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Gastautor

Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf.

Ist das Betäubungsmittelstrafrecht – zumindest als Lehrmaterie – im Studium noch völlig unbekannt, so erhält es spätestens im Referendariat eine große Relevanz. Denn nicht zuletzt in der Strafstation, in der als Referendarin plötzlich die Rolle einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwaltes zu übernehmen ist, kommt es zu einer Konfrontation mit genau diesem strafrechtlichen Nebengebiet. Vor den Strafrichterinnen finden sich gerne verschiedenste Ausprägungen von Täterinnen, die mit dem Betäubungsmittelstrafrecht in Berührung gekommen sind. Sei es ein einmaliger Erwerb zur Erprobung, seien es Hobby-Kifferinnen oder sogar Kleindealer*innen, die am jeweiligen Hauptbahnhof ihre Runden drehen.

I. Der Begriff des „Betäubungsmittels“

Um in die Materie einzusteigen, drängt sich jedoch zunächst eine erste Frage auf: Wie wird überhaupt der Begriff des „Betäubungsmittels“ im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) bestimmt? Welche Substanzen dürfen denn gerade nicht hergestellt, verkauft oder erworben werden? Auf eine Legaldefinition hofft man hier vergeblich; es gibt keine abstrakt-generellen Merkmale, anhand derer eine Begriffsdefinition stattfindet (vgl. BeckOK BtMG/Exner BtMG § 1 Rn. 1). Um dieses Rätsel zu lösen, lohnt sich jedoch ein Blick in § 1 Abs. 1 BtMG und davon gleich weiter in die Anlagen I bis III. Denn: Betäubungsmittel im Sinne des BtMG sind die in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen. Um die Schnelligkeit der Drogenszene hinsichtlich der Kreation neuer Suchtstoffe aber nicht außer Acht zu lassen, gibt es in § 1 BtMG noch die Abs. 2- 4, die eine Verordnungsermächtigung enthalten und die Bundesregierung ermächtigen, noch kurzfristig den Begriff des Betäubungsmittels über die Positivliste der Anlagen I-III hinaus zu weiten (vgl. JuS 2019, 211f.).

Mit Blick auf diese Anlagen fallen nun mehrere Dinge auf: Was viele erleichtern mag, sogenannte Genussdrogen (womit Alkohol, Koffein und Nikotin gemeint sind) sind keine Betäubungsmittel und nicht von der Positivliste umfasst. Ebenso nicht umfasst, sind solche Mittel des täglichen Lebens, die auf zweckentfremdende Weise wie beispielsweise mittels Inhalierens zum Rauschmittel gemacht werden. Man denke hier an das bekannte Phänomen des „Klebstoff-Schnüffelns“. Die Positivliste zeigt auf, nur besonders gefährliche psychotrop wirksame Stoffe und Zubereitungen sind als Betäubungsmittel erfasst (vgl. BeckOK BtMG/Exner BtMG § 1 Rn. 6). Diese werden wiederum in einer Dreiteilung aufgeführt: In Anlage I nicht verkehrsfähige, mithin medizinisch ungeeignete, gesundheitsschädliche Stoffe (zB Psilobycin-Pilze), in Anlage II verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Stoffe (zB Metamphetamin), in Anlage III verkehrsfähige und verschreibungsfähige Stoffe (zB Tilidin).

II. Die Mengenbegriffe des BtMG

Ist nun die Einordnung als Betäubungsmittel erfolgreich vorgenommen, stellt sich auch schon die zweite große Frage: In welcher Menge liegt das Betäubungsmittel im konkreten Fall vor? Denn das Betäubungsmittelstrafrecht ist nicht nur von der Art, sondern auch von der Menge des Rauschgiftes geprägt. Die jeweilige Menge gilt als Indikator für den Unrechtsgehalt der Tat (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29 Rn 14) und wirkt sich somit auf die tatbestandliche Einordnung und die Rechtsfolgen aus. Dabei wird zwischen drei Mengenbegriffen differenziert: die geringe Menge, die nicht geringe Menge und die normale Menge. Die geringe Menge findet in den § 29 Abs. 5 und § 31a BtMG Erwähnung und ermöglicht unter Umständen das Absehen von Verfolgung oder Bestrafung. Unter der geringen Menge versteht man eine solche, die zum einmaligen bis höchstens dreimaligen Gebrauch geeignet ist (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29a Rn.16). Die Grenzwerte sind je nach Betäubungsmittel verschieden und richten sich vorrangig nach dem Wirkstoffgehalt. Für einige Betäubungsmittel haben die Obergerichte entsprechende Grenzwerte festgelegt; im Übrigen ermittelt sich dieser regelmäßig aus dem Dreifachen einer Konsumeinheit des jeweiligen Betäubungsmittels für durchschnittliche Konsument*innen (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29a Rn.17). Die nicht geringe Menge liegt bei sichtlichem Überschreiten der geringen Menge vor und katapultiert den Deliktscharakter von einem Vergehen auf ein Verbrechen. Das zeigen die §§ 29a ff. BtMG.Auch hierzu haben die Obergerichte einige Grenzwerte festgelegt. Die normale Menge erfasst den Raum zwischen der geringen und der nicht geringen Menge. Sie ist gesetzlich nicht normiert, findet sich aber in § 29 BtMG wieder (vgl. JA 2011, 613f.).

III. Die wichtigsten Straftatbestände

In den §§ 29 bis 30b BtMG sind die Straftatbestände des BtMG normiert. Dabei ist § 29 BtMG in Form eines Vergehenstatbestandes der Grundtatbestand und enthält eine umfangreiche Aufzählung von Handlungsmodalitäten, die unter Strafe gestellt sind. Dabei umfasst die Norm strafbare Verhaltensweisen für Konsumentinnen (zB „erwirbt“) sowie für Versorgerinnen (zB „veräußert“). Regelmäßig relevant werden dabei die Varianten des § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 BtMG. In diese lohnt sich ein Blick. Die darauffolgenden §§ 29a ff. haben als Qualifikationen Verbrechenscharakter. Dass es eine so umfassende Normierung von Handlungsmodalitäten gibt, ist darauf zurückzuführen, dass Schutzgut der Straftatbestände die menschliche Gesundheit ist und daher möglichst jeder Kontakt zu Betäubungsmitteln strafrechtlich erfasst werden sollte (vgl. JA 2011, 614). Auch aus diesem Grund ist eine extensive Auslegung der Tatbestände vorzunehmen.

IV. Der Grundtatbestand

Da § 29 BtMG ein sehr umfangreicher Grundtatbestand ist, konzentrieren wir uns hier auf die praxisrelevantesten Handlungsmodalitäten: § 29 Abs. 1 Nr. 3, der erlaubnislose Besitz von Betäubungsmitteln, dient als Auffangtatbestand und soll dort Strafbarkeitslücken schließen, wo unklar ist, wie – also durch welche Handlung – es zu dem letztlich feststehenden Besitz gekommen ist. Erforderlich ist nur noch die tatsächliche Verfügungsmacht (vgl. JuS 2019, 214). Mit der Nr. 3 wurde mithin eine Beweiserleichterung für die Strafverfolgungsbehörden geschaffen (vgl. BeckOK BtMG/Wettley BtMG § 29 Rn 472). In allen anderen Fällen, in denen sich die Erlangung der Betäubungsmittel aufschlüsseln lässt, ist Nr. 3 nicht mehr anzuwenden. Weshalb wir uns nun Nr. 1 zuwenden. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG wird bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft. Eigentlich ist diese Aufzählung trotz der verschiedensten Varianten sehr einfach: sobald man unerlaubt, also ohne behördliche Erlaubnis, in Kontakt mit Betäubungsmitteln kommt, ist das schlecht. Von besonderer Bedeutung ist aber das Handeltreiben. Denn dieses ist Dreh- und Angelpunkt für die effektive Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität. Das Handeltreiben setzt nämlich nicht den Erfolg eines Absatzes voraus, sondern umfasst alle Stadien, die einem Absatzgeschäft vorausgehen (vgl. BeckOK BtMG/Becker BtMG § 29 Rn. 53f.). Mit dem Handeltreiben wird damit ein ganzes Bouqet an strafwürdigem Verhalten erfasst, was die Abgrenzung zwischen Vollendung und Versuch sowie Täterschaft und Teilnahme oftmals erschwert. Ausreichend kann so beispielsweise bereits die erfolglose Bemühung um einen Ankauf von Betäubungsmitteln für einen späteren Weiterverkauf sein (JuS 2019, 214).

V. Die Verbrechenstatbestände

Was muss nun passieren, damit aus diesem Grundtatbestand ein Verbrechen wird? Das wiederum zeigen die §§ 29a, 30 und 30a BtMG. Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr werden Personen bestraft, die über 21 Jahre alt sind und Betäubungsmittel an solche Personen abgeben, verabreichen oder überlassen die unter 18 Jahre alt sind (§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG) sowie Personen, die – unabhängig vom Alter – mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge agieren (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Die Qualifizierung zum Verbrechen beruht damit im Falle der Nr. 1 auf der gehobenen Verwerflichkeit, als erwachsene Person Minderjährigen Betäubungsmittel zur Verfügung zu stellen und das unabhängig davon, ob dies in der Funktion als Dealer*in oder im privaten Umfeld erfolgt (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG § 29a Rn. 1,2). Minderjährige sind immer besonders schutzwürdig und dürfen nicht zur Sucht „verführt“ werden. Im Falle der Nr. 2 beruht die Qualifizierung auf der unüblich hohen Menge. Einen weiteren Qualifikationstatbestand normiert § 30 BtMG, der seinen Verbrechenscharakter jedoch aus anderen Umständen erhält: Im Fokus stehen bei § 30 Abs. 1 BtMG eine Bandenmitgliedschaft, Gewerbsmäßigkeit, das leichtfertige Verursachen des Todes (Achtung: hierbei handelt es sich um eine Erfolgsqualifikation) und – hier zeigt sich ein Muster – das Einführen einer nicht geringen Menge an Betäubungsmitteln. Der Strafrahmen steigt im Gegensatz zu § 29a BtMG auf eine Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Um sowohl die Bande als auch die Gewerbsmäßigkeit zu definieren, kann einfach auf die Definitionen des allgemeinen Vermögensstrafrechts zurückgegriffen werden (vgl. JuS 2019, 213). Fallen nun Bandenmitgliedschaft und nicht geringe Menge zusammen, wird § 30a Abs. 1 BtMG relevant und der Strafrahmen steigt erneut, nun auf ein Mindestmaß einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Wichtig ist, dass sich die Bandenabrede auch auf genau diese nicht geringe Menge beziehen muss (vgl. MüKoStGB/Oğlakcıoğlu BtMG § 30a Rn. 16). § 30a Abs. 2 BtMG ähnelt § 29a Abs. 1 BtMG. So wird in Nr. 1 wieder auf das Erwachsenen-Minderjährigen-Verhältnis abgestellt, allerdings mit dem Unterschied, dass es sich bei § 30a Abs. 2 Nr. 1 BtMG um eine Anstiftungshandlung („bestimmt“) handelt. Die betroffenen Minderjährigen sollen nun auch noch für die erwachsene Person im Drogenmilieu tätig werden. § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG kombiniert nun das Mitsichführen einer Schusswaffe oder sonstiger Gegenstände mit dem Agieren mit einer nicht geringen Menge. § 30b BtMG ist kein eigenständiger Straftatbestand, sondern weitet den Anwendungsbereich des § 129 StGB aus (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG § 30b Vorb.). Relevant wird dies im Bereich der organisierten Betäubungsmittelkriminalität.

Wichtig ist stets, die Normen genau zu lesen, denn die Handlungsmodalitäten, die vom Grundtatbestand übernommen werden, variieren bei den Qualifikationen stets. Nicht immer sind alle Modalitäten erfasst; meist sogar nur eine Auswahl. Außerdem hat der Gesetzgeber ausreichend Gebrauch von minder schweren Fällen gemacht, wie sich meist am Ende der jeweiligen Norm zeigt.

VI. Konkurrenzen

Mit Blick auf die Handlungsmodalitäten des § 29 Abs. 1 BtMG und dabei insbesondere auf das unerlaubte Handeltreiben, ist leicht vorstellbar, dass mehrere Handlungsmodalitäten, die sich auf ein und dasselbe Betäubungsmittel beziehen, hintereinander auftreten können. Dies führt uns zu der Frage: Wie ist dieser Umstand konkurrenzrechtlich zu bewerten? Im Betäubungsmittelstrafrecht existiert die sogenannte Bewertungseinheit, die einen Fall der tatbestandlichen Handlungseinheit darstellt (vgl. BeckOK BtMG/Becker BtMG § 29 Rn 103-105). So wird beispielsweise Anbau, Lagerung, Transport und Verkauf einer bestimmten Rauschgiftmenge zu einer Tat, nämlich dem Handeltreiben zusammengefasst.

Das Betäubungsmittelstrafrecht ist folglich kein zu unterschätzendes strafrechtliches Nebengebiet, das sowohl in seinem Zweck herausragende Bedeutung innehat als auch in seiner Anwendung einige Abgrenzungsschwierigkeiten bereithält. Gerade in der Praxis sind die Strafverfolgungsbehörden einigen Hürden ausgesetzt und nicht stets ist zweifelsfrei zu klären, ob beispielsweise gewerbsmäßig gehandelt wird, wo die Betäubungsmittel versteckt sind und wer alles Teil der Organisationsstruktur ist.

01.02.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-01 10:00:002023-01-25 11:49:57Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
Gastautor

Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick

Rechtsgebiete, Startseite, StPO, Strafrecht, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.

Begeht eine Erwachsene oder ein Erwachsener eine Straftat, passiert meist Folgendes: Wir arbeiten uns materiell-rechtlich durch die Straftatbestände des StGB und prozessrechtlich durch die Verfahrensvorschriften der StPO und des GVG. Wir finden die einschlägigen Paragrafen, klagen vor der Strafrichterin oder dem Strafrichter, dem Schöffengericht, dem Landgericht oder sogar Oberlandesgericht an und verhandeln meist öffentlich über die zu erwartende Strafe. Doch was geschieht, wenn die Täterin oder der Täter jünger als 21 Jahre alt ist?

Diese Fragestellung kann beispielsweise in der mündlichen Prüfung auftauchen und wird die Prüflinge häufig überraschend treffen. Denn leider wird dieses strafrechtliche Nebengebiet oftmals  vernachlässigt. Wie dann zu antworten ist, verraten wir im Folgenden:

Unterhalb der magischen Altersgrenze von 21 Jahren ist das Jugendstrafrecht einschlägig. Das Jugendstrafrecht ist ein strafrechtliches Nebengebiet und Sonderstrafrecht für junge Täterinnen. Für Ermittlungs- und Strafverfahren gegen die jungen Täterinnen gelten zwar grundsätzlich die Vorschriften der StPO, aber nur bis zu dem Punkt, an dem das Jugendgerichtsgesetz (JGG) oder allgemeine Grundsätze des JGG vorrangig sind. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht, das auf die Tat bezogen ist, ist das Jugendstrafrecht auf die jeweiligen Täter*innen bezogen. Im Vordergrund steht nicht die Strafe, sondern die Erziehung. Gemäß § 2 Abs. 1 JGG soll die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem erneuten Straftaten von Jugendlichen oder Heranwachsenden (Rückfallkriminalität) entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Aus diesem Grund sieht das JGG auch andere Rechtsfolgen vor als das Erwachsenenstrafrecht. Als Rechtsfolgen normiert sind Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmittel (§§ 13-16a JGG), und die Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). Aspekte der negativen Generalprävention dürfen allgemein nicht berücksichtigt werden.

I. Anwendbarkeit des JGG

Doch zunächst stellt sich die Frage: Auf wen ist das Jugendstrafrecht anwendbar? Kinder unter 14 Jahren sind nach § 19 StGB schuldunfähig. Diese Schuldunfähigkeit stellt ein Prozesshindernis dar, sodass Kinder unter 14 Jahren strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden können (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 10). Im Falle von vermehrter Kinderdelinquenz muss das Verhalten für ein Kind unter 14 Jahren jedoch nicht folgenlos bleiben. Das Jugendamt – insbesondere die jeweils zuständige Jugendgerichtshilfe – kann sich einschalten. Bei der Frage nach dem Anwendungsbereich des JGG hilft § 1 Abs. 2 weiter: „Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.“ Ausschlaggebend ist stets das Alter zum Zeitpunkt der Tat. Das heißt, dass auch eine jetzt 25-jährige Täterin nach Jugendstrafrecht behandelt werden kann, wen sie die Tat eben acht Jahre zuvor begangen hat. Ist zweifelhaft, ob die oder der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden, ergänzt § 1 Abs. 3 JGG. Bei Zweifeln über den genauen Tatzeitpunkt oder über das exakte Geburtsdatum gilt also die jeweils günstigere Rechtsfolge (in dubio pro reo) (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 1 JGG Rn. 25; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 3).

II. Gerichtliche Zuständigkeiten

Wer ist nun für dieses Sonderstrafrecht zuständig? Die örtliche Zuständigkeit folgt aus dem allgemeinen Strafverfahrensrecht; sie kann sich mithin nach den §§ 7 ff. StPO richten. Es ist aber in aller Regel das Gericht am Wohnort der Jugendlichen oder Heranwachsenden zuständig. Anders als bei Erwachsenen soll das Verfahren nämlich grundsätzlich bei dem Gericht stattfinden, wo seine Durchführung die Jugendlichen oder Heranwachsenden wegen des jugendlichen Alters am wenigsten belastet und dem die familiengerichtliche Zuständigkeit obliegt. Damit wird auch bezweckt, dass sowohl Jugendliche als auch Heranwachsende stets auf die gleichen Gesichter treffen und auf diese Weise dem Erziehungsgedanken besser Genüge getan werden kann. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 39, 40 und 41 JGG für Jugendliche, über § 108 Abs. 1 JGG für Heranwachsende. Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter ist gemäß § 39 JGG zuständig, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach dem JGG zulässige Nebenstrafe und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind.  Gemäß § 39 Abs. 2 JGG darf die Jugendrichterin oder der Jugendrichter auf Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nicht erkennen. Das Jugendschöffengericht ist gemäß § 40 JGG zuständig für alle Verfahren, für die nicht die Jugendrichterin oder der Jugendrichter oder die Jugendkammer beim Landgericht zuständig sind. Die Rechtsfolgenkompetenz ist im Gegensatz zum Jugendrichter oder zur Jugendrichterin und allgemeinen Schöffengericht grundsätzlich unbeschränkt. Wendet das Jugendschöffengericht Jugendstrafrecht an, hat es eine unbeschränkte Rechtsfolgenkompetenz und kann bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen eine Jugendstrafe bis zur gesetzlichen Höchstgrenze verhängen; wendet es hingegen Erwachsenenstrafrecht an, hat es eine Strafgewalt in Höhe von 4 Jahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 40 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 40 Rn. 4). Die Jugendkammer ist gemäß § 41 JGG erstinstanzlich zuständig vor allem für die Sachen, die nach allgemeinem Recht vor das Schwurgericht gehören, für umfangreiche Sachen, die die Jugendkammer nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht übernommen hat, sowie nach § 103 Abs. 1 JGG für verbundene Verfahren gegen Jugendliche und Erwachsene, sofern für die Erwachsenen die große Strafkammer zuständig wäre. Als Rechtsmittelgericht entscheidet die Jugendkammer über Berufungen gegen Urteile der Jugendrichterin oder des Jugendrichters und des Jugendschöffengerichtes. Sie entscheidet auch über Beschwerden gegen Verfügungen und Entscheidungen der Jugendrichterin oder des Jugendrichters sowie des Jugendschöffengerichtes.

III. Beteiligte im Jugendstrafverfahren

Grundsätzlich finden sich die gleichen Beteiligten im Jugendstrafverfahren, die auch im Erwachsenenstrafverfahren vorzufinden sind: Staatsanwaltschaft, Gericht und gegebenenfalls Verteidigerin. Bei der Staatsanwaltschaft besteht eine eigene Abteilung mit Jugendstaatsanwältinnen, das Gericht ist mit Jugendrichterinnen besetzt und auch die eingesetzten Schöffen sollten pädagogisch qualifiziert sein. Besondere Beteiligte in einem Jugendstrafverfahren ist aber die Jugendgerichtshilfe (JGH) oder auch Jugendhilfe im Strafverfahren (JiS). Die Bezeichnung variiert je nach Jugendamt. Die JGH wird gemäß § 38 JGG von den Jugendämtern in Zusammenwirken mit den Vereinigungen der Jugendhilfe ausgeübt. Die Mitarbeiterinnen der JGH werden durch die Polizei und/oder Staatsanwaltschaft über jedes Verfahren informiert, das gegen Jugendliche oder Heranwachsende eingeleitet worden ist. Sie beraten die Beschuldigten und deren Angehörige, helfen bei Schwierigkeiten, die sich durch das Verfahren ergeben können, interessieren sich für die Persönlichkeit und die besonderen Lebensumstände der Betroffenen. Sie klären Beweggründe für die Straftat und verhelfen dem Gericht zu einem ausgewogenen Urteil, indem sie die Gesprächsergebnisse in Form eines Jugendgerichtshilfeberichtes vorlegen sowie bei der Gerichtsverhandlung eine mündliche Stellungnahme abgeben, verbunden mit einem Vorschlag der zu ergreifenden Maßnahme. Die Zuständigkeit der JGH richtet sich nach dem Wohnort. Bei Minderjährigen ist der Wohnort der Eltern ausschlaggebend, § 87b SGB VIII. Die Zuständigkeiten innerhalb der JGH sind wiederum unterteilt nach Stadtbezirken.

IV. Grundsatz der Nichtöffentlichkeit

Bei einem Jugendstrafverfahren ist ferner § 48 JGG zu beachten. Danach gilt im Jugendstrafverfahren der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit. § 48 JGG gilt dabei nicht für Heranwachsende, jedoch kann gemäß § 109 Abs. 1 S. 4 JGG die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies „im Interesse des Heranwachsenden geboten“ ist. Maßgeblich für die Anwendung des § 48 JGG ist wiederum das Alter der Angeklagten oder des Angeklagten zur Tatzeit.

V. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

Damit schlussendlich Jugendliche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, muss deren strafrechtliche Verantwortlichkeit positiv festgestellt werden. Gemäß § 3 JGG sind dabei die Einsichtsfähigkeit, Steuerungsfähigkeit und der individuelle Entwicklungsstand zu überprüfen. Ob auch auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht anzuwenden ist, entscheidet sich anhand der Kriterien der Marburger-Richtlinie (§ 105 JGG). Kriterien sind unter anderem die mangelhafte Ausbildung der Persönlichkeit, Hilflosigkeit, Naivität, Neigung zu abenteuerlichen Unternehmungen, spielerische Einstellung zur Arbeit, mangelnder Anschluss an Altersgenossen, keine Lebensplanung sowie mangelnde Eigenständigkeit. Wohnen Heranwachsende beispielsweise noch im Elternhaus, haben noch keinen Abschluss und weisen auch sonst keine besondere Selbstständigkeit auf, liegt die Anwendung des Jugendstrafrechts nahe. Es wird also deutlich, dass das Jugendstrafrecht durchaus vom Erwachsenenstrafrecht divergiert. Wo im Erwachsenenstrafrecht der Versuch gescheitert ist, die Täter*innen umzuerziehen, da versucht das Jugendstrafrecht früher anzusetzen und die junge Bevölkerung mit erzieherischen Mitteln und Einfühlungsvermögen zurück auf den gesetzestreuen Weg zu bringen

23.11.2022/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-11-23 10:00:002022-12-23 08:49:55Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick
Dr. Yannick Peisker

BGH: Neues zur Sterbehilfe im Rahmen des § 216 StGB

Klassiker des BGHSt und RGSt, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Strafrecht, Strafrecht AT, Strafrecht BT

Mit Entscheidung v. 28.6.2022 (Az. 6 StR 68/21) hat der BGH die bereits aus der „Gisela-Entscheidung“ bekannten Grundsätze zur Abgrenzung der straflosen Beihilfe zur strafbaren Tötung nach § 216 StGB weiter präzisiert. Dieses Problem ist ein echter Examensklassiker und immer wieder Gegenstand mündlicher und schriftlicher Prüfungen. Eine genaue Lektüre nicht nur dieses Beitrags, sondern auch der Entscheidungsgründe, die in Teilen wiedergegeben werden, kann sich daher bezahlt machen. Die neue Entscheidung des BGH soll zum Anlass genommen werden, die Problematik der Abgrenzung der straflosen Beihilfe von der strafbaren Tötung auf Verlangen noch einmal aufzubereiten. Auch sollen wertvolle Hinweise auf eine mögliche verfassungskonforme Auslegung infolge der Rechtsprechung des BVerfG zum grundrechtlichen Schutz der Selbsttötung. Eine klausurmäßige Aufbereitung der Probleme ist hier auffindbar.

I. Der Sachverhalt der Entscheidung

Der Sachverhalt, über den der sechste Senat des BGH zu entscheiden hatte, gestaltete sich wie folgt:

O wurde seit 2016 von der seiner Ehefrau T, einer ehemaligen Krankenschwester, betreut. Er hatte seit 1993 ein schweres chronisches Schmerzsyndrom entwickelt und war krankheitsbedingt berufsunfähig und in Rente. Er litt zudem unter zahlreichen Erkrankungen. Seine Schmerzen nahmen 2019 weiter zu und sein Zustand verschlechterte sich stetig, sodass er erwog, die Dienste eines Sterbehilfevereins in Anspruch zu nehmen. Nahezu wöchentlich äußerte er seinen Wunsch, sterben zu wollen. Er bat die T darauf hin, ihn ein paar Tage nicht zu pflegen und wegzufahren, damit er sich mit Tabletten das Leben nehmen wollte. Die T weigerte sich jedoch. Sein Leiden verschlimmerte sich weiter. Während eines gemeinsamen Kaffeetrinkens sagte O „Heute machen wir’s“, der T war klar, dass O sich das Leben nehmen wollte. Gegen 23:00 forderte O die T auf, ihm alle vorrätigen Tabletten zu geben, die O daraufhin selbständig einnahm. Dann forderte er die T auf, ihm alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu geben, was sie auch tat. O und T sprachen noch miteinander, bevor er einschlief, gegen 3:30 konnte T seinen Tod feststellen. Er starb an Unterzuckerung infolge des Insulins, die eingenommenen Tabletten waren ebenfalls zur Herbeiführung des Todes geeignet, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Ursächlich war damit die Gabe des Insulins.

II. Die Prüfung der Strafbarkeit der T

Täter des § 216 StGB ist nur, wer die Straftat auch selbst vornimmt. Es gelten die allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe. Auf eine erneute Darstellung der Abgrenzung zwischen subjektiver Theorie und Tatherrschaftslehre soll hier verzichtet werden. Denn auch der BGH ist zumindest im Kontext des § 216 StGB von seinem subjektiven Ansatz abgewichen und stellt prinzipiell ausschließlich darauf ab, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht (BGH NJW 1965, 699, 701) Gerade im Falle des einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmordes, wo grundsätzlich beide Suizidenten einen entsprechenden Willen gebildet haben, sei eine subjektive Abgrenzung fraglich (BGH NJW 1965, 699, 700).

In seiner jüngsten Entscheidung formuliert der BGH wie folgt:

„Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom andern bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor […]. Die Abgrenzung strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid kann dabei nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden. Geboten ist vielmehr eine normative Betrachtung.“

BGH, Beschl. v. 28.06.2022 – 6 StR 68/21 Rn. 14 f.

Der BGH verordnete die Tatherrschaft bei O selbst. T hingegen habe lediglich unterstützende Akte vorgenommen und sei demnach lediglich Gehilfin einer straflosen Beihilfe zum Suizid.

Dieses Ergebnis mag zunächst erstaunen, denn das Spritzen des Insulins hat ausschließlich T vorgenommen, bei genauer Betrachtung ist dies jedoch folgerichtig und nicht als Täterhandlung einzuordnen.

„[Denn] Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich [O] in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls „als Zombie zurückkehren“. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein [O] bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulinspritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass [O] sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. […].

BGH, Beschl. v. 28.06.2022 – 6 StR 68/21 Rn. 16.

In anderen Worten: Die Tatsache, dass sowohl der Suizident als auch die betreuende Person aktive Handlungen vornehmen ist unerheblich, sofern es sich um einen Gesamtplan handelt und über diesen Gesamtplan allein der Suizident die Tatherrschaft innehat.

III. Keine Strafbarkeit durch Unterlassen

Wird der Suizident bewusstlos oder schläft ein, kommt es vorliegend zu keinem Tatherrschaftswechsel und damit zu einer Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB. Denn trotz kraft der hier bestehenden Ehe zu bejahenden Garantenstellung der T für den O, liegt keine Garantenpflicht für das Leben ihres Mannes vor. Ein frei und selbstbestimmt gefasster Sterbewille führt zur Suspendierung der Garantenpflicht. Es gilt dasselbe wie für ärztliche Garantenpflichten, zu denen sich der BGH bereits mit seinen beiden Entscheidungen vom 3.7.2019 – 5 StR 132/18; 5 StR 393/18 geäußert hatte. Die Besprechung durch Juraexamen.info lässt sich hier abrufen.

IV. Exkurs: Verfassungskonforme Auslegung des § 216?

In seiner Entscheidung reißt der BGH zudem die Problematik an, ob durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB auch eine Neubewertung der Verfassungsmäßigkeit des § 216 StGB angezeigt ist. Zur Erinnerung: Das BVerfG hat in seiner Entscheidung (BVerfGE 153, 182) aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch die grundrechtlich geschützte Freiheit abgeleitet, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung dieser Selbsttötung auch auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Wenn die betroffene Person zur Wahrnehmung dieses Freiheitsrechts auch auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, schützt das APR auch vor einer Beschränkung gegenüber Dritten, die eine solche Unterstützung anbieten (Rn. 213). Strafrechtliche Normen dürften nach Auffassung des BVerfG nicht dazu führen, dass diese freie Entscheidung letztlich unmöglich gemacht wird, anderenfalls wird der verfassungsrechtliche Schutz dieser Freiheit nicht mehr gewährleistet (Rn. 273).

Eine Vergleichbarkeit der Konstellationen ist nicht von der Hand zu weisen, denn auch hier wird die Möglichkeit des Sterbewilligen, auf die Unterstützung Dritter zurückzugreifen, durch die Strafandrohung des § 216 StGB beschränkt. Dies sieht auch der 6. Senat des BGH so. Nach den Angaben in der o.g. Entscheidung hält er es für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB stets einer verfassungskonformen Auslegung bedürfe. Es seien jedenfalls die Fälle vom Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen. Dies sei der Fall, wenn sie darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt.

Wie genau eine solch verfassungskonforme Auslegung auszusehen hat und an welchem Merkmal des § 216 Abs. 1 StGB hier anzuknüpfen sein sollte, lässt der BGH offen. Für Studierende stellt sich daher die schwierige Frage, an welcher Stelle dieses Problem verortet werden sollte. Denkbar ist die Anwendung des § 34 StGB unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen. Der Wunsch des Suizidenten müsste intern gegen sein Rechtsgut „Leben“ abgewogen werden. Sofern der Suizidwunsch selbstbestimmt und frei von Willensmängeln bestand, müsste eine entsprechende Abwägung von „Tod“ gegen „Leben“ ausnahmsweise zulässig sein.

V. Wann liegen die Voraussetzungen für eine solche verfassungskonforme Auslegung vor?

Nicht geklärt ist hingegen, wann es einer Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung umzusetzen. In der Kommentarliteratur wird teils eine solch faktische Unmöglichkeit ausgeschlossen, sie könne nahezu nie vorliegen. Denn so sei vorstellbar, dass durch eine technische Einrichtung, durch die der Suizident mittels eines Augenzwinkerns eine Maschine in Gang setzen könne, auch ein an Armen und Beinen gelähmter Suizident selbständig töten könne. Sofern eine solche Einrichtung verfügbar sei, werde bis zur Verfügungstellung lediglich die Lebenszeit verlängert, dies sei auch aus verfassungsrechtlichen Gründen hinzunehmen (zu alldem Schneider, MüKoStGB, 4. Auflage 2021, § 216 StGB Rn. 60 mwN). Sofern der Sachverhalt auf eine solche Möglichkeit aber nicht ausdrücklich hinweist und er zugleich die körperliche Unfähigkeit zur Selbsttötung betont, liegt nahe, dass der Klausurersteller auf eine solch verfassungskonforme Einschränkung hinauswollte. Das genaue Lesen des Klausursachverhalts ist hier besonders essentiell. Gleichwohl ist damit natürlich nur Examenskandidaten, nicht aber der Praxis geholfen.

