Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick
Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.
Begeht eine Erwachsene oder ein Erwachsener eine Straftat, passiert meist Folgendes: Wir arbeiten uns materiell-rechtlich durch die Straftatbestände des StGB und prozessrechtlich durch die Verfahrensvorschriften der StPO und des GVG. Wir finden die einschlägigen Paragrafen, klagen vor der Strafrichterin oder dem Strafrichter, dem Schöffengericht, dem Landgericht oder sogar Oberlandesgericht an und verhandeln meist öffentlich über die zu erwartende Strafe. Doch was geschieht, wenn die Täterin oder der Täter jünger als 21 Jahre alt ist?
Diese Fragestellung kann beispielsweise in der mündlichen Prüfung auftauchen und wird die Prüflinge häufig überraschend treffen. Denn leider wird dieses strafrechtliche Nebengebiet oftmals vernachlässigt. Wie dann zu antworten ist, verraten wir im Folgenden:
Unterhalb der magischen Altersgrenze von 21 Jahren ist das Jugendstrafrecht einschlägig. Das Jugendstrafrecht ist ein strafrechtliches Nebengebiet und Sonderstrafrecht für junge Täterinnen. Für Ermittlungs- und Strafverfahren gegen die jungen Täterinnen gelten zwar grundsätzlich die Vorschriften der StPO, aber nur bis zu dem Punkt, an dem das Jugendgerichtsgesetz (JGG) oder allgemeine Grundsätze des JGG vorrangig sind. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht, das auf die Tat bezogen ist, ist das Jugendstrafrecht auf die jeweiligen Täter*innen bezogen. Im Vordergrund steht nicht die Strafe, sondern die Erziehung. Gemäß § 2 Abs. 1 JGG soll die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem erneuten Straftaten von Jugendlichen oder Heranwachsenden (Rückfallkriminalität) entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Aus diesem Grund sieht das JGG auch andere Rechtsfolgen vor als das Erwachsenenstrafrecht. Als Rechtsfolgen normiert sind Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmittel (§§ 13-16a JGG), und die Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). Aspekte der negativen Generalprävention dürfen allgemein nicht berücksichtigt werden.
I. Anwendbarkeit des JGG
Doch zunächst stellt sich die Frage: Auf wen ist das Jugendstrafrecht anwendbar? Kinder unter 14 Jahren sind nach § 19 StGB schuldunfähig. Diese Schuldunfähigkeit stellt ein Prozesshindernis dar, sodass Kinder unter 14 Jahren strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden können (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 10). Im Falle von vermehrter Kinderdelinquenz muss das Verhalten für ein Kind unter 14 Jahren jedoch nicht folgenlos bleiben. Das Jugendamt – insbesondere die jeweils zuständige Jugendgerichtshilfe – kann sich einschalten. Bei der Frage nach dem Anwendungsbereich des JGG hilft § 1 Abs. 2 weiter: „Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.“ Ausschlaggebend ist stets das Alter zum Zeitpunkt der Tat. Das heißt, dass auch eine jetzt 25-jährige Täterin nach Jugendstrafrecht behandelt werden kann, wen sie die Tat eben acht Jahre zuvor begangen hat. Ist zweifelhaft, ob die oder der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden, ergänzt § 1 Abs. 3 JGG. Bei Zweifeln über den genauen Tatzeitpunkt oder über das exakte Geburtsdatum gilt also die jeweils günstigere Rechtsfolge (in dubio pro reo) (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 1 JGG Rn. 25; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 3).
II. Gerichtliche Zuständigkeiten
Wer ist nun für dieses Sonderstrafrecht zuständig? Die örtliche Zuständigkeit folgt aus dem allgemeinen Strafverfahrensrecht; sie kann sich mithin nach den §§ 7 ff. StPO richten. Es ist aber in aller Regel das Gericht am Wohnort der Jugendlichen oder Heranwachsenden zuständig. Anders als bei Erwachsenen soll das Verfahren nämlich grundsätzlich bei dem Gericht stattfinden, wo seine Durchführung die Jugendlichen oder Heranwachsenden wegen des jugendlichen Alters am wenigsten belastet und dem die familiengerichtliche Zuständigkeit obliegt. Damit wird auch bezweckt, dass sowohl Jugendliche als auch Heranwachsende stets auf die gleichen Gesichter treffen und auf diese Weise dem Erziehungsgedanken besser Genüge getan werden kann. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 39, 40 und 41 JGG für Jugendliche, über § 108 Abs. 1 JGG für Heranwachsende. Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter ist gemäß § 39 JGG zuständig, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach dem JGG zulässige Nebenstrafe und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind. Gemäß § 39 Abs. 2 JGG darf die Jugendrichterin oder der Jugendrichter auf Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nicht erkennen. Das Jugendschöffengericht ist gemäß § 40 JGG zuständig für alle Verfahren, für die nicht die Jugendrichterin oder der Jugendrichter oder die Jugendkammer beim Landgericht zuständig sind. Die Rechtsfolgenkompetenz ist im Gegensatz zum Jugendrichter oder zur Jugendrichterin und allgemeinen Schöffengericht grundsätzlich unbeschränkt. Wendet das Jugendschöffengericht Jugendstrafrecht an, hat es eine unbeschränkte Rechtsfolgenkompetenz und kann bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen eine Jugendstrafe bis zur gesetzlichen Höchstgrenze verhängen; wendet es hingegen Erwachsenenstrafrecht an, hat es eine Strafgewalt in Höhe von 4 Jahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 40 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 40 Rn. 4). Die Jugendkammer ist gemäß § 41 JGG erstinstanzlich zuständig vor allem für die Sachen, die nach allgemeinem Recht vor das Schwurgericht gehören, für umfangreiche Sachen, die die Jugendkammer nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht übernommen hat, sowie nach § 103 Abs. 1 JGG für verbundene Verfahren gegen Jugendliche und Erwachsene, sofern für die Erwachsenen die große Strafkammer zuständig wäre. Als Rechtsmittelgericht entscheidet die Jugendkammer über Berufungen gegen Urteile der Jugendrichterin oder des Jugendrichters und des Jugendschöffengerichtes. Sie entscheidet auch über Beschwerden gegen Verfügungen und Entscheidungen der Jugendrichterin oder des Jugendrichters sowie des Jugendschöffengerichtes.
