Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Ansgar Kalle veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Lehrstuhl Prof. Dr. Stefan Greiner.
Die hier zu besprechende Entscheidung des BGH (Urt. v. 23. April 2020 – Az. III ZR 251/17 = NJW 2020, 3106) setzt sich mit zwei Grundlagenthemen des Deliktsrechts auseinander: den Verkehrssicherungspflichten und der Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens. Beide Themen haben gemeinsam, dass ihre überzeugende Bewältigung in Klausuren eine am Sachverhalt orientierte, lebensnahe und wertungsmäßig überzeugende Argumentation voraussetzt. Damit eignen sie sich aus Prüfersicht hervorragend, um Argumentationsvermögen zu testen. Dementsprechend handelt es sich um beliebte Klausurthemen.
I. Sachverhalt (verkürzt und vereinfacht)
Der Kläger fuhr mit seinem neuen, mit Klickpedalen ausgestatteten Mountainbike mit ca. 16 km/h über einen ihm bislang unbekannten und unbefestigten Feldweg durch einen Wald. Dieser stand im Eigentum der beklagten Gemeinde und war für Radfahrer zugelassen. Auf dem Feldweg befand sich eine Absperrung. Diese bestand aus zwei parallel verlaufenden Stacheldrähten, die in einer Höhe von 60 bzw. 90 cm verliefen und über den Weg gespannt waren. An den Drähten war das Verkehrszeichen 260 angebracht, das Kraftfahrzeugen die Durchfahrt verbot. Der Bürgermeister der Gemeinde hatte das Hindernis errichten lassen, um illegale Abfallentsorgung zu verhindern. Der Bürgermeister der Beklagten inspizierte das Hindernis ca. einmal pro Monat.
Der Kläger kannte das Hindernis nicht und war daher überrascht, als er es bemerkte. Er versuchte, sein Fahrrad durch eine Vollbremsung rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Bei seinem Bremsmanöver verlor er die Kontrolle über das Fahrrad, stürzte kopfüber in den Draht und zog sich erhebliche Verletzungen zu.
Nun begehrt der Kläger Schadensersatz und Schmerzensgeld von der Gemeinde.
Anmerkung: Neben der Gemeinde wurden die beiden für den Wald zuständigen Jagdpächter verklagt. Für das Verständnis der examensrelevanten Aspekte genügt es jedoch, den Anspruch gegen die Gemeinde in den Blick zu nehmen. Im Folgenden soll daher allein dieser erörtert werden.
II. Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 839 Abs. 1 S. 1 BGB iVm. Art. 34 S. 1 GG
Da der Anspruch einen potentiellen Verstoß gegen eine Amtspflicht zum Gegenstand hat, ist die Prüfung nicht mit § 823 Abs. 1 BGB einzuleiten, sondern mit § 839 Abs. 1 S. 1 BGB iVm. Art. 34 S. 1 GG als lex specialis (zum Konkurrenzverhältnis und zur Abgrenzung von allgemeiner Deliktshaftung und Amtshaftung anschaulich OLG Koblenz, Urt. v. 18.3.2016 – 1 U 832/15 = NJW-RR 2016, 796).
1. Beamter im haftungsrechtlichen Sinn & Amtshandeln
Der Bürgermeister der Beklagten ist unzweifelhaft Beamter im haftungsrechtlichen Sinn. Als solcher gilt nicht nur jeder Statusbeamte, sondern darüber hinaus jede andere Stelle, die hoheitlich handelt (Voßkuhle/Kaiser JuS 2015, 1076). Dies trifft auf den Bürgermeister zu, da dieser zahlreiche Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, z.B. die Verwaltung der gemeindeeigenen Straßen und Feldwege. Der Aufbau des Hindernisses geschah zur Erfüllung dieser Aufgabe, mithin nicht in privater, sondern in amtlicher Funktion.
2. Verletzung einer Amtspflicht
Problematischer ist das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung. Die Gemeinde trug nach dem einschlägigen Landesrecht (§§ 9 Abs. 1 S. 1, 10 Abs. 4 S. 1, 15 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 4 lit. a StrWG SH) in ihrem Hoheitsgebiet die Straßenbaulast. Daher war sie u.a. dafür verantwortlich, dass ihre Feldwege sicher genutzt werden konnten (näher Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 31 ff.). Somit ergab sich bereits aus öffentlichem Recht eine ausdrückliche Amtspflicht in Form einer Verkehrssicherungspflicht.
Es stellt sich die Frage, ob die Gemeinde diese Pflicht durch den Aufbau des Hindernisses verletzt hat. Anknüpfungspunkt des deliktischen Vorwurfs ist also eine mittelbare Verletzungshandlung, das Schaffen einer Gefahrenquelle.