12.08.2022/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-12 08:22:172022-08-12 08:27:44BGH: Neues zur Sterbehilfe im Rahmen des § 216 StGB
Tobias Vogt

BGH: Anspruch einer Wohnungsgemeinschaft auf Zustimmung zum Mieterwechsel?

Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

In einer aktuellen Entscheidung äußert sich der BGH zu dem in der Praxis häufig auftauchenden aber höchstrichterlich bislang nicht geklärten Problem in einer Wohnungsgemeinschaft: Einige Zeit nachdem der Mietvertrag für die gemeinsame Wohnung unterzeichnet wurde, möchte einer der Mitbewohner ausziehen – die „WG“ soll jedoch Fortbestehen mit einem neuen Mitbewohner. Doch was ist, wenn diesem Austausch der Vermieter nicht zustimmen möchte? Im konkreten Fall verneinte der BGH einen Zustimmungsanspruch, gab jedoch gleichzeitig Hinweise, wann ein solcher – etwa in einer Studenten-WG – zu bejahen sein könnte. Aufgrund der Examensrelevanz des Mietrechts sowie der Vertragsauslegung ein nicht nur für WG-Bewohner, sondern auch für Studenten und Referendare äußerst interessantes Urteil.

I. Sachverhalt (vereinfacht) und bisheriger Verfahrensgang:

Im Jahr 2013 mieteten 6 Mieter eine gemeinsame 7-Zimmer Wohnung. Bereits vor Vertragsschluss wurde einvernehmlich einer der zunächst vorgesehenen Mieter durch eine andere Person ausgetauscht mittels handschriftlicher Anpassung des Vertrags. Im Februar 2017 kam es zu einem weiteren Austausch von Mietern. In einem Nachtrag vereinbarten die Parteien, dass fünf der bisherigen Mieter aus dem Mietverhältnis ausscheiden und dieses mit dem verbliebenden sowie 6 neuen Mietern – nun also insgesamt 7 Personen – fortgesetzt wird. In einem zweiten Nachtrag wurde im Mai 2017 vereinbart, dass einer der im Februar 2017 eingetretenen Mieter wieder ausscheidet und das Mietverhältnis stattdessen mit einer neu eintretenden Person fortgesetzt wird. Im weiteren Verlauf vermieteten 4 Mieter ihr jeweiliges WG-Zimmer an eine andere Person unter.

Im Oktober 2019 begehrten die Mieter den Austausch dieser 4 Mieter gegen ihre jeweiligen Untermieter. Dies lehnte die Vermieterin jedoch ab. Die Mieter sahen sich daher gezwungen, einen Anspruch auf Zustimmung zum Austausch der Mieter gegen die Vermieterin gerichtlich zu verfolgen. In der ersten Instanz gab ihnen das AG Berlin-Charlottenburg (Urt. v. 17.8.2020 – 237 C 134/20) noch Recht. Das Berufungsgericht LG Berlin (Urt. v. 18.8.2021 – 64 S 261/20) wies die Klage jedoch ab.

II. Entscheidung des BGH – Urt. V. 27.4.2022 – VIII ZR 304/21

Die Revision der Kläger gegen das ablehnende Berufungsurteil hatte keinen Erfolg. Der BGH lehnte einen Anspruch auf Zustimmung zum Mieterwechsel ab. Bei der Prüfung geht der 8. Senat schulmäßig vor und legt insbesondere den abgeschlossenen Mietvertrag aus. Hierzu der Reihe nach:

1) Der Mietvertrag wurde mit den einzelnen Mietern als Einzelpersonen und nicht etwa als rechtsfähige Personengesellschaft in Form einer Außen-GbR geschlossen. Dies ergibt sich aus dem Mietvertragsrubrum, in dem als Mieter die einzelnen Personen numerisch und namentlich sowie mit ihrer jeweiligen Anschrift und ihrem Geburtsdatum genannt sind sowie der Vereinbarung einer gesamtschuldnerischen Haftung. Dementsprechend bedarf es für einen Mieterwechsel eine vertragliche Vereinbarung zwischen den bisherigen und den neuen Vertragspartnern in Form einer (teilweisen) Vertragsübernahme.

2) Zunächst ist zu untersuchen, ob der konkrete Mietvertrag eine ausdrückliche Regelung zur Frage eines nachträglichen Mieterwechsels enthält. Dies war hier jedoch nicht der Fall.

3) Daher bedarf es einer interessengerechten Auslegung der auf den Abschluss des Mietvertrags und der Nachträge gerichteten Erklärungen der Parteien. Diese Auslegung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung des wirklichen Willens der Parteien, dem Grundsatz von Treu und Glauben und der  Verkehrssitte (§§ 133, 157 BGB). Entgegen dem Meinungsstand in der bisherigen Instanzrechtsprechung und Literatur verbietet sich hinsichtlich der Frage eines Anspruchs auf Zustimmung zum Mieterwechsel eine pauschale Lösung, wie der BGH nun klarstellt. Hinsichtlich der Interessenlage ist insbesondere folgendes zu beachten:

Bei einer WG dürfte regelmäßig ein großes Interesse der Mieter an einem Recht auf Zustimmung zum Mieterwechsel bestehen. Denn die ursprünglichen Mieter können hierdurch das Mietverhältnis flexibel, ohne größeren Aufwand und ohne die bei einer Untervermietung bestehende weitere Haftung jederzeit beenden und dadurch ihre wirtschaftliche Dispositionsfreiheit vollständig erhalten. Zugleich ersparen sie sich den Aufwand einer Kündigung sowie mögliche Streitigkeiten mit den (ehemaligen) Mitmietern oder mit Untermietern.

Die neuen Mieter erhalten die Vorteile einer gesicherten Stellung als (Haupt-)Mieter und profitiert bei einem Mietvertrag mit mehreren Mietern von den bereits geltenden verlängerten Kündigungsfristen, einer eventuell durch ein bereits länger andauerndes Mietverhältnis vergleichsweise günstigen Miete sowie den Grenzen für eine Mieterhöhung in einem laufenden Mietverhältnis (vgl. §§ 558 ff. BGB).

Zwar kann auch ein Interesse des Vermieters hieran bestehen, da sich so die Mieter selbst um einen Ersatz kümmern. Ein solches Interesse besteht indes nicht ohne Weiteres und kann der vorzunehmenden Vertragsauslegung ohne konkrete Anhaltspunkte auch nicht zugrunde gelegt werden, da dies mit erheblichen Nachteilen für den Vermieter verbunden wäre. Im Vergleich zu den von ihm ursprünglich ausgewählten Mietern kann sich die Solvenz deutlich verringern und eine anderweitige Nutzung oder Neuvermietung wird deutlich erschwert, was auch die Möglichkeit von Mieterhöhungen einschränkt.

Zu berücksichtigen ist auch, dass dem Interesse der Mieter in gewissen Umfang auch durch die Möglichkeit der Untervermietung oder von vorne herein durch eine vertragliche Gestaltung Rechnung getragen werden kann, etwa durch den Vertragsschluss als GbR auf Mieterseite, wodurch ein Mieterwechsel durch einen Gesellschafterwechsel erfolgt.

4) Aufgrund dieser entgegenstehenden Vermieterinteressen bedarf es konkreter Anhaltspunkte dafür, dass der Vermieter den Mietern ein derartiges Recht zugestehen wollte.

Allein die Tatsache, dass der Mietvertrag mit mehreren Personen abgeschlossen wird, die eine WG bilden, genügt nicht. Denn das stets bestehende Risiko, dass sich unvorhersehbar der Lebensmittelpunkt ändert oder ein Zusammenwohnen nicht (mehr) dem Wunsch der Mieter entspricht, ist grundsätzlich der Risikosphäre der Mieter zuzuordnen, die sich durch die gemeinsame Anmietung einer Wohnung in die Gefahr einer solchen Konstellation begeben haben. Es besteht laut BGH auch kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass WGs häufige Ab- und Zugänge zu verzeichnen haben.

In Betracht kommt eine derartige Auslegung indes nach den Umständen des Einzelfalls dann, wenn sowohl die Mieter als auch der Vermieter bei Vertragsabschluss ersichtlich davon ausgingen, dass sich häufig und in kurzen Zeitabständen ein Bedarf für eine Änderung der Zusammensetzung der in der Wohnung lebenden Personen ergeben kann, weil die Mieter voraussichtlich aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände bereits bei Vertragsabschluss absehbar nur für einen kurzen Zeitraum an dem jeweiligen Ort leben werden und eine vertragliche Bindung über diesen Zeitraum hinaus nicht eingehen wollen. Als potentielles Beispiel nennt der BGH – ohne weitere Begründung –eine Studenten-WG. Hierfür dürfte sprechen, dass Studenten oftmals nur für die Dauer ihres aktuellen, zeitlichen begrenzten Studienabschnitts eine Wohnung in der Universitätsstadt benötigen und sich in vielen Fällen danach ihr Lebensmittelpunkt aufgrund eines Studienortwechsels oder Berufseinstiegs verlagert.

Eine weitere Voraussetzung ist, dass dem Vermieter diese Umstände vor Vertragsabschluss bekannt sind und er sich bewusst und ohne Vorbehalt in Kenntnis der voraussichtlich zu erwartenden Fluktuation zu einem Mietvertrag mit mehreren derartigen Mietern entscheidet. In dieser Konstellation wird es regelmäßig dem durch eine nach beiden Seiten interessengerechte Auslegung ermittelten Willen der Vertragsparteien entsprechen, dass den Mietern ein Anspruch auf Zustimmung zu einem Mieterwechsel zustehen soll. Dieser steht in aller Regel in Anlehnung an die Kriterien des § 553 I BGB unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit für den Vermieter.

Da es sich in dem vom BGH entschieden Fall nicht um Studenten handelte, und auch sonst kein für den Vermieter erkennbares besonderes Interesse an häufigen Mieterwechseln ersichtlich war, führte die Auslegung hier nicht zu einem Zustimmungsanspruch der Kläger.

5) Auch die Nachträge zum Mietvertrag können nicht dahingehend ausgelegt werden, dass hierdurch den Mietern ein Recht auf Zustimmung zu weiteren Mieterwechseln eingeräumt werden sollte. Denn daraus, dass der Vermieter mehrfach einem Mieterwechsel zugestimmt hat, kann in der Regel nicht abgeleitet werden, dass es ihm auf die Person des Mieters nicht ankommt und er deshalb auch mit künftigen Mieterwechseln einverstanden sein wird.

6) Ein Anspruch auf Zustimmung zu dem erneuten Mieterwechsel ergibt sich auch nicht aus § 242 BGB oder aus § 241 II BGB. Zwar ist in der Rspr anerkannt, dass hierauf gestützt ein Mieter im Einzelfall, wenn er dem Vermieter einen geeigneten und zumutbaren Ersatzmieter stellt und ein berechtigtes Interesse an der vorzeitigen Beendigung des Mietverhältnisses hat, verlangen kann, vorzeitig aus dem Mietverhältnis entlassen zu werden. Ein Anspruch auf Abschluss eines Mietvertrags mit dem von ihm vorgeschlagenen Nachmieter resultiert hieraus aber aufgrund der Vertragsfreiheit des Vermieters nicht.

III. Fazit

Befindet sich im Mietvertrag keine ausdrückliche Regelung zur Frage der Zustimmung zu einem Mieterwechsel, ist eine ausführliche Auslegung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls von Nöten und entscheidend für die Punkteausbeute in einer Klausur.

Allein aus dem Umstand, dass es sich um eine WG handelt, kann regelmäßig nicht auf den Willen auch des Vermieters zur Gewährung eines Rechts der Mieter auf Zustimmung geschlossen werden.

Eine solche Auslegung läge jedoch nahe, wenn es sich um eine Studenten-WG handelt. Gerade da die Prüfer gerne Fälle aus aktueller Rechtsprechung leicht abwandeln, sollten Studenten und Referendare diese Konstellation im Blick behalten. Auch dann darf jedoch nicht pauschal aufgrund einer Studenten-WG der Anspruch ohne weitere Prüfung bejaht werden. Es sind stets die Umstände und Interessen der Parteien im Einzelfall zu würdigen.

03.08.2022/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2022-08-03 07:09:072022-08-04 11:29:41BGH: Anspruch einer Wohnungsgemeinschaft auf Zustimmung zum Mieterwechsel?
Alexandra Ritter

Heimtücke bei einem Erpresser als Tatopfer (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21)

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit neueren Tendenzen des BGH zur Auslegung und Anwendung des Mordmerkmals der Heimtücke.

Die Prüfung der Mordmerkmal muss von allen Jurastudierenden beherrscht werden. Das prüfungsrelevante Wissen beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die jeweilige Definition, sondern es wird vorausgesetzt, die Tendenzen von Literatur und Rechtsprechung zur Auslegung darlegen zu können. In diesem Beitrag wird daher der Beschluss des BGH v. 18.11.2021 (Az. 1 StR 397/21) näher betrachtet, in dem der BGH sich mit der Auslegung des Mordmerkmals der Heimtücke befasst.

I. Sachverhalt (Schilderung nach BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21)

Der Sachverhalt, der dem Beschluss des BGH zugrunde lag, gestaltete sich wie folgt: A erwirbt von O regelmäßig Kokain. Nach einiger Zeit kündigt O dem A jedoch eine Vereinbarung, nach der A die erworbenen Rauschmittel erst zum Monatsende zu bezahlen hatte und fordert den Geldbetrag nunmehr sofort. A kann die Summe nicht aufbringen, was O dazu veranlasst „Strafzinsen“ zu verlangen. In der folgenden Zeit verlangt O von A auf diese Weise immer höhere und aus Sicht des A ungerechtfertigte Beträge. Dabei verleiht O seinen Forderungen mit gelegentlichen Schlägen und Drohungen gegenüber A Nachdruck. In der Folge übergibt A dem O wiederholt Beträge in dreistelliger Höhe.

So kommt es, dass O von A nun 8.000 Euro verlangt. A spiegelt dem O vor, dass seine Mutter einen Kredit aufgenommen und er die Forderung begleichen könne und sie verabreden sich zu einem Treffen für den nächsten Tag. Bei dem Treffen wird die Stimmung des O immer aggressiver. Schließlich fahren sie zum Haus des A und dessen Mutter. Allerdings muss O das Treffen unterbrechen, da er etwas zu erledigen hat. Bevor er geht, schlägt er A mit voller Wucht in den Bauch. Unterwegs kündigt er dem A telefonisch an, er werde alles auseinandernehmen, wenn A bei der Rückkehr des O nicht zahle.

A nimmt während der Abwesenheit des O eine Selbstladepistole vom Dachboden und steckt sie in seine Jackentasche. Später geht er so zum mit O verabredeten Standort, wo O in seinem Pkw auf A wartet. Dort setzt A sich auf die Hinterbank, sodass O dem A die Pistole nicht entreißen kann. Als O nach dem Geld fragt, erwidert A, seine Mutter sei noch nicht da. Dann zieht A die Waffe und erklärt O er brauche mehr Zeit zur Beschaffung des Geldes. O lacht den A daraufhin aus, fragt, was A mit dem „Spielzeug“ wolle und sagt: „Schieß doch, Hurensohn, ich lasse Dich nicht so einfach in Ruhe.“ Zudem macht er eine Handbewegung in Richtung des A. Darauf schießt A dreimal aus kurzer Distanz schnell hintereinander in den Kopf des O. O hatte sich in der Situation keines Angriffs auf Leib oder Leben versehen und konnte sich deshalb nicht effektiv gegen den Angriff durch A wehren. O verstarb. Den Umstand, dass O sich keines Angriffs auf Leib oder Leben versah, nutze A zur Tötung aus.

II. Entscheidung des BGH

Anders als die Vorinstanz hat der BGH in dem Verhalten des A keine heimtückische Tötung erkannt. Die Erwägungen des BGH sollen im Folgenden dargestellt werden.

1. Keine Notwehr gem. § 32 StGB

Zunächst beschäftigt sich der BGH mit der Frage, ob A aus Notwehr i.S.v. § 32 StGB und damit gerechtfertigt gehandelt haben könnte. Er bejaht das Vorliegen einer Notwehrlage durch einen andauernden und damit gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf die freie Willensentschließung und das Vermögen des A,

„weil die von gewalttätigen Übergriffen begleiteten fortlaufenden Drohungen des Tatopfers zwecks Durchsetzung der von ihm erstrebten rechtsgrundlosen Zahlungen ununterbrochen fortwirkten und sich sogar zunehmend intensivierten.“ (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 7)

Allerdings war die Notwehrhandlung, wenn auch geeignet, nicht geboten, da es dem Täter zumutbar gewesen wäre, das erpresserische Verhalten des O durch Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden zu beenden. Dem stehe auch nicht das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur“) entgegen, da A die Anzeige ohne Preisgabe seiner Beteilung an Drogengeschäften hätte aufgeben können (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 8).

A handelte demnach nicht gerechtfertigt gem. § 32 StGB.

2. Kein § 33 StGB

Zudem liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Täter das Notwehrrecht aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten habe, sodass auch § 33 StGB ausscheidet (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 9).

3. Kein entschuldigender Notstand

Auch die Voraussetzungen des § 35 StGB liegen, wegen der zumutbaren Möglichkeit der Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden, nicht vor (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 10).

4. Kein § 211 StGB

Nachdem der BGH festgestellt hat, dass A weder gerechtfertigt noch entschuldigt gehandelt hat, beschäftigt er sich mit der Frage, ob A durch sein Verhalten das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht hat.

a) Heimtücke i.S.v. § 211 Abs. 2 StGB

„Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist dabei, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren.“ (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 12)

Problematisch ist in der hiesigen Fallkonstellation insbesondere die Arglosigkeit des O.

aa) Zunächst könnte es an der Arglosigkeit des O dadurch fehlen, dass A dem O die Waffe offen gezeigt hat. Aber:

„Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rspr. des BGH kann das Opfer vielmehr auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass ihm keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (stRspr; vgl. nur BGH Urt. v. 6.1.2021 – 5 StR 288/20 Rn. 28 mwN.).“  (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 13, Hervorhebung durch d. Verf.)

bb) Sodann eröffnet der BGH die Möglichkeit der normativen Auslegung des Mordmerkmals der Heimtücke.

„Begeht der Täter seine Tat als Opfer einer Erpressung in einer bestehenden Notwehrlage, kann dies – unbeschadet der weiteren Voraussetzungen dieses Rechtfertigungsgrundes – Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage heimtückischen Handelns haben (vgl. BGH Urt. v. 12.2.2002 – 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff. Rn. 9). Das Mordmerkmal der Heimtücke ist insoweit einer – auch normativ orientierten – einschränkenden Auslegung zugänglich, die dem Wortsinn des Begriffs der Heimtücke mit dem ihm innewohnenden Element des Tückischen Rechnung zu tragen hat (BGHSt, aaO, Rn. 12; kritisch hierzu – nicht tragend – BGH Urt. v. 10.5.2007 – 4 StR 11/07 Rn. 20; und v. 10.11.2004 – 2 StR 248/04 Rn. 19; vgl. im Übrigen BGH Urt. v. 19.8.2020 – 5 StR 219/20 Rn. 11 f., 18).“(BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 14, Hervorhebung durch d. Verf.)

Weiter beschäftigt der BGH sich mit der Frage, ob in derartigen Konstellationen, in denen eine normativ einschränkende Auslegung in Betracht kommt, das Opfer überhaupt arglos sein kann.  Dazu führt er aus:

„Die Beurteilung, ob ein Mensch arglos ist, richtet sich dabei grundsätzlich nach seiner tatsächlichen Einsicht in das Bestehen einer Gefahr; maßgeblich sind hierfür jeweils die Umstände des konkreten Einzelfalls (vgl. BGHSt, aaO Rn. 11 [BGH Urt. v. 12.2.2002 – 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207 ff.]). Ein Erpresser mag in der von ihm gesuchten Konfrontation mit dem Erpressten im Hinblick auf einen etwaigen abwehrenden Gegenangriff des Opfers auf sein Leben regelmäßig dann nicht arglos sein, wenn er in dessen Angesicht im Begriff ist, seine Tat zu vollenden oder zu beenden und damit den endgültigen Rechtsgutsverlust auf Seiten des Erpressten zu bewirken. Das sich wehrende Erpressungsopfer handelt hiernach in einem solchen Fall in aller Regel nicht heimtückisch (BGHSt, aaO Rn. 10). Denn in einer Konstellation, in der sich das Erpressungsopfer gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen erpresserischen Angriff durch Tötung seines Erpressers wehrt, ist regelmäßig der Erpresser der Angreifer, weil er durch sein Verhalten den schützenden oder trutzwehrenden Gegenangriff herausgefordert hat, mag dieser Gegenangriff sich nun im Rahmen des durch Notwehr Gerechtfertigten halten oder die Grenzen der Notwehr überschreiten (BGHSt, aaO Rn. 11). Da der Erpresser mit einer Ausübung des Notwehrrechts durch sein Opfer grundsätzlich jederzeit rechnen muss, spricht bereits die Grundkonstellation gegen dessen Arglosigkeit (vgl. BGHSt, aaO, vgl. auch Urt. v. 9.1.1991 – 3 StR 205/90; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13); deren Vorliegen ist aber dennoch aufgrund einer Gesamtwürdigung der konkreten Tatumstände im Einzelfall festzustellen (BGHSt, aaO).“ (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 15, Hervorhebung durch d. Verf.)

Daraus schlussfolgert der BGH, dass die sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalls richtende Feststellung, ob das Opfer arglos war, oder es die Arglosigkeit durch den Angriff auf die Willensfreiheit des späteren Täters verloren hat, dahinstehen kann,

„weil es [das Opfer bzw. der Erpresser] in einer von ihm geschaffenen Notwehrlage schon nach der gesetzlichen Wertung jederzeit mit einem Gegenangriff des Erpressten rechnen muss (vgl. BGHSt, aaO)“, (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 16).

Der (tödlichen) Gegenwehr des Erpressungsopfers wohne das Tückische nicht in dem Maße inne, „welches den gesteigerten Unwert des Mordmerkmals der Heimtücke kennzeichnet (BGHSt, aaO.)“ (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 16). Aufgrund der vom Erpresser geschaffenen Notwehrlage, sei dieser der „wirkliche Angreifer“, der wegen der gesetzlichen Wertung des § 32 StGB mit Gegenwehr rechnen müsse (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 16). Handelt das sich wehrende Opfer in dieser Situation im Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung oder exzessiv,

„erscheint es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht, dem sich wehrenden Opfer […] das Risiko aufzubürden, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen (BGHSt, aaO).“(BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 16)

In dem vorliegenden Fall hat der BGH daher ein heimtückisches Verhalten des A verneint.

b) Rückausnahmen möglich?

Im Anschluss an diese Feststellung trifft der BGH Ausführungen dazu, dass das Verhalten des A im konkreten Fall nicht planmäßig auf die Tötung des O gerichtet war und er die Situation auch nicht gezielt vorbereitet hatte (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 Rn. 17 f.). Diese Ausführungen haben den Anklang, dass der BGH sich Rückausnahmen vorbehalten möchte, in denen trotz der obigen Erwägungen in ähnlichen Situationen die Bejahung der Heimtücke möglich sein soll (s. hierzu auch Holznagel, RÜ 5/2022, 301, 305 Randbemerkung).

III. Bewertung

Die Entscheidung des BGH wurde in der Literatur aus verschiedenen Gründen kritisiert.

1. Dogmatische Anknüpfung

Zunächst eröffnet Nettersheim in seiner Anmerkung zu dem Beschluss (NStZ 2022, 288, 290 ff.), die Frage, ob die Tücke ein geeigneter Anknüpfungspunkt ist, um die vom BGH vorgenommenen Wertungen einzubringen. Dem stehe entgegen, dass der Arg- und Wehrlosigkeit nach stetiger Rechtsprechung ein rein faktisches Verständnis zugrunde liege (Nettersheim, NStZ 2022, 288, 290 f.; auch i.E. dies als nicht überzeugend einordnend Jäger, JA 2022, 697, 699). Nach der Rechtsprechung ist es grundsätzlich unbeachtlich, ob das Opfer mit einer Attacke hätte rechnen müssen (BGH, Urt. v. 13.11.1985 – 3 StR 273/85; Eisele, JuS 2022, 370, 372; Jäger, JA 2022, 697, 699).

Die Wertung des BGH, dass einer Tötung bei bestehender Notwehrlage das Tückische fehle – auch wenn die Grenzen der gebotenen Verteidigung überschritten werden – entspricht im Ergebnis der von der Literatur bereits vertretenen negativen Typenkorrektur (Jäger, JA 2022, 697, 699 m.w.N.). Nach der negativen Typenkorrektur ist in Fällen wie dem hier behandelten das Merkmal der Heimtücke zunächst zu bejahen, schließlich sind seine Voraussetzungen nach der Definition erfüllt. Im Anschluss ist dann zu prüfen, ob im Einzelfall Umstände vorliegen, welche der besonderen Verwerflichkeit, die die Mordmerkmale auszeichnet, entgegenstehen. Befindet der Täter sich in einer Notwehrlage und erwehrt er sich eines Angriffs, kann es dann an der besonderen Verwerflichkeit fehlen und die Annahme der Heimtücke ist dann nicht gerechtfertigt.

2. Abweichung von der Rechtsfolgenlösung

Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass der BGH die Tötung des Erpressers anders als die Tötung im sog. Haustyrannenfall (BGH, Urt. v. 25.3.2003 – 1 StR 483/02) beurteile (Nettersheim, NStZ 2022, 288, 290 f.). Hier wurde die Täterin wegen Mordes verurteilt, die Strafe jedoch nach §§ 35 II, 49 I Nr. 1 StGB gemildert (Stichwort: Rechtsfolgenlösung).

Hierbei bedarf es jedoch eines genaueren Blicks: Die korrigierende Wertung, die den BGH im vorliegenden Fall dazu veranlasste, die Heimtücke zu verneinen, beruht auf der Erwägung, dass eine Notwehrlage in der Tötungssituation gegeben war. In den sog. Haustyrannenfällen liegt im Tatzeitpunkt lediglich eine Dauergefahr vor, die keinen gegenwärtigen Angriff i.S.v. § 32 StGB begründet. Hierin unterscheiden sich die Fallkonstellationen (s. auch Jäger, JA 2022, 697, 699).

IV. Hinweise für die Fallbearbeitung

Der Fall eignet sich sowohl für die Prüfung der Heimtücke im schriftlichen als auch im mündlichen Examen. Studierende, die mit den Ansätzen der Literatur und Rechtsprechung zur Auslegung der Mordmerkmale vertraut sind, können hier ihr Verständnis davon beweisen und auch die Tendenzen der Rechtsprechung hin zur negativen Typenkorrektur, die bislang von (Teilen) der Literatur vertreten wurde, aufzeigen. Dabei muss jedoch der Sachverhalt präzise subsumiert werden, um die Wertungen bei der Tötung des Erpressers nicht mit denen der sog. Haustyrannenfälle zu vermischen oder zu verwechseln.

Für den Prüfungsaufbau bietet es sich an, nicht mit dem schwersten Delikt (§ 211 StGB) zu beginnen, sondern mit dem Totschlag gem. § 212 StGB. Dadurch können Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe auf der Rechtfertigungsebene geprüft und eine Inzidentprüfung auf Tatbestandsebene vermieden werden (s. hierzu auch Jäger, JA 2022, 697, 698; Holznagel, RÜ 5/2022, 301 ff.). In der zweiten Prüfung kann dann bei der Bearbeitung des Mordmerkmals der Heimtücke auf die Ausführungen zur Notwehrlage Bezug genommen werden.

25.07.2022/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2022-07-25 07:26:112022-09-23 07:41:45Heimtücke bei einem Erpresser als Tatopfer (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – 1 StR 397/21)
Dr. Melanie Jänsch

BGH: Unmöglichkeit bei pandemiebedingter Schließung des Fitnessstudios

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht

Mit aktuellem Urteil vom 4. Mai 2022 (Az.: XII ZR 64/21) hat der BGH festgestellt, dass ein Betreiber eines Fitnessstudios bei einer pandemiebedingten Schließung des Studios gegen seinen Vertragspartner keinen Anspruch auf eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB hat. Im Gegenteil hat der Kunde gemäß §§ 326 Abs. 4, 346 ff. BGB einen Anspruch auf Rückzahlung desjenigen Entgelts, das er während des Schließungszeitraums gezahlt hat, sofern der Fitnessstudiobetreiber von der in Art. 250 § 5 EGBGB eingeräumten „Gutscheinlösung“ keinen Gebrauch macht. Aufgrund ihrer enormen praktischen Auswirkungen hat die Entscheidung nicht nur im juristischen Bereich Aufsehen erregt. Da sich der BGH in seinem Urteil ferner mit grundlegenden Fragen des allgemeinen Schuldrechts auseinandersetzt, die problemlos in jede Zivilrechtsklausur vom zweiten Semester bis zum zweiten Staatsexamen eingebaut werden können, und unter Berücksichtigung der abweichenden Rechtsprechung zum Gewerberaummietrecht (s. BGH, Urteil v. 16.02.2022 – XII ZR 17/21, NJW 2022, 1378; BGH, Urteil v. 12.01.2022 – XII ZR 8/21, NJW 2022, 1370) ist von gigantischer Klausur- und Examensrelevanz auszugehen.

I. Sachverhalt (leicht abgewandelt und vereinfacht)

Worum es geht, ist schnell erzählt: Die Parteien schlossen einen Vertrag über die Nutzung eines Fitnessstudios ab. Aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie musste der Betreiber das Fitnessstudio in der Zeit vom 16. März 2020 bis 4. Juni 2020 schließen. Die Monatsbeiträge für diesen Zeitraum wurden dabei weiterhin vom Konto des Vertragspartners eingezogen. Im Anschluss verlangte dieser die Rückzahlung der per Lastschrift eingezogenen Mitgliedsbeiträge für den Schließungszeitraum.

Das Gericht erster Instanz verurteilte den Fitnessstudiobetreiber zur Rückzahlung der Monatsbeiträge; eine hiergegen gerichtete Berufung des Betreibers vor dem Landgericht wurde zurückgewiesen.

II. Die Entscheidung des BGH

In der Revision sprach sich auch der BGH zu Gunsten des Kunden aus und stellte fest, dass diesem ein Anspruch auf Rückzahlung gemäß §§ 326 Abs. 4, 346 ff. BGB zustand.

1. Schließung des Studios als rechtliche Unmöglichkeit i.S.v. § 275 Abs. 1 BGB

Dreh- und Angelpunkt der Prüfung war die Frage, ob die behördliche Schließungsanordnung zur rechtlichen Unmöglichkeit der Leistung des Fitnessstudiobetreibers gemäß § 275 Abs. 1 BGB führt mit der Konsequenz, dass während des Schließungszeitraums gemäß § 326 Abs. 1 S. 1 BGB auch der Gegenanspruch auf Zahlung des Entgelts entfällt. Gemäß § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf Leistung ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Sog. rechtliche Unmöglichkeit ist dabei gegeben, wenn ein geschuldeter Erfolg aus Rechtsgründen nicht herbeigeführt werden kann oder nicht herbeigeführt werden darf (vgl. BGH, Urteil v. 25.10.2012 – VII ZR 146/11, NJW 2013, 152 Rn. 33; MüKoBGB/Ernst, 9. Aufl. 2022, § 275 BGB Rn. 48). Auf der Grundlage dieser Definition hat der BGH die Unmöglichkeit bejaht:

In diesem Zusammenhang bedurfte es der Auseinandersetzung mit der Frage, ob hierin ein Fall lediglich vorübergehender Unmöglichkeit liegt, die nach herrschender Meinung dem Anwendungsbereich des § 275 Abs. 1 BGB nicht unterfällt, sondern nur verzugsbegründend wirkt (s. Jauernig/Stadler, 18. Aufl. 2021, § 275 BGB Rn. 10 m.w.N.). Diskussionsbedürftig war dies unter dem Gesichtspunkt, dass die behördliche Maßnahme befristet war und auf dieser Basis lediglich ein ­– bereits dem allgemeinen Sprachverständnis entsprechendes – „vorübergehendes“ Hindernis darstellte. Jedoch sind vorübergehende Hindernisse dauerhaften jedenfalls dann gleichzustellen, wenn sie den Vertragszweck in Frage stellen und damit eine Nachholung ausgeschlossen ist. Dies hat der BGH in der vorliegenden Entscheidung unter Verweis auf den Zweck eines Fitnessstudiovertrags, eine regelmäßige sportliche Betätigung zu ermöglichen zur Erreichung bestimmter Fitnessziele oder der Erhaltung von Fitness und körperlicher Gesundheit, angenommen:

Ein anderes Ergebnis könne auch nicht im Wege der (ergänzenden) Vertragsauslegung erreicht werden. Insbesondere sei keine stillschweigende Vereinbarung dahingehend getroffen worden, dass der Fitnessstudiobetreiber berechtigt sein solle, entsprechend § 315 Abs. 1 BGB sein Studio nach Billigkeit für einen begrenzten Zeitraum zu schließen, und dem Kunden im Gegenzug ein Recht auf Nachholung der verpassten Trainingszeit einzuräumen.