III. Beteiligte im Jugendstrafverfahren
Grundsätzlich finden sich die gleichen Beteiligten im Jugendstrafverfahren, die auch im Erwachsenenstrafverfahren vorzufinden sind: Staatsanwaltschaft, Gericht und gegebenenfalls Verteidigerin. Bei der Staatsanwaltschaft besteht eine eigene Abteilung mit Jugendstaatsanwältinnen, das Gericht ist mit Jugendrichterinnen besetzt und auch die eingesetzten Schöffen sollten pädagogisch qualifiziert sein. Besondere Beteiligte in einem Jugendstrafverfahren ist aber die Jugendgerichtshilfe (JGH) oder auch Jugendhilfe im Strafverfahren (JiS). Die Bezeichnung variiert je nach Jugendamt. Die JGH wird gemäß § 38 JGG von den Jugendämtern in Zusammenwirken mit den Vereinigungen der Jugendhilfe ausgeübt. Die Mitarbeiterinnen der JGH werden durch die Polizei und/oder Staatsanwaltschaft über jedes Verfahren informiert, das gegen Jugendliche oder Heranwachsende eingeleitet worden ist. Sie beraten die Beschuldigten und deren Angehörige, helfen bei Schwierigkeiten, die sich durch das Verfahren ergeben können, interessieren sich für die Persönlichkeit und die besonderen Lebensumstände der Betroffenen. Sie klären Beweggründe für die Straftat und verhelfen dem Gericht zu einem ausgewogenen Urteil, indem sie die Gesprächsergebnisse in Form eines Jugendgerichtshilfeberichtes vorlegen sowie bei der Gerichtsverhandlung eine mündliche Stellungnahme abgeben, verbunden mit einem Vorschlag der zu ergreifenden Maßnahme. Die Zuständigkeit der JGH richtet sich nach dem Wohnort. Bei Minderjährigen ist der Wohnort der Eltern ausschlaggebend, § 87b SGB VIII. Die Zuständigkeiten innerhalb der JGH sind wiederum unterteilt nach Stadtbezirken.
IV. Grundsatz der Nichtöffentlichkeit
Bei einem Jugendstrafverfahren ist ferner § 48 JGG zu beachten. Danach gilt im Jugendstrafverfahren der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit. § 48 JGG gilt dabei nicht für Heranwachsende, jedoch kann gemäß § 109 Abs. 1 S. 4 JGG die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies „im Interesse des Heranwachsenden geboten“ ist. Maßgeblich für die Anwendung des § 48 JGG ist wiederum das Alter der Angeklagten oder des Angeklagten zur Tatzeit.
V. Strafrechtliche Verantwortlichkeit
Damit schlussendlich Jugendliche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, muss deren strafrechtliche Verantwortlichkeit positiv festgestellt werden. Gemäß § 3 JGG sind dabei die Einsichtsfähigkeit, Steuerungsfähigkeit und der individuelle Entwicklungsstand zu überprüfen. Ob auch auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht anzuwenden ist, entscheidet sich anhand der Kriterien der Marburger-Richtlinie (§ 105 JGG). Kriterien sind unter anderem die mangelhafte Ausbildung der Persönlichkeit, Hilflosigkeit, Naivität, Neigung zu abenteuerlichen Unternehmungen, spielerische Einstellung zur Arbeit, mangelnder Anschluss an Altersgenossen, keine Lebensplanung sowie mangelnde Eigenständigkeit. Wohnen Heranwachsende beispielsweise noch im Elternhaus, haben noch keinen Abschluss und weisen auch sonst keine besondere Selbstständigkeit auf, liegt die Anwendung des Jugendstrafrechts nahe. Es wird also deutlich, dass das Jugendstrafrecht durchaus vom Erwachsenenstrafrecht divergiert. Wo im Erwachsenenstrafrecht der Versuch gescheitert ist, die Täter*innen umzuerziehen, da versucht das Jugendstrafrecht früher anzusetzen und die junge Bevölkerung mit erzieherischen Mitteln und Einfühlungsvermögen zurück auf den gesetzestreuen Weg zu bringen
Das Jugendstrafrecht soll nach dem Beitrag vor allem einem Erziehungsgedanken dienen und einer Rückfallkriminalität entgegenwirken. Laut Medien soll derzeit ein Verfahren nach Jugendstrafrecht gegen eine heute 97-jährige, ehemalige Sekretärin in einem NS-Lager geführt werden. Sollte dabei ebenfalls der Erziehungsgedanke und die Verhinderung von Rückfallkriminalität im Vordergrund stehen?