auf ihren Facebook-Seiten nur noch einen sogenannten „Teaser-Text“ zu veröffentlichen, mit dem noch keine Personenbeschreibungen preisgegeben werden, sondern lediglich allgemeine Informationen zum Tatablauf. Außerdem wird das Fahndungsfoto des oder der Tatverdächtigen lediglich verpixelt angezeigt. Eine Identifizierung ist auf der Facebook-Seite insofern noch nicht möglich. Erst wenn man dem Link folgt, der – um im Beispiel zu bleiben – auf die Internetseite der Polizeidirektion Hannover führt, bekommt man detaillierte Informationen zum Tatablauf und zu den Tatverdächtigen. Erst hier erscheint ein Foto oder Phantombild des oder der Tatverdächtigen auch unverpixelt.
Die Delikte, derentwegen die Fahndungen durchgeführt werden, sind ganz unterschiedlicher Natur. So tauchen Fahndungsmeldungen über Kapitalverbrechen ebenso auf wie beispielsweise einfache Diebstahls- oder Betrugstaten sowie Fahndungen nach Reifenstechern. Aktuell sucht die Polizeidirektion Hannover mit Hilfe eines Bildes aus einer Überwachungskamera beispielsweise einen (deutlich erkennbaren) Mann, der versucht hat in einem Bekleidungsgeschäft mit einer gefälschten Kreditkarte Bekleidung im Wert von über 3.000,00 Euro zu erhalten (hier einsehbar).
Zu berücksichtigen ist, dass die Verwendung der Fahndungsmeldung und damit auch der Abbildung des Tatverdächtigen im Prozess der sozialen Vernetzung für die Polizei kaum vorhersehbar und nur eingeschränkt kontrollierbar ist. Zwar hat die Polizei an den betreffenden Bildern auf der polizeilichen Internetseite das alleinige Nutzungsrecht. Dies kann allerdings nicht die Übernahme der Abbildung, z.B. in ein soziales Netzwerk oder einen Weblog, verhindern. Die Bürger machen von dieser Möglichkeit des Teilens oder Verlinkens polizeilicher Fahndungen regen Gebrauch. Es braucht eigentlich nicht darauf aufmerksam gemacht zu werden: Die Kopien von Fahndungsfotos und Fahndungstexten stehen, nachdem sie von Bürgern oder Onlineredakteuren ins Netz gestellt wurden, wiederum Dritten zum Speichern und Hochladen zur Verfügung. Fahndungsfotos und Fahndungstexten verbreiten sich auf diese Weise rasant über das Netz.
Ermächtigungsgrundlage
Veröffentlichungen von Fahndungsbildern und Fahndungstexten eines Tatverdächtige über das Internet fallen, wie Fahndungsaufrufe im Fernsehen oder Zeitungen oder Veröffentlichen von Steckbriefen an Litfaßsäulen, unter § 131b Abs. 1 StPO. Die Zuständigkeit für die Anordnung einer Öffentlichkeitsfahndung im Internet richtet sich nach § 131c StPO. Die §§ 131 ff. StPO wurden mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 in die StPO implementiert, zu jener Zeit also als Boris Becker in einer Fernsehwerbung für das Internetstartpaket von AOL fragte: „Bin ich da schon drin, oder was?“
Verfassungsmäßigkeit von Fahndungen nach einem Tatverdächtigen über das Internet
Sind die 1999 geschaffenen Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung (§ 131 Abs. 3, § 131 a Abs. 3, § 131 b, § 131c StPO) noch verfassungsgemäß, soweit damit auch Fahndungen nach einem Tatverdächtigen im Internet zugelassen werden? Oder hat das Gesetz hier mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten, so dass eine entsprechende Klarstellung durch den Gesetzgeber angezeigt ist?

Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
Fahndungsmaßnahmen, die sich an die Öffentlichkeit richten, berühren das Grundrecht der Gesuchten auf informationelle Selbstbestimmung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist allerdings nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss vielmehr solche Beschränkungen hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen gerechtfertigt sind. Diese Beschränkungen bedürfen jedoch einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage, die insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss.
Verhältnismäßigkeit
Da hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit der Regelung zur Öffentlichkeitsfahndung (Zuständigkeit, Verfahren, Zitiergebot) keine Bedenken bestehen müsste das Gesetz zur Öffentlichkeitsfahndung, soweit damit auch Fahndungen im Internet zugelassen sind, einem legitimen Zweck dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, das heißt zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Die Effektivierung der Strafverfolgung ist ein legitimer Zweck, der einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundsätzlich rechtfertigen kann. Es werden durch die Öffentlichkeitsfahndung im Internet außerdem Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen, die sonst nicht bestünden und angesichts der zunehmenden Bedeutung des Internets unter Zurückdrängung der klassischen Medien in vielen Fällen erfolgversprechend sind. Ein milderes Mittel, welches ebenso weitreichende Aufklärungsmaßnahmen ermöglicht, ist nicht ersichtlich. Umfang und Geschwindigkeit der Verbreitung einer Fahndung steigern die Chancen auf Erfolg, welche online aus ermittlungstechnischer Sicht effektiver erfüllt werden kann. So sind auch die in der aktuellen Fassung der RiStBV unter dem Ordnungspunkt 1.2. der Anlage B vorgeschlagenen anderen Formen der Öffentlichkeitsfahndung, die den Tatverdächtigen weniger beeinträchtigen, wie der Einsatz von Plakaten, Handzetteln oder Lautsprecherdurchsagen, keine gleich geeigneten Mittel der Öffentlichkeitsfahndung. Sie erreichen jeweils nur eine begrenzte Anzahl an Personen und können sich nicht so schnell verbreiten wie eine Online-Fahndung.
Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn
Bei der im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne durchzuführenden Abwägung der widerstreitenden Interessen bieten höchstrichterliche Entscheidungen zur Zulässigkeit von Medienberichterstattungen über Straftaten gute Orientierung.
„Lebach“ und „Recht auf Vergessenwerden“
Die Lebach-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 prägt die Rechtsprechung in diesem Sinne bis heute (BVerfG, NJW 1973, 1226 (1229)).
Ausgehend davon, dass ein jeder „grundsätzlich selbst und allein bestimmen (darf), ob und wieweit andere sein Lebensbild im ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich darstellen dürfen“, müsse nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ermittelt werden, ob eine grundsätzlich mögliche Einschränkung dieses Selbstbestimmungsrechts durch öffentliche Interessen gerechtfertigt sei. Zwar müsse, „wer den Rechtsfrieden bricht“, grundsätzlich auch dulden, dass „das von ihm selbst durch seine Tat erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit in einer nach dem Prinzip freier Kommunikation lebenden Gemeinschaft auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird.“ Eine wiederholte, nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat wie dem der Entscheidung zu Grunde liegenden vierfachen Soldatenmord, sei jedoch dann unzulässig, wenn sie die Resozialisierung des Täters gefährde. „Die für die soziale Existenz des Täters lebenswichtige Chance, sich in die freie Gesellschaft wieder einzugliedern, und das Interesse der Gemeinschaft an seiner Resozialisierung gehen grundsätzlich dem Interesse an einer weiteren Erörterung der Tat vor.“
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die zu medialen Berichterstattungen über Straftaten ergangen ist, hat sich maßgeblich an den Leitsätzen des „Lebach-Urteils“ orientiert und diese weiterentwickelt. Zusätzlich nimmt diese neuere Rechtsprechung bei Abwägung der widerstreitenden Interessen auch die Gefahr in den Blick, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetze und deshalb auch im Fall einer späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängenbleibt“ (Vgl. nur BVerfG, NJW 2006, 2835). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht in seiner Diktion bereits stark in die Richtung eines jüngst vom EuGH geprägten „Rechts auf Vergessenwerden“ (EuGH, NJW 2014, 2257 (2264)).
„Apollonia-Prozess“
Das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit an spektakulären Kapitalverbrechen nahm der Bundesgerichtshof im Rahmen des sogenannten „Apollonia-Prozesses“ zum Anlass, zu Ungunsten des Klägers zu entscheiden. Der Kläger begehrte von der Beklagten, dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“, es zu unterlassen, in einem kostenlosen Online-Archiv über seine Taten (Mord in zwei Fällen und versuchter Mord in einem Fall) zu berichten. Bei der Eingabe des vollen Namens des Klägers werden – auch über „Google” – die Berichte an den ersten Stellen angezeigt (BGH, GRUR 2013, 200).
Seine Entscheidung begründete der Bundesgerichtshof damit, dass ein anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit nicht nur an der Information über das aktuelle Zeitgeschehen bestehe, sondern auch an der Möglichkeit, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse anhand der unveränderten Originalberichte in den Medien zu recherchieren. Der „Apollonia-Prozess” sei ein bedeutendes zeitgeschichtliches Ereignis eines spektakuläres Kapitalverbrechens, das untrennbar mit der Person und dem Namen des Klägers verbunden sei. In ähnlicher Weise würden viele Aufsehen erregende Kriminalfälle im Strafrecht unter dem Namen der Täter geführt. „Ein generelles Verbot der Einsehbarkeit und Recherchierbarkeit der Originalberichte bzw. ein Gebot der Löschung aller früheren, den Straftäter identifizierenden Darstellungen in Online-Archiven würde dazu führen, dass Geschichte getilgt und der Straftäter vollständig immunisiert würde“. Auch weil „die Artikel als frühere Veröffentlichung im Spiegel erkennbar“ seien und „lediglich online zum Abruf bereitgehalten werden“, ein Auffinden somit eine gezielte Suche voraussetze, sei es zulässig, die Artikel im Online-Archiv vorzuhalten.
Damit bestätigte der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zu der Frage der Zulässigkeit identifizierender Berichte in Online-Archiven im Zusammenhang mit spektakulären Kapitalverbrechen. Bereits im Jahr 2010 war der Bundesgerichtshof in der sogenannten Sedlmayr-Mord Entscheidung ganz ähnlicher Auffassung (BGH, MMR 2010, 575).
Straftäter relative Personen der Zeitgeschichte
Nach den vom BGH aufgestellten Grundsätzen ist für das Vorhalten von Medienberichten über Straftaten in Online-Archiven unter Nennung des Namens und unter Veröffentlichung von Bildern des Tatverdächtigen somit Voraussetzung, dass es sich bei Straftaten nicht bekannter Persönlichkeiten um aufsehenerregende Fälle handelt. Diese dürfen dann auch über Jahre in Online-Archiven vorgehalten werden, wenn es sich um spektakuläre Kapitalverbrechen handelt und somit um bedeutende zeitgeschichtliche Ereignisse. Die Rechtsprechung des BGH geht damit weit in die Richtung, einmal zulässige Medienberichterstattungen über spektakuläre Kapitalverbrechen grundsätzlich nicht alleine aufgrund Zeitablaufs unzulässig werden zu lassen. So ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt, dass Straftaten zum Zeitgeschehen gehören und Straftäter relative Personen der Zeitgeschichte i.S.d. § 23 Kunsturhebergesetz (KUG) sind. Aufnahmen von ihnen unter Namensnennung und Berichte über ihre Straftaten dürfen grundsätzlich jedenfalls bei schweren und schwersten Straftaten veröffentlich werden.
Ob die sich verfestigende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit Online-Archiven allerdings mit den Grundätzen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Lebach-Entscheidung aufgestellt hat und der EuGH mit seinem „Recht auf Vergessenwerden“ weiterverfolgt, in Einklang steht, ist sehr zweifelhaft, braucht vorliegend hingegen nicht entschieden zu werden.
Fahndung über das Internet
Bei den vom BGH („Apollonia“ oder „Sedlmayr“) zu Lasten des jeweiligen Klägers und seines Persönlichkeitsrechts entschiedenen Fällen bestünden im Falle einer Fahndung über das Internet bei vergleichbar schwerwiegenden Kapitalstraftaten keine Zweifel daran, dass die Strafverfolgung über das Internet mit all seinen Folgen für die spätere Auffindbarkeit Vorrang genießen würde vor dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Gesuchten. Ein Streitentscheid kann insofern dahinstehen.
Soweit die §§ 131 ff. StPO die Öffentlichkeitsfahndung nach einem Verdächtigen im Internet zulassen, erweisen sie sich jedoch angesichts der Möglichkeit für Polizeibeamte, bereits bei einem einfachen Tatverdacht einer mittelschweren Straftat ohne strengen Richtervorbehalt eine entsprechende Fahndungsmaßnahme zu ergreifen, gerade unter Zugrundelegung der vom Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof aufgezeigten Maßstäbe, als nicht mehr verhältnismäßig.
Gefahr eines nachhaltigen Reputationsschadens
Dem Tatverdächtigen eines – um im Beispiel zu bleiben – einfachen Kreditbetrugs oder einer einfachen Körperverletzung ist es nicht zuzumuten, dass eine ins Internet gestellte Öffentlichkeitsfahndung seinen Lebensweg auf Jahre bestimmen kann. Dadurch wird, sollte ihm die Tat, derer er verdächtigt wird, nachgewiesen werden, seine Reputation nachhaltig beeinträchtigt, da es heutigen Gepflogenheiten bei Freunden, Arbeitgebern oder Geschäftspartnern entspricht einen Menschen zu „googeln“.
Die genannten Straftaten aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität lassen auch eine Verurteilung zu einer Geldstrafe zu. So können die Folgen der Öffentlichkeitsfahndung den Verdächtigen faktisch mehr sanktionieren als der eigentliche, mögliche Strafausspruch. Auch bei demjenigen Tatverdächtigen, dessen Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt wird oder der nach durchgeführter Beweisaufnahme vom Gericht freigesprochen wird, besteht die Gefahr, dass trotz des Freispruchs aufgrund des im Internet ausgesprochenen Tatverdachts etwas hängen bleibt. Insofern gebietet „auch die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zugunsten des Angeschuldigten geltende Vermutung seiner Unschuld (…) eine entsprechende Zurückhaltung“ (BVerfG, NJW 1973, S. 1226 (1230)).
Gefahr bei Gesetzgebung noch nicht absehbar
Die Folgen, die sich aus der Öffentlichkeitsfahndung für den Beschuldigten ergeben, waren 1999, als die §§ 131ff. StPO geschaffen wurden, noch nicht absehbar. Soziale Netzwerke im Internet existierten damals noch nicht. Facebook wurde erst im Jahre 2004 ins Netz gestellt. Weblogs von privaten Internetusern waren die Ausnahme. Der Zeitgeist um die Jahrtausendwende ging eher dahin, passiv im Internet zu konsumieren bzw. erst einmal Zugang zum Internet zu finden (s.h. Boris Becker: „Bin ich da schon drin, oder was?“) , als aktiv an der Gestaltung und Kommunikation teilzunehmen. Dies hat sich maßgeblich geändert. Wenn heute eine Fahndung im Internet mangels richterlicher Bestätigung erst eine Woche nach Veröffentlichung außer Kraft tritt (§ 131c Abs. 1 StPO), so ist das Bild des Beschuldigten samt Begleittext in den sozialen Medien theoretisch diverse Male um die Welt gegangen. Und in diesen Medien bleibt es auch und ist über eine gezielte Suche über eine Suchmaschine auf Jahrzehnte abrufbar.
Verhinderung der Verbreitung im Internet nicht möglich
Die Polizeibehörde oder Staatsanwaltschaft, die originär für die Verbreitung zuständig war, hat auch keine Möglichkeit, eine solche Verbreitung zu verhindern. Fotos und Fahndungstexte lassen sich leicht vervielfältigen und bleiben auch nach beendeter Fahndungsmaßnahme auffindbar. Die normative Kraft des Faktischen verhinderte in früheren Zeiten, dass Fahndungsplakate von einfachen Betrugstaten oder Körperverletzungen an Litfaßsäulen oder Postämtern befestigt wurden. Der Aufwand, auch bei mittelschwerer Kriminalität zu solchen Fahndungsmethoden zu greifen, wäre in Form des Herstellens, Auf- und Abhängens der entsprechenden Plakate zu groß gewesen. Insofern beschränkte man die Öffentlichkeitsfahndung auf schwere bzw. schwerste Kriminalität. Eine solche faktische Begrenzung ergibt sich bei der leicht umsetzbaren Öffentlichkeitsfahndung über das Internet nicht, wie durch die aktuelle Praxis der Polizeibehörden bewiesen wird.
Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung nicht mehr verfassungsgemäß
Allein die Möglichkeit, durch die Öffentlichkeitsfahndung über das Internet effizienter zu ermitteln, kann nach alledem die oben genannte Gefahr des nachhaltigen Reputationsschadens für die Verdächtigen auch mittelschwerer Kriminalität nicht aufwiegen.
Die Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung sind insofern, soweit damit auch Fahndungen nach einem Tatverdächtigen im Internet zugelassen werden, mangels Verhältnismäßigkeit nicht mehr verfassungsgemäß.
Dementsprechend wäre eine Revision der Ermächtigungsgrundlage zur Öffentlichkeitsfahndung über das Internet notwendig, um zukünftig nicht gänzlich auf diese effektive Ermittlungsmaßnahme zu verzichten.
Schlussbetrachtung
Das Persönlichkeitsrecht ist durch die heutige Nutzung des Internets leichter verletzbar geworden. Es liegt grundsätzlich in der Verantwortung jedes einzelnen Bürgers, wie er mit seinen Daten umgeht und welche er im Internet veröffentlicht.
Da, wo der Staat eine Rechtfertigung für den Zugriff auf den höchstpersönlichen Lebensbereich seiner Bürger schafft, sollte er sich seiner Vorbildfunktion gewahr sein. Wenn schon aufgrund staatlicher Legitimation die Schranken für einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht derart durchlässig sind, wie nach aktueller Gesetzeslage in Form der Fahndung nach einem Tatverdächtigen über das Internet, was hat dann der verantwortungsvolle Umgang des Bürgers mit seinen Daten noch für einen Sinn.
Die Schranke, die gewährleistet, dass die Reputation der Bürger nicht nachteilig und nachhaltig beeinträchtigt wird, sollte nicht so leicht zu öffnen sein, wie nach derzeit geltender Gesetzeslage. Die 1999 geschaffenen Regelungen zur Öffentlichkeitsfahndung haben mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten.
„Das Recht darf sich (…) der technischen Entwicklung nicht beugen” (BVerfG, NJW 1973, 1226 (1229)). Die Worte des Bundesverfassungsgerichts haben Bestand. Heute wie damals. Insofern sollten sich die Regelungen zur Öffentlichkeitsfahndung im Internet der technischen Entwicklung anpassen.