2. Keine Anpassung nach § 313 Abs. 1 BGB

Nach der Auffassung des BGH kann der Fitnessstudiobetreiber dem Kunden auch nicht entgegenhalten, dass der Vertrag wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB dahingehend anzupassen gewesen sei, dass die vereinbarte Vertragslaufzeit um den Schließungszeitraum zu verlängern sei. Dies beruhe auf dem Anwendungsbereich des § 313 BGB und damit letztlich auf dem Konkurrenzverhältnis der Vorschriften zur Unmöglichkeit und § 313 BGB. Ein Rückgriff auf die Störung der Geschäftsgrundlage sei nur dort möglich, wo spezielle Regelungen zur Behebung einer Leistungsstörung fehlen würde. E contrario könne dort keine Korrektur mehr über § 313 BGB erfolgen, wo die Rechtsfolgen eines Leistungshindernisses – wie im vorliegenden Fall – bereits abschließend geregelt würden:

Dieses dogmatisch zwingende Ergebnis verstärkt der BGH durch einen Pendelblick auf Art. 240 § 5 EGBGB, der – rechtlich im Wege der Ersetzungsbefugnis – für den Fall der Zahlung für Freizeitveranstaltungen und -einrichtungen die Berechtigung schafft, dem Inhaber einer vor dem 8.3.2020 erworbenen Nutzungsberechtigung für eine Freizeiteinrichtung anstelle der vertraglich geschuldeten Leistung einen Gutschein zu übergeben, wenn die Freizeiteinrichtung aufgrund der COVID-19-Pandemie zu schließen gewesen ist. In einfacheren Worten: Macht der Kunde seinen aufgrund der Unmöglichkeit der Leistung bestehenden Anspruch auf Rückzahlung nach §§ 326 Abs. 4, 346 ff. BGB geltend, kann der Fitnessstudiobetreiber diesen durch Übergabe eines Gutscheins in entsprechender Höhe erfüllen. Durch die Schaffung dieser Spezialnorm habe der Gesetzgeber eine abschließende Regelung getroffen, um die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungs- und Freizeitbereich abzufedern:

Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber für Miet- und Pachtverträge über Grundstücke und Räume, die keine Wohnräume sind, in Art. 240 § 7 EGBG eine Vermutung aufgestellt habe, dass bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale ein Fall des § 313 Abs. 1 BGB gegeben sei. Der Umstand, dass für diesen Bereich eine entsprechende Regelung geschaffen worden sei, lasse darauf schließen, dass in anderen Bereichen ein Rückgriff auf § 313 BGB nicht möglich sein solle:

Ein Anspruch des Betreibers auf eine Anpassung nach § 313 BGB sei damit in hiesiger Konstellation ausgeschlossen.

III. Fazit

Die Entscheidung des BGH ist nicht nur unter Verbraucherschutzgesichtspunkten begrüßenswert, sondern auch rechtlich vollumfänglich überzeugend. Streng subsumiert führt die behördliche Schließungsanordnung nach allgemeinen Grundsätzen dazu, dass der Fitnessstudiobetreiber seiner Leistungspflicht nicht mehr nachkommen kann, § 275 Abs. 1 BGB. Dementsprechend entfällt die Gegenleistungspflicht nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB, sodass der Kunde bereits entrichtete Beiträge gemäß §§ 326 Abs. 4, 346 ff. BGB zurückverlangen kann, sofern der Betreiber nicht von der „Gutscheinlösung“ gemäß Art. 240 § 5 EGBGB Gebrauch macht. Eine Anpassung nach den Grundsätzen zur Störung der Geschäftsgrundlage kommt aufgrund der Subsidiarität des § 313 BGB nicht in Betracht. In einer Klausur wird es im Wesentlichen auf eine saubere Subsumtion und eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konkurrenzverhältnis von § 275 BGB und § 313 BGB ankommen; das Ergebnis dürfte vom BGH zwingend vorgegeben sein.

07.06.2022/0 Kommentare/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2022-06-07 08:30:002022-08-03 08:30:22BGH: Unmöglichkeit bei pandemiebedingter Schließung des Fitnessstudios
Tobias Vogt

Erstes BGH-Urteil zur Gewerberaummiete während Coronalockdown

BGB AT, Examensvorbereitung, Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Muss ein gewerblicher Mieter die Ladenmiete weiterzahlen während er sein Ladengeschäft aufgrund einer staatlichen Maßnahme zur Bekämpfung der Coronapandemie nicht für den Kundenverkehr öffnen darf? Diese Frage stellten sich nicht nur die betroffenen Mieter und Vermieter sondern auch Öffentlichkeit und Juristen seit dem Beginn der Coronakrise im Frühjahr 2020. Mit Spannung erwartet wurde daher die brandaktuelle Entscheidung des BGH – zumal sich die Oberlandesgerichte in dieser Rechtsfrage nicht einig waren. Die Examensrelevanz dürfte damit auf der Hand liegen.
Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang:
Dem Urteil liegt ein Rechtstreit zwischen Kik (Einzelhandel für Textilien aller Art sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs) und dessen Vermieterin zugrunde. Aufgrund einer Allgemeinverfügung anlässlich der Coronapandemie musste das Ladengeschäft im Zeitraum vom 19. März bis zum 19. April 2020 geschlossen bleiben. Die Vermieterin verlangte auch für diesen Zeitraum die Zahlung der vollen Miete, wozu Kik nicht bereit war.
Das erstinstanzlich zuständige Landgericht verurteilte Kik zur Zahlung der Miete in voller Höhe (LG Chemnitz Urteil vom 26.8.2020 – 4 O 639/20).
Mit der Berufung hatte Kik jedoch teilweise Erfolg: Das OLG Dresden (OLG Dresden Urteil vom 24.2.2021 – 5 U 1782/20) sah nur die Hälfte der Miete als geschuldet an. Das OLG Dresden stütze sich hierbei auf eine Vertragsanpassung wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB. In der Regel sei bei einer coronabedingten Schließung eine Reduzierung der Kaltmiete um 50 % gerechtfertigt, weil keine der Vertragsparteien eine Ursache für die Störung der Geschäftsgrundlage gesetzt oder sie vorhergesehen hat. Es sei demzufolge angemessen, die damit verbundene Belastung gleichmäßig auf beide Parteien zu verteilen.
Divergierende OLG-Rechtsprechung:
Andere Ansicht als das OLG Dresden und das mit diesem auf einer Linie liegende Kammergericht Berlin (KG Urteil vom 1.4.2021 – 8 U 1099/20) ist das OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20, Revision anhängig beim BGH unter dem Az. XII ZR 15/21): Die Karlsruher Oberlandesrichter kamen zum Ergebnis, dass die volle Miete zu zahlen sei. Eine Anpassung des Vertrags gemäß § 313 Abs. 1 BGB lehnten sie ab. Dem Mieter sei das unveränderte Festhalten am Gewerberaummietvertrag in der Regel erst dann unzumutbar, wenn dessen Inanspruchnahme zur Vernichtung seiner Existenz führen würde; unter Umständen genüge auch bereits eine schwere Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Fortkommens. Hierbei zu berücksichtigen sei auch, ob der Mieter öffentliche oder sonstige Zuschüsse erhalten hat, mit denen er die Umsatzausfälle infolge staatlicher Beschränkung jedenfalls teilweise kompensieren kann, und ob er Aufwendungen erspart hat (zB wegen Kurzarbeitergeld oder weggefallenen Wareneinkaufs).
Urteil des BAG vom 12.01.2022, Az. XII ZR 8/21:
Auf die Revisionen der Vermieterin, die nach wie vor die volle Miete verlangt, und der Beklagten Kik, die ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, hat der Bundesgerichtshof das Urteil des OLG Dresden aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
Zunächst stellt der für gewerbliches Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat klar, dass die Anwendbarkeit der mietrechtlichen Gewährleistungsvorschriften und der Regelungen des allgemeinen schuldrechtlichen Leistungsstörungsrechts, insbesondere des § 313 BGB zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, nicht durch die für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. September 2022 geltende Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB ausgeschlossen ist. Diese Regelung habe nach seinem eindeutigen Wortlaut und seinem Gesetzeszweck allein eine Beschränkung des Kündigungsrechts des Vermieters zum Ziel und sage nichts zur Höhe der geschuldeten Miete aus.
Bevor der BGH auf eine mögliche Anpassung nach § 313 BGB zu sprechen kommt, äußert er sich zum Vorliegen eines Mangels nach § 536 Abs. 1 S. 1 BGB, der zum Wegfall oder zur Minderung der Miete qua Gesetz führen würde:
Ein Mangel liege nicht vor, so der BGH. Ergeben sich aufgrund von gesetzgeberischen Maßnahmen während eines laufenden Mietverhältnisses Beeinträchtigungen des vertragsmäßigen Gebrauchs eines gewerblichen Mietobjekts, kann dies zwar einen Mangel i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang steht (so bereits BGH Urteil vom 13.7.2011 – XII ZR 189/09). Die mit der Schließungsanordnung verbundene Gebrauchsbeschränkung der Beklagten erfülle diese Voraussetzung nicht. Denn die behördlich angeordnete Geschäftsschließung knüpfe allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenden Publikumsverkehr an, der die Gefahr einer verstärkten Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus begünstigt und der aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte.
Der BGH weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch die Allgemeinverfügung weder der Vermieterin die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume im Übrigen noch der Mieterin tatsächlich oder rechtlich die Überlassung der Mieträumlichkeiten verboten wird. Das Mietobjekt stand daher trotz der Schließungsanordnung weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung.
Das Vorliegen eines Mangels i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich nach der Entscheidung des BGH auch nicht aus dem im vorliegenden Fall vereinbarten Mietzweck der Räumlichkeiten zur „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs“. Der Mieter könne nicht davon ausgehen, dass die Vermieterin mit der Vereinbarung des konkreten Mietzwecks eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten Öffnungsuntersagung im Falle einer Pandemie übernehmen wollte.
Da demnach grundsätzlich nach dem Mietvertrag die volle Miete geschuldet ist, bliebe nur noch die Möglichkeit der Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB. Dies komme in Fällen der coronabedingten Geschäftsschließung grundsätzlich in Betracht, betont der XII. Zivilsenat.
Auch bejaht der BGH das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzung des § 313 Abs. 1 BGB – der schwerwiegenden Störung der Geschäftsgrundlage des Mietvertrags durch die behördliche Schließung des Ladengeschäfts aufgrund der Coronapandemie. Hierfür spreche auch die als Reaktion auf die Coronapandemie vom Gesetzgeber neu eingefügte Regelung des Art. 240 § 7 EGBGB, wonach vermutete wird, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, wenn vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar sind.
Eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB erfolgt jedoch nur, wenn auch die weitere – normative – Voraussetzung der Vorschrift erfüllt ist. Dies setzt voraus, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
Hierbei konnte der BGH nicht auf die Vermutungsregel des Art. 240 § 7 EGBGB zurückgreifen. Denn diese führt aber nicht etwa dazu, dass stets von dem Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen des § 313 BGB auszugehen wäre: Die Regelung schafft eine tatsächliche Vermutung, dass sich ein Umstand iSd § 313 Abs. 1 BGB, der Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsabschluss schwerwiegend verändert hat. Die Vermutung ist widerleglich und gilt nur für dieses reale Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB. Das normative Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB, dass dem einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen und gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann, wird von der Vermutungsregelung nicht erfasst (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20; so auch Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5).
Der BGH stellt ausdrücklich klar, dass – wie in § 313 Abs. 1 vorgesehen – auch in Fällen der coronabedingten Ladenschließung stets eine umfassende Einzelfallabwägung erforderlich ist. Einer pauschalen Halbierung der Miete, wie sie das OLG Dresden vorgenommen hatte, schiebt der BGH damit einen Riegel vor.
Zwar ist auch nach der Ansicht des BGH regelmäßig eine Anpassung vorzunehmen, da sich durch die Covid-19-Pandemie letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht hat und die Betriebsschließung gerade nicht auf einer unternehmerischen Entscheidung oder enttäuschten Gewinnerwartung des Mieters beruhe. Daher könne das hiermit verbundene Risiko regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden. Die Entscheidung darüber, ob und in welcher Höhe eine Reduzierung der Miete erfolge, bedarf jedoch stets einer Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls.
Der BGH nennt in seiner Pressemitteilung sogleich die maßgeblichen Faktoren für die Einzelfallabwägung:
Zunächst ist zu untersuchen, welche konkreten Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden sind. Hierbei ist auf den konkreten Umsatzrückgang in dem konkreten Mietobjekt abzustellen – ein möglicher Konzernumsatz ist nicht von Belang.
Zu berücksichtigen sei auch, welche Maßnahmen der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern. In der Pressemitteilung sind noch keine konkreten Maßnahmen benannt. Man könnte hier etwa an Kurzarbeit oder verstärkten Onlinehandel denken.
Da eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage aber nicht zu einer Überkompensierung der entstandenen Verluste führen darf, sind bei der Prüfung der Unzumutbarkeit grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat. Dabei können auch Leistungen einer ggf. einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines Darlehens gewährt wurden, bleiben hingegen bei der gebotenen Abwägung außer Betracht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen erreicht.
Zudem seien auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen.
Nicht erforderlich sei eine tatsächliche Gefährdung der Existenz des Mieters. Somit erteilt der BGH bereits in diesem Verfahren auch der Rechtsprechung des OLG Karlsruhe eine Absage, über die er noch gesondert zu entscheiden hat.
Fazit:
Die Grundsätze dieser Entscheidung sollte aufgrund der enormen medialen Aufmerksamkeit sowie der Bezugspunkte zu den beliebten Prüfungsfeldern des Mietrechts sowie des allgemeinen Teils des BGB jeder Examenskandidat beherrschen.
Im Gutachten sollten der Reihe nach sämtliche Probleme geprüft werden. Stürzen sich Examenskandidaten bei der Falllösung sofort auf das Hauptproblem des § 313 BGB, so begehen sie einen großen Fehler. Ansonsten werden kostbare Punkte für die übrigen Probleme des Falls liegengelassen.
Was man aus dem Urteil auf jeden Fall mitnehmen sollte:

  • Sofern keine ausdrückliche vertragliche Regelung zur Einstandspflicht des Vermieters für den Fall einer coronabedingten Ladenschließung besteht, liegt kein Mangel gemäß § 536 Abs. 1 BGB vor.

 

  • Für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB bedarf es neben dem tatsächlichen Element der erheblichen Störung der Geschäftsgrundlage zudem eines Vorliegens des normativen Elements der Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag.

 

  • Das tatsächliche Element dürfte unproblematisch Vorliegen, diesbezüglich greift auch die Vermutung des Art. 240 § 7 EGBGB.

 

  • In der Regel ist das allgemeine Lebensrisiko der coronabedingten Ladenschließung von keiner Vertragspartei voll zu tragen. Einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters bedarf es für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB nicht.

 

  • Für die Feststellung der Unzumutbarkeit und die Bemessung der Höhe der etwaigen Reduzierung der Miete bedarf es stets einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Eine pauschale Halbierung der Miete kommt nicht in Betracht.

 

  • Maßgeblich sind insbesondere der konkrete Umsatzrückgang des gewerblichen Mieters bezogen auf das konkrete Mietobjekt, die getroffenen oder möglichen Maßnahmen des Mieters zur Verringerung des Verlustes, das Eingreifen von staatlichen Leistungen oder einer Betriebsversicherung des Mieters (nicht jedoch eines Darlehens) sowie die Interessen des Vermieters.

12.01.2022/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2022-01-12 11:41:392022-01-12 11:41:39Erstes BGH-Urteil zur Gewerberaummiete während Coronalockdown
Dr. Yannick Peisker

Schwarzfahren und das Erschleichen von Leistungen – Ein Grundlagenbeitrag

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A. Allgemeine Einführung
Gegenstand des heutigen Grundlagenbeitrags ist der Straftatbestand „Erschleichen von Leistungen“ gemäß § 265a StGB. Die Studierenden zwar im zweiten Semester bereits begegnete, wahrscheinlich aber in Vergessenheit geratene Norm, soll – auch angesichts aktueller Diskussionen – klausurtypisch aufbereitet werden.
In der Praxis erfolgt jedoch in regelmäßigen Abständen die durchaus lebhafte Diskussion, inwiefern das tatbestandlich erfasst Verhalten, insbesondere in Bezug auf das „Schwarzfahren“, einer Entkriminalisierung bedarf.
So hatte die Fraktion DIE LINKE im Jahr 2016 im Deutschen Bundestag beantragt,

„den Tatbestand der Leistungserschleichung aus § 265a StGB so abzuändern, dass die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein auch im Wiederholungsfall nicht als Straftat geahndet wird. Auch eine Ahndung als Betrug gemäß § 263 StGB ist auszuschließen.“[1]

Selbst Jan Böhmermann nahm sich zuletzt in seiner Satire-Fernsehshow „ZDF Magazin Royale“ vom 3. Dezember 2021 der Strafbarkeit des Fahrens ohne Fahrschein an.[2]
Gegenstand der Diskussionen ist dabei häufig die Frage, ob es an der Erforderlichkeit einer Strafe fehle. Die betroffenen Leistungserbringer hätten bereits ausreichende Möglichkeiten, zivilrechtlich gegen Leistungserschleicher vorzugehen, ebenso bestehe die Möglichkeit, durch technisch präventive Einrichtungen wie Zugangssperren o.ä. – so aus einigen Städten bekannt – die unbefugte Nutzung der Beförderungsmittel zu verhindern.[3]
Geschütztes Rechtsgut des § 265a StGB ist das Vermögen des Leistungserbringers.[4] Es handelt sich um ein Erfolgsdelikt, tatbestandlicher Erfolg ist das Erschleichen der vermögenswerten Leistung selbst, sowie um ein Dauerdelikt, welches mit Beginn der Leistungserbringung vollendet und mit der vollständigen Erbringung beendet ist.[5]
Die Norm fungiert als Auffangtatbestand insbesondere gegenüber § 263 StGB, denn in den heute typischen Fällen der Leistungserschleichung – so auch beim „Schwarzfahren“ – fehlt es aufgrund des reduzierten Personaleinsatzes an zu täuschenden natürlichen Personen.[6] Eine betrugsnahe Auslegung ist daher naheliegend.[7]
 
B. Prüfungsschema:
Die Prüfung des § 265a StGB gestaltet sich wie folgt:

I. Objektiver Tatbestand

1. Taugliches Tatobjekt: Entgeltliche Leistung

a) Eines Automaten

b) Eines öffentlichen Zwecken dienenden Kommunikationsnetzwerks

c) Beförderung durch ein Verkehrsmittel

d) Zutritt zu einer Veranstaltung oder Einrichtung

e) Entgeltlichkeit

2. Tathandlung: Erschleichen

II. Subjektiver Tatbestand

III. Rechtswidrigkeit und Schuld

IV. Strafantrag, § 265a StGB

 
C. Objektiver Tatbestand
Die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes erfordert die Erschleichung einer entgeltlichen Leistung, wobei diese Leistung in vier verschiedenen tatbestandlichen Varianten durch den Leistenden erbracht werden kann. Erfasst wird die Leistung eines Automaten (Var. 1), die eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes (Var. 2), die Beförderung durch ein Verkehrsmittel (Var. 3) sowie den Zutritt zu Veranstaltungen oder Einrichtungen (Var. 4).
Statistisch am häufigsten erfolgt dabei die Beförderungserschleichung in Form des klassischen „Schwarzfahrens“. Im Jahr 2020 wurden deutschlandweit 179.267 Fälle wegen Verstoßes gegen § 265a StGB erfasst, davon waren 177.037 Fälle Beförderungserschleichungen.[8]
I. Leistung eines Automaten
Ein Automat ist grundsätzlich ein Gerät, welches nach menschlicher Bedienung selbsttätig aufgrund eines (mechanischen oder elektronischen) Steuerungssystems Funktionen erfüllt.[9]
Notwendig ist, dass der Automat die Leistung selbst(tätig) erbringt – nicht erfasst werden daher Automaten, die lediglich zur Unterstützung von menschlichem Personal genutzt werden, oder bei denen die Leistungserbringung erst später erfolgt.[10] Als aus diesem Grund nicht erfasste Beispiele zu nennen sind Fahrkartenautomaten, Pfandautomaten, Parkscheinautomaten. Die Leistung für welche das Entgelt erhoben wird (Beförderung, Anspruch auf Pfandgeld, Parkmöglichkeit) werden nicht durch den Automaten gewährt, sondern nur vermittelt.[11]
Problematisch ist, welche Automatenarten erfasst werden. Differenziert wird zwischen sog. Leistungsautomaten und sog. Warenautomaten.
Leistungsautomaten sind Automaten, bei welchen das Entgelt für die selbsttätig erbrachte Leistung gezahlt wird (Bsp.: Musikbox, Spielautomat, Münztelefon, Münzfernglas), dagegen wird bei sog. Warenautomaten das Entgelt für eine Ware bezahlt, die der Automat wiederum freigibt (Bsp.: Getränkeautomat, Zigarettenautomat, Fahrscheinautomat).[12]
Nach überwiegender Auffassung werden nur die zuvor beschriebenen Leistungsautomaten, nicht jedoch Warenautomaten vom Tatbestand erfasst.[13] Hierfür wird angeführt, dass die Entnahme der Waren regelmäßig von §§ 242, 246 StGB tatbestandlich erfasst werde, sodass es der Auffangfunktion der Norm nicht bedürfe.[14] Ebenso würden auch die anderen Varianten nur unkörperliche Leistungen erfassen.[15] Dem kann entgegengehalten werden, dass der Wortlaut der Norm durchaus offen ist und der Erfassung von Warenautomaten nicht entgegensteht. Ferner bestehe bereits mit der gesetzlichen Subsidiaritätsklausel in § 265a Abs. 1 2. Hs. StGB ein Instrument, um dem Auffangcharakter des § 265a StGB gerecht zu werden, eine Einschränkung bereits auf Tatbestandsebene sei nicht erforderlich.[16] Auch lasse sich nicht trennscharf zwischen Leistungs- und Warenautomaten abgrenzen. Ein Wechselautomat gebe zwar Geld heraus, zivilrechtlich handele es sich jedoch um einen Tauschvertrag, sodass der Leistungscharakter im Vordergrund steht.[17] So gebe auch eine Waschanlage, um den Leistungsvorgang „Waschen“ zu erbringen, Wasser und Seife als Gegenstände ab.[18]
Klausurtaktisch ist es einerlei, welcher Ansicht gefolgt wird, auf der Ebene der Konkurrenzen wird § 265a StGB bei Warenautomaten regelmäßig von konkurrierenden Delikten wie § 242 StGB und § 246 StGB verdrängt.
II. Leistung eines öffentlichen Zwecken dienendes Telekommunikationsnetzwerk
Telekommunikationsnetze sind alle Datenübertragungssysteme im Fernmeldebereich (Breitbandnetz, Kabelnetz, also insbesondere Internet und Telefon).[19]
Der Öffentlichkeit dient dieses, wenn es für die Allgemeinheit errichtet wurde.[20] Irrelevant ist, ob der konkrete Netzzugang nur gegen Entgelt nutzbar ist (Pay-TV-Abo, auch dieses wird über das Internet betrieben, welches allen offensteht).[21] Nicht erfasst werden aber interne Netze, die selbst ohne Entgeltleistung nicht der Nutzung zugänglich sind (Betriebsinterne Netze).[22]
III. Beförderung durch ein Verkehrsmittel
Der Begriff des Verkehrsmittels erfasst nicht nur den öffentlichen Nahverkehr als Massenverkehr, sondern auch Individualverkehr wie z.B. Taxen, wobei im Bereich des Individualverkehrs regelmäßig eine Betrugsstrafbarkeit gemäß § 263 StGB vorliegen wird.[23]
Beförderung meint jede Form des Transports.[24]
IV. Zutritt zu Veranstaltungen oder Einrichtungen
Veranstaltungen werden definiert als ein einmaliges oder zeitlich begrenztes Geschehen, dass sich räumlich gegenständlich von seiner Umwelt abgrenzt (Konzerte, Theater, Sportereignisse).[25] Einrichtungen dagegen sind auf eine gewisse Dauer angelegte, einem bestimmten Zweck dienende Personen- oder Sachgesamtheiten (Museen, Bibliotheken, Zoos, Parkhäuser).[26]
V. Entgeltlichkeit
Erforderlich ist weiterhin, dass die jeweilige Leistung entgeltlich ist. Auch, wenn sich dieses objektive Tatbestandsmerkmal nicht explizit im Wortlaut finden lässt, ist dieses aus dem bezweckten Schutz fremder Vermögensinteressen sowie dem subjektiven Absichtserfordernis des Täters, das Entgelt nicht zu entrichten, abzuleiten.[27]
Der Begriff des Entgelts wird in § 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB definiert. Entgelt ist danach jede in einem Vermögenswert bestehende Gegenleistung. Erforderlich ist also, dass die Leistung, die der jeweilige Automat freigibt, entgeltlich ist, also nur gegen einen vermögenswerten Vorteil erworben werden kann.
Damit fallen bereits Geldwechselautomaten aus dem Tatbestand heraus, die das Geld lediglich wechseln, sofern sie hierfür keine Gebühr nehmen.[28] Selbiges gilt für Schließfächer, die nach Benutzung das eingeworfene Münzstück ausspucken.[29]
Nicht notwendig ist, dass das Entgelt direkt am Tatobjekt (Automaten, Telekommunikationsnetz, Verkehrsmittel, Einrichtung, Veranstaltung) entrichtet wird. Ausreichend ist, wenn dieses gegenüber einer anderen Person oder in einer anderen Einrichtung gezahlt wird.[30] Erforderlich und geradezu entscheidend ist jedoch, dass das Entgelt als Gegenleistung für die erbrachte Leistung entrichtet wird.
So stellt der Rundfunkbeitrag keine Gegenleistung für die Möglichkeit des Fernsehens oder Radio Hörens dar, sodass das „Schwarzsehen“ und „Schwarzhören“ tatbestandlich mangels entgeltlicher Leistung nicht erfasst werden.[31]
Unproblematisch bejaht werden kann dieses Merkmal dagegen bei der Beförderungserschleichung, denn nahezu jedes öffentliche Verkehrsmittel darf nur gegen (vorherige) Entrichtung des Ticketpreises genutzt werden.
Selbiges gilt für den Zutritt zu einer Einrichtung oder Veranstaltung. Interessante Konstellation ist hier jedoch der Zutritt zu einem Parkhaus. Da der Zutritt selbst hier nicht entgeltpflichtig ist, sondern erst das Verlassen des Parkhauses, kann sich der Zutritt zum Parkhaus mangels eines zu zahlenden Entgelts nicht tatbestandlich erschlichen werden.[32] Auch das spätere Umgehen der Schranke zur Ausfahrt ist tatbestandlich nicht erfasst, da das Entgelt nicht für das Hochfahren der Schranke, sondern für die Parkmöglichkeit geleistet wird.[33]
Hier gilt daher für die Klausur: Eine präzise Differenzierung und eine Betrachtung unter Berücksichtigung einer Anschauung des täglichen Lebens vermag zu einer deutlich überdurchschnittlichen Note zu führen.
VI. Tathandlung: Erschleichen
Nachdem die tauglichen Tatobjekte bereits ausführlich erläutert wurden, muss sich nun zwingend der Tathandlung Erschleichen zugewendet werden.
Ein Erschleichen setzt jedenfalls ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus. Mithin hat ein Einverständnis keine rechtfertigende, sondern bereits tatbestandsausschließende Wirkung.[34] Zudem erfordert der Wortsinn, dass nicht gewalttätig vorgegangen wird.[35]
Allgemein wird unter einem Erschleichen das Erlangen der Leistung unter Überwindung oder Umgehung einer den entgegenstehenden Willen des Leistenden sichernden Vorkehrung verstanden.[36] Aufgrund der inhaltlichen Nähe zum Betrugstatbestand muss die Überwindung oder Umgehung täuschungsähnlich erfolgen.[37]
Tatbestandlich erfasst sind damit:

– Einwerfen von Falschgeld in einen Automaten[38]

– Verwendung von nicht autorisierten Karten zur Entschlüsselung von Pay-TV[39]

– Nutzung gefälschter Handy-Chip-Karten[40]

Bei der Zutrittserschleichung finden sich regelmäßig zumindest automatisierte Kontrollen, sodass auch hier insbesondere das Übersteigen einer Absperrung oder die Benutzung eines Notausgangs oder anderen unbenutzten Eingangs tatbestandlich erfasst sind.[41]
Tatbestandlich nicht erfasst ist:

– Das bloße Ausnutzen eines Gerätedefekts[42]

– Die unberechtigte Inanspruchnahme bei ordnungsgemäßer Bedienung, wie z.B. das Bedienen eines Glücksspielautomaten in Kenntnis des Programms[43]

– Störanrufe mangels Umgehung einer Sicherheitsvorkehrung[44]

Problematisch – und zentraler Problempunkt des § 265a StGB – ist, ob von diesem Verständnis im Rahmen der Beförderungserschleichung abgewichen werden soll.
Nach einer vorwiegend in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung soll es bereits ausreichen, wenn der Täter die Leistung in Anspruch nimmt und sich dabei mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt – unerheblich ist die Überwindung oder Umgehung eines Hindernisses.[45]
Nach Auffassung des BGH sprechen die folgenden Argumente für ein solch weites Verständnis:

„Der Wortlaut der Norm setzt weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Nach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der „Erschleichung” lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege [..]. Er enthält allenfalls ein „täuschungsähnliches” Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss.
[…] Da das Tatbestandsmerkmal schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung eine weitere Auslegung zulässt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung widersprechende Verhalten zu verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt […].
Die Vorschrift des § 265a StGB geht, soweit sie das „Schwarzfahren” unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. 6. 1935 zurück (RGBl. I, 839, 842). Sie sollte vor allem die Lücke schließen, die sich bei der Erschleichung von Massenleistungen bezüglich der Anwendung des § 263 StGB ergaben […].
Die im Jahre 1935 eingeführte Vorschrift des § 265a StGB entsprach fast wörtlich dem § 347 StGB (Erschleichen freien Zutritts) des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, in dessen Begründung es u.a. heißt: „Erschleichen ist nicht gleichbedeutend mit Einschleichen. Auch wer offen durch die Sperre geht, sich dabei aber so benimmt, als habe er das Eintrittsgeld entrichtet, erschleicht den Eintritt. Auch ein bloß passives Verhalten kann den Tatbestand des Erschleichens erfüllen; so fällt auch der Fahrgast einer Straßenbahn unter die Strafdrohung, der sich entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht um die Erlangung eines Fahrscheins kümmert” (Materialien zur Strafrechtsreform, 4. Bd., Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927 mit Begr. und 2 Anlagen [Reichstagsvorlage], 1954 [Nachdruck], S. 178, 179; Die Strafrechtsnovellen v. 28. 6. 1935 und die amtl. Begründungen, Amtl. Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 10, S. 41).
Die Vorschrift sollte also gerade diejenigen Fälle erfassen, in denen es unklar bleibt, ob der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht. Der gesetzgeberische Wille ist nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil sich die bei Schaffung des Gesetzes bestehenden Verhältnisse insoweit geändert haben, als heute, auch zu Gunsten einer kostengünstigeren Tarifgestaltung, auf Fahrscheinkontrollen weitgehend verzichtet wird […].“.[46]

