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Schlagwortarchiv für: Religionsfreiheit

Micha Mackenbrock

Keine Gesichtsschleier am Steuer

Aktuelles, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Uncategorized, Verwaltungsrecht

Fragen im Zusammenhang mit dem Kopftuch oder einer Gesichtsverschleierung werden nicht nur in der Gesellschaft kontrovers diskutiert, sondern auch die Gerichte haben sich regelmäßig mit ihnen zu beschäftigen. So auch das OVG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 13.08.2024 – 7 A 10660/23.OVG, NJW 2024, 3532): Im hier vorliegenden Fall ging es darum, ob eine Muslima mit Gesichtsschleier Auto fahren darf.

I. Der Sachverhalt

Die Klägerin K ist gläubige und praktizierende Muslima. In der Öffentlichkeit trägt sie aufgrund ihres Glaubens einen Niqab. Ein Niqab ist ein Schleier, der das ganze Gesicht verdeckt und dabei nur einen schmalen Schlitz für die Augen freilässt. K ist der Auffassung, dass sie eine Sünde begehen würde, wenn sie ohne Niqab in der Öffentlichkeit auftrete. Sie möchte auch beim Autofahren den Niqab tragen, um ihr Gesicht vor anderen Verkehrsteilnehmern zu verdecken. Dem steht aber § 23 IV 1 StVO entgegen. Dort heißt es: Wer ein Kraftfahrzeug führt, darf sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist.

1. Auffassung der Klägerin

K beantragte eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 II StVO. Sie sei auf das Autofahren angewiesen, da sie unter Knieschmerzen leide und im ÖPNV schon Opfer von Angriffen und Beleidigungen aufgrund des Tragens des Gesichtsschleiers geworden sei. K argumentiert, dass das Verhüllungsverbot gemäß § 23 IV 1 StVO verfassungswidrig sei, da es schwerwiegende Grundrechtsverletzungen und einen Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt darstelle. Insbesondere werde die Glaubensfreiheit verletzt, da muslimische Frauen durch das Verbot besonders betroffen seien und keine Möglichkeit bestünde, auf andere Verkehrsmittel auszuweichen. Das gesetzgeberische Ziel der Verkehrsüberwachung könne auch durch andere Maßnahmen wie Fahrtenbücher oder einer individuellen Kennzeichnung des Gesichtsschleiers erreicht werden. Außerdem sei das Tragen eines Gesichtsschleiers nicht nachweislich gefährlicher als andere Formen der Gesichtsbedeckungen, wie zum Beispiel einer Corona-Schutzmaske. Die Ablehnung einer Ausnahmegenehmigung verstoße gegen Art. 3 GG, da muslimische Frauen benachteiligt würden und Angehörige anderer Religionen sowie männliche Muslime ihre religiöse Kleidung tragen dürften.

K beantragt bei Gericht, dass die beklagte Straßenverkehrsbehörde dazu verpflichtet wird, ihr die Ausnahmegenehmigung zu erteilen.

2. Auffassung der Straßenverkehrsbehörde

Die für die Erteilung zuständige Straßenverkehrsbehörde lehnt eine Erteilung jedoch ab: Es läge kein besonders dringender Einzel- beziehungsweise Ausnahmefall im Sinne des § 46 II StVO vor, welcher die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung rechtfertigen würde. Die K könne anstatt ihres Autos ein Motorrad fahren und mit dem Motorradhelm ihr Gesicht im Straßenverkehr verdecken. Außerdem sei der ÖPNV in ihrer Heimatstadt gut ausgebaut, so dass K mit ihrem Knie keine weiten Fußwege zur Haltstelle gehen müsse. Zudem unterscheide sich eine potentielle Diskriminierung im ÖPNV wegen ihres Gesichtsschleiers nicht von sonstigen Diskriminierungen, die K in der Öffentlichkeit erleide. Der Eingriff in die Glaubensfreiheit der Klägerin sei gering. Dagegen überwiege das Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs sowie an der Identifizierbarkeit der Verkehrsteilnehmer im Rahmen von automatisierten Verkehrskontrollen, wie zum Beispiel Radarkontrollen.

II. Die Entscheidung

Das erstinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht gab der K kein Recht: B müsse keine Ausnahmegenehmigung erteilen (VG Neustadt a.d. Weinstraße, 26.07.2023 – 3 K 26/23.NW, BeckRS 2023, 18778). Der hiergegen gerichtete Antrag der K auf Zulassung der Berufung wurde vom OVG Rheinland-Pfalz abgelehnt. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, § 124 II Nr. 1 VwGO.

1. Verfassungsmäßigkeit des § 23 IV StVO

Es läge zwar ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG vor. Dieser sei aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

a) Kein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt

Der Parlaments- beziehungsweise Wesentlichkeitsvorbehalt bestimmt, dass das Demokratiegebot und das Rechtsstaatsprinzip den Gesetzgeber verpflichten, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen (BVerfG, 8.8.1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359 (360)). Für Autofahrer sei das Verschleierungsverbot aber örtlich und zeitlich stark begrenzt. Dass Kopftücher und Gesichtsschleier in der Gesellschaft viel diskutiert werden, würde nicht dazu führen, dass eine entsprechende Regelung „wesentlich“ sei (OVG Koblenz 13.8.2024 – 7 A 10660/23.OVG, NJW 2024, 3532, Rn. 14). Die Rechtsverordnung § 23 StVO beruht auf der Verordnungsermächtigung des § 6 StVG. Art. 80 I 2 GG verlangt, dass Verordnungsermächtigung bestimmt genug sein müssen. Das im konkreten Fall erforderliche Maß an Bestimmtheit hängt dabei auch von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab. Bei vielgestaltigen, komplexen Lebenssachverhalten sind geringere Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen als bei einfach gelagerten Lebenssachverhalten.

Es bestünden keine Bedenken an der hinreichenden Bestimmtheit von § 6 StVG. Die Norm erlaubt dem Verordnungsgeber, Maßnahmen zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr zu erlassen. Eine vollständige Aufzählung aller denkbaren Fälle durch den Gesetzgeber sei aufgrund der Vielseitigkeit der Regelungsbereiche und der Fachkompetenz des Bundesverkehrsministeriums nicht erforderlich. Auch Eingriffe in die Religionsfreiheit würden keinen höheren Grad an Bestimmtheit erfordern. Außerdem erfolge der Eingriffe in die Religionsfreiheit hier nur mittelbar. Damit stelle § 23 StVO stellen keine wesentliche Entscheidung dar, welche dem Parlamentsvorbehalt unterliegt (OVG Koblenz 13.8.2024 – 7 A 10660/23.OVG, NJW 2024, 3532, Rn. 16 f.).

b) Verhältnismäßigkeit

Der durch § 23 IV StVO in die Religionsfreiheit erfolgende Eingriff sei auch verhältnismäßig. Der Zweck der Verordnung, nämlich der Schutz von Leib und Leben im Straßenverkehr, sei legitim. Das Schleierverbot sei auch geeignet, diesen Zweck zu erreichen, indem es zur Identifizierbarkeit von Verkehrsteilnehmern beiträgt und aus beschränkter Rundumsicht hervorgerufenen Unfällen vorbeugt.

Das Schleierverbot sei auch erforderlich, also das mildeste unter den gleich effektiven Mitteln. K meint zwar, sie könne ein Fahrtenbuch führen. Ein Fahrtenbuch ist ein Buch, in welches der Zeitpunkt des Beginns und des Endes sowie der Name des Fahrzeugführers bei jeder Fahrt eingetragen wird. Ein Fahrtenbuch könne die Rundumsicht eines Fahrzeugführers aber nicht gewährleisten, so das OVG. Auch wäre eine fahrzeugbezogene Fahrtenbuchauflage zur Identifikation eines verschleierten Fahrzeugführers nicht gleich geeignet wie ein Verschleierungsverbot, weil es der K aufgrund ihrer Fahrerlaubnis freisteht, jedes andere KFZ zu fahren. So könne es auch sein, dass Fahrten unter Einsatz eines Niqabs mit Fahrzeugen erfolgen, deren Halter die K nicht ist und für die keine Fahrtenbuchauflage bestünde. Außerdem sei es denkbar, dass es innerhalb einer Familie oder eines Freundes- oder Bekanntenkreises mehrere Personen mit Zugriff auf ein Kraftfahrzeug gibt, die ein Niqab tragen. Somit kämen mehrere Personen als Fahrzeugführer in Betracht und eine Identifikation sei unmöglich. Auch könne ein Fahrtenbuch gar nicht oder unrichtig geführt werden. Die K meint, dass eine Identifikation auch darüber erreicht werden könne, dass sie ein individuelles, einmaliges Kennzeichen auf dem Gesichtsschleier befestige, an welchem sie identifiziert werden könne. Das sei aber ebenfalls nicht gleich effektiv, so das OVG, denn mit so einem Kennzeichen könne nur das Kleidungsstück, nicht aber eine Person identifiziert werden.

Schließlich sei § 23 IV StVO auch angemessen. Es bestünden viele Alternativen zum Autofahren, so dass die K nicht in einen unauflösbaren Interessenkonflikt zwischen Glaubensausübung und ihrer Fortbewegungsfreiheit stehe. Auch aus Art. 4 I, II GG folge kein Anspruch darauf, ein KFZ zu selbstgewählten Bedingungen führen zu dürfen. Insgesamt läge keine hohe Eingriffsintensität vor.

2. Rechtmäßige Versagung der Ausnahmegenehmigung

Das Gericht entscheidet, dass der K auch im hier vorliegenden Einzelfall keine Ausnahmegenehmigung hätte erteilt werden müssen. Die Knieprobleme der K würden einer Benutzung des ÖPNV nicht entgegenstehen, denn die K muss keine weiten Fußwege zur Haltestelle auf sich nehmen. Außerdem würden im ÖPNV in der Regel genügend Sitzplätze zur Verfügung stehen. Alternativ könne die K auch ein Motorrad beziehungsweise ein Moped fahren und mittels des Helms ihrem Glaubensgebot nachkommen.

3. Ergebnis

Die beklagte Straßenverkehrsbehörde ist nicht dazu verpflichtet, der K eine Ausnahmegenehmigung vom Verschleierungsverbot zu erteilen.

III. Fazit

Das Urteil reiht sich ein in eine Rechtsprechung, die zu Ungunsten von Kopftuchträgerin entscheidet (siehe hierzu: BVerfG, 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049; BAG, 27.8.2020 – 8 AZR 62/19, NZA 2021, 189; anders hingegen: BVerfG, 18.10.2016 – 1 BvR 354/11, NVwZ 2017, 549; BVerfG, 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, NJW 2015, 1359). Es ist anzunehmen, dass Kopftücher und Verschleierungen auch in Zukunft die Gerichte beschäftigen werden. Somit ist die Thematik auch für die Klausurenersteller der Justizprüfungsämter interessant, so dass Studierende hierzu infomiert bleiben sollten.

13.02.2025/0 Kommentare/von Micha Mackenbrock
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Micha Mackenbrock https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Micha Mackenbrock2025-02-13 10:59:112025-06-03 08:52:50Keine Gesichtsschleier am Steuer
Redaktion

Gedächtnisprotokoll Öffentliches Recht I Mai 2024 NRW

Aktuelles, Examensreport, Nordrhein-Westfalen, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns sehr, ein Gedächtnisprotokoll zur ersten Klausur im Öffentlichen Recht des Mai-Durchgangs 2024 in Nordrhein-Westfalen veröffentlichen zu können und danken Laura erneut ganz herzlich für die Zusendung. Selbstverständlich kann juraexamen.info keine Gewähr dafür geben, dass die in Gedächtnisprotokollen wiedergegebene Aufgabenstellung auch der tatsächlichen entspricht. Dennoch sollen Euch die Protokolle als Anhaltspunkt dienen, was euch im Examen erwartet.

Sachverhalt

In der kreisfreien Stadt D in NRW gibt es eine Gesamtschule mit einer gymnasialen Oberstufe (G). Die Schule wird von Schülern unterschiedlichster Religionsangehörigkeit besucht. Schon häufiger kam es zwischen den Schülern zu Spannungen auf Grund der verschiedenen Religionen.