21.05.2015/4 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2015-05-21 09:01:312015-05-21 09:01:31Fahndung über das Internet / Facebook: Sind die §§ 131 ff. StPO noch verfassungsgemäß?
Dr. David Saive

Der Gang des Strafverfahrens

Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Startseite, StPO, Verschiedenes

Heute folgt der zweite Teil unserer Grundlagenreihe StPO, der sich mit dem Gang des Strafverfahrens im Erkenntnisverfahren befasst. Als nächstes folgt ein Artikel über die Rechte und Pflichten der einzelnen Prozessbeteiligten.
Das Strafverfahren kann in vier Verfahrensabschnitte unterteilt werden: Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren und Rechtsmittelverfahren. Nachfolgend werden die einzelnen Abschnitte kurz vorgestellt und ihre Stellung im gesamten Verfahren erläutert.
 

I. Das Ermittlungsverfahren gem. § 158 ff. StPO

Das Ermittlungsverfahren dient, wie der Name schon sagt, dazu einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt zu ermitteln, um ggf. gegen den oder die Delinquenten Klage zu erheben, § 160 I StPO. Hierbei hat die Staatsanwaltschaft einen besondere Aufgabe: Sie ist „Herrin des Ermittlungsverfahrens“.[1] Konkretisiert wird ihre Stellung durch §§ 152 I, II; 160 I, II; 163 StPO. Kurzgesagt muss die Staatsanwaltschaft wegen aller verfolgbaren Straftaten einschreiten und diesbezüglich alle relevanten Tatsachen, sei es solche die für oder gegen den Beschuldigten sprechen, ermitteln. Schließlich darf nur die Staatsanwaltschaft Anklage erheben. (Zu dem genauen Aufgabenbereich der Staatsanwaltschaft im nächsten Artikel mehr).