Der Rechtsprechung entgegengehalten wird insbesondere, dass ein solcher Wortsinn nicht zwingend sei, vielmehr setze ein Erschleichen ein Ergaunern, Heimlichkeit oder List voraus, wovon bei der bloßen Inanspruchnahme der Leistung nicht ausgegangen werden könne.[47] Ferner könne es keinen Anschein der Ordnungsmäßigkeit geben, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder Fahrgast einen Fahrschein mit sich führe. Insofern fehle es bereits an einer Verkehrsanschauung, wie sich ein ordnungsgemäßer Fahrgast verhalte.[48] Im Übrigen werde die Nähe zum Betrug so überdehnt, denn § 263 StGB schütze nicht bereits vor der unberechtigten Inanspruchnahme der Leistung, sondern vor Angriffen gegen die Entscheidungsfreiheit.[49]
Weiterhin bleibt unklar, wann und in welcher Form der Anschein der Ordnungsmäßigkeit durchbrochen werden kann. So reiche nach Auffassung des OLG Hamm selbst das vorherige Senden eines Briefes mit der Ankündigung der Schwarzfahrt an den Verkehrsbetrieb nicht aus, vielmehr sei der Anschein der Ordnungsmäßigkeit gegenüber den eingesetzten Kontrolleuren selbst maßgeblich.[50] Dies erscheint mit Blick auf die Tatsache, dass der Schutz des Vermögens der Leistungserbringer – also der Verkehrsbetriebe – geschützt werden soll, nicht konsistent.
Allerdings soll auch das Anbringen eines Aufnähers oder Kärtchens mit dem Text „Ich fahre umsonst“ an der Kleidung nicht ausreichen, um den Anschein der Ordnungsmäßigkeit zu durchbrechen.[51] Hierdurch würde der Täter nicht in offener und unmissverständlicher Art und Weise zum Ausdruck bringen, den Fahrpreis nicht zu entrichten.[52] Ein solcher Hinweis könne auch als bloße Provokation oder als ein Eintreten für freies Fahren in Bus und Bahn in Form einer politischen Stellungnahme verstanden werden.[53]
Zuletzt wird in systematischer Hinsicht gegen die Auffassung der Rechtsprechung angeführt, dass in allen anderen Varianten ein Erschleichen abgelehnt wird, wenn keine Zugangsbarriere besteht.[54] Dagegen hält der BGH, dass die übrigen Leistungen im Gegensatz zur Beförderung nur auf spezielle Anforderung hin erbracht werden, die Beförderungsleistung aber auch ohne ein konkretes Anfordern bereits vorhanden ist.[55]
Damit fordern weite Teile der Literatur auch innerhalb der Beförderungserschleichung ein Überwinden oder Umgehen präventiver Kontrollen oder sonstiger Vorrichtungen tatbestandlich zu prüfen.[56]
Der zuvor dargestellte Streit kann in der Klausur beliebig entschieden werden. Allerdings sollte, sofern der Sachverhalt Anhaltspunkte dafür liefert, dass der Klausurersteller eine Subsumtion zur Problematik des „offenen und unmissverständlichen zum Ausdruck bringen“ bezwecket, sich zwar argumentativ mit beiden Positionen auseinandergesetzt werden, im Ergebnis jedoch der Rechtsprechung gefolgt werden. Dies gilt erst Recht im Zweiten Staatsexamen.
D. Subjektiver Tatbestand
In subjektiver Hinsicht muss der gesamte objektive Tatbestand zunächst vom Vorsatz umfasst sein, hierfür genügt dolus eventualis.[57] Glaubt der Täter, er habe eine Fahrkarte dabei, handelt er nicht vorsätzlich.[58]
Weiterhin muss der Täter ausweislich des Wortlautes mit der Absicht handeln, dass Entgelt nicht zu entrichten. Hierfür bedarf es eines zielgerichteten Willens des Täters.[59] Entscheidend ist in Klausuren oftmals, dass der Vorsatz gerade zum Zeitpunkt der Tathandlung vorliegen muss (sog. Koinzidenzprinzip). Wer bereits ausreichend zur Bejahung der Absicht ist es jedoch, wenn die Entgeltvermeidung nicht das alleinige Ziel des Täters ist, sondern lediglich notwendiges Zwischenziel, um das eigentliche Ziel zu erreichen.[60]
E. Weiteres
Mit Erbringen der tatbestandlichen Leistung ist die Erschleichung vollendet, hierfür genügt der Beginn der Leistungserbringung.[61] Beendet ist die Tat mit dem Ende der Leistungserbringung.[62] Nicht erforderlich ist, dass der Täter die Leistung selbst entgegennimmt oder beansprucht, auch die Leistungserschleichung für Dritte ist ohne Weiteres erfasst.[63]
Die Strafbarkeit des Versuches ist – aufgrund der Eigenschaft des Deliktes als Vergehen – ausdrücklich in § 265a Abs. 2 StGB normiert.
265a Abs. 1 StGB enthält eine Subsidiaritätsklausel, sodass das Erschleichen von Leistungen formell subsidiär gegenüber ebenfalls verwirklichten Delikten ist, sofern die Tat dort mit schwererer Strafe bedroht ist. Die Subsidiaritätsklausel ist wörtlich zwar nicht beschränkt, nach teilweise vertretener Ansicht ist die Vorschrift jedoch nur gegenüber Delikten mit derselben Angriffsrichtung subsidiär, so etwa zu Vermögens- und Eigentumsdelikten wie z.B. §§ 263, 242, 263a StGB, nicht aber zu §§ 123, 146, 147, 267 StGB, denn Sinn und Zweck ist die Schließung von Strafbarkeitslücken insbesondere in Bezug auf § 263 StGB.[64] Zu anderen Delikten mit abweichender Angriffsrichtung soll daher Tateinheit möglich sein.[65] Andere vertreten, dass die Vorschrift gegenüber sämtlichen schwereren Delikten subsidiär ist.[66]
F. Summa
Der vorangegangene Grundlagenbeitrag zeigt, Diskussionen rund um die Strafwürdigkeit des tatbestandlich erfassten Verhaltens, insbesondere rund um die Beförderungserschleichung, sind durchaus begründet. Durch die weitreichende Position der Rechtsprechung – die sich jedoch aufgrund der vorgebrachten Argumente durchaus auch in der aktuellen Diskussion sehr gut vertreten lässt – wird nahezu jede Inanspruchnahme eines Beförderungsmittels ohne Fahrschein pönalisiert.
Allerdings darf nicht vergessen werden, auch abseits der Beförderungserschleichung besitzt die Norm einen – wenn auch praktisch nur geringen – Anwendungsbereich, der in der Klausur durchaus höher ausfallen kann.
Insgesamt betrachtet hält sich die Examensrelevanz des § 265a StGB in Grenzen, entscheidet das zuvor vermittelte Wissen regelmäßig nur über das Bestehen. Wird über den Klausurschwerpunkt hinaus jedoch auch der § 265a StGB sauber geprüft, sind gute Noten garantiert.
[1] BT-Drs. 18/7374, S. 1.
[2] ZDF Magazin Royal, abrufbar unter: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html; ab Minute 11:20, letzter Abruf v. 23.12.2021.
[3] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 11 ff.; Hefendehl, JA 2011, 401, 406; Stolle, StudZR 2006, 27, 38.
[4] BayObLG, Urt. v. 18.7.1985 – RReg. 5 St 112/85, NJW 1986, 1504.
[5] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 4.
[6] Mitsch, NZV 2019, 70.
[7] Mitsch, NZV 2019, 70.
[8] Polizeiliche Kriminalstatistik 2020 Bund; abrufbar unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2020/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen.html?nn=145506, letzter Abruf v. 23.12.2021.
[9] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 3.
[10] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 4.
[11] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 26.
[12] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Hellmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 18.
[13] U.a. BGH, Urt. v. 22.4.1952 – 2 StR 101/52, MDR 1952, 563; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1999 – 5 Ss 291/98 – 71/98 I, NJW 2000, 158.
[14] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 19.
[15] Kudlich, JuS 2001, 20, 21.
[16] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 33.
[17] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 37; Kudlich, JuS 2001, 20, 22.
[18] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 6.
[19] Lackner/Kühl/ Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 3.
[20] RG, Urt. v. 10.12.1896 – 3777/96, RGSt 29, 244 f.
[21] BeckOK StGB/Valerius, Stand 1.11.2021, § 265a StGB Rn. 13.
[22] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 7.
[23] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 59.
[24] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 6.
[25] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 9.
[26] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 7; Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 9.
[27] BeckOK StGB/Valerius, Stand 1.11.2021, § 265a StGB Rn. 10.
[28] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1999 – 5 Ss 291/98 – 71/98 II, NJW 2000, 158.
[29] Hichrichs, ZJS 2013, 407, 416.
[30] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 23, 89.
[31] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 30.
[32] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 92.
[33] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 7; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 92.
[34] Etter, CR 1988, 1021, 2022.
[35] BVerfG, Beschl. v. 9.2.1998 – 2 BvR 1907/97, NJW 1998, 1135, 1136.
[36] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 10.
[37] Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 6a.
[38] BGH, Beschl. v. 23.4.1985 – 1 StR 164/85, BeckRS 1985, 05500.
[39] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 146.
[40] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 146.
[41] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 19.
[42] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 138; Fischer, NJW 1988, 1828, 1829.
[43] LG Freiburg, Beschl. v. 17.4.1990 – IV Qs 33/90, NStZ 1990, 343.
[44] Schönke/Schröder/Perron, 10. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 10.
[45] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211; OLG Hamburg, Urt. v. 18.12.1990 – 2a Ss 119/90, NStZ 1991, 587; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.10.1991 – 130/91 I, NStZ 1992, 84; OLG Stuttgart, Urt. v. 10.03.1989 – 1 Ss 635/88, NJW 1990, 924; letztlich bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 9.2.1998 – 2 BvR 1907-97, NJW 1998, 1135.
[46] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211, Rn. 12 ff.
[47] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 162.
[48] Exner, JuS 2009, 990, 992 f.; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 165.
[49] Exner, JuS 2009, 990, 993.
[50] OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2011 – 5 RVs 1/11, NStZ 3022, 206, 207.
[51] OLG Frankfurt, Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16, BeckRS 2016, 112425.
[52] OLG Frankfurt, Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16, BeckRS 2016, 112425 Rn. 9.
[53] KG, Beschl. v. 2.3.2011 – (4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2011, 2600.
[54] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 172.
[55] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211, Rn. 21.
[56] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 177; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 37; Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 6a; Albrecht, NStZ 1988, 222, 224.
[57] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 45.
[58] OLG Koblenz, Beschl. v. 11.10.1999 – 2 Ss 250/99, NJW 2000, 86, 87.
[59] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 46.
[60] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 192.
[61] BayObLG, Beschl. v. 4.7.2001 – 5 St RR 169/01, BeckRS 2001, 30190872.
[62] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 205.
[63] MüKo StGB/Hefendehl,3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 200.
[64] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 14.
[65] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn 21.
[66] Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 8; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 213.

06.01.2022/1 Kommentar/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-01-06 09:00:332022-01-06 09:00:33Schwarzfahren und das Erschleichen von Leistungen – Ein Grundlagenbeitrag
Dr. Yannick Peisker

Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 2: Der Nacherfüllungsanspruch

Examensvorbereitung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Tagesgeschehen, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht

Jurastudenten und auch Praktiker werden die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegengenommen haben – mit dem Beginn des Jahres 2022 stehen größere Änderung im allseits prüfungs- und praxisrelevanten Kaufrecht an. Juraexamen.info gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen, die aufgrund der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 im Kaufrecht der §§ 433 ff. BGB erfolgen. Hierzu veröffentlichen wir eine Reihe von Beiträgen – in diesem zweiten Teil der Reihe steht der Nacherfüllungsanspruch des Käufers im Fokus.
I. Anforderungen der Richtlinie (EU) 2019/771 an die Nacherfüllung
Genuin unionsrechtliche Vorgaben und Anforderungen an die Nacherfüllung in Gestalt der Nachbesserung oder Nachlieferung trifft die Richtlinie (EU) 2019/771 in Art. 14.
Art. 14 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2019/771 beschreibt die Art und Weise der Erfüllung von Nachbesserung und Nachlieferung. Dies habe unentgeltlich (lit. a); innerhalb einer angemessenen Frist ab dem Zeitpunkt, zu dem der Verbraucher den Verkäufer über die Vertragswidrigkeit unterrichtet hat (lit. b) und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher zu erfolgen, wobei die Art der Waren sowie der Zweck, für den der Verbraucher die Waren benötigt, zu berücksichtigen sind (lit. c).
Abs. 2 regelt nunmehr die Frage, wie mit der mangelbehafteten Ware zu verfahren ist. Sofern die Vertragswidrigkeit durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung beseitigt wird, stellt der Verbraucher die Ware dem Verkäufer zur Verfügung. Der Verkäufer muss diese ersetzten Waren auf seine Kosten zurücknehmen.
Abs. 3 betrifft die Problematik der Nacherfüllung bei eingebauten Waren. Erfordert die Nachbesserung deren Entfernung, umfasst die Nacherfüllungspflicht nunmehr ausdrücklich die Entfernung der mangelbehafteten Ware sowie Montage oder Installierung nach Nachbesserung oder Nachlieferung, oder aber auch eine entsprechende Kostenübernahme.
Zuletzt regelt Abs. 4, dass der Verbraucher für eine normale Verwendung der ersetzten Waren für die Zeit vor der Ersetzung nicht zu zahlen braucht.
Um diese in der Richtlinie (EU) 2019/771 getroffenen Anforderungen in nationales Recht umzusetzen, hat der Gesetzgeber einige Anpassungen des § 439 BGB vorgenommen.
II. Die Umsetzung in deutschen Recht
Textliche Änderungen hat der Gesetzgeber durch Gesetz v. 25.6.2021 (BGBl. I S. 2133) durch Anpassung des Abs. 3 S. 1, durch Streichung des Abs. 3 S. 2, durch Einfügen eines neuen Abs. 5 und die Verschiebung des bisherigen Abs. 5 in Abs. 6 verbunden mit der Einführung eines neuen Abs. 6 S. 2 vorgenommen. Nachfolgend sollen die einzelnen Änderungen untersucht und ihre Auswirkung auf die bisher geltende Rechtslage beurteilt werden.
1. Aufwendungen für den Aus- und Einbau, § 439 Abs. 3 BGB nF.
439 Abs. 3 BGB betrifft die klassischen Einbaufälle, in denen der Käufer die gekaufte Sache in eine andere Sache eingebaut, oder an eine andere Sache angebracht hat. Abs. 3 S. 1 verpflichtet in diesem Fällen, sofern der Einbau oder die Anbringung der Art der gekauften Sache und ihrem Verwendungszweck entspricht, den Verkäufer dazu, die erforderlichen Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften Sache und den Einbau oder das Anbringen der mangelhaften Sache zu tragen.
Wichtig ist: Diese Pflicht wird durch die Neuregelung des Abs. 3 im Grundsatz nicht angerührt.
Lediglich der Ausnahmetatbestand ist betroffen. So verwies § 439 Abs. 3 S. 2 BGB aF. auf § 442 Abs. 1, wobei es für die Kenntnis des Käufers auf den Zeitpunkt des Einbaus/Anbringens ankam. Dies hatte nach früherer Rechtslage zur Folge, dass der Anspruch des Käufers auf Aufwendungsersatz nach Abs. 3 S. 1 in den Fällen ausgeschlossen war, in denen er bereits bei Einbau oder Anbringen der gekauften Sache Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von ihrer Mangelhaftigkeit besaß. Mit dieser Vorschrift setzte der nationale Gesetzgeber seinerseits (überschießend, also nicht nur für Verbraucher, sondern für alle Käufe geltend) die Rechtsprechung des EuGH um, nach der ein Ersatz von Aus- und Einbaukosten nur bei Gutgläubigkeit des Verbrauchers bestehen könne (BT-Drs. 19/27424, 26).
Dieser Ausnahmetatbestand des S. 2 fällt nunmehr weg.
Stattdessen wurde Abs. 3 S. 1 dergestalt angepasst, dass ein Aufwendungsersatzanspruch nur besteht, wenn die Sache eingebaut oder angebracht wurde „bevor der Mangel offenbar wurde“. Was genau unter dieser Begrifflichkeit zu verstehen ist, bleibt ungeklärt. Die Richtlinie (EU) 2019/771 selbst verhält sich hierzu nicht, ebenso wenig die nationalen Regelungen.
Vertreten lässt sich sowohl eine objektive Sichtweise, sodass es auf die Erkenntnismöglichkeit eines Durchschnittskäufers ankomme (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067), jedoch scheint auch eine Betrachtungsweise aus Sicht des Käufers nicht ausgeschlossen.
Darüber hinaus ist fraglich, ob die positive Kenntnis entscheidend und erforderlich ist, oder ob bereits grob oder einfach fahrlässige Unkenntnis ausreichend ist. Mit Blick auf die EuGH Entscheidung zur Richtlinie (EG) 1999/44, der die Gutgläubigkeit des Käufers forderte (EuGH, Urt. v. 16.6.2011 – C-65/09, C-87/09, NJW 2011, 2269) und die frühere Umsetzung in nationales Recht durch Verweis auf § 442 BGB, ist davon auszugehen, dass auch vorliegend bereits grob fahrlässige Unkenntnis schädlich ist. Sofern der nationale Gesetzgeber eine anderweitige Regelung hätte treffen wollen, hätte er dies in der Gesetzesbegründung wohl deutlicher hervorgehoben.
Rechtlich bringt die Änderung des § 439 Abs. 3 BGB nach hier vertretener Auffassung daher keine Änderungen, das letzte Wort ist hier jedoch juristisch noch nicht gesprochen.
In dem Zusammenhang soll kursorisch erwähnt werden, dass die bisherige Regelung des § 475 Abs. 4 BGB aF. ersatzlos gestrichen wurde. Der dortige S. 2 sah die Möglichkeit des Verkäufers vor, den Aufwendungsersatz nach Abs. 3 S. 1 auf einen angemessenen Betrag zu beschränken, sofern die andere Art der Nacherfüllung wegen der Höhe der Aufwendungen nach § 439 Abs. 2 oder Abs. 3 S. 1 BGB unverhältnismäßig ist. Diese Vorschrift galt aufgrund ihrer Verortung in § 475 BGB ausschließlich für den Kauf einer Ware eines Verbrauchers von einem Unternehmer. Diese Schlechterstellung des Verbrauchers im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufes gegenüber anderen Käufern wird nunmehr aufgehoben. Eine Beschränkung auf einen angemessenen Betrag ist daher nicht mehr möglich.
2.Verweigerung der Nacherfüllung, § 439 Abs. 4 BGB nF.
§ 439 Abs. 4 BGB selbst bleibt unverändert. An dieser Stelle soll jedoch erneut auf den ersatzlosen Wegfall des § 475 Abs. 4 BGB aF. hingewiesen werden. Nach alter Rechtslage stand dem Unternehmer als Verkäufer, wenn die eine Art der Nacherfüllung nach § 275 Abs. 1 BGB ausgeschlossen war oder der Unternehmer sie nach § 275 Abs. 2 oder 3 BGB oder § 439 Abs. 4 S. 1 BGB verweigern konnte, in Bezug auf die andere Art der Nacherfüllung nicht der Einwand des § 439 Abs. 4 S. 1 BGB zu. Es bestand daher nur ein relatives Verweigerungsrecht des Verkäufers (BeckOK BGB/Faust, 60. Ed. Stand 1.11.2021, § 475 Rn. 33 ff.).
Mit der Abschaffung dieser Regelung kann sich der Verkäufer daher auch im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs auf eine Totalverweigerung berufen (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2069).
3. Pflicht des Käufers, dem Verkäufer die Sache zur Verfügung zu stellen, § 439 Abs. 5 BGB nF.
§ 439 Abs. 5 BGB regelt nunmehr ausdrücklich die Pflicht des Käufers, dem Verkäufer die Sache zum Zwecke der Nacherfüllung zur Verfügung zu stellen.
Dies stellt im Grundsatz eine Kodifikation bisher geltender Rechtsprechungsgrundsätze dar. Denn nach bisheriger Judikatur des BGH liegt kein taugliches Nacherfüllungsverlangen vor, solange der Käufer dem Verkäufer keine Gelegenheit biete, die Ware zu begutachten und sie ihm hierfür nicht am Erfüllungsort der Nacherfüllung zur Verfügung stelle (BGH, Urt. v. 19.7.2017 – VIII ZR 278/16, NJW 2017, 2758 Rn. 21). Nach bisher geltender Rechtslage handelt es sich bei der Überlassung der mangelbehafteten Kaufsache an den Verkäufer um eine Obliegenheit des Käufers. Ohne ein taugliches Nacherfüllungsverlangen liegt keine ordnungsgemäße Fristsetzung innerhalb der §§ 281, 323 BGB vor, sodass die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Rücktritts, Schadensersatz und Minderung regelmäßig ausgeschlossen ist (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067).
Wohingegen einige Autoren die nunmehr ausdrückliche Kodifikation weiterhin als Obliegenheit einordnen wollen (so wohl Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067), spricht vieles dafür, nunmehr von einer erzwingbaren rechtlichen Pflicht auszugehen.
So wird in der Begründung zum Gesetzentwurf wie folgt formuliert:

„Mit § 439 Absatz 5 BGBE wird dies nunmehr gesetzlich geregelt. Systematik und Wortlaut der unionsrechtlichen Vorgabe deuten indes darauf hin, dass es sich nicht bloß um eine Obliegenheit des Käufers handelt, sondern um eine erzwingbare Pflicht.“

Eine rechtliche Pflicht genießt gegenüber einer Obliegenheit den Vorteil, dass sie vom Verkäufer (Schuldner) dem Käufer (Gläubiger) des Nacherfüllungsanspruches als Einrede gemäß § 273 BGB entgegengehalten werden kann – bereits dieser ist somit nicht durchsetzbar (Wilke, VuR 2021, 283, 289). Darüber hinaus ist ein Nacherfüllungsverlangen zur Geltendmachung der Rechte aus § 437 BGB insbesondere im Verbrauchsgüterkauf nicht immer notwendig (siehe § 475d BGB). Diese Rechte aus § 437 BGB, insbesondere § 323 und § 281 BGB, setzen jedoch einen fälligen und einredefreien Anspruch voraus, welcher im Falle der Einordnung als Pflicht – und damit nicht als Obliegenheit – aufgrund von § 273 BGB gerade nicht besteht. Dies zeigt die rechtliche Schwäche einer Einordnung als Obliegenheit auf.
4. Erfüllungsort der Nacherfüllung
Zum Erfüllungsort selbst verhält sich die Richtlinie (EU) 2019/771 oder auch das BGB nicht. Es ist daher davon auszugehen, dass auch in Zukunft die bisherige Rechtsprechung des BGH Geltung entfacht (nachzulesen in BGH, Urt. v. 19.7.2017 – VIII ZR 278/16, NJW 2017, 2758 Rn. 21 ff.). Danach gilt auch im Kaufrecht grundsätzlich die allgemeine Vorschrift des § 269 BGB. Bei einem Verbrauchsgüterkauf kommt es somit entscheidend darauf an, ob die Nacherfüllung mit solchen Unannehmlichkeiten verbunden ist, dass der Erfüllungsort ausnahmsweise am Wohnsitz des Verbrauchers liegt. Das Abstellen auf die mit der Nacherfüllung verbundenen Unannehmlichkeiten in diesem Rahmen findet in Art. 14 Abs. 1 lit. d Richtlinie (EU) 2019/771 erneut eine brauchbare Stütze im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des § 269 BGB.
5. Rücknahmepflicht des Verkäufers, § 439 Abs. 6 S. 2 BGB nF.
Korrespondierend zur Überlassungspflicht des Käufers regelt § 439 Abs. 6 S. 2 BGB nF. die Pflicht des Verkäufers, die ersetzte Sache zurückzunehmen. Dieser S. 2 steht in Zusammenhang mit Abs. 6 S. 1. Es handelt sich hierbei um den § 439 Abs. 5 BGB aF. Nach dieser Norm kann der Verkäufer Rückgewähr der mangelhaften Sache nach Maßgabe der §§ 346 bis 348 BGB verlangen, sofern er zum Zwecke der Nacherfüllung eine mangelfreie Sache liefert.
Abs. 6 S. 2 betrifft damit die Konstellation, dass der Verkäufer eine neue Sache im Wege der Nachlieferung bereitstellt, er aber die alte Sache nicht zurücknimmt. Aus der Praxis dürfte dies insbesondere bei großen Versandhändlern der Fall sein, die den mit der Rücknahme einer defekten Sache verbundenen Aufwand nicht tragen wollen.
Bereits ohne ausdrückliche Normierung der Pflicht des Verkäufers, die ersetzte Sache zurückzunehmen, war jedoch nach alter Rechtslage anerkannt, dass die Rücknahmepflicht einer mangelhaften Sache Kehrseite der aus § 433 Abs. 2 BGB folgenden Abnahmeverpflichtung des Käufers darstellt (OLG Köln, Urt. v. 21.12.2005 – 11 U 46/05, NJW-RR 2006, 677; BeckOK BGB/Faust, 60 Ed. Stand 1.11.2021, § 439 Rn. 28). Nichtsdestotrotz tendierte der BGH bisher dazu, eine entsprechende Rücknahmeverpflichtung des Verkäufers nur bei einem berechtigten oder besonderen Interesse des Käufers anzunehmen (BGH, Urt. v. 9.3.1983 – VIII ZR 11/82, NJW 1983, 1479, 1480). Diese Position hat sich jedenfalls mit der ausdrücklichen Kodifizierung der Rücknahmeverpflichtung des Verkäufers erledigt.
6. Summa: Kaum rechtliche Änderungen
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die rechtliche Beurteilung des Nacherfüllungsanspruches sich auch nach dem 1.1.2022 größtenteils nicht ändern wird. Für das Examen bedarf es hier daher nur kaum einer inhaltlichen Auffrischung.
Neu sein dürfte die Einordnung der Überlassung der Kaufsache an den Verkäufer bei ihrer Mangelhaftigkeit als rechtliche Pflicht des Käufers sein, mit den oben dargestellten Folgen in Bezug auf die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Frage des tauglichen Nacherfüllungsverlangens. Hier lohnt es sich, auch in der Klausur präzise zu arbeiten und den Unterschied zwischen Obliegenheit und rechtlicher Pflicht herauszuarbeiten.
Zur Rechtssicherheit trägt die Kodifikation der Verkäuferpflicht zur Rücknahme der mangelhaften Kaufsache bei Neulieferung bei, hier kommt es nun nicht mehr auf das Vorliegen eines berechtigten Käuferinteresses an.
Rechtsunsicherheit wird durch die Richtlinie (EU) 2019/771 und die mit ihr verbundenen Änderungen im nationalen Recht lediglich im Rahmen der klassischen Einbaufälle geschaffen. So bedarf es in Zukunft der gerichtlichen Klärung, wann der Mangel „offenbar“ wird. Einer Problematisierung bedarf es hier daher in jedem Falle auch in der Prüfungssituation.

03.01.2022/0 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-01-03 09:00:112022-01-03 09:00:11Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 2: Der Nacherfüllungsanspruch
Dr. Lena Bleckmann

BGH: Neues zur Anstiftung durch den agent provocateur

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In seinem Urteil vom 16.12.2021 (Az. 1 StR 197/21) äußerte sich der BGH zur allseits beliebten Fallkonstellation der An- bzw. Aufstiftung durch einen verdeckten Ermittler. Die sog. agent provocateur-Fälle sind ein Klassiker im Allgemeinen Teil des Strafrechts – die neue Entscheidung sollte Anlass geben, die wichtigsten Eckpunkte der Problemstellung zu wiederholen.
I. Was ist passiert? (Sachverhalt gekürzt und leicht abgewandelt)
Der Sachverhalt ist schnell erzählt. Die nicht einschlägig vorbestraften T und M handelten gemeinsam mit Betäubungsmittelprodukten. Hiervon erfuhren offenbar auch die Strafverfolgungsbehörden – Anfang März 2020 nahm daher der verdeckte Ermittler V Kontakt zu T auf, um eine kleinere Menge Marihuana zu erwerben. Zugleich fragte V, ob es auch möglich sei, größere Mengen zu erwerben. Hieran schlossen sich mehrere Betäubungsmittelkäufe des V bei T an, bei denen V immer wieder nach größeren Mengen fragte (3kg Marihuana und 50 bis 100g Kokain). Das entsprach nicht den Mengen, mit denen T und  M üblicherweise handelten, sie konnten aber schließlich über den D die Betäubungsmittel in entsprechendem Umfang besorgen. Bei der vereinbarten Übergabe an V erfolgte die Festnahme von T und M.
II. Die Strafbarkeit des Lockspitzels in der Strafrechtsklausur
Derartige Konstellationen sind der Strafrechtswissenschaft nicht unbekannt. Unter dem Begriff des Lockspitzels oder agent provocateur wird insbesondere die Problematik der Strafbarkeit desjenigen erörtert, der – beispielweise als verdeckter Ermittler – andere zu einer Straftat veranlasst, gerade um deren Festnahme zu veranlassen (vgl. BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 22; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 21). Hier nur eine knappe Rekapitulation der Problematik – sofern hier Lücken bestehen, wird eine entsprechende Wiederholung dringend empfohlen.
Zu erörtern ist das Problem beim Prüfungspunkt des doppelten Anstiftervorsatzes. Dieser muss sich, so viel sollte bekannt sein, sowohl auf die Anstiftung, d.h. auf die Bestimmenshandlung, als auch auf die Vollendung der vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat beziehen (BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 19). Auf dieser Grundlage lässt sich die Strafbarkeit des Lockspitzels, der auf eine Festnahme des Täters schon im Versuchsstadium abzielt, bereits verneinen: Er hat keinen Vorsatz hinsichtlich der Vollendung der Haupttat und verwirklicht damit nicht den subjektiven Tatbestand der Anstiftung (so die hM, siehe (BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 22; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 21). Grund für die Einschränkung dahingehend, dass sich der Vorsatz des Anstifters auch auf die Vollendung der Haupttat richten muss, ist der Strafgrund der Teilnahme: Das Unrecht der Teilnahme besteht darin, dass ein über den Haupttäter vermittelter Angriff auf das geschützte Rechtsgut erfolgt oder nach dem Vorsatz zumindest erfolgen soll, denn nur dann liegt ein strafwürdiges, sozialschädliches Verhalten vor (vgl. Rönnau, JuS 2015, 19).
Schwieriger – und damit umso klausurrelevanter – ist die Frage der Strafbarkeit des agent provocateur, der zwar die formelle Vollendung der Haupttat anstrebt bzw. vorhersieht, nicht aber deren materielle Beendigung. Lehrbuchbeispiel ist der Einbruchdiebstahl, bei dem die Festnahme des angestifteten Haupttäters erst nach Verlassen des Hauses erfolgen soll (Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 23; Rönnau, JuS 2015, 19 (20)). Auch und gerade beim Handel mit Betäubungsmitteln, um den es auch in der genannten Entscheidung des BGH ging, spielt diese Konstellation eine Rolle. Der Handel als solcher ist zum Zeitpunkt der Festnahme meist bereits erfolgt (BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 78). Dasselbe Problem stellt sich auch bei allen anderen Tätigkeitsdelikten (Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 23). Auch hier gelangt die herrschende Meinung jedoch zur Straflosigkeit des Lockspitzels – weil eine tatsächliche Verletzung des geschützten Rechtsguts nicht gewollt ist, soll trotz materieller Vollendung der Tat keine strafrechtlich relevante Anstiftung vorliegen (Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 23 m.w.N.; ausführlich auch Rönnau, JuS 2015, 19 (20 f.); zu Betäubungsmitteldelikten insbesondere OLG Oldenburg, Beschl. v. 4.3.1999 – Ss 40-00, NJW 1999, 2751).
III. Die Verurteilung des zur Tat provozierten Haupttäters
Doch all das soll an dieser Stelle gar nicht im Fokus stehen. Bevor sich der Klausurkandidat mit der Strafbarkeit des agent provocateurs auseinandersetzt, wird er in aller Regel zunächst diejenige des Haupttäters prüfen. Auch wenn die Verwirklichung des jeweiligen Straftatbestands, das Vorliegen aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale sowie die Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit des Verhaltens unproblematisch sind, muss das nicht heißen, dass der Betroffene am Ende tatsächlich bestraft werden kann. Zugegebenermaßen handelt es sich bei den Fragen, welche spezifisch die Verurteilung des zur Tat Provozierten betreffen, um solche der Strafzumessung bzw. Strafverfolgung, die für Kandidaten des Ersten Staatsexamens von untergeordneter Bedeutung sind. Insbesondere in einer mündlichen Prüfung kann die Kenntnis der Problematik jedoch auch hier durchaus vorausgesetzt werden – das gilt insbesondere im Lichte der nun ergangenen Entscheidung des BGH.
Problematisch sind hier insbesondere Fälle der Tatveranlassung durch polizeiliche Ermittlungspersonen. Diese kann zu einem Konflikt mit dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit führen, wenn bislang unverdächtige oder nicht tatgeneigte Personen angestiftet werden oder eine besonders intensive Einwirkung etwa durch beträchtliche Erhöhung des Unrechtsgehalts (Aufstiftung) erfolgt (vgl. auch Rönnau, JuS 2015, 19 (21)).
Schon früh führte der BGH insoweit aus:

„Nach der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des BGH ist im Rahmen der Ermittlung und Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Straftaten, zu denen auch der Rauschgifthandel gehört, der Einsatz polizeilicher Lockspitzel im Grundsatz geboten und rechtmäßig. Dies gilt aber nicht uneingeschränkt. Es ist anerkannt, daß dem tatprovozierenden Verhalten des Lockspitzels Grenzen gesetzt sind, deren Außerachtlassung als ein dem Staat zuzurechnender Rechtsverstoß in das Strafverfahren gegen den Täter hineinwirken würde. Das dem GG und der StPO immanente Rechtsstaatsprinzip untersagt es den Strafverfolgungsbehörden, auf die Verübung von Straftaten hinzuwirken, wenn die Gründe dafür vor diesem Prinzip nicht bestehen können; wesentlich für die Beurteilung sind dabei Grundlage und Ausmaß des gegen den Täter bestehenden Verdachts, Art, Intensität und Zweck der Einflußnahme des Lockspitzels, Tatbereitschaft und eigene, nicht fremdgesteuerte Aktivitäten dessen, auf den er einwirkt.“ (BGH, Urt. v. 6.2.1981 – 2 StR 370/80, NJW 1981, 1626, Nachweise im Zitat ausgelassen).

a) Grundlegende Entscheidung des BGH im Jahr 1984
Ein Überschreiten dieser durch das Rechtsstaatsprinzip gesetzten Grenzen führte allerdings bislang nach Ansicht des BGH nicht zu einem Verfahrenshindernis. Ein solches soll nur unter strengsten Voraussetzungen in Betracht kommen, die nicht bei jedem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen sollen:

„Als Verfahrenshindernisse kommen nur Umstände in Betracht, die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das Strafverfahren so schwer wiegen, daß von ihrem Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß. Dies gilt auch für Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip. Bei der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips und der in ihm angelegten Gegenläufigkeiten verbieten sich unterschiedslose verfahrensrechtliche Sanktionen für Verletzungen von selbst.“  (BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84, NJW 1984, 2300 (2301), Nachweise im Zitat ausgelassen).