Der 18-jährige A besucht die Oberstufe der G und ist seit kurzem Mitglied einer Glaubensgruppe die der Meinung ist, nur sie würden den christlichen Glauben richtig interpretieren. Dazu gehört, laut ihnen, auch das tägliche 10-minütige verpflichtende Gebet zwischen 12 und 13 Uhr. Dafür müssen sie sich auf den Boden vor einer Wand knien und laut beten. Der A fühlt sich demgegenüber verpflichtet und möchte nicht darauf verzichten oder leise beten.

Deswegen sucht er am 22.5 zum ersten Mal einen leeren Flur der Schule auf, um in der Pause diesem verpflichtenden Gebet nachzukommen. Dabei wird er rasch von anderen Schülern bemerkt. Einige fühlen sich davon provoziert und gestört und tun dies lautstark kund, andere wiederum verteidigen vehement diesen christlichen Glauben und schreien die anderen Schüler an. Der A beteiligt sich nicht an diesen Auseinandersetzungen und erscheint auch pünktlich zum Unterrichtsbeginn. Die Auseinandersetzungen sorgen aber dafür, dass der Unterricht nicht reibungslos abläuft.

Die Schulleiterin L zitiert den A deswegen in ihr Büro und ordnet ihm (formell rechtmäßig) ein Verbot des rituellen Betens auf dem Schulgelände, gem. § 43 III 3 SchulG NRW an, außerdem stellt sie ihm in Aussicht das Verstöße dagegen auch erzieherische Maßnahmen oder Ordnungsmaßnahmen nach sich ziehen können.

Der A lässt sich davon nicht beirren und so sucht er auch am 23.5 wieder einen leeren Flur auf, um dem Gebet nachzukommen. Dabei wird er auch wieder von Schülern bemerkt und wieder kommt es zu Auseinandersetzungen an denen A sich nicht beteiligt. Die L ermahnt den A und verweist ihn auf das Gespräch und den angedrohten Konsequenzen vom 22.5.

Auch am darauffolgenden Tag sucht der A wieder den Flur auf um beten zu können. Noch bevor andere Schüler ihn bemerken können, bemerkt die L ihn und zitiert ihn zusammen mit seiner Klassenlehrerin in ihr Büro. Nach Anhörung des A (§ 53 VI iVm § 123 I SchulG NRW) übergibt L dem A den schriftlichen und begründeten Unterrichtsausschluss für zwei Wochen beginnend ab dem folgenden Montag 27.5.

Der A legt noch am gleichen Tag einen formell rechtmäßigen Widerspruch und auch noch am gleichen Tag einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen das Land NRW beim zuständigen Verwaltungsgericht ein.

Laut A würde das Gebetsverbot ihn in seiner Religionsfreiheit aus Art. 4 GG einschränken, außerdem wäre es in Anbetracht der § 2 Abs. 6 Nr. 4 und 7 SchulG NRW Aufgabe der Schule ihm eine freie Religionsausübung zu gewährleisten. Deswegen wäre das Gebetsverbot sowieso rechtswidrig.

Außerdem würde ihn ein Unterrichtsausschluss benachteiligen, da seine Noten aktuell schon nicht gut sind und in Anbetracht der schon in einem Jahr stattfindenden Abiturprüfungen, würde diese harte „Sanktion“ unverhältnismäßig in sein Recht auf Bildung aus Art. 2 und 7 GG, § 1 SchulG NRW eingreifen.

Die G führt dagegen aus, dass sie schon alleine aufgrund der religiösen Neutralität solche rituellen Gebete unterbinden müsse. Deswegen könne das Gebetsverbot gar nicht rechtswidrig sein und wurde deswegen auch rechtmäßig angeordnet. Außerdem könnte sie, wenn der Unterricht gestört wird, nicht mehr ihrer Erziehungs- und Bildungspflicht nachkommen, welche sich aus dem Grundgesetz iVm § 1, § 2 SchulG NRW ergibt.

Frage: Hat der Antrag auf Einstweilige Anordnung des Rechtsschutzes Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitervermerk:

– zu prüfen sind NICHT die Landesverfassung NRW, Art. 3 GG

– Aus dem SchulG sind nur die im Sachverhalt genannten Normen zu prüfen, deren Verfassungsmäßigkeit zu unterstellen ist

– unterstellen Sie die Prozess- und Beteiligtenfähigkeit

– Unterstellen Sie, dass der Antrag gegen den richtigen Klagegegner gerichtet ist

03.06.2024/1 Kommentar/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2024-06-03 13:04:412024-06-03 13:04:46Gedächtnisprotokoll Öffentliches Recht I Mai 2024 NRW
Redaktion

Art. 4 I, II GG ­– Religions- und Weltanschauungsfreiheit

Karteikarten, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Uncategorized, Verfassungsrecht

I. Schutzbereich

1. Persönlicher Schutzbereich

→ Jedermannsgrundrecht (auch jur. Personen über Art. 19 III GG

2. Sachlicher Schutzbereich

→ Schützt die Glaubens- Bekenntnis- und Gewissensfreiheit

→ forum internum (Schutz der inneren Überzeugungsbildung) sowie forum externum (Schutz der Verwirklichung und Betätigung der Überzeugung nach außen)

  • Religion = Existenz einer Gottesvorstellung (Transzendenz)
  • Weltanschauung = sonstige metaphysische/ innerweltliche Bezüge
  • Glaube = Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten
  • Gewissen = jede ernste und sittliche, an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend erfährt (kein Zuwiderhandeln ohne ernste Gewissensnot)

II. Eingriff

→ in das Denken, Äußern oder Verhalten, insb. wenn Staat ohne Ausweichmöglichkeit ein Handeln entgegen Glauben/ Gewissen verlangt

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

1. Schranken

→ BVerfG: kein Gesetzesvorbehalt, nur verfassungsimmanente Schranken

→ a.A.: Gesetzesvorbehalt aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. WRV

→ Gewissensfreiheit nur durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar

2. Schranken-Schranke

→ Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw.  praktische Konkordanz

23.10.2023/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2023-10-23 10:00:002023-10-19 12:32:56Art. 4 I, II GG ­– Religions- und Weltanschauungsfreiheit
Gastautor

Zum Begriff von Religion und Weltanschauung: Kein Ausschluss von der Pedelec-Förderung wegen Verweigerung einer Distanzierung von Scientology

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns sehr, einen weiteren Gastbeitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu dürfen. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Projekts Juraexamen.info. 

Das BVerwG (8 C 9.21 – Urteil vom 06. April 2022) urteilte grundrechtfreundlich: Eine Gemeinde darf die Bewilligung einer finanziellen Zuwendung, mit der umweltpolitische Zielsetzungen verfolgt werden, nicht davon abhängig machen, dass die Antragsteller eine Erklärung zur Distanzierung von der Scientology-Organisation abgeben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Erklärungen zur Weltanschauung einzufordern, sei keine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, so dass es bereits an einer Zuständigkeit der Beklagten fehle. Werde eine solche Erklärung verlangt und an deren Verweigerung der Ausschluss von der Förderung geknüpft, greife dies gezielt in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein. Der Eingriff sei schon mangels einer gesetzlichen Grundlage verfassungswidrig. Schließlich verstoße die Vorgehensweise der Beklagten gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Sie stelle eine unzulässige Differenzierung dar, weil sie den Kreis der Förderberechtigten nicht sachgerecht abgrenze, sondern nach Kriterien, die mit dem Förderzweck in keinem Zusammenhang stehen.

Mit dem Ergebnis mag man leben können und das ist vielleicht auch richtig. Die Ausführungen zur Religion- und Weltanschauungsfreiheit lassen aufhorchen. Es wirft die ganz grundlegende Frage auf: Was ist eine Religion? Was ist eine Weltanschauung? Das BAG hat bereits vor vielen Jahren verneint, dass Scientology eine Religion ist (BAG, Beschl. v. 22.3.1995 – 5 AZB 21/94, NJW 1996, 143; Thüsing, ZevKR 2000, 592 – auch rechtsvergleichend). Das BVerwG hat schon in der Vergangenheit tendenziell großzügiger argumentiert: (BVerwG, Urt. v. 14.11.1980 – 8 C 12/79, NJW 1981, 1460; BVerwG, Beschl. v. 16.2.1995 – 1 B 205/93,  NVwZ 1995, 473; OVG Hamburg, Beschl. v. 24.8.1994 – Bs III 326/93, NVwZ 1995, 498). Für die Religion gibt das Grundgesetz keine Legaldefinition. Das ist verständlich, eignet sich doch der Typus der Religion kaum für eine subsumtionsfähige Definition und wird man doch in den meisten Fällen intuitiv wissen, ob eine bestimmte Überzeugung und Weltsicht eine Religion ist oder nicht. In Bezug auf die Scientology Church versagt diese Intuition: Ob es sich hier um eine Religion handelt, ist fraglich. Deutsche und englische Gerichte verneinen, französische und US-amerikanische Gerichte bejahen dies (Regina v. Registrar General, Ex parte Segerdal (1970) 2 QB 697; BVerwG, Urt. v. 15.12.2005 – 7 C 20/04, NJW 2006, 1303; Hernandez v. Commissioner, 490 U.S. 680, 109 S.C. 2136 (1989); Lyon, 28.7.1997, D. 1997, IR, 197 f.).

Das BVerfG hat eine solche Definition ebenfalls nicht formuliert. Einiges ist heute vielleicht überholt. Das BVerfG stellte schon vor einiger Zeit fest, das Grundgesetz habe „nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf der Basis gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat“ (BVerfG, Beschl. v. 8.11.1960 – 1 BvR 59/56, NJW 1961, 211). Diese stark auf die christlich-abendländische Geschichte bezogene Beschreibung der Religionsausübungsfreiheit findet Entsprechungen in vereinzelten Äußerungen des älteren Schrifttums, die Religionsfreiheit wird allgemein als Schutz allein des christlichen Bekenntnisses verstanden. Das BVerfG hat sich jedoch schon 1975 von dem oben zitierten Diktum erkennbar distanziert (BVerfGE, Beschl. v. 17.12.1975 – 1 BvR 63/68, NJW 1976, 947) und auch im Schrifttum wird der ausschließliche Schutz des Christentums und christlicher Religionsgesellschaften nicht mehr vertreten. Allgemein anerkannt ist, dass das Grundgesetz keine unterschiedliche Wertigkeit der Religionen kennt; für den neutralen Staat und den Schutz der Religion ist es nicht entscheidend, was für eine Religion eine Gemeinschaft verkündet, sondern nur, dass sie eine verkündet. Dies schließt indes nicht aus, den Religionsbegriff vor dem Hintergrund der christlichen Gesellschaft zu sehen, in der die Idee der Religionsfreiheit entstand. Die ganz hL – in der heutigen Rspr. findet sich nichts Gegenteiliges – betont demgegenüber, dass der Religionsbegriff des Grundgesetzes nicht aus einem christlichen Blickwinkel bestimmt werden dürfe und verlangt eine Interpretation dieser verfassungsrechtlichen Begriffe nach allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten. Dementsprechend dürfe sich das Verfassungsrecht bei der Begriffsbestimmung auch nicht an den Aussagen einzelner Theologen über Wesen und Entstehung von Religion orientieren.