1. Einleitung des Ermittlungsverfahrens

Das Ermittlungsverfahren kann entweder aufgrund privater Initiative oder von Amts wegen eröffnet werden:
Privatperson können mittels der Strafanzeige bzw. des Strafantrags gem. § 158 I bzw. II StPO das Ermittlungsverfahren einleiten. Bei einer Strafanzeige teilt der Erstatter der Polizei lediglich einen Sachverhalt mit, der Anhaltspunkte für die Aufnahme von Ermittlungen bietet, vgl. 152 II StPO. Eine Pflicht zur Anzeigeerstattung besteht nur für die in § 138 I StGB abschließend genannten Straftaten.
Wird ein Strafantrag gestellt, erfüllt dieser zwei Funktionen. Zum einen löst auch er Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aus, zum anderen ist er aber auch Strafbarkeitsvoraussetzung für sog. Antragsdelikte, z.B. Hausfriedensbruch nach § 123 StGB. Er beinhaltet den ausdrücklichen Wunsch des Antragsstellers, die Strafverfolgung aufgrund eines bestimmten Deliktes aufzunehmen.[2]
Aufgrund der Offizialmaxime gem. § 152 I StPO (erklärt in unserem letzten Artikel) obliegt es nur der Staatsanwaltschaft, die Strafverfolgung einzuleiten. Sie ist aufgrund des Legalitätsprinzips gem. §§ 152 II, 170 I StPO sogar dazu angehalten, bei hinreichendem Tatverdacht von Amts wegen die Ermittlungen aufzunehmen, mithin das Ermittlungsverfahren zu eröffnen.

2. Durchführung des Ermittlungsverfahrens

Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens ist grundsätzlich frei.[3] Lediglich die einzelnen Ermittlungsmethoden werden durch die StPO geregelt. Das Ermittlungsverfahren dient der Beweissicherung. Grundsätzlich führ die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen selbst durch. Sie kann aber auch gem. §§ 161 StPO i.V.m. 152 GVG andere Ermittlungspersonen, insbesondere Polizeibeamte hierzu bestellen.
Als Ermittlungsmaßnahme kann die Staatsanwaltschaft beispielsweise die einzelnen Beteiligten, also die Beschuldigten (§ 163a StPO), Zeugen und Sachverständigen (§ 161a StPO) vernehmen und Eingriffs- bzw. Zwangsmaßnahmen vollziehen. Hierunter fallen u.a. die Durchsuchung (§ 102 ff. StPO), die verdeckten Ermittlungsmaßnahmen, wie z.B. die Überwachung der Telekommunikation gem. § 100a StPO oder die Blutentnahme gem. § 81a StPO.
Zu beachten ist, dass jede Ermittlungsmaßnahme mit jeweils anderen Voraussetzungen und Durchführungshinweisen versehen ist. Dies ist notwendig, um die Betroffenen vor zu harten Maßnahmen zu schützen.
 

3. Der Abschluss des Ermittlungsverfahrens

Nicht jedes Ermittlungsverfahren endet mit der Erhebung der Anklage gem. § 170 I i.V.m. § 200 StPO. Diese wird von der Staatsanwaltschaft nur dann erhoben, wenn sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens genügend Anlass hierzu gefunden hat, § 170 I StPO. Ist dies der Fall, stellt sie dem zuständigen Gericht die Anklageschrift gem. § 200 StPO zu. Diese muss alle dort genannten Punkte, also Angeschuldigten, Tatzeit und Ort, Beweismittel, etc. enthalten.
Bieten die gesammelten Beweise nicht genügend Anlass, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 170 II 1 StPO ein.
Allerdings kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren auch aus sog. Opportunitätsgründen[4] einstellen. Derartige Gründe finden sich in den § 153 ff. StPO. Diese Einstellungsgründe liegen im Ermessen der Staatsanwaltschaft („kann“).
Hierbei sollte jedoch auffallen, dass dies im Widerspruch zum Legalitätsprinzip i.S.d. § 152 II StPO steht, aufgrund dessen die Staatsanwaltschaft gegen jede Straftat einschreiten muss. In Anbetracht prozessökonomischer Erwägungen ist dies jedoch sinnvoll.
 

II. Das Zwischenverfahren gem. §§ 199 ff. StPO

Nach Erhebung der Anklage beginnt grundsätzlich das Zwischenverfahren gem. §§ 199 ff StPO. Es entfällt beim Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gem. § 407 ff. StPO und im Rahmen des beschleunigten Verfahrens gem. §§ 417-420 StPO. Sinn und Zweck des Zwischenverfahrens ist es einerseits, die Gerichte und andererseits den Angeschuldigten vor unnötigen Gerichtsverfahren zu schützen.[5]
Im Zwischenverfahren führt das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht eine Vorprüfung i.S.d. § 199 StPO darüber durch, ob die Sachlage genügt, das Hauptverfahren zu eröffnen (§ 203 StPO) oder ob die Eröffnung abzulehnen ist. (204 StPO). Der Eröffnungsbeschluss muss allerdings nicht der Anklageschrift entsprechen. Das Gericht ergänzt zum einen das zuständige Gericht (207 I StPO) und erläutert etwaige Änderungen an der Anklageschrift, die sie aufgrund der in § 207 II StPO aufgeführten Gründe vorgenommen hat.
Der Eröffnungsbeschluss kann gem. § 210 I StPO nicht angefochten werden. Gegen den Ablehnungsbeschluss kann die Staatsanwaltschaft gem. § 210 II StPO sofortige Beschwerde einlegen.
 

III. Das Hauptverfahren gem. §§ 212-275 StPO

Hat das Gericht die Eröffnung beschlossen, beginnt mit dem ersten Sitzungstag die Hauptverhandlung.
 

1. Vorbereitung der Hauptverhandlung gem. §§ 212-225a StPO

Bevor die eigentliche Hauptverhandlung beginnt, müssen einige Vorbereitungen getroffen werden. Zunächst wird gem. § 213 StPO vom Vorsitzenden des Gerichts ein Termin anberaumt und die erforderlichen Beteiligten werden geladen (§ 214 und § 216f. StPO). Außerdem werden hier bereits die Beweisanträge gestellt (§ 219 StPO) und die Beweismittel herbeigeschafft, § 221 StPO.
Zusammenfassend müssen alle Vorbereitungen getroffen werden, die für einen reibungslosen und unterbrechungsfreien Ablauf der eigentlichen Hauptverhandlung sorgen.
 