Stattdessen soll die nachhaltige und erhebliche Einwirkung des Lockspitzels auf den Täter, mag sie auch mit den Grundsätzen des Rechtsstaats nicht mehr vereinbar sein, lediglich zu einem Strafmilderungsgrund führen (BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84, NJW 1984, 2300 (2302)).
b) Die Rechtsprechung des EGMR
Anders die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser nimmt einen Verstoß gegen das Verbot des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) an, wenn eine polizeiliche Provokation zur Tat erfolgt, der Täter zuvor nicht tatverdächtig war und die verdeckte Ermittlungstätigkeit der Polizei nicht durch ein Gericht kontrolliert war (EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 44/1997/828/1034, NStZ 1999, 47). Der Gerichtshof führt aus:

„Die Nutzung von verdeckt arbeitenden Ermittlern („undercover agents“) muß begrenzt werden, und Sicherungen sind auch für die Fälle der Bekämpfung des Drogenhandels zu gewährleisten. Wenn auch der Anstieg der organisierten Kriminalität zweifellos das Ergreifen angemessener Maßnahmen erfordert, nimmt das Recht auf eine faire Rechtspflege doch einen derart hervorragenden Platz ein (a. Delcourt gegen Belgien, Urt. v. 17. 1. 1970, Serie A Nr. 11, S. 15, § 25), daß es nicht um der Nützlichkeit willen geopfert werden kann. Die allgemeinen Erfordernisse der Fairneß, wie sie in Art. 6 niedergelegt sind, sind auf Verfahren jeglicher Art von Kriminalität anzuwenden, von der einfachsten bis hin zu der kompliziertesten. Das öffentliche Interesse kann nicht die Verwendung von Beweismaterial rechtfertigen, das aus polizeilicher Anstiftung resultiert. (…) Letztlich stellt der Gerichtshof fest, daß die nationalen Gerichte in ihren Entscheidungen ausführen, daß der Bf. hauptsächlich aufgrund der Aussagen der beiden Polizeibeamten verurteilt worden ist. Im Lichte aller dieser Überlegungen folgert der Gerichtshof, daß die Handlungen der beiden Polizeibeamten über die von verdeckten Ermittlern hinausgingen, weil sie zu der Tat anstifteten und es keinen Hinweis darauf gibt, daß diese Tat ohne ihr Einschreiten begangen worden wäre. Dieses Eingreifen und dessen Verwendung im angefochtenen Strafverfahren bedeutet, daß dem Bf. von Beginn an vollständig ein faires Verfahren entzogen war. Damit lag eine Verletzung von Art. 6 I vor (…)“ (EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 44/1997/828/1034, NStZ 1999, 47 (48)).

Hieran anknüpfend fanden sich in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur Stimmen, nach denen der Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nur dann hinreichend sanktioniert würde, wenn der rechtsstaatswidrige Einsatz von Lockspitzeln ein Verfahrenshindernis darstellen würde (siehe BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 23.1 m.w.N.). Der BGH jedoch hielt an der Strafzumessungslösung fest (BGH, Urt. v. 18.11.1999 – 1 StR 221/99, NStZ 2000, 269).
In einer Entscheidung aus dem Jahr 2020 wurde der EGMR noch deutlicher. Dort heißt es:

„Liegt eine konventionswidrige Anstiftung vor, so sind die zuständigen Behörden bzw. Gerichte verpflichtet, entweder das Verfahren wegen Verfahrensmissbrauchs einzustellen oder alle durch die Anstiftung erlangten Beweise auszuschließen bzw. auf andere Weise vergleichbare Ergebnisse herbeizuführen. Eine erhebliche Milderung der Strafe führt nicht zu vergleichbaren Ergebnissen. Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation kann daher nicht lediglich auf der Ebene der Strafzumessung Berücksichtigung finden; hierdurch wird die durch die Tatprovokation verursachte Verletzung von Art. 6 I EMRK nicht ausreichend kompensiert und der Beschwerdeführer kann weiterhin behaupten, Opfer einer Verletzung von Art. 6 I EMRK zu sein.“ (EGMR, Urt. v. 15.10.2020 – 40495/15, 40913/15, 37273/15, NJW 2021, 3515).

c) Die aktuelle Entscheidung des BGH
Diese nunmehr eindeutige Rechtsprechung des EGMR hat auch der BGH zur Kenntnis genommen. In der Pressemitteilung zum Urteil v. 16.12.2021 heißt es:

„Läge eine nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte rechtsstaatswidrige Tatprovokation vor, dann würde dies ein Verfahrenshindernis begründen. Dafür kommt es entscheidend darauf an, ob der Täter und gegebenenfalls in welchem Umfang („Aufstiftung“ zu deutlich gewichtigeren Straftaten) bereits in Betäubungsmittelgeschäfte verwickelt war und inwieweit der Verdeckte Ermittler physischen oder psychischen Druck aufgebaut hat.“ (PM Nr. 227/2021).

Die Vorinstanz, das LG Freiburg, hatte demgegenüber noch die oben geschilderte Strafzumessungslösung angewandt und dem Betroffenen lediglich eine Strafmilderung gewährt. Eine endgültige Entscheidung konnte der BGH noch nicht treffen, da er ausweislich der Pressemitteilung eine weitere Aufklärung der für die Beurteilung der polizeilichen Tatprovokation notwendigen Tatsachen für notwendig hielt. Die Sache wurde an das LG zurückverwiesen.
III. Was bleibt?
Lockspitzel- bzw. agent-procovateur-Fälle werden den meisten Studierenden und Examenskandidaten ein Begriff sein. Erörtert werden sie insbesondere im ersten Examen gerade aus der Perspektive der Strafbarkeit des Lockspitzels, d.h. unter dem Gesichtspunkt der Anstiftung. Auch die strafrechtliche Behandlung des Haupttäters ist jedoch nicht unproblematisch. Durch die aktuellen Entscheidungen des EGMR und des BGH dürfte Bewegung in die diesbezüglich noch anhaltende Diskussion gekommen sein. Gerade von gut informierten Kandidaten in mündlichen Prüfungen könnte die Kenntnis des Problems daher erwartet werden. Davon unabhängig wird selbstverständlich auch eine Wiederholung der Anstiftungskonstellation wärmstens empfohlen – auch diese taucht in Klausuren in Studium und Examen immer wieder auf.

17.12.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-12-17 10:30:292021-12-17 10:30:29BGH: Neues zur Anstiftung durch den agent provocateur
Dr. Melanie Jänsch

BGH: Neues zum Versuch der Erfolgsqualifikation

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Mit Urteil vom 12.08.2021 (Az.: 3 StR 415/20) hat sich der BGH wieder einmal zur klausur- und examensrelevanten Konstellation des Versuchs bei erfolgsqualifizierten Delikten geäußert. Dabei hat der BGH klargestellt, dass ein Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts – konkret: der Brandstiftung mit Todesfolge gemäß § 306c StGB – auch dann gegeben sein kann, wenn das Grunddelikt im Versuchsstadium stecken bleibt und auch die gewollte schwere Folge nicht eintritt. Die Entscheidung soll zum Anlass genommen werden, sich die verschiedenen Varianten des Versuchs beim erfolgsqualifizierten Delikt (erfolgsqualifizierter Versuch vs. Versuch der Erfolgsqualifikation) noch einmal zu vergegenwärtigen. Ihre sichere Kenntnis und Unterscheidung sind nicht nur für Examenskandidaten, sondern bereits für Studierende unterer Semester unerlässlich.
 
A) Sachverhalt (leicht abgewandelt und vereinfacht)
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Der Täter (T) warf nachts das Schlafzimmerfenster des schlafenden Opfers (O) ein, um durch die so entstandene Öffnung einen sogenannten Molotowcocktail – eine mit Benzin gefüllte Glasflasche, versehen mit einer angezündeten Lunte – hineinzuwerfen. Dabei hielt T es für möglich und nahm billigend in Kauf, hierdurch einen Brand auszulösen, der wesentliche Gebäudeteile erfasst und den schlafenden O oder andere Bewohner des Mehrfamilienhauses zu Tode bringt. Wider Erwarten erlosch die Flamme jedoch kurz nach dem Hineinwerfen, bevor sich das Benzin entzünden konnte.
 
B) Rechtsausführungen
Der BGH sah hierin – wie auch das LG Mönchengladbach als Vorinstanz – unter anderem einen versuchten Mord gemäß §§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 und 3, 22, 23 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit einer versuchten schweren Brandstiftung mit Todesfolge gemäß §§ 306a Abs. 1 Nr. 1, 306c, 22, 23 Abs. 1 StGB.
Da sich bei der Prüfung des versuchten Mordes vorliegend keine Besonderheiten ergeben, soll sich die hiesige Darstellung auf die Besonderheiten der versuchten schweren Brandstiftung mit Todesfolge beschränken. Freilich müsste in einer entsprechenden Klausur auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Mordklassikern – Heimtücke bei Schlafenden und der Gemeingefährlichkeit des Inbrandsetzens – erfolgen.
 
I. Was ein erfolgsqualifiziertes Delikt kennzeichnet
Bei § 306c StGB handelt es sich um ein sogenanntes erfolgsqualifiziertes Delikt. Erfolgsqualifizierte Delikte sind in § 18 StGB erwähnt und beschreiben Fälle, in denen ein auch für sich allein betrachtet strafbares Vorsatzdelikt dadurch qualifiziert wird, dass durch die Tat zumindest fahrlässig ein im Gesetz näher beschriebener besonderer Erfolg (zurechenbar) verursacht wird (BeckOK StGB/Kudlich, 50. Ed. 1.5.2021, § 18 StGB Rn. 3). Im hiesigen Fall kommen als Grunddelikte die §§ 306-306b StGB in Betracht; die schwere Folge ist der durch die Brandstiftung verursachte Tod eines anderen Menschen.
Weitere klausurrelevante Beispiele für erfolgsqualifizierte Delikte finden sich in § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) und § 251 StGB (Raub mit Todesfolge).
 
II. Strafbarkeit des Versuchs bei erfolgsqualifizierten Delikten
Dass bei erfolgsqualifizierten Delikten auch der Versuch strafbar sein kann, folgt aus §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 i.V.m. § 11 Abs. 2 StGB. Alle Erfolgsqualifikationen im derzeitigen Strafrecht sind Verbrechen, weshalb ihr Versuch stets strafbar ist. Ferner kennzeichnet den Versuch der auf die Verwirklichung eines Tatbestandes gerichtete Tatentschluss, d.h. der Täter muss Vorsatz in Bezug auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale haben sowie etwaige subjektive Tatbestandsmerkmale aufweisen. § 11 Abs. 2 StGB bestimmt nun, dass eine Tat auch dann als vorsätzlich zu qualifizieren ist, wenn sie einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, der hinsichtlich der Handlung Vorsatz voraussetzt und hinsichtlich einer dadurch verursachten besonderen Folge Fahrlässigkeit ausreichen lässt. Dies beschreibt genau den Fall erfolgsqualifizierter Delikte. Daraus folgt, dass erfolgsqualifizierte Delikte als Vorsatzdelikte anzusehen sind und damit grundsätzlich im Versuch verwirklicht werden können.
 
III. Mögliche Versuchsvarianten
Denkbar sind grundsätzlich zwei Formen des Versuchs: der erfolgsqualifizierte Versuch und der Versuch der Erfolgsqualifikation.
1. Der erfolgsqualifizierte Versuch liegt vor, wenn die Verwirklichung des Grunddelikts im Versuchsstadium bleibt, die schwere Folge aber trotzdem eintritt. Dabei ist zum einen entscheidend, dass sich im Eintritt der schweren Folge die spezifische Gefahr des Grunddelikts realisiert. Zum anderen muss dem Täter in Bezug auf den Eintritt der schweren Folge wenigstens ein Fahrlässigkeits- (wie in § 227 Abs. 1 i.V.m. § 18 StGB) oder Leichtfertigkeitsvorwurf (etwa in § 251 StGB) zur Last zu legen sein.
Lesenswert ist hierzu der prominente Gubener Hetzjagd-Fall des BGH (Urt. v. 09.10.2002 – 5 StR 42/02, NStZ 2003, 149).
 
2. In Abgrenzung hierzu ist ein Versuch der Erfolgsqualifikation gegeben, wenn das Grunddelikt verwirklicht wird, die vom Täter billigend in Kauf genommene oder sogar beabsichtigte schwere Folge aber nicht eintritt. Diese Variante ist deshalb anzuerkennen, weil die schwere Folge zwar gemäß § 18 StGB „wenigstens“ fahrlässig verursacht werden muss, erst recht aber vorsätzlich herbeigeführt werden kann (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 20.10.1992 – GSSt 1/92, BGHSt 39, 100). Ein Beispiel macht es deutlich: Ein Versuch des § 251 StGB liegt vor, wenn der Täter mit Gewalt gegen eine Person dieser eine fremde bewegliche Sache mit Zueignungsabsicht wegnimmt und dabei billigend in Kauf nimmt, hierdurch den Tod der – letztlich überlebenden – Person zu verursachen.
Achtung: Der Versuch der Erfolgsqualifikation ist in der Klausur dann unerheblich und nicht ausführlich zu thematisieren, wenn die gewollte schwere Folge ihrerseits einen selbständig im Versuch verwirklichten Tatbestand darstellt. Denn dann wird der Versuch der Erfolgsqualifikation auf Konkurrenzebene verdrängt. Dies gilt etwa für § 227 StGB: Schießt der Täter auf das Opfer, um es zu töten, verletzt es aber nur, liegt eine verwirklichte gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vor. Daneben ist grundsätzlich ein versuchter § 227 StGB (in Form des Versuchs der Erfolgsqualifikation) gegeben sowie ein versuchter Totschlag nach §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB. Da das Unrecht der versuchten Körperverletzung mit Todesfolge vollständig vom versuchten Totschlag erfasst wird, bleibt allein letzterer (in Tateinheit mit der gefährlichen Körperverletzung) bei der Gesamtstrafbarkeit stehen. In einem solchen Fall in der Klausur bei § 227 StGB „ein Fass aufzumachen“, stellt eine verfehlte Schwerpunktsetzung dar.
 
IV. Die der Entscheidung zugrunde liegende Konstellation: ein Unterfall des Versuchs der Erfolgsqualifikation
Diese allgemeinen Grundsätze zugrunde legend wird offenbar, dass der hiesige Fall zunächst auf keine der beiden Konstellationen so eindeutig passen mag: Weder das Grunddelikt ist voll verwirklicht noch die schwere Folge eingetreten. Dass jedoch auch der Fall, in dem das Grunddelikt lediglich versucht und die schwere Folge nur gewollt ist, eine Variante des Versuchs der Erfolgsqualifikation darstellt, hat der BGH unmissverständlich klargestellt:

„Diese kann als Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts auch dadurch verwirklicht werden, dass der Täter zum Grunddelikt unmittelbar ansetzt, wobei er die schwere Folge beabsichtigt oder billigend in Kauf nimmt, hinsichtlich beider Tatbestände aber nicht zur Vollendung gelangt. Weder die Inbrandsetzung oder die durch die Brandlegung bewirkte – zumindest teilweise – Zerstörung noch der Tod müssen eingetreten sein.“ (BGH, Urt. v. 12.08.2021 – 3 StR 415/20, BeckRS 2021, 33213 Rn. 7)

Der BGH argumentiert dabei wie folgt: 
1. Eine solche Annahme ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 22 StGB in Verbindung mit den jeweiligen erfolgsqualifizierten Delikten: „Wer die Ausführung des Grunddelikts versucht und dabei zudem Vorsatz in Bezug auf die Herbeiführung der schweren Folge hat, setzt nach seiner Vorstellung von der Tat sowohl unmittelbar zum Grunddelikt als auch zur Verursachung der schweren Folge an.“ (BGH, Urt. v. 12.08.2021 – 3 StR 415/20, BeckRS 2021, 33213 Rn. 11)
2. Systematische Erwägungen stützen dieses Verständnis: Wie dargelegt, sind erfolgsqualifizierte Delikte wegen § 11 Abs. 2 StGB insgesamt als Vorsatzdelikte einzuordnen. Dies hat zur Konsequenz, dass die allgemeinen Vorschriften zum Versuch Anwendung finden. Diese allgemeinen Vorschriften setzen jedoch nicht voraus, dass der Täter irgendein Tatbestandsmerkmal objektiv verwirklichen muss, sondern nur, dass er nach seiner Vorstellung von der Tat hierzu unmittelbar ansetzt. Auf dieser Grundlage wäre es nach Ansicht des BGH nicht gerechtfertigt, für den Versuch des erfolgsqualifizierten Delikts stets die Vollendung des Grundtatbestands (dann Versuch der Erfolgsqualifikation) oder den Eintritt der schweren Folge (dann erfolgsqualifizierter Versuch) zu verlangen (BGH, Urt. v. 12.08.2021 – 3 StR 415/20, BeckRS 2021, 33213 Rn. 12).
3. Schließlich sprechen auch der Sinn und Zweck des relevanten Normgefüges für eine solche Annahme: Wie die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs zeigt, liegt der Grund für die Versuchsstrafbarkeit die in den Vorstellungen des Täters liegende Gefährlichkeit seines Tuns (sog. subjektive Versuchstheorie, vgl. etwa BGH, Urt. v. 29. 04.1958 – 5 StR 28/58, BGHSt 11, 324, 326 f.). Dieser subjektive Handlungsunwert tritt bei demjenigen, der mit seinem Verhalten die Verwirklichung des Grunddelikts und den Eintritt der hierin angelegten schweren Folge anstrebt, unabhängig davon zutage, ob er das Grunddelikt nur versucht oder vollendet. Ein wie auch immer gearteter objektiver Erfolgsunwert ist beim Versuch nicht gefordert. Ebenso wenig ist maßgeblich, ob und inwieweit Teilabschnitte des erfolgsqualifizierten Delikts verwirklicht sind. Hieraus schließt der BGH, dass auch derjenige wegen des Versuchs eines erfolgsqualifizierten Delikts zu bestrafen ist, der Grunddelikt und Qualifikation intendiert und an beiden Zielen scheitert (BGH, Urt. v. 12.08.2021 – 3 StR 415/20, BeckRS 2021, 33213 Rn. 13).
Damit hat sich T im hiesigen Fall nicht nur nach §§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 und 3, 22, 23 Abs. 1 StGB, sondern auch nach §§ 306a Abs. 1 Nr. 1, 306c, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
 
C) Fazit
Zusammenfassend gilt: Der Versuch kann bei erfolgsqualifizierten Delikten als erfolgsqualifizierter Versuch oder als Versuch der Erfolgsqualifikation vorliegen. Letztere Variante besteht aber nicht nur in dem Fall, in dem das Grunddelikt voll verwirklicht und die – nicht eingetretene – schwere Folge jedenfalls billigend in Kauf genommen wird. Vielmehr ist ein Versuch der Erfolgsqualifikation wie im vorliegenden Sachverhalt auch dann anzunehmen, wenn das Grunddelikt nur versucht ist, der Vorsatz des Täters aber auch auf die Herbeiführung der schweren Folge gerichtet war. Dass dies konsequent ist, folgt aus dem Wortlaut des § 22 StGB, der Systematik des Gesetzes und dem Sinn und Zweck der Versuchsvorschriften, die in den Vorstellungen des Täters liegende Gefährlichkeit seines Tuns zu sanktionieren.
 

23.11.2021/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2021-11-23 08:22:092021-11-23 08:22:09BGH: Neues zum Versuch der Erfolgsqualifikation
Dr. Lena Bleckmann

BGH zum Widerrufsrecht beim Werkvertrag sowie zur Abgrenzung von Kauf- und Werklieferungsverträgen

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Vergangene Woche hat der BGH in einer Entscheidung zu Treppenliften grundlegende Fragen im Bereich des Verbraucherwiderrufsrechts geklärt. Die Entscheidung liefert darüber hinaus wertvolle Erkenntnisse zur Abgrenzung von Kaufverträgen, Werkverträgen und Werklieferungsverträgen.  An Klausur- und Examensrelevanz dürfte eine solche Entscheidung kaum zu übertreffen sein.
I. Der Sachverhalt
Der Sachverhalt ist schnell erzählt. A vertreibt sog. Kurventreppenlifte – es handelt sich um Vorrichtungen, die an Treppenaufgängen befestigt werden, um insbesondere Personen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind, den Treppenauf- und –abstieg zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Die Schienen werden hierbei individuell an im jeweiligen Treppenhaus zu befahrende Kurven angepasst. A weist Verbraucher in Bezug auf diese Kurventreppenlifte darauf hin, dass im Rahmen des jeweiligen Vertrags, abgesehen von einem bestimmten Modell, kein gesetzliches Widerrufsrecht bestehe. Hiergegen wendet sich die Verbraucherzentrale V. Sie ist der Ansicht, dass sehr wohl ein gesetzliches Widerrufsrecht besteht und nimmt die A  auf Unterlassung in Anspruch.

Anm.: Hierbei mag es sich um eine für eine Zivilrechtsklausur eher ungewöhnliche Konstellation handeln. Bearbeiter müssten sich mit der Anspruchsberechtigung der Verbraucherzentralen nach § 8 Abs. 3 Nr. 4 i.V.m. § 4 UKlaG auseinandersetzen. Dass dies gefordert wird, ist nicht ausgeschlossen, aber selten. Der Fall lässt sich jedoch ohne größere Probleme abwandeln, indem man eine tatsächliche Bestellung eines solchen Kurventreppenlifts durch einen Verbraucher mit anschließender Ausübung eines möglichen Widerrufsrechts konstruiert. Die eher unübliche Einkleidung sollte mithin nicht dazu verleiten, die Klausurrelevanz der Entscheidung zu verkennen.

II. Widerrufsrechte und Informationspflichten
Eine kurze Wiederholung der Fragen rund um das Widerrufsrecht im Verbraucherschutzrecht: Die verbraucherschützenden Vorschriften der §§ 312 ff. BGB sind nach § 312 Abs. 1 BGB auf Verbraucherverträge anwendbar, die eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben. Was Verbraucherverträge sind, definiert § 310 Abs. 3 BGB: Es handelt sich um Verträge zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer. Die übrigen Absätze des § 312 BGB enthalten sodann Einschränkungen des Anwendungsbereichs, die vorliegend aber keine weitere Beachtung finden sollen.
Möchte der Verbraucher nach Abschluss eines Vertrags i.S.d. § 312 Abs. 1 BGB von diesem Abstand nehmen, kann ihm dies aufgrund eines Widerrufsrechts möglich sein. § 312g Abs. 1 BGB sieht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge vor. In der Klausur ist an dieser Stelle daher eine saubere Subsumtion unter die Begriffe des außerhalb des Geschäftsräume geschlossenen Vertrags nach § 312b BGB bzw. des Fernabsatzvertrags nach § 312c BGB erforderlich. Für den konkreten Fall würde der Sachverhalt dann nähere Angaben enthalten, welche die Zuordnung zu dem einen oder anderen Begriff ermöglichen. Liegt ein Fernabsatzvertrag oder außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag vor, greift grundsätzlich  § 312g Abs. 1 BGB i.V.m. § 355 BGB: Wird der Widerruf fristgerecht unter Wahrung der Anforderungen des § 355 Abs. 1 BGB erklärt, sind die Parteien an ihre auf Abschluss des Vertrags gerichteten Willenserklärungen nicht mehr gebunden. Der Unternehmer ist nach § 312d Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB verpflichtet, den Verbraucher über die Bedingungen, die Fristen und das Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts zu informieren. Das alles gilt jedoch nicht, wenn das Bestehen eines Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2, 3 BGB ausgeschlossen ist.
III. Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB
Zurück zum Fall: Die Verbraucherzentrale V stützt sich für den geltend gemachten Unterlassungsanspruch (§ 8 Abs. 1 UWG, § 3 Abs. 1 UWG, § 3a UWG) auf die Informationspflicht des Unternehmers bei bestehenden Widerrufsrechten nach § 312d Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB. Sofern im Falle der Bestellung eines Kurventreppenlifts ein Widerrufsrecht bestünde, würde der Hinweis von Seiten der A, dass ein solches gerade nicht besteht, wettbewerbswidriges Verhalten darstellen (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350). Zentrale Frage ist mithin, ob denn ein solches Widerrufsrecht bestünde, wenn es mit einem Verbraucher zum Abschluss eines Vertrags über Anfertigung und Einbau eines Kurventreppenlifts durch die A käme.
Die Vorinstanz hat das noch abgelehnt: Das OLG Köln sah die Voraussetzungen des Ausschlusses nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB als erfüllt an (OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350, 351 f). Nach dieser Norm besteht ein Widerrufsrecht nicht bei Verträgen zur Lieferung von Waren, die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind. Dass die Laufschienen für Kurventreppenlifte individuell angefertigt werden und an die konkreten Gegebenheiten vor Ort angepasst werden, wird nicht bezweifelt. Der Problempunkt ist ein anderer: Bei dem Vertrag, der bei Bestellung eines Kurventreppenlifts abgeschlossen wird, müsste es sich um einen Vertrag zur Lieferung von Waren i.S.d. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB handeln. Der Begriff geht auf Art. 16 lit. c Richtlinie 2011/83/EU zurück, der den Ausschluss des Widerrufsrecht vorsieht, wenn „Waren geliefert werden“.  Nun existieren im deutschen Zivilrecht mehrere Vertragstypen, die eine Lieferung von Waren umfassen: Sowohl ein Kaufvertrag nach § 433 BGB, als auch ein Werklieferungsvertrag nach § 650 BGB und ein Werkvertrag nach § 631 BGB kann Waren (es handelt sich hierbei ausschließlich um bewegliche Gegenstände, siehe § 241a Abs. 1 BGB) zum Gegenstand haben. Nicht alle dieser Vertragstypen fallen jedoch nach Ansicht des BGH unter den Begriff des Vertrags zur Lieferung von Waren, den § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB verwendet. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2018 hinsichtlich des Einbaus eines Senkrechtslifts äußerte sich der BGH dahingehend, dass § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB Kaufverträge und Werklieferungsverträge, in aller Regel aber nicht Werkverträge umfasse.

 „Dem Wortlaut nach umfasst § 312 g II 1 Nr. 1 BGB Verträge, die auf die Lieferung von Waren gerichtet sind. Damit werden nach dem allgemeinen Sprachgebrach Kaufverträge (§ 433 BGB) und Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge, § 651 BGB) erfasst.

 Dies entspricht der Verbraucherrechte-RL, deren Umsetzung unter anderem § 312g BGB dient. Nach Art. 2 Nr. 5 Verbraucherrechte-RL ist ein „Kaufvertrag“ jeder Vertrag, durch den der Unternehmer das Eigentum an Waren an den Verbraucher überträgt oder deren Übertragung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt, einschließlich von Verträgen, die sowohl Waren als auch Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Damit werden von dieser Definition Kauf- und Werklieferungsverträge umfasst, und zwar auch dann, wenn sich der Unternehmer gegenüber dem Verbraucher zur Montage der zu liefernden Waren verpflichtet hat. Eine entsprechende Regelung enthalten §§ 474 I 2, 434 II 1, 433, 651 S. 1 BGB.

 In Abgrenzung zum „Kaufvertrag“ ist dagegen ein „Dienstleistungsvertrag“ jeder Vertrag, der kein Kaufvertrag ist und nach dem der Unternehmer eine Dienstleistung für den Verbraucher erbringt oder deren Erbringung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt, Art. 2 Nr. 6 Verbraucherrechte-RL. Nach dieser Definition sind Werkverträge (§ 631 BGB) jedenfalls regelmäßig nicht als auf die Lieferung von Waren gerichtete Verträge einzustufen. Ob Werkverträge im Sinne des deutschen Rechts in Ausnahmefällen als Verträge über die Lieferung von Waren iSd § 312g II 1 Nr. 1 BGB einzustufen sind, braucht nicht entschieden zu werden.

 (BGH, Urt. v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380, 3381)

Zur Begründung führte der BGH auch ein systematisches Argument an: Zum Schutz der Unternehmer, die Werkverträge erbringen, sei ein Ausschluss des Widerrufsrechts nicht in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB geregelt, sondern vielmehr in § 357 Abs. 3 S. 1 BGB.
Somit ist eine Abgrenzung der drei Vertragstypen notwendig. Grundsätzlich gilt: Der Verkäufer schuldet nach § 433 Abs. 1 S. 1 BGB allein Übergabe und Übereignung einer Sache, während ein Werklieferungsvertrag nach § 650 S. 1 BGB auf die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender Sachen gerichtet ist. Der Unternehmer des Werkvertrags ist nach § 631 BGB zur Herstellung des versprochenen Werks verpflichtet. Für eine Zuordnung zu einem dieser Vertragstypen muss der Vertragsschwerpunkt betrachtet werden: „Liegt der Schwerpunkt des Vertrags auf der mit dem Warenumsatz verbundenen Übertragung von Eigentum und Besitz, liegt ein Kauf- oder Werklieferungsvertrag vor. Liegt der Schwerpunkt des Vertrags dagegen nicht auf dem Warenumsatz, sondern schuldet der Unternehmer die Herstellung eines funktionstauglichen Werks, ist ein Werkvertrag anzunehmen“ (BGH, Urt. v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380, 3381).
Die Vorinstanz ist auf Basis dieser Rechtsprechung zu dem Ergebnis gelangt, es handle sich um einen Werklieferungsvertrag. Die Lieferung des Treppenlifts stehe im Vordergrund, die Montage könne durch jede Fachfirma mit geringem Aufwand erfolgen (OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350, 352). Der BGH ist anderer Ansicht. In der Pressemitteilung heißt es:

„Im Streitfall liegt der Schwerpunkt des angestrebten Vertrags nicht auf der mit dem Warenumsatz verbundenen Übertragung von Eigentum und Besitz am zu liefernden Treppenlift, sondern auf der Herstellung eines funktionstauglichen Werks, das zu einem wesentlichen Teil in der Anfertigung einer passenden Laufschiene und ihrer Einpassung in das Treppenhaus des Kunden besteht. Auch der hierfür, an den individuellen Anforderungen des Bestellers ausgerichtete, erforderliche Aufwand spricht daher für das Vorliegen eines Werkvertrags. Bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts, der durch eine individuell erstellte Laufschiene auf die Wohnverhältnisse des Kunden zugeschnitten wird, steht für den Kunden nicht die Übereignung, sondern der Einbau eines Treppenlifts als funktionsfähige Einheit im Vordergrund, für dessen Verwirklichung die Lieferung der Einzelteile einen zwar notwendigen, aber untergeordneten Zwischenschritt darstellt.“

(BGH, Pressemitteilung Nr. 191/2021 v. 20.10.2021)

Demnach handelt es sich bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts regelmäßig um einen Werkvertrag, auf den der Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht anwendbar ist. Der Hinweis der A, ein gesetzliches Widerrufsrecht bestehe nicht, ist daher unrichtig und wettbewerbswidrig. Der von V  geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 312d Abs. 1 S. 1, § 312g Abs. 1 BGB und Art. 246a § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB besteht.
IV. Ausblick
Der BGH knüpft mit dieser Entscheidung an seine viel diskutierte Rechtsprechung aus dem Jahr 2018 an und bleibt dabei, dass sich der Ausschluss des Widerrufsrechts in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB i.d.R. nicht auf Werkverträge bezieht. Das macht im konkreten Fall jeweils eine Zuordnung zum Vertragstyp des Kauf-, Werklieferungs- oder Werkvertrags erforderlich. Von Studenten und Examenskandidaten ist in vergleichbaren Fällen eine genau Auswertung des Sachverhalts zu fordern. Die Ausführung der Vorinstanz zeigen hier, dass auch abweichende Ergebnisse durchaus vertretbar hergeleitet werden können. Entscheidend ist – wie so oft – eine fundierte Argumentation.