Vielleicht lassen sich aber doch Indizien einer Religion festmachen, die heute in ihrer Gesamtschau dann doch durch typologische Betrachtung eine Gemeinschaft Religion oder Nicht-Religion sein lassen (s. MüKoBGB/Thüsing, 9. Aufl. 2021, AGG § 1 Rn. 28-32):

Daneben steht die Weltanschauung: Religion und Weltanschauung liegen dicht beieinander und beides wird durch das Grundgesetz geschützt. Daher mag es müßig sein, beide Phänomene voneinander zu sondern. Dennoch: Klassisches Abgrenzungskriterium von Religion und Weltanschauung ist die Annahme, dass Religion sich auf Transzendenz bezieht, Weltanschauung dagegen ein rein diesseitig ausgerichtetes Phänomen ist. Liegen die Gründe für unser Geworfensein in diese Existenz in einer Wirklichkeit, die unserer wahrnehmbaren Welt vorgelagert ist, oder nicht? Diese Auffassung steht und fällt mit der Bestimmung eines nicht einfacheren Begriffes als des Religionsbegriffes, mit der Antwort auf die Frage, was Transzendenz ist. Hier hat gerade die Religionswissenschaft der letzten Jahrzehnte eine Aufweichung starrer Begriffe und Unterscheidungen bewirkt. Die Gedanken Emmanuel Lévinas und seine Idee von der Transzendenz in der Immanenz mögen hier nur beispielhaft angeführt werden. Daher wird heute verstärkt das rein subjektive Kriterium des Selbstverständnisses der jeweiligen Gemeinschaft als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal angesehen. (MüKoBGB/Thüsing, 9. Aufl. 2021, AGG § 1 Rn. 34). Fest steht damit jedoch: Auch die Weltanschauung braucht eine umfassende Seinsdeutung. Weltanschauung ist nicht jede Weltsicht säkularer Art, sondern sie muss sich am gleichen umfassenden Anspruch wie die religiöse Überzeugung messen lassen, und sie muss auf die grundlegenden Fragen des Woher und Wohin menschlicher Existenz antworten. Sie muss Konsequenzen haben für das Verhalten des Menschen in dieser Welt. Wo eine Lehre lediglich Teilaspekte des Lebens beleuchtet, mag diese eine Lebensmaxime sein, nicht aber Weltanschauung. Weltanschauung ist das Analogon zur Religion, wenn auch mit säkularen Wurzeln. Deshalb wäre Scientology aus den gleichen Gründen, warum sie keine Religion ist, auch keine Weltanschauung. Die in eine entgegengesetzte Richtung weisende verwaltungsgerichtliche Rspr. vermag nicht zu überzeugen und behandelt die Frage der Eingruppierung von Scientology nur am Rande (VGH München, Beschl. v. 14.2.2003 – 5 CE 02.3212, NVwZ 2003, 998; VGH Mannheim, Urt. v. 12.12.2003 – 1 S 1972/00, NVwZ-RR 2004, 904; OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.3.2004 – 12 LA 410/03, NVwZ-RR 2004, 884).

Die Entscheidung ist also spannend. Wenn nicht nur die Pressemitteilung, sondern die Entscheidungsgründe veröffentlicht sind: Lesen!

11.04.2022/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-04-11 08:45:002022-08-03 08:34:37Zum Begriff von Religion und Weltanschauung: Kein Ausschluss von der Pedelec-Förderung wegen Verweigerung einer Distanzierung von Scientology
Redaktion

Öffentliches Recht II – Oktober 2020 – Berlin/Brandenburg

Berlin, Brandenburg, Examensreport

Nachfolgend erhaltet ihr ein Gedächtnisprotokoll zu einer Examensklausur im Öffentlichen Recht, die im Oktober 2020 in Berlin und Brandenburg gestellt wurde. Ergänzungen und Korrekturanmerkungen sind wie immer gerne gesehen. Wir danken sehr herzlich für die Zusendung.
Unser Examensreport lebt von Eurer Mithilfe. Deshalb bitten wir Euch, uns Gedächtnisprotokolle Eurer Klausuren zuzuschicken, damit wir sie veröffentlichen können. Nur so können eure Nachfolger genauso von der Seite profitieren, wie ihr es getan habt.
 
Die Stadt S betreibt mehrere öffentliche Schwimmbäder, deren Benutzung mit einer formell rechtmäßigen „Bade- und Benutzungsordnung“ geregelt ist. In dieser Ordnung heißt es u.a.:

5.1 Das Baden ist nicht gestattet, soweit Personen an ansteckenden Krankheiten oder    offenen Wunden leiden (z.B. Hautausschlag).
5.2 Beim Baden ist es untersagt, lange Badebekleidung (Neoprenanzug, Badeshirts,       Burkini) zu tragen. Eine Ausnahme gilt für das Tragen eines Burkinis während des     schulischen Schwimmunterrichts.
5.3 Bei Zuwiderhandlungen darf der Badegast dem Gelände verwiesen werde.

Die 38-jährige, streng gläubige, französische Muslimin F lebt in S und möchte mit einem Burkini baden gehen. F empfindet die islamischen Bekleidungsvorschriften, wonach Frauen ab dem zehnten Lebensjahr ihren Körper (u.a. Arme, Beine, Haare) vor den Blicken von Männern verbergen sollen, als für sich bindend. Sie hält die Badeordnung für rechtswidrig.
Die Stadt S hält dem Ansinnen der M entgegen, dass die Maßnahme dem Gesundheitsschutz anderer Badegäste diene. Außerdem sei nicht nur das Tragen von Burkinis, sondern das Tragen jeglicher langer Badebekleidung unzulässig. Zulässig sind danach Bikini, Badeanzug, Herren Bade Slip oder Badehose. Außerdem würden mittlerweile – was zutrifft – auch andere, nicht religiöse Personen Burkinis tragen.
M erhebt vor dem OVG ein Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO. Das OVG entscheidet, dass die Badeordnung rechtmäßig sei. Die zulässige Revision zum BVerwG wird ebenfalls als unbegründet abgewiesen und der M am 21.01.2020 zugestellt. Das BVerwG weist darüber hinaus auf die höchstrichterliche Rechtsprechung hin, wonach es muslimische Mädchen im Schwimmunterricht teilnehmen können, wenn sie einen Burkini tragen. Dies diene dazu, einer Ausgrenzung der Betroffenen entgegenzuwirken und eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu fördern.
M fühlt sich in ihren Grundrechten  aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Weiter könne es nicht sein, dass Schulmädchen einen Burkini tragen dürfen, M aber nicht.
M erhebt Verfassungsbeschwerde gegen das letztinstanzliche Urteil des BVerwG. Dafür schickt sie ein Fax am 21.02.2020 an das BVerfG, welches dort auch am selben Tag eingeht. Aufgrund eines, für M nicht erkennbaren, Defekts des Empfangsgerätes beim BVerfG druckt das Gerät aber nur viele leere Seiten aus. Trotzdem ist erkennbar, dass das Fax von M stammt. Weiter schickt M das unterschriebene Original der Verfassungsbeschwerde am 21.02.2020 per Post los. Das Schreiben kommt am 24.02.2020 beim BVerfG an.
Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitervermerk:
1. Die Fallfrage ist umfassend zu klären, gegebenenfalls ist ein Hilfsgutachten zu erstellen.
2. Europarecht ist bei Beantwortung der Frage nicht zu berücksichtigen.

07.12.2020/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2020-12-07 09:00:252020-12-07 09:00:25Öffentliches Recht II – Oktober 2020 – Berlin/Brandenburg
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 2: Verwaltungsrecht

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerwG (Urt. V. 30.10.2019 – 6 C 18.18): Einstufung von Bushido-Album als jugendgefährdend rechtmäßig
 Das BVerwG hat entschieden, dass die Einstufung des Bushido-Albums „Sonny Black“ als jugendgefährdend rechtmäßig ist:

„Zum einen erfüllt das Album die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Jugendgefährdung im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 JuSchG. Zum anderen ist dem berechtigten Interesse an der Indizierung aus Gründen des Jugendschutzes der Vorrang vor dem durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Interesse des Klägers an der uneingeschränkten Verbreitung des Albums einzuräumen. Die Kunstfreiheit rechtfertigt nicht, Minderjährigen das Album trotz seiner nachteiligen Auswirkungen auf deren Persönlichkeitsentwicklung ungehindert zugänglich zu machen.“

Denn § 18 I JuSchG soll im Rahmen des Möglichen die äußeren Bedingungen für eine charakterliche Entwicklung von Minderjährigen schaffen, die zu Einstellungen und Verhaltensweisen führt, die sich am Menschenbild des Grundgesetzes orientieren, was allerdings durch Medien gefährdet wird, die ein damit in Widerspruch stehendes Wertebild vermitteln. Es genügt, dass eine solche Gefährdung Minderjähriger zumindest ernsthaft möglich erscheint, was auf Grundlage der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ermitteln ist. Maßstab sind insofern nicht sämtliche Minderjährige, sondern nur solche, die aufgrund ihrer Veranlagung, ihres Geschlechts ihrer Erziehung oder Lebensumstände als tatsächlich gefährdungsgeeignet erscheinen. Dennoch genügt die Erfüllung der Voraussetzungen des § 18 I JuSchG nicht, wenn es sich bei den Inhalten des Mediums um Kunstwerke handelt, wobei der Kunstbegriff des Art. 5 III 1 GG maßgeblich ist. Allerdings folgt aus der Kunstfreiheit kein generelles Indizierungsverbot, erforderlich ist vielmehr eine Abwägung von Jugendschutz und Kunstfreiheit. Da das fragliche Album „durch die offene Begehung schwerer Straftaten wie etwa Drogenhandel in Schulen, eine uneingeschränkte Gewaltbereitschaft und den skrupellosen Einsatz brutaler Gewalt aus beliebigen Anlässen gekennzeichnet“ sowie frauenfeindlich und homophob ist und insbesondere von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten gehört wird, die in der Hauptfigur „Sonny Black“ ein Vorbild erkennen könnten, hat das Album erheblich jugendgefährdende Wirkung. Es weist zudem keinen gesteigerten Kunstgehalt auf, sondern dient vorrangig der Unterhaltung. Daher kommt dem Jugendschutz eindeutig der Vorrang zu, sodass die Einstufung des Albums als jugendgefährdend rechtmäßig ist.
 
VGH München (Beschl. v. 5.11.2019 – 11 B 19.703): Kein Anspruch auf Entfernung von Parkmarkierungen
Das Recht auf Anliegergebrauch öffentlicher Straßen wird von  Art. 14 I GG nur in seinem Kernbereich geschützt und reicht daher nur so weit, wie die angemessene Nutzung des Grundeigentums eine Benutzung der Straße auch erfordert. Dies bestimmt sich stets anhand der konkreten Gegebenheiten, wobei grundsätzlich auch die Möglichkeit geschützt ist, das Grundstück mit Kraftfahrzeugen zu erreichen. Dabei genügt es aber regelmäßig – insbesondere in städtischen Gebieten –, dass die Zugänglichkeit für Lieferungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs erhalten bleibt. Können insbesondere Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen das Grundstück problemlos erreichen, wird durch eine Parkregelung regelmäßig nicht in das Recht auf Anliegergebrauch eingegriffen. Soweit nur Lastkraftwagen das Grundstück nicht erreichen können, fehlt i.d.R. es an einer Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte des Anliegers.