2. Die Hauptverhandlung i.S.d. §§ 226 ff. StPO

Der genaue Ablauf der Hauptverhandlung ist durch § 243 StPO geregelt:
Zu Beginn wird die entsprechende Sache ausgerufen. Danach stellt der Vorsitzende die Anwesenheit aller Prozessbeteiligten fest. Darauf folgend verlassen die Zeugen den Gerichtssaal, um von etwaigen Äußerungen des Gerichts oder des Angeklagten nicht beeinflusst zu werden. Nach Verlassen der Zeugen verliest die Staatsanwaltschaft die (abgeänderte) Klageschrift. Dem Angeklagten wird nun die Möglichkeit gegeben, sich zur Sache zu äußern. Nach der Vernehmung des Angeklagten beginnt gem. § 244 I StPO die Beweisaufnahme. Am Schluss der Hauptverhandlung halten gem. § 258 StPO die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte bzw. sein Verteidiger ihre Schlussvorträge. Dabei ist dem Angeklagten immer das letzte Wort zu erteilen, auch wenn sich sein Verteidiger vorher für ihn geäußert hat (258 III StPO). Die Hauptverhandlung schließt mit dann mit der Verkündung des Urteils, § 260 I StPO.
Während der gesamten Hauptverhandlung gilt der Mündlichkeitsgrundsatz gem. §§ 261, 264 I StPO. Er verlangt, dass alle Beweise, Indizien und Äußerungen mündlich vorgetragen werden. Zusätzlich muss § 229 StPO beachtet werden: Die Hauptverhandlung darf nicht zu lange unterbrochen werden, um die Entscheidungsfindung nicht zu beeinträchtigen (Konzentrationsmaxime).
 

IV. Weiterer Verlauf

Das Urteil kann durch Berufung (§ 312 ff. StPO) oder Revision (§ 333 StPO) angefochten werden. Gerichtsbeschlüsse werden mittels der Beschwerde gem. § 304 ff. StPO überprüft. Hält ein Urteil dem Rechtmittelverfahren stand, wird es rechtskräftig und kann vollstreckt werden.
 
 
 
_________________________________________________________________________________
[1] Statt aller: Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 5, Rn.1, 3. Auflage, 2012.
[2] BGH NJW 1951, 368.
[3] Vgl. BVerfG NStZ 1996, 45, 45.
[4] BeckOK StPO, Beukelmann, § 153, Rn.1.
[5] Kindhäuser, StPO, § 16, Rn.2.

09.07.2014/2 Kommentare/von Dr. David Saive
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. David Saive https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. David Saive2014-07-09 10:26:272014-07-09 10:26:27Der Gang des Strafverfahrens
Dr. David Saive

Prozessmaximen und-prinzipien der StPO

Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Startseite, StPO, Verschiedenes

Das Prozessrecht spielt im Staatsexamen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Daher werden wir mit diesem Artikel eine neue Reihe bei Juraexamen.info beginnen, die sich mit den Grundlagen der StPO befasst. Ziel ist es Euch einen Überblick über die Materie zu geben, um Euch das Lernen zu erleichtern.
Der heutige Artikel befasst sich mit den einzelnen Verfahrensgrundsätzen der StPO. Es werden zeitnah Beiträge zum Verfahrensablauf, den Aufgaben der Verfahrensbeteiligten sowie den einzelnen Rechtsmitteln folgen. An dieser Stelle sei auch auf unsere bereits bestehenden Artikel zur StPO (hier) und zur ZPO (hier) hingewiesen.
 

Die Maximen

 

1. Allgemeine Prinzipien

Beginnen wir nun mit den allgemeinen Prinzipen, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Strafverfahren ziehen:

a) Offizialmaxime gem. § 152 StPO

Gemäß § 152 II StPO ist die Staatsanwaltschaft, soweit nicht anderes bestimmt ist, dazu verpflichtet wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende Anhaltspunkte vorliegen. Es wird somit ein Strafverfolgungsauftrag von Amts wegen, also ex officio (daher Offizialmaxime) für die Staatsanwaltschaft beschrieben. § 152 II StPO definiert daher ein grundsätzliches Anklagemonopol des Staates, das nur in Ausnahmen (beispielsweise durch Privatklage gem. § 374 StPO) durchbrochen wird.
Im Zivilprozess gilt allerdings die gegenteilige Dispositionsmaxime: Die Parteien entscheiden dort selbst darüber, was Gegenstand des Verfahrens sein soll und was nicht.

b) Anklagegrundsatz gem. § 151 StPO

Der Anklagegrundsatz oder auch Akkusationsprinzip (accusare: lat. anklagen) findet sich in § 151 StPO. Er besagt nichts weiter, als dass jedem strafrechtlichen Gerichtsverfahren eine Anklage vorausgehen muss. Allerdings stellt die Anklage nicht nur eine formelle Voraussetzung dar. Vielmehr definiert und begrenzt sie im Hinblick auf die §§ 155 I, 264 I StPO den Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung sowie den des Urteils. Diese dürfen sich nämlich nur über die in der Anklage bezeichnete Tat sowie die Beschuldigten Personen erstrecken.

c) Legalitätsprinzip gem. §§ 152 II, 170 I StPO

Die §§ 152 II, 170 I StPO verpflichten die Staatsanwaltschaft, sofern genügend Anlass besteht, die Klage zu erheben. Schaltet die Staatsanwaltschaft die Polizei bei ihren Ermittlungen mit ein, so ist auch diese aufgrund des § 163 I 1 StPO an das Legalitätsprinzip gebunden. Dies ist in Anbetracht der Offizialmaxime auch nur logisch, da die bloße Ermittlung wegen einer vermeintlichen Straftat ins Leere laufen würde, wenn die verfolgende Behörde nicht einem Anklagezwang unterliegen würde.
Durchbrochen wird das Legalitätsprinzip allerdings durch die §§ 153 ff StPO. Diese eröffnen der Staatsanwaltschaft einen gewissen Spielraum, ob sie die Klage tatsächlich erheben will oder nicht (Einstellung aus Opportunitätsgründen).

d) Untersuchungsgrundsatz gem. §§ 155 II, 160 I, 163 I, 244 II StPO

Im Gegensatz zum Zivilprozess gilt im Strafrecht der Untersuchungsgrundsatz. Ziel ist es gerade, die materielle Wahrheit, also den tatsächlichen Sachverhalt, zu ermitteln.[1] Auch dies folgt aus der Offizialmaxime: Denn was nützt die bloße Strafverfolgung, wenn der tatsächlicher Ablauf unbekannt bleiben darf?
Für die Staatsanwaltschaft ergibt sich dies aus §§ 155 II und 160 I StPO, für die Polizei aus § 163 I StPO. Das Gericht hat gem. § 244 II StPO die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung erheblich sind und der Erforschung der Wahrheit dienen.
 

Zusätzliche Prinzipien

1. Beschleunigungsgrundsatz

Der Beschleunigungsgrundsatz ergibt sich aus mehreren Rechtsnormen: Zum einen aus Art. 5 III 1 2. HS, 6 I 1 EMRK, Art. 14 III lit. C IPBPR, zum anderen aus dem in Art. 20 III, 28 I 1 GG normierten Rechtstaatsprinzip. Er hält die Rechtspflegeorgane an, das Verfahren so schnell wie möglich durchzuführen, um die Belastungen insbesondere für den Angeklagten gering zu halten.[2] Außerdem ist auch die Wahrheitsfindung gefährdet, wenn sich die Zeugen aufgrund des großen Zeitabstands zwischen Sachverhalt und Gerichtsverhandlung nicht mehr an das Geschehene erinnern können. Angemessen ist eine Verfahrensdauer dann, wenn alle Besonderheiten des konkreten Strafverfahrens Beachtung gefunden haben.[3]
Berücksichtigung findet ein überlanges Verfahren allerdings nicht mehr auf der Strafzumessungs-, sondern auf der Vollstreckungsebene.[4]
In der StPO findet sich der Beschleunigungsgrundsatz u.a. in den §§ 115, 121, 122, 128f., 228, 229 StPO.