25.10.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-10-25 08:00:182021-10-25 08:00:18BGH zum Widerrufsrecht beim Werkvertrag sowie zur Abgrenzung von Kauf- und Werklieferungsverträgen
Gastautor

Zivilrechtliches Diskriminierungsverbot wegen des Alters: BGH bleibt seiner Linie treu

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Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
 
Der BGH entschied vor einiger Zeit in der Rechtfertigung großzügig zu Adults-only-Hotels: Hotels können Kinder den Zutritt versagen und Familien außen vor lassen, wenn sie sich in ihrem Geschäftskonzept eben dezidiert an kinderlose Gäste wende, die Ruhe suchen (BGH, Urteil vom 27. Mai 2020 – VIII ZR 401/18, BGHZ 226, 145-161). Nun ging es ebenfalls um eine mögliche Rechtfertigung der Unterscheidung nach dem Alter, wenn auch nicht für eine Zurückweisung wegen zu geringen, sondern wegen zu hohen Alters – und es ging nicht um ein Hotel, sondern um eine Musikveranstaltung (Urteil vom 5. Mai 2021 – VII ZR 78/20).
 
Der seinerzeit 44-jährige Kläger wollte 2017 ein von der Beklagten veranstaltetes Open-Air-Event in München besuchen, bei dem über 30 DJs elektronische Musik auflegten. Die Veranstaltung hatte eine Kapazität von maximal 1.500 Personen, ein Vorverkauf fand nicht statt. Ein Ticket konnte erst nach Passieren der Einlasskontrolle erworben werden. Dem Kläger sowie seinen beiden damals 36 und 46 Jahre alten Begleitern wurde der Einlass verwehrt. Zu alt! Vorprozessual teilte die Beklagte dem Kläger mit, Zielgruppe der Veranstaltung seien Personen zwischen 18 und 28 Jahren gewesen. Aufgrund der beschränkten Kapazität und um den wirtschaftlichen Erfolg einer homogen in sich feiernden Gruppe nicht negativ zu beeinflussen, habe es die Anweisung gegeben, dem optischen Eindruck nach altersmäßig nicht zur Zielgruppe passende Personen abzuweisen. Der Kläger hielt das für eine unzulässige Altersdiskriminierung und klagte auf Entschädigung gemäß § 19 Abs. 1, § 21 Abs. 2 AGG In Höhe von 1.000 € sowie den Ersatz der Kosten eines vorangegangenen Schlichtungsverfahrens in Höhe von 142,80 €, jeweils nebst Zinsen.
In den Instanzen blieb der Kläger erfolglos – und auch der BGH gab dem für seine AGG Klagen bundesweit bekannten Kläger nicht recht. Entscheidend waren die §§ 19, 20 AGG:
 
 § 19 AGG
(1) Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die 1. typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen … …ist unzulässig.
 
§ 20 AGG
(1) Eine Verletzung des Benachteiligungsverbots ist nicht gegeben, wenn für eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion, einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Identität oder des Geschlechts ein sachlicher Grund vorliegt. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung 1. der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient, 2. dem Bedürfnis nach Schutz der Intimsphäre oder der persönlichen Sicherheit Rechnung trägt, 3. besondere Vorteile gewährt und ein Interesse an der Durchsetzung der Gleichbehandlung fehlt, 4. an die Religion eines Menschen anknüpft und im Hinblick auf die Ausübung der Religionsfreiheit oder auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform sowie der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion zur Aufgabe machen, unter Beachtung des jeweiligen Selbstverständnisses gerechtfertigt ist.
 
Das Landgericht ist der Meinung, dem Kläger stehe kein Entschädigungsanspruch wegen Verstoßes gegen das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG zu, da dessen Anwendungsbereich nicht eröffnet sei. Das Benachteiligungsverbot sei auf Massengeschäfte (Fall 1) beschränkt, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (wie etwa Einzelhandel, Personennahverkehr, Kino, Schwimmbäder), oder diesen gleichgestellte Geschäfte, bei denen für den Anbieter einer Leistung nach der Art des Schuldverhältnisses die persönliche Auswahl seines Vertragspartners nachrangige Bedeutung hat (Fall 2).
Keiner der beiden Fälle liege hier vor, auch nach Ansicht des BGH. Der Vertrag über den Zutritt zu der hier betroffenen Veranstaltung sein kein „Massengeschäft“ iSd § 19 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 AGG. Es liege ein Ansehen der Person vor, wenn der Anbieter seine Entscheidung über den Vertragsschluss erst nach Würdigung des Vertragspartners treffe. Ob persönliche Merkmale typischerweise eine Rolle spielen, bestimme sich nach einer allgemeinen, typisierenden Betrachtungsweise, bei der auf die für vergleichbare Schuldverhältnisse herausgebildete Verkehrssitte abzustellen ist.
Und darauf folgerten die Karlsruher Richter:

„Eine Verkehrssitte, dass zu öffentlichen Veranstaltungen, die mit dem hier betroffenen Schuldverhältnis vergleichbar sind, jedermann Eintritt erhält, hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei nicht festgestellt. Soweit öffentlich zugängliche Konzerte, Kinovorstellungen, Theater- oder Sportveranstaltungen im Regelfall dem sachlichen Anwendungsbereich des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG unterfallen, weil es der Verkehrssitte entspricht, dass dort der Eintritt ohne Ansehen der Person gewährt wird, ist für diese Freizeitangebote charakteristisch, dass es den Veranstaltern – meist dokumentiert durch einen Vorverkauf – nicht wichtig ist, wer ihre Leistung entgegennimmt. Das unterscheidet sie maßgeblich von Party-Event-Veranstaltungen wie der vorliegenden, deren Charakter in der Regel auch durch die Interaktion der Besucher geprägt wird, weshalb der Zusammensetzung des Besucherkreises Bedeutung zukommen kann. Dass auch bei solchen Veranstaltungen gleichwohl nach der Verkehrssitte jedermann Eintritt gewährt wird, macht der Kläger nicht geltend.“

Dann legt das Gericht nach:

„Der Vertrag über den Zutritt zu der von der Beklagten durchgeführten Veranstaltung war auch kein „massengeschäftsähnliches“ Schuldverhältnis im Sinne von § 19 Abs. 1 Nr. 1 Fall 2 AGG. …Bei Schuldverhältnissen wie öffentlichen Party-Event-Veranstaltungen kann die Zusammensetzung des Besucherkreises deren Charakter prägen und daher ein anerkennenswertes Interesse des Unternehmers bestehen, hierauf Einfluss zu nehmen. Soweit der Veranstalter deshalb sein Angebot nur an eine bestimmte, nach persönlichen Merkmalen definierte Zielgruppe richtet und nur Personen als Vertragspartner akzeptiert, die die persönlichen Merkmale der Zielgruppe erfüllen, kommt diesen Eigenschaften nicht nur nachrangige Bedeutung zu. Diese Willensentscheidung ist hinzunehmen; wenn dabei auch das Merkmal „Alter“ betroffen ist, steht dies nicht entgegen.“

Anders als in seiner Entscheidung vom 27. Mai vergangenen Jahres argumentierte das Gericht also bereits mit der fehlenden Anwendbarkeit des AGG – nicht mit der möglichen Rechtfertigung. Dadurch mogelt es sich aus dem AGG heraus. Die Zulassung zur Veranstaltung nicht als Massengeschäft einzuordnen, scheint mir sportlich, denn wer da kommt, ist egal – Hauptsache, das Alter stimmt. Es wird nicht nach Bildungsabschluss, Einkommensverhältnissen, politischer Überzeugung, Familienstand und anderem gefragt. Und selbst das wirkliche Alter interessiert wohl weniger als das optische Alter. Das verträgt sich nicht so recht mit der Ablehnung eines Massengeschäfts oder eines gleichgestellten Geschäfts. 
Derr BGH hätte – wie ehemals bei seiner Entscheidung über ein Hotel ohne Kinder – wohl besser auf der Rechtfertigungsebene argumentiert. Das scheint mir richtiger. Bei der Rechtfertigung ist es dann wir beim Frauentag im Schwimmbad: Selbstverständlich vom Anwendungsbereich des AGG erfasst – aber eben gerechtfertigt in der Unterscheidung. Karlsruhe bleibt also bei seiner großzügigen Linie. Der unternehmerischen Handlungs- und Gestaltungsfreiheit wird ein hoher Stellenwert beigemessen.
 
Das AGG ist durchaus examensrelevant – es lohnt sich in die Entscheidungsgründe zu schauen, sobald sie veröffentlicht werden. Wer vorher schon tiefer einsteigen will: MüKo/Thüsing, § 20 AGG Rnr. 1 ff (bald auch in 9. Aufl.) und auch Thüsing/Pöschke, jm 2020, S. 359.

12.05.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-05-12 08:24:522021-05-12 08:24:52Zivilrechtliches Diskriminierungsverbot wegen des Alters: BGH bleibt seiner Linie treu
Dr. Melanie Jänsch

BGH: Neues zum Gewahrsamsbruch am Geldautomaten

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Mit aktuellem Beschluss vom 03.03.2021 hat sich der BGH (Az.: 4 StR 338/20) wieder einmal zu Feinheiten des Gewahrsamsbruchs beim Diebstahl geäußert: Konkret widmete sich der BGH der Frage, wie sich die Gewahrsamsverhältnisse am Bargeld im Ausgabefach eines Geldautomaten darstellen, wenn der Kunde den Auszahlungsvorgang durch Einführen seiner Karte und Eingabe der PIN bereits ausgelöst hat. Hierzu hat der BGH ausgeführt, dass mit der Bereitstellung des Geldes im Ausgabefach und der hierdurch eröffneten Zugriffsmöglichkeit jedenfalls ein (Mit-)Gewahrsam des Berechtigten begründet wird. Dessen antizipierter Erlangungswille genügt für die Annahme eines erforderlichen subjektiven Herrschaftswillens. Ein Blick in die Grundzüge der Entscheidung lohnt sich nicht nur für Examenskandidaten: Die der Entscheidung zugrunde liegende Konstellation lässt sich problemlos in Klausuren ab dem Grundstudium einfügen und eignet sich auch hervorragend für mündliche Prüfungen. Das Setting des Falls ­– der Kunde am Bankautomaten – lädt dabei dazu ein, die erforderliche saubere Prüfung der Diebstahlsmerkmale mit der regelmäßig folgenden Abgrenzung Raub / räuberische Erpressung und sogar mit EC-Karten-Problemen zu kombinieren.
 
A) Sachverhalt (vereinfacht und leicht abgewandelt)
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Der Täter (T) stellte sich in einer Bankfiliale in die Nähe seines Opfers (O). Er wartete darauf, dass der O in der Absicht, Bargeld abzuheben, seine EC-Karte in einen Geldautomaten eingeführt und seine PIN-Nummer ordnungsgemäß eingegeben hatte. Sodann bedrängte T den O, indem er ihn zur Seite schubste, und gab in das Bedienfeld einen Betrag von 500,00 Euro ein. Das sodann anforderungsgemäß ausgegebene Bargeld entnahm T dem Automaten und entfernte sich.
 
Strafbarkeit des T nach § 242 Abs. 1 StGB?
 
Anmerkung: In einem Fall mit einer offensichtlichen qualifizierten Nötigungshandlung wäre die Prüfung einer Strafbarkeit wegen Raubes gemäß § 249 StGB vorrangig. Aus didaktischen Gründen – und weil die vollendete qualifizierte Nötigung in der hier zu besprechenden Entscheidung durch die Vorinstanz nicht festgestellt wurde – erfolgen die nachstehenden Ausführungen zum Gewahrsamsbruch im Rahmen einer Diebstahlsprüfung. Diese sind freilich für die Prüfung einer Wegnahme im Rahmen von § 249 StGB bei einer entsprechenden Sachverhaltskonstellation dieselben.
 
B) Rechtserwägungen
In Betracht kommt eine Strafbarkeit des T wegen Diebstahls gemäß § 242 Abs. 1 StGB.
 
I. Objektiver Tatbestand
1. Fremde bewegliche Sache
Es müsste sich hierfür bei den Geldscheinen zunächst um fremde bewegliche Sachen handeln. Fremd ist eine Sache, wenn sie jedenfalls nicht im Alleineigentum des Täters steht (MüKoStGB/Schmitz, 3. Aufl. 2017, StGB § 242 StGB Rn. 31). Vorliegend ist mithin zu klären, ob die Bank das Geld an den T gemäß § 929 S. 1 BGB durch Ausgabe der Scheine übereignet hat. Adressat des mit dem Ausgabevorgang verbundenen Einigungsangebots ist nach den vertraglichen Beziehungen zwischen Kontoinhaber und Geldinstitut und der Interessenlage der Parteien gleichwohl lediglich der Kontoinhaber, nicht aber ein unberechtigter Benutzer des Geldautomaten. Dies gilt nach der ganz herrschenden Meinung auch dann, wenn eine technisch ordnungsgemäße Bedienung des Automaten vorangegangen ist (BGH, Beschluss v. 21.03.2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726 Rn. 8; BGH, Beschluss v. 16.11.2017 – 2 StR 154/17, NJW 2018, 245 Rn. 9 m.w.N.). Denn bei der Auslegung der konkludenten rechtsgeschäftlichen Erklärung der Bank sind die Interessen und Zwecke, die mit einer dinglichen Einigung verfolgt werden, zu berücksichtigen. Danach hat ein Geldinstitut keinen Anlass, das in seinem Automaten befindliche Geld an einen unberechtigten Benutzer der Bankkarte und der Geheimzahl des Kontoinhabers zu übereignen. Im Gegenteil richtet sich sein Übereignungsangebot erkennbar ausschließlich an den Kontoinhaber (BGH, Beschluss v. 21.03.2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726 Rn. 9; BGH, Beschluss v. 16.11.2017 – 2 StR 154/17, NJW 2018, 245 Rn. 10). Da der O an einer Annahme durch den T gehindert worden ist, ist das Eigentum an den Geldscheinen mithin bei der Bank verblieben.
 
Anmerkung: Im aktuellen Beschluss stellt der BGH die Fremdheit unter Verweis auf die oben genannten Entscheidungen lediglich fest, ohne selbst eine mögliche Übereignung zu prüfen. In einer Klausur müsste selbstverständlich schon an dieser Stelle eine ausführliche Prüfung erfolgen.
 
2. Wegnahme 
Diese müsste der T aber auch weggenommen haben. Unter Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendiger Weise tätereigenen Gewahrsams zu verstehen. Gewahrsam bedeutet die von einem natürlichen Willen getragene tatsächliche Sachherrschaft, deren Umfang nach der Verkehrsauffassung bestimmt wird. Maßgeblich ist hierbei, dass objektiv keine Hindernisse bestehen, den Willen zur unmittelbaren Einwirkung auf die Sache zu verwirklichen. Hierzu muss nicht notwendigerweise eine räumliche Nähe zur Sache bestehen. Vielmehr genügt es, wenn die Sachherrschaft bei einer räumlichen Trennung im Bereich des sozial Üblichen für eine bestimmte Zeit ausgeübt werden kann. Subjektiv ist ein Herrschaftswille erforderlich, der sich aber auch auf eine Vielzahl von Sachen in einem bestimmten Bereich beziehen kann. Beispielsweise hat der abwesende Wohnungsinhaber einen generellen Gewahrsamswillen hinsichtlich aller Sachen in der Wohnung, auch wenn er nicht zugegen ist (Lackner/Kühl/Kühl, 29. Aufl. 2018, § 242 StGB Rn. 9, 11) und insoweit eine sogenannte Gewahrsamslockerung besteht.
 
a) Bruch des Gewahrsams des Geldinstituts?
Vorliegend könnte der T den Gewahrsam des Geldinstituts gebrochen haben, indem er die Scheine dem Ausgabefach entnahm. Es stellt sich jedoch diesbezüglich die Frage, ob die Herausnahme von Bargeld, das ein Geldautomat nach äußerlich ordnungsgemäßer Bedienung ausgibt, den Bruch des – gelockert fortbestehenden – Gewahrsams des den Automaten betreibenden Geldinstituts bzw. der für dieses handelnden natürlichen Personen (vgl. LK-StGB/Vogel, 12. Aufl., § 242 Rn. 57 mwN) darstellt oder ob die Freigabe des Geldes als willentliche Aufgabe des Gewahrsams zu werten ist. Dies ist umstritten und wird auch in der höchstinstanzlichen Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt (für eine willentliche Aufgabe des Gewahrsams – mit der Folge, dass dieser nicht mehr gebrochen werden kann – hat sich der zweite Strafsenat des BGH im Jahr 2017 ausgesprochen, s. BGH, Beschluss v. 16.11.2017 – 2 StR 154/17, NJW 2018, 245; dagegen hat der dritte Strafsenat im Jahr 2019 einen fortbestehenden Gewahrsam des Geldinstituts an im Ausgabefach liegenden Scheinen angenommen, s. hierzu BGH, Beschluss v. 21.03.2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726).
 
b) Jedenfalls Bruch des (Mit-)Gewahrsams des Bankkunden
In dem aktuellen Beschluss vom 03.03.2021 hat sich der vierte Strafsenat des BGH es leicht gemacht und die Problematik offengelassen: Denn jedenfalls war nach der Ansicht des BGH im Zeitpunkt der Entnahme des Geldes durch den T bereits ein (Mit-)Gewahrsam des O an dem Geld begründet worden. Der BGH hat hierbei darauf hingewiesen, dass die Eigentumsverhältnisse in Bezug auf die Geldscheine nicht maßgeblich für die Bestimmung der Gewahrsamsverhältnisse sind:

„Hiernach kommt es für die Sachherrschaft zwar nicht auf eine Berechtigung an der Sache an, denn sonst könnte ein deliktischer Gewahrsam niemals erlangt werden (vgl. Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 25); vielmehr ist der Gewahrsam ein faktisches Herrschaftsverhältnis über eine Sache. Dessen Bestehen oder Nichtbestehen beurteilt sich auch danach, ob Regeln der sozialen Anschauung bestehen, nach denen die Sache einer bestimmten, ihr nicht unbedingt körperlich am nächsten stehenden Person zugeordnet wird (vgl. Schmitz in MK-StGB, 3. Aufl., § 242 Rn. 70).“ (Rn. 8)

Ausgehend von diesen Maßstäben hat der BGH angenommen, dass mit der Bereitstellung im Ausgabefach und der hierdurch eröffneten Zugriffsmöglichkeit jedenfalls ein (Mit-)Gewahrsam des Berechtigten, der durch die Einführung der Karte und die ordnungsgemäße Eingabe der PIN den Auszahlungsvorgang eingeleitet hat, begründet worden ist. Denn:

„Der Verkehr ordnet das Geld ab diesem Zeitpunkt jedenfalls auch dieser Person als das „ihre“ zu, wie sich auch daran zeigt, dass es sozial üblich ist und teils auch durch entsprechende Hinweise oder Vorrichtungen der Banken eingefordert wird, dass Dritte während des Abhebevorgangs Abstand zu dem Automaten und dem an ihm tätigen Kunden halten.“ (Rn. 10)

Das Vorliegen eines entsprechenden Herrschaftswillens des Bankkunden hat der BGH ebenfalls bejaht. Der in subjektiver Hinsicht erforderliche Herrschaftswille wird ebenfalls durch die Verkehrsanschauung geprägt. Es genügt zur Annahme eines Herrschaftswillens ein genereller, auf sämtliche in der eigenen Herrschaftssphäre befindlichen Sachen bezogener Wille ebenso wie der nur potentielle Beherrschungswille des schlafenden Gewahrsamsinhabers und ein antizipierter Erlangungswille in Bezug auf Sachen, die erst noch in den eigenen Herrschaftsbereich gelangen werden. Einen ebensolchen antizipierten Erlangungswillen hat der BGH im vorliegenden Fall angenommen:

„Der Abhebevorgang wird gerade zu dem Zweck und mit dem Willen zur Sachherrschaft über das ausgegebene Bargeld in Gang gesetzt. Dabei bezieht sich der antizipierte Herrschaftswille jedenfalls dann, wenn es sich – wie hier – bei dem Kartennutzer um den Kontoinhaber handelt, auf sämtliches Bargeld, das infolge des von ihm ausgelösten Vorgangs durch den Automaten ausgegeben wird. Denn das Bargeld wird – wie ihm bewusst ist – gerade unter entsprechender Belastung seines Bankkontos freigegeben. Für die Frage des Herrschaftswillens ist es deshalb unerheblich, dass im vorliegenden Fall jeweils nicht die Geschädigten, sondern die Angeklagten den Auszahlungsbetrag eingaben. Auch kommt es nicht darauf an, ob das Ansichnehmen des im Ausgabefach liegenden Geldes durch die Angeklagten von den Geschädigten wahrgenommen wurde oder ob dies heimlich geschah. Denn auch ein vom Bankkunden unbemerktes Ansichnehmen des Geldes änderte nichts an dessen Willen, an dem infolge seiner Eingabe bereitgestellten Geld die Sachherrschaft auszuüben.“ (Rn. 11)

Indem der T das Geld dem Ausgabefach entnommen hat, hat er mithin jedenfalls den (Mit-)Gewahrsam des O gebrochen und durch das Ansichnehmen und Fortlaufen eigenen Gewahrsam begründet.
 
II. Subjektiver Tatbestand
1. Vorsatz
T handelte auch mit Wissen und Wollen, also vorsätzlich.
2. Zueignungsabsicht
Er handelte zudem in der Absicht, sich die Geldscheine rechtswidrig zuzueignen.
 
III. Rechtswidrigkeit, Schuld
Er handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.
 
IV. T hat sich wegen Diebstahls gemäß § 242 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
 
C) Fazit und Ausblick
Nach der aktuellen Entscheidung des BGH wird jedenfalls ein (Mit-)Gewahrsam des Bankkunden an den Geldscheinen begründet, die der Bankautomat nach ordnungsgemäßer Einführung der EC-Karte und Eingabe der PIN im Ausgabefach freigibt. Wenn nun ein anderer diese Geldscheine nimmt, bricht er also – unabhängig von der Frage, ob zu diesem Zeitpunkt noch das Bankinstitut (Mit-)Gewahrsamsinhaber ist, und unabhängig von den Eigentumsverhältnissen in Bezug auf die Geldscheine – jedenfalls den Gewahrsam des Bankkunden. Dies hat der BGH freilich nur für den berechtigten Karteninhaber entschieden. Hiervon ausgehend stellt sich als Ausblick beispielsweise die Frage, wie zu entscheiden wäre, wenn es sich um den nicht berechtigten oder den „nicht so“-berechtigten Karteninhaber handeln würde – eine komplexe Problematik, die im Rahmen von Hausarbeiten oder Examensklausuren in jedem Fall eine fundierte Argumentation erfordert. 
 

26.04.2021/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2021-04-26 09:20:412021-04-26 09:20:41BGH: Neues zum Gewahrsamsbruch am Geldautomaten
Tobias Vogt

Neue Wendung im Kudamm-Raser-Fall

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Es war ein Paukenschlag, als das Landgericht Berlin zum ersten Mal Raser wegen Mordes verurteilte. Rechtskräftig ist die Entscheidung hinsichtlich eines der beiden Angeklagten immernoch nicht. Nach mehreren Zurückweisungen des BGH erging nun das dritte Urteil des LG Berlin (Urt. v. 02.03.2021, Az. 529 Ks 6/20) in diesem Verfahren. Statt wie noch in seinen beiden ersten Urteilen befand das LG Berlin den Angeklagten, der nicht selbst mit dem Wagen des Opfers kollidierte, nicht wegen gemeinschaftlichem Mord, sondern wegen versuchten Mordes für schuldig. Diese erneute Entscheidung dürfte abermals Prüfer dazu animieren, diesen höchst examensrelevanten Fall mit seinen zahlreichen Tücken etwa im Bereich der Abgrenzung des Eventualvorsatzes zur bewussten Fahrlässigkeit, der Mittäterschaft und der Mordmerkmale als Klausursachverhalt zu nutzen.
 
I. Bisheriger Verfahrensgang:
 
Den ersten Aufschlag lieferte das LG Berlin (Urteil vom 27.2.2017, Az. 535 Ks 8/16). Dieses verurteilte die beiden Raser, die sich an einer roten Ampel haltend mit Gestiken und dem Spiel mit dem Gas zu einem spontanen Autorennen hochschaukelten, in dessen Fortgang sie mit Geschwindigkeiten von über 160 km/h mehrere rote Ampeln überfuhren, wegen gemeinschaftlichen Mordes, nachdem einer der beiden Angeklagten während dieses Rennens mit dem Wagen eines anderen Verkehrsteilnehmers kollidierte, der an den Folgen des Unfalls starb.
 
Der BGH hat mit Urteil vom 1.3.2018 (Az. 4 StR 399/17) das Urteil des LG Berlin aufgehoben und zurückverwiesen (siehe dazu ausführlich unser Beitrag). Der BGH bemängelte hier zum einen, dass das LG den Tötungsvorsatz nur zu einem Zeitpunkt festgestellt hat, in dem die Täter die Kollision nicht mehr verhindern konnten. Die Feststellungen trugen daher keinen Tötungsvorsatz zum Tatzeitpunkt. Des Weiteren habe das LG den Tötungsvorsatz nicht ausreichend begründet, sich insbesondere nicht hinreichend mit der möglichen Eigengefährdung der Täter auseinandergesetzt. Schließlich bemängelte der BGH auch die Bejahung von Mittäterschaft.
 
Das LG Berlin kam mit Urteil vom 26.03.2018 (Az. 532 Ks 9/18) aber auch nach der Zurückverweisung abermals zum gleichen Ergebnis: Gemeinschaftlicher Mord (siehe ausführlich unser Beitrag).
 
Da das LG nun jedoch den Tötungsvorsatz eingehend auch unter Berücksichtigung der Eigengefährdung begründete – aufgrund der gut ausgestatteten Sportwagen sei schon nicht sicher, ob die Täter sich selbst derart gefährdet sahen, jedenfalls nahmen sie den Tod anderer Verkehrsteilnehmer in Kauf, da sie das Rennen um jeden Preis gewinnen wollten – bestätigte der BGH (Urteil vom 18.6.2020 – 4 StR 482/19) nun die Verurteilung des Angeklagten, der den tödlichen Unfall verursachte, wegen Mordes. Hierbei bejahte der BGH jedoch entgegen dem LG Berlin lediglich die Mordmerkmale der Heimtücke und der Tötung aus niedrigen Beweggründen, lehnte jedoch das Mordmerkmal des gemeingefährlichen Mittels ab. Denn erforderlich ist nicht nur, dass das Mittel objektiv in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil der Täter die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. Es bedarf auch eines entsprechenden Vorsatzes des Täters. Diesem konnte jedoch im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen werden, dass er über den Primäraufprall hinausgehende weitere Unfallfolgen für sich oder Dritte für möglich hielt und in Kauf nahm.
 
Hinsichtlich des weiteren Angeklagten verwies der BGH die Sache wieder an das LG Berlin zurück. Es bemängelte wie schon in seiner Entscheidung aus 2018 die Bejahung eines für die Mittäterschaft notwendigen gemeinsamen Tatplans. Denn ein mittäterschaftlich begangenes Tötungsdelikt setzt voraus, dass der gemeinsame Tatentschluss auf die Tötung eines Menschen durch arbeitsteiliges Zusammenwirken gerichtet ist; es genügt nicht, dass sich die Täter lediglich zu einem gemeinsamen Unternehmen entschließen, durch das ein Mensch zu Tode kommt, so der BGH.
 
II. Aktuelle Entscheidung des LG Berlin:
 
Nachdem der BGB nun wiederholt die fehlerhafte Bejahung eines gemeinsamen Tatplans gerügt hatte, geht auch das LG Berlin nicht mehr von einer Mittäterschaft aus. Der Todeserfolg ist dem Angeklagten, der selbst nicht mit dem Wagen des Verstorbenen kollidierte, demnach nicht nach § 25 Abs. 2 StGB zurechenbar.
 
Das LG verurteilte ihn jedoch folgerichtig wegen versuchten Mordes. Denn schließlich habe er ebenso wie der andere Fahrer um das Rennen zu gewinnen bewusst in Kauf genommen, dass er selbst derart mit einem anderen Verkehrsteilnehmer kollidiert, dass dieser stirbt. Es hat lediglich vom Zufall abgehangen, dass nicht er, sondern der Fahrer, mit dem er sich ein Rennen lieferte, unmittelbar den Tod herbeigeführt hat.
 
Da bei der riskanten Rennfahrt auch die Beifahrerin des Angeklagten verletz wurde, wurde dieser auch wegen tateinheitlich begangener fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB verurteilt. In einer Klausur ist zunächst auf eine in Betracht kommende vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 StGB einzugehen und an dieser Stelle ebenfalls ausführlich zu prüfen, ob ein Verletzungsvorsatz vorliegt. Hier spielt die mögliche Eigengefährdung eine noch größere Rolle als bei der Frage nach dem Tötungsvorsatz in Bezug auf andere Verkehrsteilnehmer. Denn wenn der Täter eine Verletzung seiner Beifahrerin bewusst in Kauf genommen hätte, müsste er auch eine eigene Verletzung in Kauf genommen haben. Da er aber aufgrund der Ausstattung seines Wagens darauf vertraute, selbst bei einer Kollision nicht verletzt zu werden, galt dies auch in Bezug auf seine Beifahrerin. Gibt es im Klausursachverhalt dagegen Hinweise darauf, dass der Angeklagte eine eigene Verletzung und die seiner Beifahrerin ebenfalls in Kauf nahm, könnte dagegen eine vorsätzliche Körperverletzung bejaht werden.
 
Ebenfalls schuldig gesprochen wurde der Angeklagte wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) und d) StGB, da er die durch Ampelzeichen geregelte Vorfahrt des Geschädigten nicht beachteten, an einer Straßenkreuzung zu schnell fuhren und dadurch Leib und Leben des Geschädigten gefährdete.
 
In einem Klausurgutachten ebenfalls zu prüfen ist eine Strafbarkeit nach den weiteren Verkehrsdelikten § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB und § 315d Abs. 1, Abs. 2 StGB. Eine Strafbarkeit nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB ist jedoch zu verneinen, da das Fahrzeug zur Fortbewegung und nicht primär als Waffe eingesetzt wurde und es daher an einer pervertierten Nutzung fehlt, die für die Bejahung eines verkehrsfremden Eingriffs in den Straßenverkehr notwendig wäre.
 
III. Fazit:
 
– Zunächst einmal zeigt die aktuelle Entscheidung, dass die Täter zwingend getrennt zu prüfen sind. Zu beginnen ist mit dem tatnächsten Täter, der mit dem Wagen des Opfers kollidierte.
 
– Bei der Prüfung des Vorsatzes ist zunächst einmal darauf zu achten, dass der Vorsatz zu einem Zeitpunkt vorliegen muss, in dem der Täter noch einen Tatbeitrag leisten konnte, nicht also erst in dem Zeitpunkt, als die Kollision ohnehin unausweichlich war.
 