 „§ 12 Abs. 1 Nr. 1 StVO regelt das Verhalten der Verkehrsteilnehmer an engen Straßenstellen, enthält aber keine Vorgabe an die Straßenverkehrsbehörde, durch Verkehrsregelungen die Entstehung von Engstellen durch parkende Fahrzeuge in schmalen Wohnstraßen zu verhindern. Erst wenn durch das Parkverhalten Gefahren für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO entstehen, muss die Straßenverkehrsbehörde Maßnahmen erwägen.“

 
OVG Hamburg (Beschl. v. 29.1.2020 – 1 Bs 6/20): Verbot der Vollverschleierung in der Schule
 Das OVG Hamburg hat festgestellt, dass eine an die Mutter einer vollverschleierten Schülerin gerichtete Anordnung, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter nur noch unverschleiert zum Unterricht erscheint, einer eindeutigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, da es sich um einen grundrechtsrelevante Maßnahme handelt: Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. Dies ist bei einem Verschleierungsverbot der Fall:

 „Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird […] dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“

 Nicht ausreichend ist daher eine Regelung, die es lediglich ermöglicht, gegenüber den Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht, eine Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Zwar spricht viel dafür, dass die „Teilnahme am Unterricht“ (i.S.v. §§ 28 II, 41 I 1 HMbSG) über die rein physische Anwesenheit hinaus auch die Kommunikationsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler meint. Es kann jedoch nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass das Tragen eines Gesichtsschleiers im Unterricht die Kommunikation mit der Schülerin unmöglich macht.  Dazu führt das Gericht aus:

 „Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich […]. Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“

S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
 

15.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-15 09:18:052020-04-15 09:18:05Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 2: Verwaltungsrecht
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Der vergangene Woche veröffentlichte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen in Hessen (Az. 2 BvR 1333/17) hat viel mediale Aufmerksamkeit erhalten. Mit den Grundrechten der Religions- und Berufsfreiheit werden absolute Klassiker des Verfassungsrechts relevant – die Kenntnis der Entscheidung dürfte daher in Zukunft sowohl von Examenskandidaten, als auch von jüngeren Semestern erwartet werden. Nicht zuletzt macht auch die Abgrenzung zu anderen Fällen des Kopftuchverbots die Entscheidung besonders interessant für Klausuren und mündliche Prüfungen.
Sachverhalt (gekürzt und abgewandelt)
A ist deutsche Staatsbürgerin und seit 2017 Rechtsreferendarin im Land Hessen. In der Öffentlichkeit trägt sie ein Kopftuch, was sie als Ausdruck ihrer persönlichen Glaubensüberzeugung und Neutralität versteht.
Rechtsreferendare in Hessen werden in ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis berufen. Für sie gelten im Wesentlichen die Vorschriften für Beamte auf Widerruf (§ 27 I 2 JAG Hessen), insbesondere auch § 45 HGB, der lautet:

1Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. 2Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden. 3Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen.

Aus einem diesbezüglich ergangenen Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz folgte, dass Referendarinnen, die während der Ausbildungszeit ein Kopftuch tragen, keine Tätigkeiten ausüben dürfen, bei denen sie von Bürgern als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können. Das heißt insbesondere, dass sie bei Verhandlungen nicht auf der Richterbank, sondern nur im Zuschauerraum sitzen dürfen, keine Sitzungsleitung oder Beweisaufnahme durchführen, Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft übernehmen oder Anhörungsausschutzsitzungen leiten können.Ursprünglich war vorgesehen, dass entsprechende Teile der Ausbildung, die so nicht abgeleistet werden konnten, mit „ungenügend“ bewertet wurden. Dies wurde in der Folgezeit geändert, vielmehr sollte der Umstand fortan keinen Einfluss auf die Gesamtbewertung haben, sondern der entsprechende Abschnitt schlicht als „konnte nicht erbracht werden“ gekennzeichnet werden.
Nachdem A bereits 2017 mit einer Beschwerde und einem Eilantrag gem. § 32 BVerfGG vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert war, klagte sie erfolglos vor den Verwaltungsgerichten. Gegen die Entscheidung des VGH Kassel legte sie Verfassungsbeschwerde ein.
Entscheidung
Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der A nach Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG, §§ 90 ff. BVerfGG wirft keine großen Probleme auf: A ist als natürliche Person und Grundrechtsträgerin beschwerdefähig und kann geltend machen, durch das Urteil des VGH Kassel als Akt öffentlicher Gewalt möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihrer Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG sowie ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG und ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG verletzt zu sein. Der Rechtsweg ist erschöpft und der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt. Das BVerfG bejaht auch nach Abschluss der betroffenen Ausbildungsabschnitte ausdrücklich das Rechtsschutzbedürfnis aufgrund der Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Von der form- und fristgerechten Erhebung der Verfassungsbeschwerde ist auszugehen.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch das letztinstanzliche Urteil in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt wurde.
Hierbei ist wie stets darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist. Es überprüft im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde die Entscheidung des Fachgerichts nicht auf die Vereinbarkeit mit dem einfachen Recht, sondern nur im Hinblick auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.

Beachte: Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist zweistufig zu prüfen, wobei der Bearbeiter sich von vorneherein über die Schwerpunktsetzung im Klaren sein sollte. Zumeist wird das Hauptproblem entweder auf der Stufe des zugrundeliegenden Gesetzes liegen, oder aber auf der Stufe des Einzelaktes. Dies sollte aus der Klausur klar hervorgehen. Im vorliegenden Fall liegt der Schwerpunkt erkennbar bei der Normprüfung.

I. Verletzung der Religionsfreiheit
A könnte in ihrem Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG verletzt sein. Das ist der Fall, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.
1. Eingriff in den Schutzbereich
Das BVerfG bejaht unproblematisch einen Eingriff in den Schutzbereich:

„Die der Beschwerdeführerin auferlegte und vom Verwaltungsgerichtshof bestätigte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentantin des Staates wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden könnte, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Sie stellt die Beschwerdeführerin vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze.“ (Rz. 77, 78; Verweise im Zitat ausgelassen).

Insbesondere kann sich A auch im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnisses auf ihre Grundrechte berufen – sie ist durch das Verbot in ihrer persönlichen Rechtsstellung betroffen, insoweit gelten die Grundrechte auch in Sonderstatusverhältnissen. Auch steht dem Grundrechtsschutz nicht entgegen, dass im Islam unterschiedliche Ansichten zu Bekleidungsvorschriften vertreten werden.
2. Rechtfertigung
Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Das ist der Fall, wenn das Grundrecht beschränkbar ist und die Grenzen der Einschränkungsmöglichkeit („Schranken-Schranken“) eingehalten wurden.
Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist vorbehaltslos gewährleistet. Eine Beschränkung ist dennoch aufgrund verfassungsimmanenter Schranken, namentlich Grundrechten Dritter oder sonstige Werte von Verfassungsrang, möglich. Auch die Beschränkung aufgrund verfassungsimmanenter Schranken bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.
Als einschränkendes Gesetz kommt hier § 27 I 2 JAG i.V.m. § 45 HBG in Betracht. An dessen formeller Verfassungsmäßigkeit bestehen keine Zweifel. Hinsichtlich der Bestimmtheit der Norm führt das BVerfG aus:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fehlt die notwendige Bestimmtheit nicht schon deshalb, weil eine Norm auslegungsbedürftig ist. Dem Bestimmtheitserfordernis ist vielmehr genügt, wenn die Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können. Es ist in erster Linie Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane, Zweifelsfragen zu klären und Auslegungsprobleme mit den herkömmlichen Mitteln juristischer Methode zu bewältigen. Dass dies vorliegend nicht möglich wäre, ist nicht erkennbar. Soweit die Beschwerdeführerin einwendet, es könne anhand des § 45 Satz 2 HBG nicht definiert werden, worin die „objektive Eignung“ eines muslimischen Kopftuchs bestehe, das Vertrauen in die neutrale Amtsführung des Beamten zu beeinträchtigen oder den religiös-weltanschaulichen Frieden zu gefährden, macht sie inhaltlich nicht geltend, dass die Norm zu unbestimmt sei, sondern, dass deren Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt seien. Hiermit stellt sie nicht die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage, sondern die der Rechtsanwendung infrage.“ (Rz. 85, Verweise im Zitat ausgelassen).

Das Gesetz dürfte auch nicht gegen Grundrechte verstoßen.

Beachte: Hierbei handelt es sich um eine einzelaktsunabhängige Grundrechtsprüfung. Die Frage ist, ob das Gesetz schon von sich aus in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und die Grenzen der Einschränkungsmöglichkeit beachtet.

§ 27 I 2 JAG i.V.m. § 45 HBG greift durch das Verbot, religiöse Symbole zu tragen, schon von sich aus in den Schutzbereich der Religionsfreiheit ein. Dies könnte jedoch zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts erfolgen. Als kollidierende Verfassungsgüter kommen die Neutralitätspflicht des Staates, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die negative Religionsfreiheit Dritter in Betracht.
Zur Neutralitätspflicht führt das BVerfG aus:

„Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren. Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist.“ (Rz. 87, Verweise im Zitat ausgelassen).
Hierbei entspricht die Verpflichtung des Staates zur Neutralität einer Verpflichtung seiner Amtsträger: Der Staat kann nur durch seine Amtsträger handeln, sodass diese das Neutralitätsgebot zu wahren haben, soweit ihr Handeln dem Staat zugerechnet wird.
Hier ist eine besondere Betrachtung des Einzelfalls erforderlich. Nicht jede Handlung eines staatlich Bediensteten ist dem Staat in gleicher Weise zuzurechnen. Daher wurde ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen an einer bekenntnisfreien Schule als verfassungswidrig erachtet: Ein solches Bekenntnis wird dem Staat nicht zwingend als eigenes zugerechnet (siehe hierzu BVerfGE 138, 296). Die Situation vor Gericht ist indes besonders dadurch geprägt, dass der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich gegenübertritt. Auch ist eine besondere Formalität und Konformität dadurch gegeben, dass die Richter eine Amtstracht tragen.
„Das unterscheidet die formalisierte Situation vor Gericht, die den einzelnen Amtsträgern auch in ihrem äußeren Auftreten eine klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle zuweist, vom. Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“ (Rz. 90, Verweise im Zitat ausgelassen).

Als weiteres Gut von Verfassungsrang ist die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und insoweit insbesondere das Vertrauen der Bürger in die Justiz zu berücksichtigen. Zwar sein ein absolutes Vertrauen nicht zu erreichen, der Staat habe sich jedoch um Optimierung zu bemühen.

„Auch wenn das religiöse Bekenntnis einzelner Amtsträger allein nicht gegen deren sachgerechte Amtswahrnehmung spricht, kann die erkennbare Distanzierung des einzelnen Richters und der einzelnen Richterin von individuellen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen bei Ausübung ihres Amtes zur Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz insgesamt beitragen und ist umgekehrt die öffentliche Kundgabe von Religiosität geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen, das gerade durch eine besondere persönliche Zurücknahme der zur Entscheidung berufenen Amtsträger geprägt ist.“ (Rz. 92, Verweise im Zitat ausgelassen).

Durch religiöse Symbole im Gerichtssaal kann außerdem die negative Religionsfreiheit Dritter beeinträchtigt sein. Diese umfasst u.a. die Freiheit, sich religiösen Handlungen eines fremden Glaubens zu entziehen und ist beeinträchtigt, wenn der Einzelne sich ohne Entziehungsmöglichkeit solchen Bekenntnissen ausgesetzt sieht.

„Der Gerichtssaal stellt einen solchen Raum dar, in dem der Anblick religiöser Symbole im vorgenannten Sinne unausweichlich sein kann, wenn der Staat ihre Verwendung nicht untersagt. Hiermit kann für einzelne Verfahrensbeteiligte eine Belastung einhergehen, die einer grundrechtlich relevanten Beeinträchtigung gleichkommt“ (Rz. 95).

Nicht beeinträchtigt ist nach dem BVerfG hingegen das Gebot der Unparteilichkeit der Richter: Das Tragen eines religiösen Symbols genüge für sich genommen nicht aus, Zweifel an dessen Objektivität zu begründen. Auch bestehe kein genereller Schutzanspruch für den gesellschaftlich-religiösen Frieden, der es gebiete, Richtern das Tragen religiöser Symbole zu untersagen.
Die widerstreitenden Verfassungsgüter sind im Wege praktischer Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Zu berücksichtigen ist der hohe Wert der Glaubensfreiheit der Amtsträger. Zugunsten der A ist zu bedenken, dass es keinen anderen Weg gibt, das zweite juristische Staatsexamen zu erreichen, als den Vorbereitungsdienst abzuleisten. Auch ist das Tragen des Kopftuchs für sie nicht bloß eine Option, sondern wird von ihr als imperatives religiöses Gebot empfunden. Demgegenüber streitet zugunsten der Verfassungsmäßigkeit der Regelung, dass sich das Verbot auf einzelne Tätigkeiten beschränkt. Auch wird bei den betroffenen Tätigkeiten die Justiz als solche nach außen verkörpert, sodass die Werte, die das Grundgesetz insoweit vorsieht, besonders zu achten sind. (Siehe für die ausführliche Abwägung die Rz. 101 ff. der Entscheidung). Letztlich kommt dem Gesetzgeber in diesem Bereich eine Einschätzungsprärogative zu:

„Hiervon ausgehend ist der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs und die ihm zugrundeliegende Auslegung von § 27 Abs. 1 Satz 2 JAG in Verbindung mit § 45 HBG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Angesichts der konkreten Ausgestaltung des verfahrensgegenständlichen Verbots kommt keiner der kollidierenden Rechtspositionen vorliegend ein derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, der Beschwerdeführerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechtsreferendariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren“ (Rz. 102).