2. „Fair trial“ gem. Art. 6 I EMRK

Das Recht auf ein faires Verfahren gem. Art 6 I EMRK beeinflusst das Strafverfahren in vielerlei Hinsicht. Abstrakt bestimmt es, dass der Angeklagte nicht zum bloßen Objekt des Strafprozesses verkommt.[5] Außerdem postuliert es den Grundsatz der Waffengleichheit.[6]
Konkret kann ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren ein Revisionsgrund sein oder zu einem Beweisverwertungsverbot führen.

3. Gesetzlicher Richter gem. Art 101 I 2 GG

Art. 101 I 2 GG bestimmt, dass von vornherein für jede Rechtssache ein zuständiger Richter anhand abstrakt-genereller Kriterien bestimmt werden kann.[7] Notwendig ist diese Regelung, um die Auswahl des Richters vor sachfremden Erwägungen zu schützen. Die einfachgesetzliche Regelung findet sich in § 16 2 GVG.
Welcher Richter dann in der Sache konkret zuständig ist, bestimmt sich nach § 24 GVG. Dieser ist der Ausgangspunkt jeder Zuständigkeitsprüfung des Richters, aus ihm ergeben sich alle weiteren Zuständigkeiten der Gerichte.

4. Grundsatz des rechtlichen Gehörs gem. Art 103 I GG

Der Grundsatz auf rechtliches Gehör aus Art. 103 I GG gibt dem Beteiligten ein Recht, sich zum Sachverhalt eines Verfahrens zu äußern.[8] In der StPO finden sich zahlreiche Normen, die das rechtliche Gehör zum Inhalt haben. Zu nennen sind hier insbesondere die Anhörung der Beteiligten gem. § 33 StPO, das letzte Wort des Angeklagten gem. § 258 III StPO, aber auch das Recht auf Akteneinsicht gem. § 147 StPO.
 

Grundsätze die nur in der Hauptverhandlung gelten

Zu den genannten Grundsätzen, die für das gesamte Strafverfahren gelten, kommen noch solche hinzu, die nur für die Hauptverhandlung relevant sind:

1. Konzentrationsmaxime gem. § 229 StPO

Ähnlich dem Beschleunigungsgrundsatz dient auch die Konzentrationsmaxime aus § 229 StPO dazu, dass die gerichtliche Entscheidung aufgrund frischer Eindrücke getroffen wird.[9] Allerdings geht es hierbei mehr um die Eindrücke der beteiligten Richter, als um das Erinnerungsvermögen der Zeugen. Die Regelung des § 229 StPO schafft einen Ausgleich zwischen dem Bedürfnis, das Verfahren möglichst schnell zu beenden, aber auch der Notwendigkeit von Prozesspausen.[10] So darf eine Hauptverhandlung gem. § 229 I StPO grundsätzlich nicht länger als drei Wochen unterbrochen werden.

2.Öffentlichkeitsgrundsatz gem. § 169 GVG und Art. 6 I 1 EMRK

Eine besondere Errungenschaft des modernen Strafprozesses ist der Öffentlichkeitsgrundsatz. Durch ihn werden „Hinterzimmerprozesse“ weitestgehend unterbunden. Somit dient er der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der richterlichen Entscheidung, die ihrerseits eine wirksame Kontrolle der Entscheidungen zur Folge hat. Willkürliche Richtsprüche sind daher so gut wie unmöglich. Rechtliche Ausgestaltung erhält der Öffentlichkeitsgrundsatz durch § 169 GVG und Art. 6 I 1 EMRK (als ein Element des „fair trial“). Öffentlichkeit i.S.d. § 169 GVG bedeutet, dass sich jedermann Zutritt zur Verhandlung verschaffen kann.[11]
Allerdings gilt der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht ausnahmslos. So kann aus zwingenden Gründen die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen werden. Genaueres regeln die §§ 170ff GVG (beispielsweise Ausschluss zum Schutz der Privatsphäre gem. § 171b GVG).
Aktuelle Relevanz erfuhr der Öffentlichkeitsgrundsatz im Rahmen des NSU-Prozesses, als gefordert wurde die Verhandlung in Nebenräume zu übertragen (wir berichteten hier).
 

3. Mündlichkeitsprinzip gem. §§ 261, 264 I StPO

Der reine Öffentlichkeitsgrundsatz geht allerdings ins Leere, wenn die Prozessbeteiligten nur durch Schriftsätze miteinander kommunizieren. Daher dürfen gem. den §§ 261, 264 I StPO nur solche Tatsachen und Beweise Gegenstand des Urteils sein, die auch in der Hauptverhandlung mündlich gewürdigt worden sind. Dies steht dem im Zivilprozess geltenden Grundsatz des „quod non est in actis, non est in mundo“ ebenfalls diametral entgegen.
 
 
______________________________________________________________________________________
[1] BVerfGE 57, 250, 275.
[2] vgl. BVerfGE NJW 2003, 2225.
[3] EGMR EuGRZ 2001, 299,301.
[4] BGHSt 52, 124, 128ff.
[5] BVerfG NJW 1983, 2762, 2763.
[6] BVerfG NJW 2004, 1305, 1308.
[7] BVerfGE 17, 294, 298ff.
[8] BVerfG NJW 1974, 133, 133.
[9] BGHSt 23, 224, 225f.
[10] BeckOK StPO, Gorf, § 229, Rn.1.
[11] Kindhäuser, Strafprozessordnung, § 18, Rn.25, 3. Auflage, 2013.

