Übersicht: Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter
Für die zivilrechtlichen Klausuren im 1. Staatsexamen muss man einige dogmatische Konstruktionen auswendig kennen, die sich im Ernstfall nicht aus dem Gesetz ableiten lassen. Dazu zählt unter anderem auch der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (VSD). Die folgende Übersicht soll Euch einen kurzen Überblick über diese Rechtsfigur verschaffen. Abzugrenzen ist der VSD von der Drittschadensliquidation (s. dazu diesen Artikel).
1. Wozu überhaupt VSD?
Wozu braucht man überhaupt einen VSD? Um eine Rechtsfigur zu verstehen, hilft es, sich zuerst einmal die Interessen der Beteiligten vor Augen zu führen. Bei einem VSD sind typischerweise drei Parteien beteiligt: Die Parteien eines Vertrages (Schuldner und Gläubiger) sowie ein Dritter, der meistens in einer rechtlichen oder auch nur faktischen Sonderbeziehung zu dem Gläubiger steht.
Angenommen, der Schuldner fügt dem Dritten einen Schaden zu. Der Dritte unterhält in den VSD-Fällen keine eigene vertragliche Beziehung zu dem Schuldner. Er kann gegen diesen also keine originären vertraglichen Ansprüche herleiten, sondern müsste sich ohne den VSD allein auf deliktische Ansprüche (insbesondere §§ 823 ff. BGB) stützen.
Das kann für den Dritten äußerst nachteilig sein: Die vertragliche Haftung schützt das gesamte Vermögen, das Verschulden des Schuldners wird nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB vermutet und es erfolgt eine Zurechnung des Verschuldens von Erfüllungsgehilfen über § 278 BGB. Demgegenüber schützt § 823 Abs. 1 BGB nur bestimmte Rechtsgüter und gerade nicht das Vermögen an sich, das Verschulden muss der Dritte darlegen und beweisen und eine Zurechnung über § 278 BGB erfolgt ebenfalls nicht, sondern es gilt für Gehilfen § 831 BGB mit der Möglichkeit für den Schuldner, sich zu exkulpieren.
Der Dritte hat also ein Interesse daran, den Schuldner aus vertraglicher Grundlage in Anspruch zu nehmen, obwohl er keinen Vertrag zu dem Schuldner unterhält. Dieses Interesse kollidiert mit dem Grundsatz der Relativität der Schuldverhältnisse: Verträge berechtigen und verpflichten grundsätzlich nur die Vertragsparteien, keine Dritten. Der Schuldner wird deshalb nicht ganz zu Unrecht einwenden, dass er sich gegenüber dem Dritten nicht vertraglich verpflichtet habe und nur „eingeschränkt“ nach den §§ 823 ff. BGB hafte.
Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Relativität der Schuldverhältnisse kennen allerdings die §§ 328 ff. BGB: Danach sind Verträge zugunsten Dritter zulässig. Unmittelbar regeln die §§ 328 ff. BGB nur den echten Vertrag zugunsten Dritter, bei dem der Dritte ein Leistungsforderungsrecht bzw. einen Erfüllungsanspruch gegen den Schuldner erhält. Die Rechtsprechung hat diese Regelungen aber auch als dogmatische Grundlage für den VSD herangezogen (zuletzt BGH, Urt. v. 12.1.2011 – VIII ZR 346/09, NJW-RR 2011, 462 Rn. 9) und so unter bestimmten Voraussetzungen dem Dritten vertragliche Ansprüche gegen den Schuldner zugebilligt.
Noch weiter geht Canaris, der eine Dogmatik der Haftung für die Inanspruchnahme von Vertrauen entwickelt hat, die zwischen Vertrag und Delikt angesiedelt sein soll (bei Interesse zur Vertiefung: Canaris, JZ 1965, 475; ders., ZHR 163 (1999), 206 – sicherlich kein Examensstoff).
2. Tatbestand des VSD
a) Leistungsnähe des Dritten
Erste Voraussetzung für einen VSD ist, dass der Dritte eine gewisse Nähe zu der Leistung des Schuldners aufweist. Das ist nach der Rechtsprechung der Fall, wenn der Dritte wie der Gläubiger selbst mit der Leistung des Vermieters in Berührung kommt (zuletzt BGH, Urt. v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152 Rn. 19). Das ist Wertungsfrage im Einzelfall. In der Klausur bietet sich als Testfrage an, ob der Dritte von einer Schlechtleistung typischerweise ebenso betroffen ist wie der Gläubiger.