Insoweit ist der Eingriff in die Religionsfreiheit gerechtfertigt.
II. Verletzung sonstiger Grundrechte
Zu einem Eingriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG führt das BVerfG aus:

„Das gegen die Beschwerdeführerin ausgesprochene und im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren bestätigte Verbot, die genannten sitzungsdienstlichen Aufgaben mit Kopftuch wahrzunehmen, greift in diesen Gewährleistungsgehalt ein. Die Ausbildungsfreiheit garantiert aber keinen weitergehenden Schutz als die schrankenlos gewährleistete Religionsfreiheit. Selbst unter der Annahme, dass im Einzelfall die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) betroffen wäre, wenn ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot in Frage steht, wären die vom Landesgesetzgeber verfolgten Ziele der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und des Schutzes der negativen Religionsfreiheit Dritter besonders gewichtige Gemeinschaftsbelange, die die Regelung rechtfertigen.“ ( Rz. 110).

Ebenso ist ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus den gleichen Gründen gerechtfertigt.
Das Gesetz erweist sich insgesamt als verfassungsgemäß. Auch das Urteil des VGH Kassel beruht auf einer verfassungskonformen Anwendung des Gesetzes. A ist durch das Urteil nicht in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Folgen für die Ausbildung
Die Entscheidung des BVerfG könnte weitgehend ohne Abwandlungen so als Klausur gestellt werden. Dem Bearbeiter bietet sich ein weiter Argumentationsspielraum und die Möglichkeit, den sicheren Umgang mit der Urteilsverfassungsbeschwerde und dem Grundrecht der Religionsfreiheit unter Beweis zu stellen.
Insbesondere in Abgrenzung zu früheren Entscheidungen (z.B. Kopftuchverbot für Lehrerinnen) dürfte vorliegendes Urteil relevant werden, sodass sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Argumenten anbietet. Die Entscheidung ist konkret auf Rechtsreferendarinnen bezogen – indes dürfte ähnliches für Richterinnen und Staatsanwältinnen gelten. Entsprechende Entscheidungen bleiben abzuwarten.

02.03.2020/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-03-02 08:30:452020-03-02 08:30:45BVerfG: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß
Dr. Lena Bleckmann

OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule

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Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG ist bei Klausurstellern stets beliebtes Prüfungsthema, nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Fallgestaltungen und der zumeist erforderlichen genauen Abwägung mit gegenläufigen Belangen. Neue Rechtsprechung zum Thema sollte daher besonders Examenskandidaten bekannt sein.
Doch auch für die jüngeren Semester lohnt sich die Lektüre des hier besprochenen Urteils des OVG Hamburg (Az. Beschl. v. 20.12.2019, Az. 1 Bs 6/20): Mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und Fragen der tauglichen Ermächtigungsgrundlage werden insbesondere Fragen des allgemeinen Verwaltungsrechts relevant.
Sachverhalt: (verkürzt und abgewandelt)
Eine 16-jährige Schülerin nahm am Schulunterricht ihrer Berufsschule in Hamburg nur vollverschleiert teil, d.h. sie trug während des Unterrichts einen Gesichtsschleier (Niquab), der nur die Augen ausspart. Auch nach mehrmaliger Aufforderung durch Lehrkräfte und Schulleitung, während der Unterrichtszeiten keinen Gesichtsschleier zu tragen, erschien die Schülerin mit unveränderter Bekleidung zum Unterricht.
Daraufhin forderte die Schulaufsichtsbehörde in einem Bescheid die Mutter der Schülerin dazu auf, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter künftig ohne Gesichtsschleier zur Schule erscheint. Ihre Tochter sei schulpflichtig und es sei Aufgabe der Mutter, dafür zu sorgen, dass ihre Tochter regelmäßig am Unterricht teilnehme. Die Teilnahme erfordere aber, dass eine volle Kommunikation und aktive Mitwirkung am Unterrichtsgeschehen möglich sei, was der Gesichtsschleier aber verhindere. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Dies sei aufgrund des erheblichen öffentlichen Interesses an der Erfüllung der Schulpflicht erforderlich.
Gegen diesen Bescheid legte die Mutter fristgerecht den (unterstellt) erforderlichen Widerspruch ein und stellte einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Sie trägt vor, das Tragen des Schleiers sei Ausdruck der religiösen Überzeugung ihrer Tochter und werde von ihr als verpflichtendes religiöses Gebot angesehen. Auch fehle eine gesetzliche Grundlage für das Verbot der Vollverschleierung im Rahmen des Schulunterrichts.
Wie wird das Gericht über den zulässigen Antrag entscheiden?
Entscheidung
Es handelt sich vorliegend um einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO. Dies folgt daraus, dass die Antragstellerin in der Hauptsache im Wege einer Anfechtungsklage gegen den Bescheid vorgehen müsste und der Widerspruch aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung hat.

Anm.: Ein Antrag nach § 123 VwGO ist demgegenüber subsidiär, § 123 Abs. 5 VwGO. In der Klausur sind die verschiedenen Möglichkeiten vorläufigen Rechtsschutzes kurz voneinander abzugrenzen, wobei in Fällen wie diesem die Zuordnung zu § 80 V VwGO recht eindeutig ist, sodass die Ausführungen nicht zu lang sein sollten.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig, insbesondere hinreichend begründet gemäß den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO.

Beachte: Für die formelle Rechtmäßigkeit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung kommt es nicht darauf an, dass die Begründung inhaltlich tragfähig ist. Entscheidend ist allein, dass die Beweggründe der Behörde in einer auf den Einzelfall bezogenen Art und Weise, d.h. nicht nur durch Wiederholung des Gesetzestextes oder Verwendung bloßer Floskeln, dargelegt sind.

Daher hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur Erfolg, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin dem Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt. Dies richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache – d.h. kurzgefasst, der Antrag hat Erfolg, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.

Anm.: In der Klausur sollte hier auf die richtige Terminologie geachtet werden: Geprüft wird nicht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Vielmehr nimmt das Gericht eine eigene Interessenabwägung vor und ist dabei nicht an die Angaben der Behörde gebunden.

Das OVG Hamburg verneint hier bereits das Bestehen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage.Nach § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG sei es zwar möglich, an die Erziehungsberechtigten bei mehrfacher Nichtteilnahme am Unterricht durch schulpflichtige Schüler eine sog. Schulbesuchsverfügung zu erlassen. Nicht eindeutig ist hierbei aber, was unter „Teilnahme“ am Unterricht zu verstehen ist, insbesondere ob dies nur die körperliche Anwesenheit oder auch die aktive Mitwirkung am Unterricht erfordert (siehe hierzu Rz. 14 ff. der Entscheidung).
Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass schon eine Nichtteilnahme vorliegt, wenn der Schüler zwar körperlich anwesend ist, aber nicht aktiv am Unterrichtsgeschehen mitwirkt, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt, wenn jemand einen Gesichtsschleier trägt: Die Antragsgegnerin trägt zwar vor, durch die Verschleierung sei eine Kommunikation nicht möglich, sodass schon von einer Nichtteilnahme am Unterricht auszugehen sei. Dem hält das OVG Hamburg entgegen:
„Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich (dieses – wohl aufgrund der Annahmen aus einem konkreten Bezugsfall – eher verneinend: Thorsten Anger, Islam in der Schule, Diss. jur., 2003, S. 199 ff.). Im übrigen ist weder substantiiert geltend gemacht worden noch ersichtlich, dass eine NiqabTrägerin nicht verbal mit Gesprächspartnern, seien es Lehrer oder Mitschüler, kommunizieren könnte.“ (Rz. 18)
Somit ist die Voraussetzung der mehrfachen Nichtteilnahme am Unterricht nicht erfüllt und § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG scheidet als Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid aus.

Anm: Das VG Hamburg war zusätzlich noch davon ausgegangen, dass hier die unzuständige Behörde gehandelt hatte. Ob dem tatsächlich so ist, wird in der Entscheidung des OVG Hamburg bezweifelt (Rz. 9 ff.), konnte aber offen bleiben, da inzwischen jedenfalls die zuständige Widerspruchsbehörde einen Widerspruchsbescheid erlassen hatte.

Die Antragsgegnerin stützte den Bescheid hilfsweise auf die polizeiliche Generalklausel (§ 3 Abs. 1 SOG) und sah in dem „Nichtgelingen einer schulischen Qualifikation“ und der Wahrscheinlichkeit der späteren Inanspruchnahme von Sozialleistungen eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Indes ist schon zu bezweifeln, ob die Voraussetzungen der Norm bei Nichterreichen eines Schulabschlusses überhaupt erfüllt wären. Jedenfalls würde dies jedoch gerade auf einem Ausschluss vom Unterricht aufgrund der Vollverschleierung beruhen – ob ein solcher möglich ist, ist aber gerade fraglich. Im Übrigen scheidet ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel auch aufgrund der Spezialität des HmbSG aus.
Weitere Reglungen kommen hier nicht in Betracht, sodass eine Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid nicht besteht.
In der Ausgangsentscheidung ist das VG Hamburg weiterhin darauf eingegangen, ob nach der jetzigen Rechtslage unmittelbar von der Tochter eine Teilnahme am Schulunterricht ohne Gesichtsschleier verlangt werden könnte. Dies wurde mit überzeugenden Argumenten verneint und auch vom OVG nicht beanstandet:
Zwar bedarf nicht jede Regelung durch Lehrkräfte im Schulbetrieb einer expliziten gesetzlichen Grundlage. Insbesondere soweit Grundrechte der Schüler betroffen sind, ist jedoch die Wesentlichkeitstheorie zu beachten, nach der der parlamentarische Gesetzgeber insbesondere grundrechtsrelevante Fragestellungen selbst zu regeln hat. (Anm: in der Klausur sollte hier kurz auf die Geltung von Grundrechten in Sonderstatusverhältnissen eingegangen werden)
„„Wesentliche Entscheidungen“ zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie den grundrechtsrelevanten Bereich betreffen und wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind (BVerfG, Beschluss vom 20.10.1981, a.a.O., juris Rn. 44). Insbesondere bedarf die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 53).
Das Tragen des Gesichtsschleiers während des Unterrichts weist Grundrechtsrelevanz im Hinblick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG der Schüler auf. In deren Schutzbereich wird eingegriffen, wenn der Betroffene gegen ein religiöses Verhaltensgebot, dass aus seiner Sicht zwingenden Charakter hat, verstoßen würde. Hierfür kommt es nicht darauf an, dass eine Vielzahl von Anhängern desselben Glaubens das Gebot für zwingend erachtet:
„Insoweit sind jedoch auch minder verbreitete religiöse Bekleidungsvorschriften zu beachten, die der oder die Betroffene für sich für verbindlich hält. Deshalb kann auch das Tragen einer Bedeckung in Form des Niqabs, d.h. eines Gesichtsschleiers, wie sie heute noch im Jemen und Saudi-Arabien verbreitet ist und von fundamentalistischen Muslimen gefordert bzw. empfohlen wird (…)dem Schutz der Religionsfreiheit unterfallen.“ (VG Hamburg, Az. 2 E 5812/19, Rz. 48).
Vorliegend war davon auszugehen, dass es sich bei den Bekleidungsvorschriften aus Sicht der 16-jährigen Schülerin um ein imperatives Gebot handelte. Verlangt man von ihr, ohne den Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, um ihre Schulpflicht zu erfüllen, so handelt es sich um eine grundrechtsrelevante und damit wesentliche Entscheidung. Zu fordern ist daher eine spezielle Rechtsgrundlage, die im Hamburger Schulgesetz gegenwärtig nicht existiert. Nach jetziger Rechtslage wäre die Anordnung, ohne Gesichtsschleier zum Unterricht zu erscheinen, daher rechtswidrig.
Ob ein entsprechendes Gesetz verfassungskonform wäre, war hier nicht zu entscheiden.
Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin als Adressatin des Verwaltungsakts jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Anfechtungsklage wäre somit erfolgreich.Eine weitere Interessenabwägung ist nicht erforderlich – am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheids besteht kein schützenswertes Interesse. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt, das Gericht wird gem. § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherstellen.
Was bleibt?
Das Urteil bietet einen idealen Ausgangspunkt für eine Klausur im Verwaltungsrecht, um die Grundlagen des Verfahrens im vorläufigen Rechtsschutz zu prüfen. Besondere Schwierigkeiten insbesondere im Hinblick auf den Aufbau als auch auf die Ermächtigungsgrundlage ergeben sich daraus, dass die Mutter der Schülerin, nicht aber die Schülerin selbst Adressatin des Bescheids ist. Zuletzt werden auch grundrechtliche Fragestellungen relevant, sodass es sich in jedem Fall lohnt, sich mit der Entscheidung auseinanderzusetzen.