26.06.2014/0 Kommentare/von Dr. David Saive
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. David Saive https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. David Saive2014-06-26 13:01:052014-06-26 13:01:05Prozessmaximen und-prinzipien der StPO
Dr. Christoph Werkmeister

BVerfG: Verbot des Tragens von Hells Angels Motorradwesten im Gerichtsgebäude

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, StPO, Verfassungsrecht

Das BVerfG entschied mit Beschluss vom 14.03.2012 (2 BvR 2405/11), dass Mitgliedern von Rockerclubs wie den Hells Angels das Tragen von Motorradwesten, die ihre Zugehörigkeit zu einem Motorradclub demonstrieren, verboten werden darf. Dies sei jedenfalls dann der Fall, wenn das Verbot zu einer sichereren und ungestörteren Durchführung der Gerichtsverhandlung beiträgt. Es handelt sich um eine äußerst examensrelevante Fallkonstellation, die im ersten Examen als StPO-Zusatzfrage oder aber im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Klausur Eingang in die Prüfung finden könnte im zweiten Examen kann die Problematik im Rahmen einer strafrechtlichen Revisionsklausur abgefragt werden.
Sachverhalt

In einem Strafverfahren vor dem Landgericht Potsdam wurde dem Beschwerdeführer und zwei Mitangeklagten vorgeworfen, als Mitglieder des Hells Angels Motorcycle Club diverse Straftaten, unter anderem räuberische Erpressung, begangen zu haben, wobei sie die Geschädigten massiv bedroht und später derart unter Druck gesetzt haben sollen, dass diese ihre Aussage zeitweilig zurückgenommen hätten. Nach Durchführung einer Sicherheitskonferenz unter Beteiligung von Mitarbeitern des Gerichts, der Staatsanwaltschaft, der Polizei und des Justizvollzugs erließ der Landgerichtspräsident mehrere Sicherheitsverfügungen, wonach an allen Hauptverhandlungstagen im Justizzentrum unter anderem das Tragen von Motorradwesten, sog. Kutten, und sonstigen Bekleidungsgegenständen, die die Zugehörigkeit zu einem Motorradclub demonstrieren, untersagt wurde; die Kutten seien in eigener Verantwortung außerhalb des Gebäudes zu deponieren.
Die vom Verteidiger des Beschwerdeführers beantragte Aufhebung des Verbots lehnte der Gerichtspräsident mit der Begründung ab, dass ein massenhaftes Tragen szenetypischer Kleidung eine nicht hinnehmbare Machtdemonstration darstelle, die bei der Öffentlichkeit ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung hervorrufen sowie Verfahrensbeteiligte einschüchtern und beeinflussen könne. Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beihilfe zur räuberischen Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und seine Mitangeklagten wegen weiterer gleichgelagerter Straftaten jeweils zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe. Seine  Revision gegen das landgerichtliche Urteil, mit der der Beschwerdeführer auch einen Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen rügte, blieb vor dem Bundesgerichtshof ohne Erfolg.

Rechtliche Erwägungen
Um sich diesem Fall zu nähern, gilt es zunächst die einschlägigen Vorschriften des GVG zu analysieren. Gemäß § 176 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden. Diese Ordnungsgewalt umfasst eine Vielzahl an Ordnungsmaßnahmen, die der Vorsitzende ergreifen kann, um einen effektiven und v.a. auch rechtsstaatlichen Ablauf der mündlichen Verhandlung zu gewährleisten. So ist der Vorsitzende etwa dazu befugt, den Anwesenden das Telefonieren mit einem Mobiltelefon während der Verhandlung zu verbieten. Die Vorschrift erfasst darüber hinaus etwa auch Fotographierverbote u.s.w.
§ 175 GVG regelt in diesem Kontext eine besondere Befugnis: Hiernach kann der Zutritt zu öffentlichen Verhandlungen u.a. solchen Personen versagt werden, die in einer der Würde des Gerichts nicht entsprechenden Weise erscheinen. Was man unter diesem Rechtsbegriff zu verstehen hat, ist im Einzelnen strittig. Schutzgut der Norm ist das Ansehen des Gerichts als Institution. Auch die Störung des Ablaufs der Hauptverhandlung kann dieses Ansehen beeinträchtigen (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, § 175, Rn. 3).
Die Ordnungsmaßnahmen des Vorsitzenden stehen allerdings immer dann, wenn faktisch der Zutritt zum Gerichtssaal ver- oder behindert wird, im Konflikt zur normativen Vorgabe des § 169 S. 1 GVG. Hiernach ist die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich. Dieses Gebot ist verfassungsrechtlich gesehen ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 1 und 3 GG. Das Prinzip wurzelt zudem in dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren, wobei diese Vorgabe ebenso in Art. 6 EMRK verwurzelt ist.
Für den vorliegenden Fall gilt es im Kontext des vorgenannten Konflikts jedoch zu berücksichtigen, dass der Vorsitzende den Mitgliedern der Hells Angels nicht den Zutritt als solchen verboten hat – es wurde lediglich angeordnet, dass die Mitglieder ihre Kutten ablegen. Zweck dieser Maßnahme war es, eine bedrohliche Wirkung der Gruppierung bei den Prozessbeteiligten zu unterbinden. Die Mitglieder konnten den Gerichtsraum also durchaus betreten. Eine Einschränkung des Grundsatzes der Öffentlichkeit war demnach – wenn überhaupt – nur von minimalster Eingriffsqualität. Hierzu führte das BVerfG zutreffend aus:

Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung kann der Grundsatz der Öffentlichkeit auch durch gesetzlich nicht erfasste unabweisbare Bedürfnisse der Rechtspflege modifiziert werden. Dazu gehört die Notwendigkeit, durch geeignete vorbeugende Maßnahmen für eine sichere und ungestörte Durchführung der Verhandlung zu sorgen. Maßnahmen, die den Zugang zu einer Gerichtsverhandlung nur unwesentlich erschweren und dabei eine Auswahl der Zuhörerschaft nach bestimmten persönlichen Merkmalen vermeiden, sind zulässig, wenn für sie ein verständlicher Anlass besteht. Diese Erwägungen sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Des Weiteren ist vorliegend nicht ersichtlich, dass die Einschätzung und Bewertung sowohl einer möglichen Beeinträchtigung der Hauptverhandlung durch das Tragen bestimmter Kleidung oder Abzeichen als auch der zur Abwehr dieser Gefahr geeigneten und erforderlichen Maßnahmen verfassungsrechtlich bedenklich wären.
Der Beschwerdeführer ist auch nicht in seinem Recht auf ein faires Strafverfahren verletzt. Es kann dahin stehen, ob ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz einen Angeklagten in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzen kann. Denn der Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen wurde hier gewahrt. Die Sicherheitsverfügungen des Gerichtspräsidenten führten weder ausdrücklich noch faktisch zum Ausschluss der Öffentlichkeit insgesamt oder auch nur einzelner Personengruppen oder Personen. Sie legten ausschließlich Zugangsmodalitäten fest, deren Befolgung ohne weiteres möglich und zumutbar war.
Die Sicherheitsverfügungen widersprechen schließlich nicht den Anforderungen an eine öffentliche Verhandlung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK), die bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind. Die Sicherheitsverfügungen führten nicht zu einem tatsächlichen Hindernis, als Zuschauer an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können. Das Gerichtsgebäude war auch für Träger der betreffenden Oberbekleidung nach wie vor einfach zugänglich, da diese nur ausgezogen und außerhalb des Gerichtsgebäudes hätte deponiert werden müssen. Es handelte sich ersichtlich um eine ganz geringfügige Beschränkung.