– Sodann ist anhand aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob der Täter mit Eventualvorsatz handelte oder nur mit bewusster Fahrlässigkeit. Hierbei ist auch auf die mögliche Eigengefährdung einzugehen, die zwar gegen einen Tötungsvorsatz sprechen kann, diesen jedoch auch nicht per se ausschließt.
 
– In Betracht kommen die Mordmerkmale Heimtücke, niedrige Beweggründe und gemeingefährliches Mittel. Insbesondere bei letzterem kann jedoch der Vorsatz in Bezug auf die Gefährdung einer Mehrzahl an Menschen problematisch sein.
 
– Dem Mitangeklagten, der selbst nicht mit dem verstorbenen Opfer kollidierte, ist der Todeserfolg nur über § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnen, wenn ein gemeinsamer auf die Tötung eines Menschen durch arbeitsteiliges Zusammenwirken gerichteter Tatplan vorlag. Sich zu einem gemeinsamen, riskanten Straßenrennen zu entschließen, reicht hierfür nicht aus, auch wenn hierdurch letztendlich ein Mensch zu Tode kam. Daher hat der Mitangeklagte sich nur wegen versuchtem Mord strafbar gemacht.
 
– Von dem bedingten Tötungsvorsatz in Bezug auf andere Verkehrsteilnehmer kann nicht auf einen Verletzungsvorsatz der Beifahrerin geschlossen werden, so dass bei einer Verletzung dieser ggf nur eine fahrlässige Körperverletzung vorliegt.
 
– Nicht zu vergessen ist in einer Klausur zudem die Prüfung der Straßenverkehrsdelikte §§ 315b, 315c 315d StGB.
 
Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf unsere Besprechung zu einem etwas anders gelagerten Raser-Fall, in dem der BGH (Beschluss vom 16.1.2019, 4 StR 345/18) eine Verurteilung wegen Mordes bestätigte.
 
Zudem noch einmal die Links zu den Besprechungen des ersten BGH-Entscheidung und dem zweiten LG Berlin-Urteil in dem hiesigen Verfahren: hier und hier

04.03.2021/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2021-03-04 13:00:502021-03-04 13:00:50Neue Wendung im Kudamm-Raser-Fall
Dr. Lena Bleckmann

BGH entscheidet erstmals zum Alternativvorsatz – Neues im Strafrecht AT

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Wenn es um den allgemeinen Teil des Strafrechts geht, mögen Studenten vor lauter Problemen und Streitigkeiten den Eindruck bekommen, das Meiste müsste so langsam geklärt sein. Dass aber tatsächlich auch noch ganz grundlegende Fragen offen sind, zeigt eine aktuelle Entscheidung des BGH vom 14.1.2021 (Az. 4 StR 95/20). Der Gerichtshof musste hier erstmalig zum strafrechtlichen Alternativvorsatz urteilen. Die Entscheidung dürfte alsbald Einzug in Universitäts- und Examensklausuren finden. Hier ein Überblick.
I. Worum geht es?
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: A schlug mit einem Hammer in Richtung der F. Ihr Bruder B stand dabei direkt hinter ihr. Dem A war dabei bewusst, dass er sowohl F als auch B mit dem Hammer treffen und verletzen könnte, was er billigend in Kauf nahm. Die F konnte den Schlag abwenden, der B wurde allerdings leicht am Kopf getroffen.
Strafbarkeit des A?
II. Die Entscheidung des BGH 
Hier geht es nun ersichtlich um Körperverletzungsdelikte. Zulasten der F kommt – mangels Taterfolgs – nur eine versuchte Körperverletzung nach § 223 Abs. 1, 2, i.V.m. §§ 22, 23 StGB in Betracht. Der Hammer ist zudem ein Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der konkreten Art seiner Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzung herbeizuführen und somit ein gefährliches Werkzeug, sodass die Tat nach § 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 qualifiziert ist. Zulasten des B liegt objektiv eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vor. So weit so gut – der objektive Tatbestand ist hier in beiden Fällen schnell abgehandelt.
Das Problem liegt allerdings im subjektiven Tatbestand. Denn das Besondere an diesem Sachverhalt ist, dass der A zwar davon ausging, entweder die F oder den B verletzen zu können, nicht aber davon, dass der Taterfolg bei beiden eintreten könnte. Es handelt sich also um einen Fall des sog. Alternativvorsatzes, bei dem der Täter von der Möglichkeit des Erfolgseintritts bei mehreren Personen, dies aber nur alternativ, ausgeht. Abzugrenzen ist das von Fällen des Kumulativvorsatzes, bei dem der Täter beispielsweise den Erfolgseintritt bei einem Opfer bewusst anstrebt, bei dem anderen billigend in Kauf nimmt und dabei davon ausgeht, dass beide Erfolge zugleich eintreten können. Hierzu hat der BGH bereits 2005 – wenn auch nicht ausdrücklich – entschieden, dass beide Vorsätze nebeneinanderstehen und einander nicht ausschließen (s. BGH, Urt. v. 15.9.2005 – 4 StR 216/05, zur Erläuterung siehe das aktuell besprochene Urteil in Rn. 6). Darüber hinaus ist anerkannt, dass mehrere Vorsätze nebeneinander bestehen können, wenn der Täter sich mehrere einander ausschließende Folgen seiner Tat vorstellt – so ist es etwa, wenn er alternativ den Tod des Opfers oder aber das Weiterleben mit schweren Folgen i.S.d. § 226 StGB in Kauf nimmt (s. etwa BGH, Beschl. v. 3.7.2012 – 4 StR 16/12, Rn. 4).
In seiner neuen Entscheidung zum Alternativvorsatz setzt der BGH sich nun mit den in der Literatur vertretenen Ansichten auseinander (s. BGH, Urt. v. 14.1.2021 – 4 StR 95/20, Rn. 8). Hier wird vertreten, es könne nur einer der beiden Vorsätze, etwa nur der hinsichtlich des schwereren Delikts, zur Strafbarkeit führen, weil der Täter es für sich ausgeschlossen habe, mehrere Delikte zu vollenden (s. etwa Lackner/Kühl/Kühl, 29. Aufl. 2018, § 15 StGB Rn. 29 m.w.N.). Überwiegend geht man allerdings davon aus, beide Vorsätze könnten nebeneinanderbestehen und zur Strafbarkeit führen, es soll sich letztlich um ein Konkurrenzproblem handeln (s. etwa Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, 30. Aufl. 2019, § 15 StGB Rn. 91 m.w.N.).
Dem schließt sich der BGH nun ausdrücklich an:

„Der Senat geht entsprechend der überwiegenden Meinung in der Literatur davon aus, dass der Angeklagte mit zwei ‒ ihm zurechenbaren ‒ bedingten Körperverletzungsvorsätzen gehandelt hat. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, weiter, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet. Diese Voraussetzungen sind nach den Feststellungen sowohl hinsichtlich der Nebenklägerin als auch in Bezug auf ihren Bruder erfüllt. Für die Annahme von nur einem zurechenbaren Vorsatz besteht kein Grund. Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt nicht vor, denn auf sich gegenseitig ausschließende Erfolge gerichtete Vorsätze können miteinander verbunden werden, solange sie – wie hier – nicht den sicheren Eintritt eines der Erfolge zum Gegenstand haben.“ (BGH, Urt. v. 14.1.2021 – 4 StR 95/20, Rn. 9-11, Nachweise im Zitat ausgelassen)

Mithin verwirklicht der A die §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22, 23 StGB zulasten der F sowie § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zulasten des B. Die Delikte stehen zueinander in Tateinheit nach § 52 StGB, denn der A hat durch eine Handlung denselben Tatbestand mehrmals verwirklicht und dadurch die Rechtsgüter verschiedener Personen beeinträchtigt. Hierzu der BGH:

„Daran gemessen ist auch im vorliegenden Fall von (gleichartiger) Tateinheit auszugehen. Denn der Angeklagte hat sowohl die zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Nebenklägerin als auch die zum Schutz der körperlichen Integrität ihres Bruders aufgestellten Verhaltensnormen verletzt und in Bezug auf beide ein Delikt verwirklicht bzw. unmittelbar dazu angesetzt. Obgleich er davon ausgegangen ist, dass allenfalls ein tatbestandsmäßiger Erfolg eintreten wird, hat er damit eine größere Tatschuld auf sich geladen, als derjenige, der nur einen einfachen Vorsatz aufweist.“ (BGH, Urt. v. 14.1.2021 – 4 StR 95/20, Rn. 14, Nachweise im Zitat ausgelassen)

Im Übrigen setzt sich der BGH ausführlich mit dem Strafmaß auseinander, da das Landgericht nicht berücksichtigt habe, dass der Alternativvorsatz einen verminderten Handlungsunwert bedeute und daher nicht beide Delikte uneingeschränkt strafschärfend zu gewichten seien (s. (BGH, Urt. v. 14.1.2021 – 4 StR 95/20, Rn. 17). Auf die Ausführungen des Senats sei an dieser Stelle verwiesen, für Kandidaten des ersten Examens sind sie zunächst von geringerer Relevanz.
III. Ausblick
Wenn der BGH grundlegende Aussagen zum allgemeinen Teil des Strafrechts trifft, ist das für Studierende und Examenskandidaten stets von besonderer Relevanz. Nichts anderes gilt für die hier besprochene Entscheidung. Der BGH schließt sich insgesamt der in der Literatur herrschenden Meinung an und hält den Alternativvorsatz, d.h. zwei nebeneinanderstehende Vorsätze, sofern der Täter davon ausgeht, der Erfolg werde nur bei einem von mehreren möglichen Opfern eintreten, für möglich. Das sollte man sich merken. Wer darüber hinaus noch etwas zur sich anschließenden Konkurrenzfrage sagen kann, wird in Klausuren und mündlichen Prüfungen punkten können.
 

09.02.2021/3 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-02-09 08:30:212021-02-09 08:30:21BGH entscheidet erstmals zum Alternativvorsatz – Neues im Strafrecht AT
Dr. Lena Bleckmann

BGH: Der Staat haftet nicht für schlechte Gesetze – Neues zur Amtshaftung für legislatives Unrecht

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Am 28.1.2021 erging eine Entscheidung des BGH (III ZR 25/20), der viele mit Spannung entgegengeblickt haben. Das Verfahren zur Amtshaftung aufgrund einer unwirksamen Mietpreisbremse hat hohe praktische Relevanz, sind die vom BGH angewandten Grundsätze doch auf andere Fälle des legislativen Unrechts übertragbar. Staatshaftungsrecht ist bei Studenten bekanntermaßen nicht sonderlich beliebt – die hochaktuelle Entscheidung dürfte aber umso mehr für Klausurrelevanz sorgen. Die Lektüre lohnt sich also, insbesondere auch zur Wiederholung der Grundsätze der Amtshaftung.
I. Worum es geht
Nach § 556d Abs. 2 S. 1 BGB haben die Länder die Möglichkeit, durch Verordnung Gebiete mit angespannter Wohnsituation festzulegen und so den Mechanismus der Mietpreisbremse nach § 556d Abs. 1 BGB auszulösen. Zu Beginn des Mietverhältnisses darf die Miete die ortsübliche Vergleichsmiete dann um höchstens 10 % übersteigen. Eine solche Verordnung hat das Land Hessen u.a. für einen Stadtteil von Frankfurt am Main erlassen, allerdings die in § 556d Abs. 2 S. 5-7 BGB festgelegte Begründungspflicht verletzt. In der Folge erklärte der BGH die Verordnung für unwirksam (BGH, Urt. v. 17.7.2019 – VIII ZR 130/18). Damit konnte die Mietpreisbremse für den betroffenen Stadtteil nicht gelten, was für ein Ehepaar bedeutete, dass ihre Miete nicht wie erwartet um mehr als 200 € sank. Der Rechtsdienstleister wenigermieter.de, an den das Ehepaar seine Ansprüche abgetreten hatte, forderte nach der Entscheidung des BGH über die Unwirksamkeit der Verordnung Ersatz vom Staat. Dieser habe seine Amtspflicht gegenüber den Mietern verletzt.
II. Rechtliche Grundlagen
Maßgeblich geht es also um eine Amtshaftung nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Die grundsätzliche Konstruktion der Amtshaftung ist bekannt – § 839 Abs. 1 S. 1 BGB normiert zunächst die persönliche Einstandspflicht des handelnden Beamten, die Haftung wird aber durch Art. 34 GG auf den Staat übergeleitet. Voraussetzung für einen Amtshaftungsanspruch ist, dass jemand in Ausübung eines hoheitlichen Amtes die einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt, dies kausal zu einem Schaden führt und der Beamte dies zu verschulden hat. Der Begriff des Beamten ist hier weit zu fassen – Beamte im staatshaftungsrechtlichen Sinne sind alle Personen, denen öffentliche Gewalt anvertraut wurde und die ihre Tätigkeit nach den Bestimmungen des öffentlichen Rechts ausüben (s. BeckOK BGB/Reinert, § 839 Rn. 4, 15). Dies ist unter Anwendung der modifizierten Subjektstheorie zu bestimmen. Einschränkungen der Haftung folgen aus § 839 Abs. 1 S. 2 BGB (bei Fahrlässigkeit besteht kein Anspruch, wenn der Betroffene auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag), Abs. 2 (Spruchrichterprivileg) und Abs. 3 (kein Ersatz bei schuldhafter Versäumnis von Rechtsmitteln). Der Anspruch wird vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht, Art. 34 S. 3 GG, § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO.
III. Die aktuelle Entscheidung des BGH im Kontext der Amtshaftung
Angewandt auf den zu entscheidenden Fall ist nun zunächst eindeutig, dass jemand – die Landesregierung bzw. deren Mitglieder – bei Erlass der Verordnung in Ausübung eines öffentlichen Amts agierte: Die in § 556d Abs. 2 BGB vorgesehene Verordnungsermächtigung berechtigt ausschließlich die Landesregierung als Trägerin hoheitlicher Gewalt und ist somit dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Auf Grundlage dieser Norm agierte die Regierung in Ausübung eines öffentlichen Amtes, ihre Mitglieder sind Beamte im staatshaftungsrechtlichen Sinne.
Entscheidend ist demgegenüber das Merkmal der Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht. Der Begriff der Amtspflicht ist weit zu fassen und umfasst insbesondere auch die Pflicht zu rechtmäßigem Handeln. Indem die Begründungspflicht nach § 556d Abs. 2 S. 5-7 BGB verletzt wurde, wurde auch eine Amtspflicht verletzt, denn es liegt eine rechtswidrige Amtsausübung vor. Das reicht für den Amtshaftungsanspruch jedoch noch nicht – verletzt werden muss gerade eine drittgerichtete Amtspflicht. Das setzt voraus, dass die Amtspflicht gerade auch der Wahrung der Interessen des Dritten dient. Der BGH führt in seiner Pressemitteilung hierzu aus:

„Es muss mithin eine besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten „Dritten“ bestehen. Gesetze und Verordnungen enthalten hingegen durchweg generelle und abstrakte Regeln, und dementsprechend nimmt der Gesetzgeber in der Regel ausschließlich Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit wahr, denen die Richtung auf bestimmte Personen oder Personenkreise fehlt.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 018/2021)

Damit greift das Gericht die anerkannten Grundsätze zur Haftung – bzw. fehlenden Haftung – für legislatives Unrecht auf. Die Pflicht zum rechtmäßigen Handeln in ihrer Ausprägung, nur rechtmäßige Gesetze zu erlassen, dient i.d.R. nicht dem Einzelnen, sondern den Interessen der Allgemeinheit. Ein Amtshaftungsanspruch scheidet damit aus. Das muss aber nicht ausnahmslos in allen Fällen legislativen Unrechts gelten, wie auch der BGH anmerkt:

„Nur ausnahmsweise – etwa bei sogenannten Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen – kann etwas Anderes in Betracht kommen und können Belange bestimmter Einzelner unmittelbar berührt werden, so dass sie als „Dritte“ im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB angesehen werden können.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 018/2021)

Die Verordnung zur Mietpreisbremse sei aber kein derartiges Maßnahme- oder Einzelfallgesetz, denn sie betreffe keine individuellen Mieter, sondern aufgrund der Weite ihres räumlichen Geltungsbereichs einen unüberschaubar großen und nicht individuell begrenzten Personenkreis.
Dies hätte womöglich schon gereicht, um den Amtshaftungsanspruch abzulehnen. Der BGH ging in seinen Ausführungen aber noch weiter und merkte an, dass auch der Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition nicht zu einem Amtshaftungsanspruch führe:

„Nicht jede Grundrechtsbeeinträchtigung durch staatliche Amtsträger führt zur Staatshaftung. Der Gesetzgeber kann Voraussetzungen und Umfang von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen näher ausgestalten. Eine solche Ausgestaltung ist mit § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB erfolgt, wonach ein Amtshaftungsanspruch nur besteht, wenn ein Beamter die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt. Damit ist eine Haftung wegen der Verletzung von Amtspflichten, die dem Beamten nicht spezifisch dem Träger des betroffenen Grundrechts gegenüber obliegen, nicht vereinbar.“ (BGH, Pressemitteilung Nr. 018/2021)

Und auch das enttäuschte Vertrauen der Mieter in die Wirksamkeit der hessischen Mietpreisbremsenverordnung könne für sich genommen keinen Ersatzanspruch nach sich ziehen – ein allgemeiner Anspruch diesbezüglich ist nicht anerkannt, die Voraussetzungen der Amtshaftung mangels Drittbezogenheit nicht erfüllt.
IV. Was bleibt?
Der BGH ist seiner lang etablierten Linie treu geblieben und hat eine Haftung des Staates für mangelhafte und damit unwirksame Gesetze abgelehnt. Eine andere Entscheidung hätte weitreichende Folgen haben können – nicht nur zahlreiche Verordnungen zu Mietpreisbremsen sind in der Vergangenheit für unwirksam erklärt worden, die Entscheidung hätte Ausstrahlungswirkung auf sämtliche anderen unwirksamen Normen gehabt und so zu umfangreichen Haftungssummen führen können. Dies hat das Urteil abgewendet. Für Studenten und Examenskandidaten ist das begrüßenswert – es bleibt bei den bislang geltenden Grundsätzen, nach denen eine Haftung für legislatives Unrecht i.d.R. nicht besteht. Mieter und sonst von letztlich unwirksamen Gesetzen Betroffene dürften dem anders gegenüberstehen.

01.02.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-02-01 08:30:102021-02-01 08:30:10BGH: Der Staat haftet nicht für schlechte Gesetze – Neues zur Amtshaftung für legislatives Unrecht
Dr. Melanie Jänsch

BGH zum Deliktsrecht: Haftung für psychische Gesundheitsverletzung eines Polizeibeamten

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Mit aktuellem Urteil vom 8. Dezember 2020 (Az.: VI ZR 19/20) hat sich der BGH zu einem besonders klausur- und examensrelevanten Problemkomplex des Deliktsrechts – der Zurechnung psychischer Gesundheitsverletzungen – geäußert. Konkret hat der BGH entschieden, dass auch bei der Verwirklichung eines berufsspezifischen Risikos psychische Gesundheitsbeeinträchtigungen eines Polizeibeamten oder einer professionellen Rettungskraft dem Schädiger jedenfalls bei unmittelbarer aufgezwungener Beteiligung an einem traumatisierenden Geschehen grundsätzlich zuzurechnen sind. Da deliktsrechtliche Fragen, insbesondere Kausalitätsprobleme, absolute Dauerbrenner in Studium und Examen sind, soll die Entscheidung im Folgenden ausführlich dargestellt werden.
 
A) Sachverhalt (vereinfacht und leicht abgewandelt)
Mehrere Polizeibeamte waren wegen einer tätlichen Auseinandersetzung in einer Cocktailbar im Einsatz. Dabei kam ein deutlich erkennbar und stark alkoholisierter Beteiligter einem Platzverweis auch nach mehrfacher Aufforderung nicht nach; er setzte sich gegen seine nachfolgend durchgeführte Ingewahrsamnahme heftig zur Wehr und verletzte dabei einen Polizeibeamten am Daumen. Infolge der Auseinandersetzung mit dem Schädiger erlitt der betreffende Polizeibeamte zudem eine psychische Erkrankung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung, die zur dauerhaften Dienstunfähigkeit führte. Er verlangt vom Schädiger Schadensersatz für Behandlungskosten und Verdienstausfall aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung.
 
B) Rechtsausführungen
Zu prüfen war ein Anspruch des Polizeibeamten gegen den Schädiger aus § 823 Abs. 1 BGB, der zunächst die Verletzung eines absoluten subjektiven Rechts bzw. Rechtsgutes voraussetzt. In Betracht kommt hier allein die durch die tätliche Auseinandersetzung herbeigeführte Gesundheitsverletzung in Form der posttraumatischen Belastungsstörung, die zur Dienstunfähigkeit geführt hat. Unter einer Gesundheitsverletzung ist jedes Hervorrufen eines von den normalen körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden Zustands zu verstehen, wobei unerheblich ist, ob Schmerzzustände auftreten oder ob eine tiefgreifende Veränderung der Befindlichkeit, etwa durch den Ausbruch einer Krankheit, eingetreten ist (st. Rspr., s. beispielhaft BGH, Urt. 14.6.2005 – VI ZR 179/04, NJW 2005, 2614, 2615).
 
Anmerkung: Die Abgrenzung der Körper- von der Gesundheitsverletzung ist mitunter schwierig, wenngleich praktisch folgenlos. Als Abgrenzungsformel kann man sich gleichwohl merken, dass die Körperverletzung Eingriffe in die physische Integrität erfasst, wohingegen sich die Gesundheitsverletzung „auf das Funktionieren der inneren Lebensvorgänge“ (so MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, § 823 BGB Rn. 204) beschränkt.
 
Eine Gesundheitsverletzung ist damit insbesondere bei somatischen Beeinträchtigungen, die nicht auf einer Verletzung der körperlichen Integrität beruhen, sowie psychischen Störungen jedweder Art gegeben (MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, § 823 BGB Rn. 205). Der ständigen Rechtsprechung des BGH entspricht, dass durch ein Geschehen ausgelöste psychische Störungen, die einen realen Krankheitswert haben, Gesundheitsverletzungen i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB darstellen (vgl. nur Senatsurteile vom 21.5.2019 – VI ZR 299/17, BGHZ 222, 125, Rn. 7; v. 27.1.2015 – VI ZR 548/12, NJW 2015, 1451, Rn. 6; v. 20.5.2014 – VI ZR 381/13, BGHZ 201, 263, Rn. 8). Ohne Zweifel können die psychisch vermittelten Beschwerden des Polizeibeamten nach diesen Maßstäben als Gesundheitsverletzung eingeordnet werden.
 
Anmerkung: Resultieren die psychischen Beschwerden nicht aus einer unmittelbaren Beteiligung am schädigenden Ereignis, sondern ist die psychische Beeinträchtigung mittelbar auf die Verletzung eines Dritten zurückzuführen, stellt sich bereits beim Prüfungspunkt „Rechtsgutsverletzung“ die sog. Schockschaden-Problematik. Der BGH verlangt in diesen Fällen für die Annahme einer deliktsrechtlich relevanten Gesundheitsverletzung, dass die psychische Beeinträchtigung einen pathologisch fassbaren Krankheitswert hat und über die „üblichen“ gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind, und eine persönliche Nähe zwischen dem unmittelbar Verletzten und dem mittelbar Geschädigten besteht (s. hierzu exemplarisch BGH, Urt. v. 10.2.2015 – VI ZR 8/14, NJW 2015, 2246 und die Ausweitung auf fehlerhafte ärztliche Behandlung in BGH, Urt. v. 21.5.2019 – VI ZR 299/17, NJW 2019, 2387, besprochen in unserem Beitrag).
 
Die Handlung des Schädigers müsste aber auch haftungsbegründend kausal für die psychische Gesundheitsverletzung gewesen sein. Der Prüfungspunkt „haftungsbegründende Kausalität“ betrifft die Ursächlichkeit der Verletzungshandlung für die Rechtsgutsverletzung. Die Kausalitätsprüfung erfolgt stets in drei Schritten: In einem ersten Schritt ist festzustellen, ob Äquivalenz im Sinne eines „condicio-sine-qua-non“-Zusammenhangs besteht. Auf dieser Stufe ist also zu klären, ob der Beitrag des Schädigers nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Gesundheitsverletzung des Geschädigten entfiele. Als zweiter Filter der Kausalität ist Adäquanz insofern erforderlich, als die Rechtsgutverletzung nicht außerhalb des nach allgemeiner Lebenserfahrung Erwartbaren liegen darf; hiermit soll die Haftung für gänzlich atypische, unwahrscheinliche Fälle ausgeklammert werden. Im vorliegenden Fall war revisionsrechtlich zu unterstellen, dass bei dem Polizeibeamten infolge der schädigenden Handlung eine Traumafolgestörung von Krankheitswert eingetreten ist, für die das Verhalten des Schädigers sowohl äquivalent als auch adäquat kausal war.
Auf dritter Stufe erfolgt die Prüfung der Ursächlichkeit aber zusätzlich unter normativen Gesichtspunkten: Maßgeblich ist, ob die gegenständliche Anspruchsgrundlage gerade vor solchen Folgen, wie sie beim Anspruchsteller eingetreten sind, schützen will, sog. Lehre vom Schutzzweck der Norm. Herausfiltern soll dieser dritte Prüfungsschritt Konstellationen, in denen dem Schädiger eine Haftung nach wertender Betrachtung nicht zugemutet werden kann – etwa in Fällen, in denen sich ausschließlich das „allgemeine Lebensrisiko“ realisiert. An dieser Stelle stellen sich vorliegend zwei Problemkreise, die ausführlicherer Erörterung bedürfen:
I. Zum einen bedarf es nach der Rechtsprechung des BGH gerade in Fällen psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen einer besonderen Prüfung der Zurechnung:

„Sie soll der Eingrenzung einer sonst ausufernden Haftung für normale Belastungen in den Wechselfällen des Zusammenlebens dienen, auf die sich der Mensch im Leben einrichten muss (vgl. BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl., § 823 Rn. 11), darf aber nicht der gegenüber körperlichen Verletzungen oft als erschwert angesehenen Objektivierbarkeit psychischer Beeinträchtigungen geschuldet sein. Dabei wird berücksichtigt, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der verletzten Norm begrenzt wird. Eine Schadensersatzpflicht besteht nur, wenn die Tatfolgen, für die Ersatz begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen worden ist. Hierfür muss die Norm den Schutz des Rechtsguts gerade gegen die vorliegende Schädigungsart bezwecken; die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung bzw. der geltend gemachte Schaden müssen also auch nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fallen. Daran fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist.“ (Rn. 11)

Ausgehend hiervon kann bei einem geringfügigen schädigenden Ereignis angenommen werden, dass eine extreme psychische Reaktion außer Verhältnis steht und daher nicht mehr zugerechnet werden kann; vielmehr bewege sich diese im Bereich des allgemeinen Lebensrisikos. Dagegen realisiere sich dann nicht mehr das allgemeine Lebensrisiko, wenn „der Schädiger dem Geschädigten die Rolle eines unmittelbaren Unfallbeteiligten aufgezwungen hat und dieser das Unfallgeschehen psychisch nicht verkraften konnte“ (vgl. Urt. v. 22.5.2007 – VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 Rn. 14; v. 12.11.1985 – VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 242, Rn. 14), was im vorliegenden Fall anzunehmen sei.  
II. Hinzu kommt hier aber noch ein zweiter Aspekt: Bei professionellen Rettungskräften oder Polizeibeamten wird zuweilen erwogen, dass im Falle der Verwirklichung des berufsspezifischen Risikos die Zurechnung psychischer Beeinträchtigungen zur Vermeidung uferloser Ausdehnung der Haftung des Schädigers unterbleiben muss. Letzteres hat etwa das Berufungsgericht – das OLG Celle – in seiner Entscheidung vom 12. Dezember 2019 angenommen: Bei dem betreffenden Sachverhalt habe es sich um eine für einen Polizeibeamten alltägliche Situation gehandelt, mit der im Rahmen der Berufstätigkeit ständig zu rechnen sei. Sofern eine solche Situation zu einer schweren psychischen Gesundheitsverletzung mit der Folge der Dienstunfähigkeit führe, könne dies dem Schädiger nicht zugerechnet werden (OLG Celle, Urt. v. 12.12.2019 – 5 U 116/19, BeckRS 2019, 43669, Rn. 33). Dieser Auffassung ist der BGH – in strikter Gleichsetzung physischer und psychischer Primärschäden – entschieden entgegengetreten:

„Bei der gebotenen wertenden Betrachtung ist das Risiko einer psychischen Gesundheitsverletzung eines Polizeibeamten oder einer professionellen Rettungskraft jedenfalls bei unmittelbarer aufgezwungener Beteiligung an einem traumatisierenden Geschehen grundsätzlich auch bei Verwirklichung eines berufsspezifischen Risikos dem Schädiger zuzuordnen. Auch wenn es zur Ausbildung und zum Beruf von Polizeibeamten gehört, sich auf derartige Belastungssituationen vorzubereiten, mit ihnen umzugehen, sie zu bewältigen und zu verarbeiten (Senatsurteil vom 17. April 2018 – VI ZR 237/17, BGHZ 218, 220 Rn. 20), gebietet eine solche Vorbereitung und etwaige Stärkung ihrer Psyche regelmäßig nicht, ihnen beim dennoch erfolgenden Eintritt einer psychischen Erkrankung den Schutz des Deliktsrechts zu versagen. Es ist bereits nicht zu erklären, weshalb zwischen physischen und psychischen Primärschäden unterschieden werden sollte. Für den Bereich der Sekundärschäden und der haftungsausfüllenden Kausalität geht der Senat vielmehr regelmäßig von einer grundsätzlichen Gleichstellung der psychischen mit den physischen Schäden aus.“ (Rn. 16 f.)

Zudem lasse die entgegengesetzte Argumentation außer Acht, dass bei ausgebildeten Einsatzkräften die Gefahr des Eintritts psychischer Schäden im Vergleich zu Laien bereits vermindert sei. Komme es trotz professioneller Vorbereitung im Einzelfall dennoch zu psychischen Schäden, rechtfertige dies keine Risikoverlagerung auf den Geschädigten (Rn. 18). Um die Haftung des Schädigers in diesen besonderen Fällen einzugrenzen, knüpft der BGH die Zurechnung gleichwohl an verschiedene Kriterien: Neben dem Erfordernis, dass die psychische Beeinträchtigung realen Krankheitswert aufweist, muss der Schädiger – in Abgrenzung zu Fällen bloßer Anwesenheit des Polizeibeamten am Unfallort – dem Geschädigten die Rolle eines unmittelbar (Unfall-)Beteiligten aufgezwungen haben. Darüber hinaus muss sich auch der Verschuldensvorwurf gegen den Verursacher auf die Folgeschäden erstrecken, was bei psychischen Erkrankungen als Folge von Routineeinsätzen nicht zwangsläufig der Fall ist. Auf dieser Grundlage hat der BGH die Sache letztlich unter Teilaufhebung der angefochtenen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
 
C) Fazit
Festzuhalten bleibt: Bei der Verwirklichung des berufsspezifischen Risikos sind psychische Gesundheitsverletzungen mit Krankheitswert von Polizeibeamten oder ähnlichen professionellen Rettungskräften dann dem Schädiger zuzurechnen, wenn der Schädiger dem Geschädigten die Beteiligung an dem traumatisierenden Geschehen unmittelbar aufgezwungen hat. Die Grundsätze, die der BGH in seinem Amoklauf-Urteil (Urt. v. 17.4.2018 – VI ZR 237/17, BGHZ 218, 220, besprochen in unserem Beitrag) aufgestellt hat, werden damit auf polizeiliche „Standardsituationen“ ausgeweitet. Für eine Zurechnung entscheidend ist damit nicht, dass es sich wie bei einem Amoklauf um ein vorsätzliches schweres Gewaltverbrechen eines besonders aggressiven Täters handelt, sondern vielmehr insbesondere, ob der Geschädigte lediglich am Tatort anwesend oder unmittelbar in das Geschehen involviert war.
 
 

28.01.2021/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2021-01-28 09:00:472021-01-28 09:00:47BGH zum Deliktsrecht: Haftung für psychische Gesundheitsverletzung eines Polizeibeamten
Gastautor

BGH: Schadensersatz bei Kauf eines gebrauchten VW-Diesels nach Bekanntwerden der Abgasmanipulation

Deliktsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Ansgar Kalle veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Lehrstuhl Prof. Dr. Stefan Greiner.
 