25.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-02-25 08:53:512020-02-25 08:53:51OVG Hamburg: Verbot der Vollverschleierung in der Schule
Dr. Maike Flink

BVerwG: Kein Anspruch auf Befreiung von der Motorrad-Helmpflicht aus religiösen Gründen

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

In seinem Urteil vom 4. Juli 2019  (Az.: 3 C 24.17) hat sich das BVerwG mit der höchst klausurrelevanten Frage beschäftigt, ob religiöse Gründe einen Anspruch auf eine Befreiung von der Schutzhelmpflicht im Straßenverkehr begründen können. Insofern werden Probleme aus dem Verwaltungs- und dem Verfassungsrecht kombiniert, sodass sich die Entscheidung hervorragend insbesondere für Examensklausuren, aber auch für die mündliche Prüfung eignet.
 I. Sachverhalt
K hat zwar ein Auto und verfügt auch über eine entsprechende Fahrerlaubnis, er fährt aber auch regelmäßig Motorrad, wobei er gem. § 21a Abs. 2 S. 1 StVO verpflichtet ist, einen Schutzhelm zu tragen. Allerdings ist K auch praktizierender Sikh. Bestandteil dieser Religion ist es – so führt K aus –, seine Haare zu bewahren, sie niemals zu schneiden und durch einen Turban zusammenzuhalten. Allenfalls zum Schlafen könne der Turban abgenommen werden, jedoch keinesfalls in der Öffentlichkeit. Indem K gezwungen sei, zum Motorradfahren seinen Turban abzunehmen, um stattdessen einen Helm zu tragen, müsse er gegen seine Religion verstoßen. Daher beantragt K bei der zuständigen Straßenverkehrsbehörde die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO zur Befreiung von der beim Motorradfahren geltenden Schutzhelmpflicht. Dies lehnt die Straßenverkehrsbehörde ab. K erhebt daraufhin Klage. Er möchte, dass die Straßenverkehrsbehörde zur Erteilung der Ausnahmegenehmigung verpflichtet wird.
 II. Rechtsausführungen
Die Klage des K ist begründet, soweit die Ablehnung oder Unterlassung der Erteilung der Ausnahmegenehmigung rechtswidrig und der K dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Dies ist der Fall, wenn K einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung hat.
1. Anspruchsgrundlage
Dazu müsste K sein Begehren auf eine Anspruchsgrundlage stützen können. Gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO kann die Straßenverkehrsbehörde im Einzelfall eine Ausnahme von der Pflicht zum Tragen von Schutzhelmen gem. § 21a StVO genehmigen. K kann sein Begehren damit auf eine taugliche Anspruchsgrundlage stützen.
 2. Formelle Anspruchsvoraussetzungen
K hat auch einen Antrag auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung bei der zuständigen Straßenverkehrsbehörde gestellt. Die formellen Anspruchsvoraussetzungen liegen vor.
3. Materielle Anspruchsvoraussetzungen
Zudem müssten auch die materiellen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. 
a) Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen
Dazu müssten zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen des § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO erfüllt sein. Die Norm bestimmt indes allein, dass die Straßenverkehrsbehörden im Einzelfall Ausnahmen von der Schutzhelmpflicht genehmigen können, ohne dies an besondere Voraussetzungen zu knüpfen. Ziel der Norm ist es, besonderen Ausnahmesituationen Rechnung zu tragen, in denen bei strikter Anwendung der Schutzhelmpflicht eine unbillige Härte für den Betroffenen entstehen würde. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Betroffene aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, einen Motorradhelm zu tragen. Möglich erscheint es allerdings auch, eine derartige Ausnahmesituation anzunehmen, wenn der Betroffene aus religiösen Gründen gehindert ist, einen Schutzhelm aufzusetzen. Denn befolgt der Betroffene seine von ihm als verbindlich empfundenen Bekleidungsvorschriften, die das Tragen eines Schutzhelms unmöglich machen, so müsste er auf das Motorradfahren verzichten und wäre damit zumindest mittelbar in seiner Religionsfreiheit beeinträchtigt. Eine unbillige Härte liegt mithin wegen der eintretenden Grundrechtsbeeinträchtigung auch in einem solchen Fall vor. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO sind damit erfüllt.
b) Rechtsfolgen
Fraglich ist allerdings, welche Rechtsfolge dies nach sich zieht. § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO bestimmt, dass die Straßenverkehrsbehörden eine Ausnahme von der Schutzhelmpflicht genehmigen können, es handelt sich mithin um eine Ermessensentscheidung. Der Betroffene hat dabei grundsätzlich lediglich einen Anspruch darauf, dass diese Entscheidung ermessensfehlerfrei erfolgt. In Betracht kommt allerdings eine Ermessensreduzierung auf Null, die letztlich einen Anspruch des Betroffenen auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung begründet. Eine Ermessensreduzierung auf Null setzt dabei voraus, dass der Ermessensspielraum der Verwaltung aufgrund besonderer Umstände so weit reduziert ist, dass alle Entscheidungen – mit Ausnahme der durch den Betroffenen begehrten – ermessensfehlerhaft wären. Solche besonderen Umstände könnten sich vorliegend daraus ergeben, dass dem Betroffenen der Verzicht auf das Motorradfahren nicht zugemutet werden kann.  K hat allerdings auch ein Auto und verfügt über eine entsprechende Fahrerlaubnis.  Er ist damit nicht zwingend auf die Nutzung des Motorrads angewiesen, sodass nicht davon auszugehen ist, dass ihm ein Verzicht auf das Motorradfahren nicht zugemutet werden kann. Eine Ermessensreduzierung auf Null kommt mithin nicht in Betracht.
Allerdings müsste die Entscheidung der Behörde, die Erteilung der beantragten Genehmigung abzulehnen, dennoch ermessensfehlerfrei sein. Dies wäre indes nur dann der Fall, wenn die Entscheidung nicht gegen die Religionsfreiheit des K gem. Art. 4 Abs. 1, 2 GG verstößt. Die Religionsfreiheit ist vorbehaltslos gewährleistet, sodass Einschränkungen nur zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts, d.h. zum Schutz von Grundrechten Dritter oder Gemeinschaftswerten mit Verfassungsrang zulässig sind. Dazu führt das BVerwG aus:
„Die in § 21a Abs. 2 Satz 1 StVO angeordnete Verpflichtung, beim Motorradfahren einen Schutzhelm zu tragen, soll dazu beitragen, die Folgen von Kraftradunfällen zu mindern und die Verkehrssicherheit auf öffentlichen Straßen zu erhöhen (Amtliche Begründung, VkBl. 1975, 667 <676>). Die Vorschrift dient zwar primär dem Schutz des Motorradfahrers und seiner Mitfahrer vor schweren Kopfverletzungen. Sie hat aber auch den Schutz der Allgemeinheit im Blick und soll Gefährdungen anderer Unfallbeteiligter oder Dritter vermeiden.“
Denn ein Motorradfahrer wird nach einem Unfall eher in der Lage sein, Gefahren für Leib und Leben anderer Personen abzuwenden, wenn er selbst – gerade weil er einen Helm getragen hat – weniger schwer verletzt ist. Die Schutzhelmpflicht dient damit dem Schutz von Leib und Leben, die ihrerseits durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Erste Hilfe leisten oder einen Notarzt rufen kann steigt, wenn er einen Schutzhelm trägt. Außerdem kann er besser dazu beitragen, weitere Schäden zu vermeiden, indem er die Unfallstelle z.B. durch das Aufstellen eines Warndreiecks absichert.
Dies ist auch von der Reichweite des Art. 2 Abs. 2 S. 1 gedeckt:
„Es ist dem Gesetzgeber nicht verwehrt, in Ausübung seiner Schutzpflicht schon die Entstehung von Gefährdungslagen zu bekämpfen und auf eine Risikominimierung hinzuwirken. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das Leben oder die körperliche Unversehrtheit; das Grundrecht stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründen. Danach hat der Staat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor diese Rechtsgüter zu stellen.“
4. Ergebnis
Damit stehen der Religionsfreiheit des K andere, ebenso schutzwürdige Interessen gegenüber. Diese in einen sachgerechten Ausgleich zu bringen, gewährleistet das der Straßenverkehrsbehörde durch § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO eingeräumte Ermessen im Einzelfall. Der Religionsfreiheit kommt damit jedenfalls kein genereller Vorrang zu, die Entscheidung ist mithin nicht bereits aus diesem Grund ermessensfehlerhaft und rechtswidrig. K hat keinen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung. Seine Klage ist unbegründet.
III. Fazit
Die Entscheidung des BVerwG macht deutlich, dass fundiertes verfassungsrechtliches Wissen auch im Rahmen verwaltungsrechtlicher Klausuren erhebliche Bedeutung zukommt. Dies sollte Ansporn sein, bereits im Studium besonderes Augenmerk auf die Erlangung solider Kenntnisse in diesem Bereich zu legen das Rechtsgebiet auch in der Examensvorbereitung keinesfalls zu vernachlässigen.
 
 

25.11.2019/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-11-25 10:00:432019-11-25 10:00:43BVerwG: Kein Anspruch auf Befreiung von der Motorrad-Helmpflicht aus religiösen Gründen
Dr. Yannik Beden, M.A.

Hochzeitstorte für homosexuelles Paar verweigert: US Supreme Court zum Antidiskriminierungsrecht – Ein Abgleich zum Kontrahierungszwang im deutschen Zivilrecht