b) Einbeziehungsinteresse des Gläubigers
Zweite Voraussetzung für einen VSD ist, dass der Gläubiger ein Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrages hat. Die Rechtsprechung verkürzt dies regelmäßig auf die Formel, dass der Gläubiger dem Dritten „Schutz und Fürsorge zu gewährleisten hat“ (zuletzt BGH, Urt. v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152 Rn. 19) bzw. ob er für dessen „Wohl und Wehe“ verantwortlich ist. Tatsächlich stellt dieses Kriterium wohl das schwierigste Merkmal im Rahmen der Prüfung des VSD dar, weil der Rechtsanwender in wertender Betrachtung die Grenze zwischen schuldrechtlichem Sonderverhältnis und deliktischer Haftung zu ziehen hat. Wie schwierig diese Abgrenzung ist, zeigt sich daran, dass die Rechtsprechung in der Vergangenheit einen VSD zum Teil selbst dann bejaht hat, wenn die Interessen von Gläubiger und Drittem diametral entgegengesetzt waren (BGH, Urt. v. 7. 2. 2002 – III ZR 1/01, NJW 2002, 1196, 1197; BGH, Urt. v. 2.4.1998 – III ZR 245/96, BGHZ 138, 257, 261). Von dieser Position ist der BGH zwar anscheinend wieder etwas abgerückt; eine für alle Sachverhalte gültige Musterlösung gibt es aber dennoch nicht. Hier ist die Argumentation im Einzelfall besonders wichtig.
c) Erkennbarkeit für den Schuldner
Ferner muss das Einbeziehungsinteresse des Gläubigers für den Schuldner erkennbar sein (zuletzt BGH, Urt. v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152 Rn. 19). Hintergrund dieser Einschränkung ist, dass dem Schuldner keine uferlose Haftung aus dem von ihm abgeschlossenen Vertrag zugemutet werden darf. Anderenfalls wäre seine Willenserklärung, die auf den Abschluss eines Vertrages nur mit dem Gläubiger gerichtet ist, Makulatur. Die Grenzen zwischen vertraglicher und deliktischer Haftung würden aufgehoben. Als Faustformel gilt, dass der Kreis der Dritten für den Schuldner (abstrakt) überschaubar sein muss (so BGH, Urt. v. 2.7.1996 – X ZR 104/94, NJW 1996, 2927, 2928), ihm aber die Zahl oder gar der Name der Dritten nicht bekannt sein muss (so BGH, Urt. v. 20.4.2004 – X ZR 250/02, NJW 2004, 3035, 3038).
d) Subsidiarität
Um eine uferlose Ausdehnung des Kreises der in den Schutzbereich einbezogenen Personen zu vermeiden, schließt die Rechtsprechung schließlich solche Personen aus dem Schutzbereich aus, die eigene Ansprüche gegen den Schuldner haben, die denen entsprechen würden, die ihnen bei einer Einbeziehung in den Schutzbereich des Vertrages zu stehen würden (zuletzt BGH, Urt. v. 12.1.2011 – VIII ZR 346/09, NJW-RR 2011, 462 Rn. 11). Ansprüche aus VSD sind also insbesondere subsidiär zu anderen vertraglichen (!) Ansprüchen. Deliktische Ansprüche sperren den VSD dagegen in der Regel nicht.
3. Rechtsfolgen des VSD
Auf der Rechtsfolgenseite gewährt der VSD – anders als der echte Vertrag zugunsten Dritter (§§ 328 ff. BGB) – keinen Anspruch auf die Leistung. Der VSD ist stets nur auf Schadensersatz gerichtet (zuletzt BGH, Urt. v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152 Rn. 19). Dabei kommt nur ein Schadensersatzanspruch neben der Leistung (§ 280 Abs. 1 BGB) in Betracht, denn auch ein Schadensersatzanspruch statt der Leistung würde einen Primärleistungsanspruch des Dritten voraussetzen.
Da der BGH die §§ 328 ff. BGB als dogmatische Grundlage des VSD heranzieht, ist der Rechtsgedanke des § 334 BGB entsprechend auf den VSD anzuwenden. Der Schuldner kann dem Dritten deshalb dieselben Einwendungen entgegenhalten, die er auch dem Gläubiger entgegenhalten könnte (zuletzt BGH, Urt. v. 23.9.2010 – III ZR 246/09, NJW 2011, 139 Rn. 29). Insbesondere muss sich der Dritte ein Mitverschulden des Gläubigers aus § 254 BGB entgegenhalten lassen (zuletzt BGH, Urt. v. 23.9.2010 – III ZR 246/09, NJW 2011, 139 Rn. 29); Entsprechendes gilt für vertragliche (AGB!) oder gesetzliche Haftungsbeschränkungen.
4. VSD in der Klausur
In der Klausur ist der VSD immer unter dem Prüfungspunkt „Schuldverhältnis“ zu prüfen. Praktisch wird dies bei § 280 Abs. 1 BGB. Zu beachten ist, dass es auch ein vorvertragliches Schuldverhältnis zugunsten Dritter gibt. Das hat der BGH in dem berühmten „Gemüseblattfall“ entschieden (BGH, Urt. v. 28.1.1976 – VIII ZR 246/74, BGHZ 66, 51 = NJW 1976, 712). Hier wäre der VSD nach heutiger Rechtslage im Rahmen eines Anspruchs aus den §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 bzw. Abs. 3 BGB unter dem Prüfungspunkt „Schuldverhältnis“ zu thematisieren.
Für den Schuldner muss nicht nur das Einbeziehungsinteresse des Gläubigers erkennbar (b) sein, sondern auch auch die Leistungsnähe des Dritten (a).