Der Adressat einer Verkehrssicherungspflicht hat – so der BGH – „die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern“ (BGH, Urt. v. 23.4.2010 – Az. III ZR 251/17 = NJW 2020, 3106 Rn. 24 mwN). Die Gemeinde hätte also verhindern müssen, dass es zu Gefahrensituationen kommt. Damit war es ihr insbesondere verwehrt, eine ungesicherte Gefahrquellen zu schaffen.
Zu klären ist damit zunächst, ob es sich beim Stacheldraht um eine Gefahrenquelle handelte. Indem die Gemeinde einen Stacheldraht über einen Feldweg aufspannte, schuf sie die Gefahr, dass Personen mit diesem kollidierten und sich dabei verletzen. Diese Gefahr war erheblich: Zum einen barg der Stacheldraht aufgrund seiner Beschaffenheit beachtliches Verletzungspotential. Zum anderen war er dünn und daher schwer zu erkennen. Schließlich handelte es sich um ein äußerst unübliches Hindernis, mit dem Wegnutzer nicht zu rechnen hatten und das daher überraschend wirkte.
Zur Gefahrverringerung beschränkte sich die Gemeinde im Wesentlichen darauf, ein Verkehrsschild an den Drähten zu befestigen. Gemessen an der Erheblichkeit der Gefahr war diese Maßnahme nicht ausreichend: Die Montage des Hinweisschilds konnte die Gefährlichkeit des Stacheldrahts kaum verringern. Vielmehr war das Schild Bestandteil des ungewöhnlichen Hindernisses. Sein Aussagegehalt war irreführend, da das Verbot von Kraftfahrzeugen Radfahrern suggerierte, dass ihr Verkehrsmittel auf dem Weg genutzt werden konnte. Damit trug das Schild eher zur Gefahrerhöhung als zur -verringerung bei.
Zu ihrer Entlastung trug die Gemeinde drei Einwände vor, die der BGH jedoch mit Recht allesamt als unbeachtlich verwarf.
Zunächst argumentierte die Gemeinde, dass der Draht bereits aus einer Entfernung von zehn bis 15 Metern sichtbar war. Dies war für den BGH jedoch irrelevant, da dies nichts daran änderte, dass der Draht ein tückisches Hindernis war, das leicht übersehen werden konnte.
Weiterhin argumentierte die Gemeinde, dass der Weg nur selten von Radfahrern genutzt wurde. Auch diesen Einwand wies der BGH zurück: Da der Weg für den Radverkehr freigegeben war, hatte die Gemeinde Gefahren für Radfahrer zu minimieren. Damit durfte sie vermeidbare Gefahrquellen gar nicht erst schaffen. Dass der Weg nur selten genutzt wurde, reduziere allenfalls den Umfang der gebotenen Verkehrssicherung, rechtfertige aber keine Gefahrschaffung.
Schließlich trug die Gemeinde vor, dass sie ihre Verkehrssicherungspflicht an die Jagdpächter übertragen hatte und daher nicht für die Verletzung dieser Pflichten verantwortlich gemacht werden konnte. Jedoch war zum einen nicht bewiesen, dass die Beklagte ihre Pflicht delegiert hatte; hierzu hätte es einer eindeutigen Vereinbarung bedurft (vgl. BGH, Urt. v. 22.1.2008 – VI ZR 126/07 = NJW 2008, 1440 Rn. 9). Zum anderen hätte eine Delegation lediglich dazu geführt, dass sich die Verkehrssicherungspflicht zu einer Kontroll- und Überwachungspflicht weiterentwickelt hätte (anschaulich Förster JA 2019, 1, 5; Beispiel in Gutachtenform bei Greiner/Kalle, Fallsammlung Schuldrecht II, 2. Aufl. 2020, Fall 48). Auch gegen eine solche Pflicht hätte die Gemeinde indessen verstoßen, weil der Bürgermeister das Hindernis kannte und hiergegen nichts unternahm.
3. Zwischenergebnis
Im Übrigen ist der Tatbestand des Amtshaftungsanspruchs ohne Weiteres gegeben. Die Gemeinde ist passivlegitimiert, da die persönliche Haftung des Bürgermeisters nach der Anvertrauenstheorie gemäß Art. 34 S. 1 GG auf die Gemeinde übergeleitet wird (vgl. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 113 f.; zum Hintergrund der Haftungsüberleitung vertiefend Sauer JuS 2012, 695 ff.).