Aktuelles, Schon gelesen?, Startseite

Mit seiner Entscheidung vom 4. Juni 2018 sorgte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten für mediale Kontroversen – nicht nur in den USA. Der Fall betrifft einen amerikanischen Bäcker aus dem Bundesstaat Colorado, der einem schwulen Paar unter Berufung auf sein religiöses Wertebekenntnis die Anfertigung einer Hochzeitstorte verweigerte. Die juristischen Fragestellungen des Rechtsstreits behandeln vordergründig das Staatenrecht von Colorado, sodass eine nähere Betrachtung nur als „Blick über den Tellerrand“ zu verstehen ist. Wie aber wäre die Streitigkeit nach deutschem Recht zu bewerten? Der nachstehende Beitrag soll aus dieser Überlegung heraus den Fall in den Kontext zur hierzulande bestehenden Vertragsschlussfreiheit und deren Beschränkungen setzen.
I. Worüber stritten die Parteien im Originalfall?
Der amerikanische Bäcker und Konditor Jack Phillips betreibt unter dem Firmennamen Masterpiece Cakeshop eine Konditorei in Lakewood nahe von Denver. Um ihre geplante Hochzeit in Massachusetts zu feiern, kontaktierte das gleichgeschlechtliche Paar David Mullins und Charlie Craig im Juli 2012 den Konditor und bat um die Anfertigung einer Hochzeitstorte. Diese verweigerte Phillips allerdings mit der Begründung, dass seine Unternehmensstandards eine Herstellung von Torten für gleichgeschlechtliche Hochzeiten verbiete, da dies „unmittelbar der Bibel entgegensteht“. Stattdessen wurden dem Paar alternative Produkte wie Geburtstagstorten und Kekse angeboten. Auch argumentierte Phillips, er habe als „kreativer Künstler“ das Recht zu entscheiden, was er verkaufe.
Mullins und Craig legten daraufhin Beschwerde bei der Bürgerrechtskommission des Staates Colorado ein und beriefen sich auf eine Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Colorado ist einer von insgesamt 22 Bundesstaaten der USA, der die sexuelle Orientierung als verpöntes Merkmal in seinen Antidiskriminierungsbestimmungen aufgenommen hat. Folgende Bestimmung sieht der „Colorado Anti-Discrimination Act (CADA)“ vor:
„It is a discriminatory practice and unlawful for person, directly or indirectly, to refuse, withhold from, or deny an individual or a group, because of disability, race, creed, color, sex, sexual orientation, marital status, national origin, or ancestry, the full and equal enjoyment of the goods, services, facilities, privileges, advantages, or accommodations of a place of public accommodation.” Colo. Rev. Stat. § 24-34-601(2)(a)(2017).
Die Bürgerrechtskommission entschied die Streitigkeit zugunsten von Mullins und Craig. Auch das in der Folge angerufene State Court des Bundesstaats Colorado bejahte einen Verstoß Phillips gegen die Antidiskriminierungsvorschriften des Bundesstaates. Phillips brachte den Rechtsstreit letztlich vor das höchste Gericht der USA.
II. Die Entscheidung des US Supreme Court
Das US Supreme Court urteilte nun zugunsten des Konditors, dessen religiöse Freiheit – so das Gericht in seiner 7 zu 2 Entscheidung – durch das Verdikt der Bürgerrechtskommission sowie der aufrechterhaltenden Entscheidung des State Courts von Colorado nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Justice Kennedy kam in seiner Rechtsausführung zu dem Schluss, dass die Entscheidung der Bürgerrechtskommission die Reichweite der in der Verfassung der Vereinigten Staaten garantierten Religionsfreiheit verkannt habe:
“The Commission’s hostility was inconsistent with the First Amendment’s guarantee that our laws be applied in a manner that is neutral toward religion. Phillips was entitled to a neutral decisionmaker who would give full and fair consideration to his religious objection as he sought to assert it in all of the circumstances in which this case was presented, considered, and decided. In this case the adjudication concerned a context that may well be different going forward in the respects noted above. However later cases raising these or similar concerns are resolved in the future, for these reasons the rulings of the Commission and of the state court that enforced the Commission’s order must be invalidated.”
Justice Kennedy betonte allerdings auch, dass die Entscheidung des Supreme Courts nicht als Präzedenzfall verstanden werden solle. Ähnlich gelagerte Konstellationen könnten also künftig durchaus anders entschieden werden. Maßgeblich sei der Grundsatz, dass derartige Streitigkeiten jeweils unter umfassender Berücksichtigung religiöser Glaubensbekenntnisse zu bewerten seien. Trotzdem müsse auch in jedem Fall berücksichtigt werden, dass homosexuelle Personen keinerlei Erniedrigungen erfahren sollen, wenn sie Güter und Dienstleistungen in einem freien Markt beschaffen möchten:
“The outcome of cases like this in other circumstances must await further elaboration in the courts, all in the context of recognizing that these disputes must be resolved with tolerance, without undue disrespect to sincere religious beliefs, and without subjecting gay persons to indignities when they seek goods and services in an open market.”
Das Gericht kam vor diesem Hintergrund zu der Entscheidung, das anderslautende Urteil der Berufungsinstanz aufzuheben. Besonders interessant dürfte sein, dass der Bundesstaat Colorado im streitgegenständlichen Jahr 2012 zwar bereits ein Antidiskriminierungsgesetz implementiert hatte, die gleichgeschlechtliche Ehe jedoch erst 2014 in Colorado staatenrechtlich anerkannt wurde. Für die Entscheidungsfindung des Supreme Courts war dieser Umstand jedoch von untergeordneter Bedeutung.
III. Vertragsfreiheit und Kontrahierungszwang im deutschen Zivilrecht
Wie würde nun der identische Sachverhalt nach deutschem Recht zu bewerten sein? Auch wenn in der Bundesrepublik die Vertragsabschlussfreiheit zu den grundlegenden Ordnungsprinzipien des Zivilrechts zählt, gibt es zahlreiche Beispiele für eine gesetzliche Anordnung von Kontrahierungszwang (vgl. Horcher, RdA 2014, 93 ff.). Man denke etwa an die Pflicht von Energieversorgungsunternehmen, in ihren Netzgebieten jeden Haushaltskunden zu versorgen, § 36 Abs. 1 EnWG, oder auch die Beförderungspflicht von Unternehmen nach dem Personenbeförderungsgesetz, § 22 PBefG. Ein Gesetz, das für Bäckerei- und Konditoreibetriebe eine Pflicht zur Versorgung der Bevölkerung mit Teigwaren, Torten etc. anordnet, gibt es offenkundig nicht. Für den hier besprochenen Fall wäre allenfalls an die Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) zu denken. Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob eine Pflicht zum Vertragsschluss durch eine mittelbare Drittwirkung von Grundrechten über die Generalklauseln des Zivilrechts bestehen kann:
1. Verpflichtung nach dem AGG?
In Betracht kommt zunächst eine Anknüpfung an die Bestimmungen des AGG. Ungeachtet der Rechtsfolgen, die ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot mit sich bringen kann (s. § 15 Abs. 6 AGG), müsste überhaupt der sachliche Anwendungsbereich des Gesetzes eröffnet sein. § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 AGG gibt vor, auf welche Bezugspunkte hin eine Benachteiligung nach den in § 1 AGG bestimmten Merkmalen – wozu die sexuelle Identität ausdrücklich gehört – unzulässig ist. Für die Leistungen des Konditors kommt § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG in Betracht, wonach eine Benachteiligung unzulässig ist, wenn es sich um „den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum“ handelt. Die Norm ist bewusst weit gefasst worden. Entscheidend ist, dass der Anbieter des Guts bzw. der Dienstleistung über seine Privatsphäre hinausgehend Angebote an einen unbestimmten Personenkreis richtet (vgl. ErfK/Schlachter, AGG, 18. Auflage 2018, § 2 Rn. 14; Nickel, NJW 2001, 2668 (2669)). Dies dürfte bei einer Konditorei wie Masterpiece Cakeshop unzweifelhaft gegeben sein.
Bejaht man demnach die sachliche Anwendbarkeit des AGG, stellt sich die Frage, ob ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot aus § 1 AGG zu einer Vertragsabschlusspflicht führen kann. Für das Arbeitsrecht sieht § 15 Abs. 6 AGG ausdrücklich vor, dass eine Diskriminierung keinen Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses ergeben kann. Für den Inhalt des Beseitigungsanspruchs aus § 21 Abs. 1 GG gibt es eine solche Anordnung nicht. Daraus ziehen Stimmen der Literatur den Umkehrschluss, dass der Beseitigungsanspruch auch auf eine Pflicht zum Abschluss eines Vertrags gerichtet sein kann (Horcher, RdA 2014, 93 (93) m.w.N.; bejahend Thüsing/von Hoff, NJW 2007, 21 (21 ff.); Wagner/Potsch, JZ 2006, 1085 (1098); ablehnend Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1498). Die Rechtsprechung hat sich hierzu freilich noch nicht geäußert. Geht man rechtsdogmatisch davon aus, dass der Beseitigungsanspruch bei einer Vertragsverweigerung – als actus contrarius – auf einen Vertragsabschluss gerichtet ist (vgl. MüKo/Thüsing, AGG, 7. Auflage 2015, § 21 Rn. 17), wäre wohl auch nach deutschem Recht eine Pflicht zur Anfertigung der Hochzeitstorte anzunehmen. Ob § 21 Abs. 1 S. 1 AGG einen Kontrahierungszwang anordnet, bedarf jedoch bislang noch einer Klärung durch das BAG.
2. Kontrahierungszwang über § 242 BGB – Drittwirkung der Grundrechte?
Abseits des AGG käme man zu einer Kontrahierungspflicht des Konditors nur über die Generalklausel des § 242 BGB. Ob die Norm jedoch grundsätzlich eine Vertragsabschlusspflicht statuieren kann bzw. soll, wird bereits äußerst zweifelhaft sein. Auch der BGH hat sich in einer Entscheidung zur Frage der Vertragsabschlussverpflichtung von Banken bislang gegen einen auf § 242 BGB gestützten Kontrahierungszwang ausgesprochen (BGH Urteil v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519). Allerdings hat das Gericht bislang noch eine mittelbare Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG anerkannt, sofern ein soziales Mächteverhältnis zwischen den Privatrechtssubjekten besteht (BGH Urteil v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519). Doch auch diese Judikatur dürfte in Anbetracht der jüngsten Entscheidung des BVerfG zur mittelbaren Drittwirkung von Gleichheitsrechten überholt sein. Am 11. April 2018 urteilte das BVerfG, dass sich auch aus „Art. 3 Abs. 1 GG nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung kein objektives Verfassungsprinzip entnehmen [lässt], wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie unter welchen Bedingungen Verträge abschließen will“ (BVerfG Urteil v. 11.4.2018 – 1 BvR 3080/09). Damit dürfte auch der Weg über eine mittelbare Drittwirkung regelmäßig verschlossen sein.
IV. Zusammenfassung
Die Entscheidung des US Supreme Courts verdeutlicht, dass das Antidiskriminierungsrecht auch in den USA noch in den Kinderschuhen steckt. Die 7 zu 2 Entscheidung des Gerichts lässt erkennen, dass die rechtliche Bewertung in gleichgelagerten Streitigkeiten künftig durchaus anders ausfallen kann. Überträgt man den Fall auf das deutsche Rechtssystem, ergeben sich eine Vielzahl juristischer Problemstellungen. Auch das AGG würde nach seiner jetzigen Fassung zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen. Letztlich muss gefragt werden, ob und in welchem Umfang eine Privatrechtsordnung Kontrahierungszwänge vorsehen soll. Summa: Eine spannende Problemstellung, welche die Kernelemente des Zivilrechts – Privatautonomie und Vertragsfreiheit – betrifft.

18.06.2018/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-06-18 10:00:402018-06-18 10:00:40Hochzeitstorte für homosexuelles Paar verweigert: US Supreme Court zum Antidiskriminierungsrecht – Ein Abgleich zum Kontrahierungszwang im deutschen Zivilrecht
Redaktion

Schema: Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit, Art. 4 I, II GG

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Schema: Art. 4 I, II GG – Religions-, Weltanschauungs-, und Gewissensfreiheit

A. Schutzbereich

I. Glaubensfreiheit, Art. 4 I Fall 1, II GG

= Freiheit, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu bilden und zu haben (forum internum) sowie seine religiöse bzw. weltanschauliche Überzeugung kundzutun, zu praktizieren und ihnen entsprechend zu handeln (forum externum).

– Auch negative Glaubensfreiheit.
– Geschützt ist auch die kollektive Religionsausübung nach weiterer Maßgabe derArt. 136 ff. WRV, die nach Art. 140 GG in die Verfassung inkorporiert werden.
– Eine Religion ist eine Gesamtsicht, auf die Welt die umfassend den Sinn der Welt und des Lebens erklärt und dabei eine irgendwie geartete Gottesvorstellung voraussetzt. Eine Weltanschauung ist auf innerweltliche Bezüge beschränkt.

II. Gewissensfreiheit, Art. 4 I Fall 2 GG
= Freiheit des Einzelnen, eine Entscheidung, die an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiert ist zu treffen und ihr entsprechend zu handeln.

–  Prozess, ein bestimmtes Gewissen zu bilden und danach zu entscheiden, sowie das Recht, sein Gewissen nach außen hin zu verwirklichen.