27.04.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-04-27 06:10:252012-04-27 06:10:25BVerfG: Verbot des Tragens von Hells Angels Motorradwesten im Gerichtsgebäude
Dr. Christoph Werkmeister

OVG Lüneburg zur Abwägung zwischen Selbstbelastungsverbot und Gefahrenabwehr

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Das OVG Lüneburg entschied vor Kurzem einen äußerst examensrelevanten Sachverhalt (Beschluss vom 4. April 2012, Az. 8 ME 49/12), der in naher Zukunft garantiert Gegenstand von Examensklausuren sein wird. In der Sache ging es um das ansonsten wenig bekannte Seelotsgesetz.  Für mündliche Prüfungen ist der Fall jetzt schon relevant.
Sachverhalt

Im April 2011 ereignete sich auf der Weser im Bereich der Vegesacker Kurve ein Schiffsunfall. In Folge eines Überholvorgangs kollidierte ein Schiff mit einem Schwimmdock. Das Dock wurde von seinem Liegeplatz gerissen und trieb zeitweise auf der Weser. Das Fahrwasser war bis zur Bergung gesperrt. Am Dock und an dem kollidierenden Schiff entstanden erhebliche Sachschäden. Gegen die Kapitäne und die Seelotsen der beteiligten Schiffe wird wegen des Verdachts der Gefährdung des Schiffsverkehrs strafrechtlich ermittelt. Die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nordwest als Aufsichtsbehörde für das Seelotswesen im Lotsrevier Weser I forderte die beteiligten Seelotsen auf, einen Lotsenbericht nach § 26 Abs. 1 Satz 2 Seelotsgesetz vorzulegen. Der Seelotse eines der beteiligten Schiffe, der Antragsteller in dem entschiedenen Verfahren ist, hat diesen Bericht verweigert. Es bestehe die Gefahr, dass er sich selbst belaste und der Bericht von den Strafverfolgungsorganen beschlagnahmt und in dem gegen ihn geführten Strafverfahren verwertet werde. Seinen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die gesetzliche Berichts- und Auskunftspflicht hat das Verwaltungsgericht Oldenburg mit Beschluss vom 1. März 2012 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers hat der 8. Senat mit dem genannten Beschluss zurückgewiesen. (Quelle: Pressemitteilung des OVG Lüneburg)

Nemo tenetur vs. Gefahrenabwehr

Nach Auffassung des Senats stellt die mit der gesetzlichen Berichts- und Auskunftspflicht des Seelotsen verbundene Einschränkung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) zwar einen Eingriff in das grundrechtlich geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Seelotsen dar. Dieser Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die strafverfahrensrechtliche Selbstbelastungsfreiheit und die sich aus dem Seelotsgesetz ergebenden Berichts- und Auskunftspflichten können dort, wo der Seelotse bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Berichts- und Auskunftspflichten Informationen preisgeben muss, die Anhaltspunkte für von ihm begangene Straftaten bieten, kollidieren.
Der Seelotse gerät in eine Zwangslage, entweder seine Berichts- und Auskunftspflichten zu verletzen oder sich einer Straftat bezichtigen zu müssen. Wegen dieser Folge greift die durch den Erlass einer vollziehbaren Ordnungsverfügung erzwingbare Berichts- und Auskunftspflicht in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Berichts- und Auskunftspflichtigen ein. Das Grundgesetz gebietet aber keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen. Der Grundrechtseingriff kann vielmehr verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Eine solche Rechtfertigung hat der Senat hier bejaht.
Die Behörden der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes sind zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie zur Verhütung der von der Seeschifffahrt ausgehenden Gefahren und schädlicher Umwelteinwirkungen auf die vom Seelotsen gewonnenen Erkenntnisse angewiesen. Wäre dieser berechtigt, die Erfüllung der Berichts- und Auskunftspflicht für die Dauer eines gegen ihn laufenden Strafverfahrens zu verweigern, könnte die Aufgabe der Gefahrenabwehr nicht mehr effektiv erfüllt werden. (Quelle: Pressemitteilung des OVG Lüneburg)

Der strafrechtliche Aspekt
Das OVG Lüneburg führte weiterhin aus, dass der Seelotse in strafrechtlicher Hinsicht dennoch ausreichend geschützt sei. Die durch die Berichte des Seelotsen erlangten Informationen können nach Auffassung des OVG nämlich nicht für eine Verwertung im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren herangezogen werden. Die Wasser- und Schifffahrtsdirektion sei nicht berechtigt, die Erkenntnisse in solchen Verfahren zu verwenden. Die Erkenntnisse dürfen darüber hinaus nicht an die Strafverfolgungsorgane weitergeleitet werden.
Die Berichte dürfen auch nicht durch die Strafverfolgungsorgane gemäß §§ 102 ff. StPO beschlagnahmt werden, denn es könne eine sog. Sperrerklärung erlassen werden, wodurch die Dokumente einen vertraulichen Status genießen. Sofern dennoch Erkenntnisse, die den Seelotsen belasten,  an Strafverfolgungsorgane weitergegeben würden, bestehe ein verfassungsrechtliches Beweisverwertungsverbot.
Examensrelevanz
Die Entscheidung ist so wichtig, da der Prüfling die Gelegenheit bekommt, in unbekannten Gewässern altbekannte Grundsätze herzuleiten und miteinander abzuwägen. Die argumentative Verquickung von Strafprozess- und Verfassungsrecht macht die Entscheidung besonders relevant.

13.04.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-04-13 21:46:172012-04-13 21:46:17OVG Lüneburg zur Abwägung zwischen Selbstbelastungsverbot und Gefahrenabwehr
Dr. Christoph Werkmeister

Repetitorium: Der Computerbetrug (§ 263a StGB)

Für die ersten Semester, Schon gelesen?, Strafrecht, Strafrecht BT, Verschiedenes


Der Verlag De Gruyter stellt jeden Monat einen Beitrag aus der Ausbildungszeitschrift JURA – Juristische Ausbildung zwecks freier Veröffentlichung auf Juraexamen.info zur Verfügung.
Der heutige Beitrag

„Der Computerbetrug (§ 263a StGB)“ von Dr. Erik Kraatz

befasst sich mit einem äußerst examensrelevanten Strafrechtstatbestand, der unbedingt auch im Detail beherrscht werden sollte.
Den Beitrag findet ihr hier.

12.02.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-02-12 10:42:292012-02-12 10:42:29Repetitorium: Der Computerbetrug (§ 263a StGB)
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Miriam Hörnchen

Tätowierungen als Einstellungshindernis im Polizeidienst?

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Die vom VG Berlin zu beantwortende Frage, ob die Ablehnung einer Bewerbung für den Polizeidienst wegen sichtbarer Tätowierungen rechtswidrig erfolgt, wirft eine Vielzahl examensrelevanter Fragestellungen auf: Aufgrund der Eilbedürftigkeit im […]

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03.06.2025/0 Kommentare/von Miriam Hörnchen
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Miriam Hörnchen https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Miriam Hörnchen2025-06-03 08:45:032025-06-06 10:50:46Tätowierungen als Einstellungshindernis im Polizeidienst?

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