4. Haftungsprivilegierungen
Bevor der Amtshaftungsanspruch jedoch zugesprochen wird, sind die zahlreichen Privilegierungen des § 839 BGB anzudenken. Im Fall kommt eine nur subsidiäre Haftung der Gemeinde gemäß § 839 Abs. 1 S. 2 BGB in Betracht, da der Bürgermeister in Bezug auf die Verletzung des Klägers lediglich fahrlässig iSv. § 276 II BGB gehandelt hat. Allerdings rechtfertigt sich die Subsidiaritätsklausel historisch nur dadurch, dass sich die Amtshaftung vor Inkrafttreten von Art. 34 GG nicht gegen den Staat, sondern gegen den Beamten persönlich gerichtet hatte. Deshalb legt der BGH das Fahrlässigkeitsprivileg mittlerweile restriktiv aus. So findet es unter anderem keine Anwendung auf die Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten (vgl. BGH, Urt. v. 1.7.1993 – III ZR 167/92 = BGHZ 123, 102, 104 f.).
5. Mitverschulden
Schließlich bleibt zu klären, ob der Anspruch des Klägers wegen Mitverschuldens nach § 254 Abs. 1 BGB zu kürzen ist.
Man könnte dem Kläger zunächst vorwerfen, zu schnell gefahren zu sein, um Hindernisse rechtzeitig wahrnehmen zu können. Dies wäre ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 S. 4 StVO gewesen. In der Tat scheint es naheliegend, dem Kläger ein zu hohes Tempo vorzuwerfen, weil er nicht mehr rechtzeitig abbremsen konnte, als er das Hindernis wahrnahm. Allerdings findet das Sichtfahrgebot seine Grenze im Vertrauensgrundsatz. Der Verkehrsteilnehmer muss bei der Wahl seiner Geschwindigkeit nicht damit rechnen, dass Objekte, die anfänglich nicht als Gefahrenquelle erkennbar sind, sich später völlig überraschend als Hindernisse zu erkennen geben. Andernfalls würde das Pflichtenprogramm von Verkehrsteilnehmern überspannt werden. Der Stacheldraht war ein solches Hindernis, mit dessen Vorliegen der Kläger in keiner Weise rechnen musste und das im Rahmen des Sichtfahrgebots nicht sinnvoll berücksichtigt werden konnte. Daher kann dem Kläger kein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 S. 4 StVO vorgeworfen werden.
Auch die Durchführung der Vollbremsung kann dem Kläger nicht als Mitverschulden angelastet werden. Selbst wenn diese zu abrupt durchgeführt worden wäre, wäre dies nicht schuldhaft gewesen. Der Kläger wurde durch das Hindernis derart überrascht, dass er kaum Reaktionszeit hatte. In dieser Notsituation kann ihm ein evtl. überstürztes und unvorsichtiges Verhalten nicht vorgeworfen werden.
Da der Kläger ein neues Fahrrad nutzte, könnte man ihm weiterhin vorwerfen, nicht hinreichend mit dem Bremsverhalten vertraut gewesen zu sein. Hierfür fehlt es jedoch an hinreichenden Anhaltspunkten. Es ginge zu weit, dem Kläger allein wegen der Neuheit des Fahrrads abzuverlangen, sich so langsam zu bewegen, dass er selbst auf unvorhersehbare Gefahren angemessen reagieren kann.
Der BGH hielt es allerdings für möglich, dass den Kläger ein geringes Mitverschulden (bis zu 25 %) traf, weil er anstelle der herkömmlichen Fahrradpedale eine Klickpedale nutzte. Von einem Mitverschulden dürfte auszugehen sein, wenn der Kläger die Sicherheit des Fahrrads durch diese Modifikation beeinträchtigt hätte. Da die Vorinstanz hierzu jedoch keine Feststellungen getroffen hatte, verwies der BGH den Sachverhalt diesbezüglich zur Klärung zurück.
III. Prozessuales Problem: Heilung von Zustellungsmängeln nach § 189 ZPO
Neben den materiell-rechtlichen Fragen des Deliktsrechts warf der Fall ein interessantes prozessuales Zustellungsproblem auf. Die Zustellung von Klagen ist gelegentlich Thema in Examensklausuren. Die einschlägigen Vorschriften, insb. § 167 ZPO, sollten daher in der Examensvorbereitung zumindest einmal gelesen werden.
Im Fall wurde die Klage gegen die Gemeinde dem Bürgermeister zugestellt. Nach dem einschlägigen Kommunalrecht (§ 3 AmtsO SH) war dieser jedoch nicht gesetzlicher Vertreter der Gemeinde. Damit war die Zustellung der Klageschrift gemäß § 170 Abs. 1 S. 2 ZPO anfänglich unwirksam. Jedoch bestellte die Gemeinde später einen Prozessbevollmächtigten, dem sie die Klageschrift übergab. Hierdurch wurde der Zustellungsmangel gemäß § 189 ZPO geheilt.
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