Die hier zu besprechende Entscheidung des BGH (Urt. v. 30. Juli 2020 – Az. VI ZR 5/20 = NJW 2020, 2798) stellt die bislang jüngste Entscheidung des BGH zum Abgasskandal dar. Rechtsfragen des Abgasskandals werden seit Jahren intensiv erörtert und berühren mit dem Kauf- und dem Deliktsrecht Kernthemen des Zivilrechts. Dies macht das gesamte Thema äußerst examensrelevant.
Die hier zu erörternde Entscheidung rückt mit § 823 Abs. 2 BGB und § 826 BGB zwei examensrelevante Normen in den Vordergrund, die wegen ihrer Wertungsoffenheit viel Streit- und Argumentationspotential bergen. Sie enthält viel Lehrreiches zur Prüfung dieser Paragraphen.
 
1. Sachverhalt (verkürzt und vereinfacht)
Der Kläger erwarb im August 2016 einen gebrauchten VW Touran von der S-GmbH, die ein Autohaus betrieb. Der Dieselmotor des Fahrzeugs, Typ EA189, war von der beklagten VW-AG mit einer illegalen technischen Vorrichtung ausgestattet worden, die den Motor speziell für Messungen auf dem Prüfstand in einen besonders schadstoffarmen Modus schaltete. Nur in diesem Modus, also nicht im alltäglichen Fahrbetrieb, hielt das Fahrzeug die Grenzwerte der Euro 5-Norm ein.
Bereits im September 2015 hatte die Beklagte Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie eingestand, dass der Motor des Typs EA189 mit der beschriebenen Vorrichtung ausgestattet war und dass man sich bemüht, den Vorfall in Kooperation mit den Behörden rasch aufzuklären. Im Oktober 2015 hatte das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Beklagte dazu aufgefordert, bei den Fahrzeugen, die mit dem betroffenen Motor ausgestattet waren, in Zukunft einen rechtmäßigen Betrieb zu gewährleisten. Zu diesem Zweck entwickelte die VW-AG ein Software-Update, das die Vorrichtung deaktivierte. Dieses spielte sie u.a. beim Touran des Klägers auf.
Der Kläger begehrt nun von der VW-AG Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises zzgl. Zinszahlung Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs.
 
2. Anspruch auf Schadensersatz iHd. Kaufpreises aus § 823 Abs. 2 BGB wegen Schutzgesetzverletzung
Der erste Schwerpunkt des Falls liegt auf einem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB. Diese Vorschrift knüpft an den Verstoß gegen ein Schutzgesetz an. Der BGH zog drei Schutzgesetze in Betracht.
 
a. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV
Zunächst stellte das Gericht auf zwei Normen aus der Kraftfahrzeuggenehmigungsverordnung ab: §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV.
 
aa. Vorwort
In einer Klausur wird keinesfalls erwartet, dass diese exotischen Vorschriften bekannt sind. Sie wären abgedruckt, damit sie in der Klausur (erstmals) gelesen und ausgelegt werden (Beispiel bei Pohlmann/Scholz JA 2020, 574).
Zusammengefasst ordnen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV an, dass ein Fahrzeug nur dann veräußert werden darf, wenn bescheinigt ist, dass es mit allen einschlägigen Vorschriften übereinstimmt. Zu den einschlägigen Vorschriften zählt insbesondere Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007, wonach Kraftfahrzeuge nicht mit Abschalteinrichtungen ausgestattet werden dürfen, die Emissionskontrollsysteme täuschen.
Die Prüfung des § 823 Abs. 2 BGB wirft regelmäßig drei Fragen auf, die in einer Klausur in aller Regel nacheinander gutachterlich beantwortet werden sollten.

  1. Liegt eine Schutznorm vor?
  2. Wurde die Schutznorm verletzt?
  3. Hat der Anspruchssteller einen Schaden erlitten, der kausal auf die Schutzgesetzverletzung zurückzuführen ist?

 
bb. Kausaler Schaden
Der BGH ging nicht auf die Fragen Nr. 1 und 2 ein, sondern wandte sich in seiner Entscheidung direkt der Frage Nr. 3 zu.
 
(1) Schaden
Um diese zu beantworten, ist zunächst zu prüfen, ob ein Schaden vorliegt. Der Kläger macht als Schaden den Abschluss des Kaufvertrags geltend. Er rügt also die Verletzung seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in ihrer speziellen Ausprägung als wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht.
Als Schaden kommt jede unfreiwillige Einbuße an schadensersatzrechtlich geschützten Rechten, Gütern und Interessen in Frage. Ob eine Einbuße vorliegt, ist im Ausgangspunkt nach der Differenzhypothese zu ermitteln. Es ist also die gegenwärtige Vermögenslage mit der zu vergleichen, die ohne das schädigende Ereignis bestünde. Der Kläger müsste also darlegen, dass er den Kaufvertrag über den Touran nicht abgeschlossen hätte, wenn es nicht zur Schutzgesetzverletzung gekommen wäre.
Ob dies gelang, ließ der BGH offen, weil es aus seiner Sicht hierauf nicht ankam.
 
(2) Kausalität, insb. Schutzzweck der Norm
Stattdessen befasste sich das Gericht ausführlich mit dem Schutzzweck der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV. Beim Schutzzweck der Norm liegt häufig der Schwerpunkt von Klausuren zu § 823 Abs. 2 BGB. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB kommt nur dann in Frage, wenn das verletzte Schutzgesetz genau vor der Art von Schaden schützen will, die der Anspruchssteller geltend macht. Um dies zu klären, ist der Zweck der Schutznorm durch Auslegung präzise herauszuarbeiten.
Der BGH ging davon aus, dass §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV keinen Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts bezweckten. Hierfür fehlte es an Anhaltspunkten im Gesetz. Dementsprechend hielt das Gericht den geltend gemachten Schaden für nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst. Dieses Ergebnis hielt das Gericht für so eindeutig, dass es nach der Acte-claire-Doktrin auf eine Vorlage an den EuGH verzichtete. Zur Begründung verwies das Gericht auf seine vorangegangene Diesel-Entscheidung aus Mai 2020. Bereits dort hatte es den Anspruch am Schutzzweck §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV scheitern lassen (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – Az. VI ZR 252/19 Rn. 76; s. auch unsere Urteilsbesprechung hier ). Leider hatte der BGH auch dort seine Sichtweise nicht näher erläutert.
Dies enttäuscht ein wenig, da in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum Gegenteiliges ausführlich begründet vertreten wird: Zum einen solle die von §§ 6, 27 Abs. 1 EG-FGV geforderte Übereinstimmungsbescheinigung dem Käufer versichern, dass das Fahrzeug betrieben werden darf. Sie habe den Charakter einer Garantieerklärung. Daher schütze das Verbot des Handelns mit Fahrzeugen, denen diese Bescheinigung fehlt, Käufer davor, ein Fahrzeug zu erwerben, das nicht betrieben werden darf (LG Ingolstadt, Urt. v. 15. Mai 2018 – Az. 42 O 1199/17 = BeckRS 2018, 33798 Rn. 25-37; Artz/Harke NJW 2017, 3409, 3412 f.). Zum anderen sei wegen des Effektivitätsgebots (effet utile) und der großen Bedeutung der Übereinstimmungsbescheinigung für das europarechtlich geprägte Typgenehmigungsverfahren ein Individualschutz durch § 27 Abs. 1 EG-FGV gar nicht erforderlich. Nach den Grundsätzen der EuGH-Entscheidung in der Rs. Muñoz (EuGH, Urt. v. 17. September 2002 – Rs. C-253/00 = Slg. I 2002, 7289) müsse es für den Anspruch genügen, dass das Unionsrecht eine privatrechtliche Sanktion gebietet (Harke VuR 2017, 83, 84 f.).
Für die Sichtweise des BGH lässt sich jedoch anführen, dass es in der Tat schwer ist, dem § 27 Abs. 1 EG-FGV konkrete Anhaltspunkte für einen Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Käufers zu entnehmen. Das EG-FGV regelt das öffentlich-rechtliche Typengenehmigungsverfahren, in das der Käufer nicht eingebunden ist. Auch hätte die beschriebene Deutung der Rs. Muñoz einen beachtlichen Eingriff in die Dogmatik des § 823 Abs. 2 BGB zur Folge, dessen Notwendigkeit fraglich ist (ablehnend auch Armbrüster ZIP 2019, 837, 839 f.; Lorenz NJW 2020, 1924; Riehm DAR 2019, 247, 248 f.; skeptisch ebenfalls Gutzeit JuS 2019, 649, 656).
Folgt man an dieser Stelle dem BGH, scheiden §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV als Schutzgesetze aus.
 
b. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007
Im Anschluss wandte sich der BGH der Frage zu, ob Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 als Schutzgesetz dem Kläger zu einem Anspruch verhelfen konnte.
Auch dies verneinte er, was angesichts der Bewertung der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV konsequent ist. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass sie das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht des Käufers schützen will. Ausweislich ihrer Erwägungsgründe diene die Richtlinie dem Umwelt- und Gesundheitsschutz. Das Effektivitätsgebot ändere hieran nichts. Laut der Rs. Muñoz könne dieses zwar gebieten, dass die Verletzung von Unionsrecht in einem Zivilprozess geltend gemacht werden kann, allerdings müsse der Betroffene hierfür durch die Norm geschützt werden. Die Rs Muñoz zwinge also nicht dazu, auf den Individualschutz des Schutzgesetzes zu verzichten. Da die VO keinen Individualschutz bezwecke, könne deren Verletzung daher keinen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen.
Schließt man sich dem an, eröffnet auch Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 dem Kläger keinen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB.
 
c. Zu § 263 Abs. 1 StGB, § 31 BGB
aa. Schwerpunkt: Verletzung des Schutzgesetzes
Im Anschluss stellte der BGH auf § 263 StGB als Schutzgesetz ab. Für § 263 Abs. 1 StGB ist anerkannt, dass es sich um ein Schutzgesetz handelt. Auch war der geltend gemachte Schaden zweifellos vom Schutzzweck der Norm umfasst. Daher kam es hier entscheidend darauf an, ob der Betrugstatbestand erfüllt war.
An dieser Stelle wäre in einer Klausur eine vollständige, gutachterliche Inzidentprüfung des § 263 Abs. 1 StGB geboten.
 
bb. Objektiver Tatbestand
Zu Täuschung und Irrtum gibt der Sachverhalt keine Informationen. Es sei an dieser Stelle unterstellt, dass beide Merkmale vorliegen. In einer Klausur sollte man bei diesen Merkmalen insbesondere an die Problembereiche Täuschung durch Unterlassen, Aufklärungspflichten und sachgedankliches Mitbewusstsein denken (eingehend Berg Jura 2020, 239, 240 f.; Isfen JA 2016, 1, 2 f.).
Die notwendige Vermögensverfügung nahm der Kläger dadurch vor, dass er mit der S-GmbH einen Kaufvertrag abschloss und sich dadurch zur Kaufpreiszahlung verpflichtete (Eingehungsbetrug).
Fraglich ist der Vermögensschaden. Ein solcher liegt vor, wenn die Verfügung nicht durch eine Gegenleistung kompensiert wird. Dies ist im Ausgangspunkt durch eine Saldierung der wechselseitigen Leistungen zu beurteilen. Als Kompensation kommt der Anspruch des Käufers auf Verschaffung des Fahrzeugs (§ 433 I 1 BGB) in Frage. Dieser Anspruch glich die Vermögensverfügung aus, wenn die Kaufsache ihr Geld wert war. Ein Vermögensschaden kann also nicht bereits darin erblickt werden, dass der Käufer einen Vertrag abgeschlossen hat, den er ohne Täuschung nicht abgeschlossen hätte. Das Merkmal „Vermögensschaden“ ist wegen des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots enger auszulegen als der zivilrechtliche Schadensbegriff. An dieser Stelle wäre etwa zu klären, ob das Update zu einer Wertminderung führte oder ob ein Fall des subjektiven Schadenseinschlags vorlag. Der BGH ließ offen, ob ein Schaden vorlag, da er jedenfalls den subjektiven Tatbestand nicht für erfüllt hielt.
 
cc. Subjektiver Tatbestand
Im subjektiven Tatbestand ist das Merkmal der Bereicherungsabsicht problematisch. Diese liegt vor, wenn der Täter für sich selbst oder einen Dritten nach einem Vermögensvorteil strebt, auf den er keinen Anspruch hat und der mit dem Vermögensschaden stoffgleich ist. Da die Beklagte keinen Bezug zum Kaufvertrag zwischen dem Kläger und der S-GmbH hatte, kommt nur eine Drittbereicherungsabsicht zugunsten der S-GmbH in Frage.
Zweifelhaft ist, ob die Beklagte nach einem stoffgleichen Vorteil der S-GmbH strebte. Stoffgleichheit liegt vor, wenn der Vermögensschaden des Opfers die unmittelbare Kehrseite des angestrebten Vermögensvorteils ist.
Aus Sicht des BGH fehlte es hieran: Die Beklagte wollte durch ihre Manipulation ihre Fahrzeuge günstiger produzieren und dadurch ihren Umsatz steigern. Dieses Ziel wurde bereits durch den Verkauf als Neuwagen erreicht. Ein späterer Weiterverkauf der Wagen als Gebrauchtfahrzeuge war der Beklagten daher egal. Deshalb lag keine Bereicherungsabsicht vor.
 
dd. Ergebnis
Gegen § 263 Abs. 1 StGB wurde nicht verstoßen. Daher fehlt es bereits an einer Schutzgesetzverletzung.
 
d. Ergebnis
Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB bestehen nicht.
 
3. § 826 BGB
Schließlich setzte sich der BGH mit einem Anspruch aus § 826 BGB auseinander. § 826 BGB erfordert eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt meistens beim Merkmal der Sittenwidrigkeit. So verhält es sich auch im Fall: Der BGH befasste sich im Wesentlichen damit, ob das oben beschriebene Verhalten der beklagten Herstellerin sittenwidrig war.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, das sich also durch eine besondere Verwerflichkeit auszeichnet. Um dies zu beurteilen, ist das gesamte Verhalten des Schädigers zwischen der ersten Schädigungshandlung und dem Schadenseintritt in den Blick zu nehmen.
 
a. Sittenwidrigkeit bei Kauf vor Bekanntwerden der Manipulation
Der BGH hatte bereits im Mai entschieden (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – Az. VI ZR 252/19 = NJW 2020, 1962 Rn. 13-28), dass das Inverkehrbringen der Fahrzeuge mit einer illegalen Abschalteinrichtung zur Manipulation von Abgastests sittenwidrig ist. Der Hersteller habe zum Zweck der Gewinnerzielung seine arglosen Kunden in großem Umfang vorsätzlich, systematisch und langjährig darüber getäuscht, dass die Fahrzeuge die gesetzlichen Vorgaben einhielten. Dabei habe er die Gefahr in Kauf genommen, dass den Kunden der Betrieb der Fahrzeuge untersagt wird.
 
b. Keine Sittenwidrigkeit bei Kauf nach Bekanntwerden der Manipulation
Diese Bewertung beschränkte der BGH nun im Juli jedoch auf Kunden, die ihre Fahrzeuge vor Bekanntwerden der Manipulationen gekauft haben. Bei Kunden, die ihre Wagen erst später erworben haben, sei eine abweichende Beurteilung geboten, weil bei diesen ein größerer Zeitraum in den Blick genommen werden könne.
Durch die Offenlegung des Vorfalls habe die Beklagte zum einen das Vertrauen der Kunden in die Vorschriftsmäßigkeit der Fahrzeuge zerstört, also deren Arglosigkeit beseitigt. Zum anderen habe sie es aufgegeben, die Manipulation zu verschleiern. Stattdessen habe sie sich – wenn auch nur begrenzt freiwillig – um deren Aufklärung bemüht. Zudem habe sie eine Lösung entwickelt, um in Zukunft einen rechtmäßigen Betrieb der Fahrzeuge zu ermöglichen, um also die Folgen der Manipulation zu minimieren.
Wegen dieser Umstände sei das Verhalten der Beklagten insgesamt als nicht mehr sittenwidrig zu bewerten.
 
c. Zusammenfassung
Kunden, die ihr manipuliertes Fahrzeug vor Bekanntwerden der Manipulation erworben haben, wurden hierzu durch arglistige Täuschung, also durch ein sittenwidriges Verhalten der Herstellerin bewegt. Sittenwidrigkeit liegt vor, weil die Aufklärungs- und Verbesserungsbemühungen der Herstellerin für diese Kunden erst nach Schadenseintritt (Vertragsschluss) kamen, also zu spät, um im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung berücksichtigt zu werden. Deshalb können diese Kunden über § 826 BGB die Rückabwicklung ihrer Verträge erwirken.
Kunden, die ihr Fahrzeug demgegenüber erst nach Bekanntwerden der Manipulation erworben haben, haben keine Ansprüche aus § 826 BGB, weil hier auch die Aufklärungs- und Reparaturbemühungen der Herstellerin zu berücksichtigen sind, die den Sittenwidrigkeitsvorwurf insgesamt entfallen lassen.
 
d. Kritik und Alternativlösung
Es ist gut nachvollziehbar, dass der BGH nach dem Erwerbszeitpunkt unterscheidet. Jedoch tut er dies an einer fragwürdigen Stelle. Aus seiner Sicht hängt es vom Zeitpunkt des Kaufs ab, ob ein und dasselbe Verhalten, das Täuschen über die Manipulation, sittenwidrig ist oder nicht. Dies ist widersprüchlich und überspannt die bei § 826 BGB vorzunehmende Gesamtbetrachtung aller Fallumstände.
Treffender wäre eine Lösung über die Kausalität: Kauft jemand in Kenntnis der Manipulationsfälle ein Fahrzeug, kann er keinen Anspruch auf § 826 BGB darauf stützen, dass er das Fahrzeug gekauft hat, weil er auf das Nichtvorliegen einer Manipulation vertraut hat. Es fehlt also nicht an der Sittenwidrigkeit, sondern an der Kausalität zwischen Täuschung und Schaden (zutr. Arnold JuS 2020, 1076; Heese NJW 2019, 257, 262; Petzold NJW 2020, 1326, 1327).
 
4. Zusammenfassung
Wer einen Gebrauchtwagen nach Bekanntwerden der Dieselmanipulation kauft, kann hieraus keine Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB ableiten.
Bei § 823 Abs. 2 sieht der BGH das Problem bei den Schutzgesetzen: Weder §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV noch Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 schützen das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht. § 263 Abs. 1 StGB scheitere an der Stoffgleichheit. Bei § 826 BGB fehle es an der Sittenwidrigkeit, weil beim Kauf erst nach Bekanntwerden der Manipulation die Aufklärungs- und Reparaturbemühungen zugunsten der Herstellerin zu würdigen seien.

25.01.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-01-25 09:00:382021-01-25 09:00:38BGH: Schadensersatz bei Kauf eines gebrauchten VW-Diesels nach Bekanntwerden der Abgasmanipulation
Dr. Lena Bleckmann

BGH: Neues zur Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs bei Versterben des Opfers

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Äußert sich der Bundesgerichtshof zu grundlegenden Fragen des Strafrechts, so sollte das Studenten und Examenskandidaten gleichermaßen aufhorchen lassen. So verdient auch die Entscheidung vom 17. März 2020 (Az. 3 StR 574/19) besondere Aufmerksamkeit. Sie beantwortet entscheidende Fragen zum spezifischen Gefahrzusammenhang beim Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB) und gibt so Anlass, die objektive Zurechnung allgemein sowie die Voraussetzungen erfolgsqualifizierter Delikte zu wiederholen.
I. Was ist passiert?
Eine 84 Jahre alte Frau, die nicht mehr bei guter Gesundheit war, hatte bei ihrer Bank 600 Euro abgehoben und diese in ihrer Handtasche verstaut. Die Handtasche legte sie wiederum in den Korb ihres Rollators und wickelte den Gurt um den Rollatorgriff. So machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg, als der Täter von hinten mit dem Fahrrad an ihr vorbeifuhr und die Handtasche ergriff. Dies tat er, obwohl er sah, dass die Tasche am Rollator befestigt war und sich so aufdrängen musste, dass die Gefahr bestand, dass das Opfer den Halt verlieren und schwer stürzen würde. So kam es auch: Der Frau entglitt der Rollator, sie stürzte und schlug mit dem Kopf auf dem Gehweg auf. Sie erlitt schwerste Schäden. Nach einer Operation erlangte sie aufgrund des während dieser erlittenen Blutverlustes das Bewusstsein nicht wieder. In Übereinstimmung mit der bestehenden Patientenverfügung der Frau stellten die Ärzte die Behandlung ein, sodass die Frau schließlich verstarb.
II. Hat der Täter sich wegen Raubes mit Todesfolge nach § 251 StGB strafbar gemacht?
Mit dieser Frage setzte sich der BGH auseinander. Bevor man sich in einer vergleichbaren Klausur mit den im Mittelpunkt stehenden Fragen des Zurechnungszusammenhangs auseinandersetzen kann, sind die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen dieses erfolgsqualifizierten Delikts zu prüfen.

  1. Verwirklichung des Grunddelikts

Der Anfang ist schnell gefunden: Zunächst muss das Grunddelikt des § 249 StGB verwirklicht sein. Hierzu muss der Täter ein qualifiziertes Nötigungsmittel eingesetzt haben. In Betracht kommt hier allein die Anwendung von Gewalt gegen eine Person, d.h. die Zufügung eines gegenwärtigen, auf den Körper bezogenen Übels von einiger Erheblichkeit.

Anmerkung:  In einer Klausur kann an dieser Stelle durchaus diskutiert werden, ob das Wegreißen der Tasche ausreicht, um das Merkmal der Gewalt gegen eine Person zu erfüllen. Bloße Sachgewalt reicht nicht aus, ebenso darf der eingesetzte Kraftaufwand nicht allein der Ergreifung der Sache dienen. Der Täter muss in zur Überwindung eines zumindest erwarteten Widerstandes handeln.

Der BGH ging vorliegend davon aus, dass das Wegreißen der Tasche als Gewalt gegen eine Person eingeordnet werden kann. Bei der Tasche als Raubobjekt handelt es sich auch um eine fremde bewegliche Sache. Diese muss der Täter weggenommen, d.h. fremden Gewahrsam gebrochen und neuen, nicht notwendigerweise eigenen Gewahrsam begründet haben. Zwar kann man das Bestehen fremden Gewahrsams aufgrund der Platzierung der Tasche in dem offenen Korb des Rollators kurz problematisieren, im Ergebnis ist dies jedoch eindeutig zu bejahen, zumal das Opfer den Gurt der Tasche zusätzlich am Rollator befestigt hatte. Die übrigen Merkmale der Wegnahme sind ebenfalls zu bejahen – insbesondere bedarf es hier keiner breiten Auseinandersetzung mit der typischen Problematik der Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung. Nach dem äußeren Erscheinungsbild der Tat liegt eindeutig ein „Nehmen“ vor und auch eine Mitwirkung des Opfers ist zur Erlangung des Gewahrsams nicht erforderlich, sodass die Ansichten der Literatur und Rechtsprechung zu demselben Ergebnis kommen. Auch der notwendige räumlich-zeitliche Zusammenhang sowie der subjektive Finalzusammenhang zwischen Einsatz des Nötigungsmittels und Wegnahme liegen vor. Der Täter handelte vorsätzlich hinsichtlich des Einsatzes des Nötigungsmittels sowie der Wegnahme und auch in der Absicht rechtswidriger Bereicherung.

  1. Erfolgsqualifikation

Neben den Merkmalen des Raubes muss auch der qualifizierte Erfolg des § 251 StGB eingetreten sein. Mit dem Tod des Opfers ist das der Fall. Ohne die Gewaltausübung zur Wegnahme der Tasche wäre die Frau auch nicht gestürzt und schließlich nicht verstorben, sodass der notwendige Kausalzusammenhang zwischen Grunddelikt und Erfolg nach der Äquivalenztheorie vorliegt.
Der Tod muss nach § 251 StGB „wenigstens leichtfertig“ herbeigeführt worden sein. Da sich dem Täter der Geschehensablauf ebenso aufdrängen musste, dass ein solch schwerer Sturz einer älteren Person gravierende Gesundheitsschäden oder den Tod zur Folge haben könnte, kann die Leichtfertigkeit bejaht werden (zu den Anforderungen der Leichtfertigkeit siehe MüKoStGB/Sander, 3. Aufl. 2017, § 251 Rn. 12).
Dies allein reicht jedoch nicht aus, um die Voraussetzungen des gegenüber dem bloßen Raub wesentlich höher bestraften Tatbestands des § 251 StGB zu erfüllen. Erforderlich ist – wie bei jedem erfolgsqualifizierten Delikt – das Vorliegen eines spezifischen Gefahrzusammenhangs. Der BGH führt hierzu aus:

„Die deutlich erhöhte Strafdrohung für den Raub mit Todesfolge gebietet eine einschränkende Auslegung des § 251 StGB. Eine wenigstens leichtfertige Todesverursachung durch die Tat ist danach nur dann anzunehmen, wenn nicht nur der Ursachenzusammenhang im Sinne der Bedingungstheorie gegeben ist, sondern sich im Tod des Opfers tatbestandsspezifische Risiken verwirklichen, die typischerweise mit dem Grundtatbestand einhergehen. Dem speziellen Unrechtsgehalt des § 251 StGB ist nur genügt, wenn sich die dem Raub innewohnende Gefahr für die betroffenen Rechtsgüter in einer über den bloßen Ursachenzusammenhang hinausgehenden Weise in der Todesfolge niedergeschlagen hat. Dieser qualifikationsspezifische Zusammenhang ist allerdings auch dann gegeben, wenn die den Tod des Opfers herbeiführende Handlung zwar nicht mehr in finaler Verknüpfung mit der Wegnahme steht, sie mit dem Raubgeschehen aber derart eng verbunden ist, dass sich in der Todesfolge die der konkreten Raubtat eigene besondere Gefährlichkeit verwirklicht.“ (BGH, Beschl. v. 17.3.2020 – 3 StR 574/19, Rn. 7)

Es bietet sich an, in zwei Schritten vorzugehen: Zunächst ist zu prüfen, ob der Todeserfolg nach allgemeinen Kriterien objektiv zurechenbar ist. In einem zweiten Schritt ist zu hinterfragen, ob sich die dem Raub typischerweise anhaftende Gefahr, d.h. die Gefahr der qualifizierten Nötigung, verwirklicht hat. Vorliegend liegt das Problem bereits auf der Stufe der objektiven Zurechnung: Der Zusammenhang kann unterbrochen sein, wenn der Todeserfolg erst durch Handeln eines Dritten oder des Opfers selbst eintritt. Allerdings genügt nicht jedes Dazwischentreten des Opfers oder eines Dritten: Nach dem BGH sind „das Gewicht und die Bedeutung des Eingriffs für den weiteren Geschehensablauf in Betracht zu ziehen. Insoweit ist etwa von Belang, ob die Realisierung der spezifischen Todesgefahr durch das Eingreifen des Opfers nur beschleunigt oder durch diese erst geschaffen wurde.“ (BGH, Beschl. v. 17.3.2020 – 3 StR 574/19, Rn. 8)
a. Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch die Operation
Als den Zurechnungszusammenhang unterbrechende Umstände kommen die Operation des Opfers sowie der Behandlungsabbruch aufgrund der Patientenverfügung in Betracht.
Die Operation stellte einen Versuch dar, das Leben des Opfers zu retten. Als solcher unterbricht sie den Zurechnungszusammenhang nicht:

„Der im Krankenhaus unternommene Behandlungsversuch wurde mit dem Ziel durchgeführt, der mit der Tat in Gang gesetzten Risikoverwirklichung Einhalt zu gebieten. Dass diese Bemühungen fehlschlugen, beruhte nicht auf einem eigenständigen, von den behandelnden Ärzten verantworteten neuen Risiko für das Leben der dann Verstorbenen. Vielmehr war ein möglicher tödlicher Ausgang der medizinisch indizierten und lege artis durchgeführten Operation bereits zum Zeitpunkt der Tat in der Konstitution des Raubopfers angelegt.“ (BGH, Beschl. v. 17.3.2020 – 3 StR 574/19, Rn. 13)

b. Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch den Behandlungsabbruch
Und auch die Patientenverfügung als solche bzw. der ihr nachfolgende Behandlungsabbruch kann nicht dazu führen, dass die objektive Zurechenbarkeit des Todeserfolgs verneint wird. Anerkannt ist, dass ein bloßes Unterlassen des Opfers oder eines Dritten nicht geeignet ist, den Zurechnungszusammenhang zwischen einer aktiven Handlung des Täters und dem Erfolg zu unterbrechen – vielmehr verwirklicht sich allein das vom Täter gesetzte Risiko. Nimmt das Opfer also keine ärztliche Hilfe in Anspruch, obwohl ihm dies möglich wäre, und verstirbt in der Folge, bleibt dies dem Täter zurechenbar. Nichts anderes kann gelten, wenn das Opfer sich nicht erst nach der Tat, sondern bereits zuvor im Rahmen einer Patientenverfügung gegen die Inanspruchnahme bestimmter ärztlicher Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere lebensverlängernder Maßnahmen entschieden hat. Dies muss umso mehr gelten, als dass das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts besonders geschützt ist (siehe hierzu auch unsere Besprechung der wichtigen BVerfG-Entscheidung zum Grundrecht auf Suizid). Der BGH führt hierzu aus:

„Zudem vermag die in der Patientenverfügung der Verstorbenen zum Ausdruck kommende eigenverantwortliche Entscheidung, auf eine „Maximaltherapie“ im Sinne einer apparategestützten Lebensverlängerung verzichten zu wollen, bei wertender Betrachtung auch aus rechtlichen Gründen eine zurechnungsunterbrechende Wirkung nicht zu entfalten. Der eigenverantwortlich in der Patientenverfügung niedergelegte Wille der Verstorbenen ist als Ausdruck ihres verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts zu werten, wonach ein Patient in jeder Lebensphase, auch am Lebensende, das Recht hat, selbstbestimmt zu entscheiden, ob er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen will.“ (BGH, Beschl. v. 17.3.2020 – 3 StR 574/19, Rn. 15)

An dieser Wertung ändert sich auch nichts durch die Tatsache, dass die Ärzte die Behandlung einstellten:

„Der Arzt, der in Umsetzung einer Patientenverfügung einen moribunden Zustand nicht durch intensivmedizinische Maßnahmen verlängert, beugt sich damit in Übereinstimmung mit den rechtlichen Vorgaben lediglich dem Patientenwillen. Eine Zurechnungsunterbrechung folgt hieraus nicht.“ (BGH, Beschl. v. 17.3.2020 – 3 StR 574/19, Rn. 17)

Es handelt sich auch nicht um einen inadäquaten Geschehensverlauf: Sowohl die Schwere der Verletzung, als auch die Möglichkeit des Bestehens einer Patientenverfügung waren vorhersehbar (so auch BGH, Beschl. v. 17.3.2020 – 3 StR 574/19, Rn. 18). Mithin verwirklicht sich in dem Tod des Opfers das vom Täter durch die gewaltsame Wegnahme der Tasche gesetzte Risiko, der Erfolg ist ihm objektiv zurechenbar.
Die übrigen Prüfungspunkte sind schnell abgehandelt: Neben der objektiven Zurechnung verwirklicht sich auch die spezifische Gefahr der Gewaltanwendung, sodass der gefahrspezifische Zusammenhang gegeben ist. Der Täter handelte auch rechtswidrig und schuldhaft – wobei im Rahmen der Schuldprüfung auf die subjektive Leichtfertigkeit des Täters einzugehen ist – und hat sich somit gemäß § 251 StGB strafbar gemacht.
III. Ausblick
Der vom BGH zu beurteilende Sachverhalt könnte ohne große Veränderung als Klausur gestellt werden. Trotz der Einkleidung in eine Prüfung des § 251 StGB liegt der Schwerpunkt der Problematik vielmehr im Allgemeinen Teil des Strafrechts. Die aufgeworfenen Fragen können nicht nur im Zusammenhang mit erfolgsqualifizierten Delikten relevant werden, sondern betreffen grundlegend die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs. Durch das Spezialproblem der Patientenverfügung erfordert die Prüfung ein gewisses Argumentationsgeschick. Wer sich indes die Grundlagen der objektiven Zurechnung vergegenwärtigt und die grundrechtliche Wertung hinsichtlich des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben berücksichtigt, wird diesen und ähnliche Fälle ohne Probleme bewältigen können.

23.11.2020/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
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