B. Eingriff

  • Jedes staatliche Handeln, das den Einzelnen zu einem Handeln oder Unterlassen verpflichtet, das gegen ein Ge- oder Verbot seines Glaubens verstößt oder ihn dazu zwingt, entgegen seiner Gewissensentscheidung zu handeln.
  • Erforderlich ist, dass der Betroffene die Verhaltensregel für sich als binden erfährt und er nicht ohne innere Not von ihr abweichen kann. Nicht erforderlich ist, dass die Regel von einer Mehrheit in der Gesellschaft oder der Religionsgemeinschaft ebenfalls als hindern empfunden wird.

C. Einschränkungsmöglichkeit

  • Grds. vorbehaltlos gewährleistet, Einschränkungen sind nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts durch oder aufgrund eines Gesetzes möglich.
  • Nach einer mM steht die Glaubensfreiheit unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze aus Art. 140 iVm Art. 136 I WRV. Nach dem BVerfG wird Art. 136 I WRV aber von Art. 4 GG überlagert. Zudem besteht kein Grund, die Glaubensfreiheit anders zu behandeln als die Gewissensfreiheit, die unstreitig nicht unter einem Gesetzesvorbehalt steht.

Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

16.06.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-06-16 10:00:562017-06-16 10:00:56Schema: Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit, Art. 4 I, II GG
Dr. Christoph Werkmeister

VG Augsburg: Das Kopftuch bleibt examensrelevant

Rechtsprechung, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Das VG Augsburg hatte mit Urteil vom 30.06.2016 – Au 2 K 15.457 festgestellt, dass Rechtsreferendarinnen in Bayern nicht verboten werden darf, ein Kopftuch bei der Ausübung von hoheitlichen Tätigkeiten mit Außenwirkung zu tragen (z.B. bei Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft).
Prozessuale und materiellrechtliche Probleme
Der Fall eignet sich hervorragend für mündliche Prüfungsgespräche in allen Bundesländern, und dies nicht nur, weil in verwaltungsprozessualer Hinsicht die besondere Klageart der Fortsetzungsfeststellungsklage einschlägig war (es ging hier um die Klage gegen eine Auflage, die anscheinend während der Staatsanwaltschafts-Station auferlegt und nach Beendingung der Station aufgehoben wurde; das erforderliche besondere Feststellungsinteresse wurde vom VG Augsburg wegen eines Rehabilitationsinteresses der betroffenen Rechtsreferendarin bejaht).
Auch in materiellrechtlicher Hinsicht wies der Fall eine Besonderheit auf, denn die Auflage zulasten der Referendarin wurde auf eine Verordnung i.S.d. Art. 80 GG des bayerischen Justizministeriums gestützt. Das VG Augsburg führte hierzu überzeugend aus, dass der infrage stehende Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Religionsfreiheit (Art. 4 GG) nicht auf eine Rechtsverordnung, also ein von der Exekutive erlassenes Gesetz, sondern nur auf ein formelles Parlamentsgesetzes gestützt werden kann (Stichwort: Wesentlichkeitstheorie).
Examensrelevanz
Wir hatten erst kürzlich zur Kopftuchthematik berichtet, allerdings im Zusammenhang mit Kopftuchverboten für Lehrkräfte (siehe dazu hier). Aufgrund der Examensrelevanz sollten die aktuellen Entwicklungen und die verschiedenen Fallkonstellationen beherrscht werden. Zur weiterführenden Lektüre seien deshalb ebenfalls die hier verlinkten Beiträge empfohlen.

03.07.2016/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2016-07-03 10:07:532016-07-03 10:07:53VG Augsburg: Das Kopftuch bleibt examensrelevant
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG: Baurechtliche Beurteilung einer Krypta im Industriegebiet

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das BVerfG hat mit Beschluss vom 09. Mai 2016  – 1 BvR 2202/13 einen Fall entschieden, der sich ideal sowohl für eine verwaltungsrechtliche als auch eine verfassungsprozessrechtliche Klausur eignet. Bekannt sein sollte jedem Examenskandidaten das Problemfeld der religösen Begräbnisstätten im Baurecht. Insoweit ist in Klausuren bei Prüfung der Voraussetzungen der §§ 30 ff. BauGB und der Normen der BauNVO häufig eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechte vorzunehmen: Art. 4 GG der Bauherrn sowie Art. 14 GG und Art. 12 GG der Nachbarn.
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)

Die Beschwerdeführerin ist eine vereinsrechtlich organisierte Glaubensgemeinschaft und gehört der Erzdiözese der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland an. Im Jahr 1994 errichtete sie auf einem Grundstück in einem Industriegebiet ein Kirchengebäude. Im Jahr 2005 beantragte die Beschwerdeführerin die Genehmigung zur Umnutzung eines Lagerraums im Untergeschoss des Kirchengebäudes in eine Krypta mit zehn Begräbnisplätzen, was von den zuständigen Behörden abgelehnt wurde. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren gegen die Versagung der Genehmigung blieb ohne Erfolg.

Der VGH Baden-Württemberg (09.09.2009 – 3 S 2679/08 ) hielt in der zugrunde liegenden Entscheidung insbesondere fest, dass die „Hauskirchenbestattung“ für die Beschwerdeführer keinen zwingenden Glaubenssatz darstellten:

An diesen Vorgaben gemessen bewertet der Senat das Bedürfnis, über eine Krypta zur Bestattung der Gemeindepriester in der eigenen Kirche zu verfügen, zwar als einen vom Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 und Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG erfassten Teil des traditionellen Ritus der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft, nicht jedoch als einen aktuellen zwingenden Bestandteil der Religionsausübung im engeren Sinn.

II. Lösung des BVerfG
Das BVerfG stellt zunächst fest, dass der Schutzbereich des Art. 4 GG eröffnet ist und dieses Grundrecht nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden könne.

  • Der postmortale Persönlichkeitsschutz der Toten kommt vorliegend als widerstreitendes Verfassungsgut nicht in Betracht, da die zu beerdigenden Geistlichen ihre personale Würde gerade im untrennbaren Zusammenhang mit den ihrem Glauben zugrunde liegenden Regeln sehen.
  • Gleiches gilt für die Totenruhe, die ebenfalls subjektiv zu bestimmen ist.
  • Auch das Pietätsempfinden der Hinterbliebenen oder der Allgemeinheit muss als Rechtfertigungsgrund ausscheiden, da insoweit die subjektive Entscheidung der Geistlichen Vorrang genießt.

Wichtig: Das BVerfG stellt hiermit fest, dass die subjektive Bestimmung durch die Geistlichen einen hohen Stellenwert hat und damit der Persönlichkeitsschutz sowie das Pietätsempfinden Dritter keine Einschränkung der Religionsfreiheit erlaubten.
Kollidierendes Verfassungsrecht liegt jedoch mit dem Eigentumsgrundrecht (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Grundstücksnachbarn vor. Diese Grundrechte sind mit der Religionsfreiheit im Wege praktischer Konkordanz zu vereinen: nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen darf bevorzugt und maximal behauptet werden, sondern alle Rechte müssen einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.
Das BVerfG greift die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg in zwei Punkten an:

  • Keine konkrete Feststellung der Konflikte zwischen Begräbnis und Eigentumsnutzung durch Nachbarn. Insbesondere ist kaum Unterschied zwischen Kirche mit oder ohne Krypta festgestellt worden.
  • Eigene Wertung des VGH, dass kein zwingender Glaubenssatz vorliege. Zu dieser Feststellung ist ein Gericht grundsätzlich nicht befugt, allein eine Plausibilitätskontrolle, u.U. anhand eines Sachverständigengutachtens, ist möglich.

III. Klausurrelevanz
Verwaltungsrechtliche Klausur: Im Rahmen der Prüfung der BauNVO kann die Zuordnung zu einem Baugebiet schwerfallen. Dann ist jedoch eine Ausnahmevorschrift anzuwenden, etwa § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Auch ist Art. 4 GG bei der Abwägung mit nachbarlichen Interessen nach § 15 BauNVO zu prüfen. Ebenso kann eine Befreiung etwa nach § 31 BauGB in Betracht kommen. Jedenfalls sind die Wertungen des Art. 4 GG zwingend in der Klausur an geeigneter Stelle zu berücksichtigen.
Verfassungsrechtliche Klausur: In Betracht kommt eine Verfassungsbeschwerde (wie vorliegend) der Gemeinde bzw. deren Mitgliedern. Dann ist die hier dargestellte Grundrechtsprüfung wie bekannt durchzuführen.

22.06.2016/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2016-06-22 09:27:002016-06-22 09:27:00BVerfG: Baurechtliche Beurteilung einer Krypta im Industriegebiet
Dr. David Saive

Islamgesetz in Deutschland?

Aktuelles, Startseite, Verfassungsrecht

Das Österreichische Parlament hat Ende Februar ein neues Islamgesetz beschlossen. Es ist die erste Novellierung der seit 1912 geltenden Regelungen.[1]
Ursprünglich wurde ein solches Gesetz notwendig, da mit der Annexion Bosnien und Herzegowinas an das K.u.K. Österreich-Ungarn erhebliche Teile muslimischer Bevölkerungsgruppen in das K.u.K. integriert werden mussten.[2] Überarbeitet wurde das geltende Recht, weil die damals getroffenen Regelungen einfach nicht mehr zeitgemäß waren, obschon sich die Inhalte der ersten und jetzigen Diskussionen betreffend des Islamgesetzes sich durchaus glichen.
Anbetracht dieser Entwicklungen in unserem Nachbarland lohnt sich ein näherer Blick auf das neue Gesetz. Schließlich wurden auch in Deutschland Stimmen laut, dass es solchen Gesetzes bedarf, bzw. die Warnung vor einem solchen. Eine nähere Betrachtung lohnt sich auch schon deswegen, da noch einmal wichtige Fragen der Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG aufgegriffen werden.
 
 II. Möglichkeiten in Deutschland
Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob ein solches Gesetz in Deutschland überhaupt denkbar wäre. Daher unterziehen wir das Islamgesetz aus Österreich einer fiktiven Normenkontrolle in Deutschland. Abgestellt werden soll dabei lediglich auf die materielle Verfassungsmäßigkeit.
 
1. Materielle Verfassungsmäßigkeit
a) Schutzbereich der Religionsfreiheit
Der Schutzbereich der Religionsfreiheit gem. Art. 4 I, II GG umfasst folgendes:
Zum einen wird die Freiheit, sich eine eigene religiöse Überzeugung zu bilden geschützt (forum internum). Dies meint nichts anderes als den Schutz vor staatlicher Indoktrination.[3]
Zum anderen wird die Freiheit, seinen Glauben auch nach außen auszuleben, von dem Schutzbereich der Religionsfreiheit mit eingeschlossen (forum externum). Sie umfasst „das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“ (ständige Rechtsprechung des BVerfG).
 
b) Eingriff in Schutzbereich durch Islamgesetz
 Sodann stellt sich die Frage, ob ein gedachtes Islamgesetz in Deutschland nach österreichischem Vorbild einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit darstellen würde.
 
Besonderer Augenmerk in der aktuellen Diskussion wird dabei auf den Verbot der Auslandsfinanzierung gelegt. In § 6 II IslGiÖ heißt es hierzu:
(2) Die Aufbringung der Mittel für die gewöhnliche Tätigkeit zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder hat durch die Religionsgesellschaft, die Kultusgemeinden bzw. ihre Mitglieder im Inland zu erfolgen.
 
Die so organisierten Muslime werden durch diese Regelung in ihrer Freiheit beschränkt, die Finanzierung ihrer Tätigkeiten selbst zu bestimmen. Es  müssen jedoch Mieten bezahlt, Informationspapiere erstellt und verteilt sowie geistliches Personal bereitgestellt werden, usw… Daher bedarf es jeder (religiösen) Gemeinschaft an finanziellen Mitteln, damit sie überhaupt in der Lage ist, ihrem Auftrag nachzukommen. Die Religionsausübung als solche wird aber durch die Verwehrung der Beschaffung von finanziellen Mitteln beeinträchtigt, sodass durch die Beschränkung der freien Mittelwahl ein tauglicher Eingriff in die Religionsfreiheit vorliegt.
 
c) Rechtfertigung des Eingriffs
 Die Religionsfreiheit ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Ein Eingriff in die Religionsfreiheit kann daher nur durch andere Grundgesetze gerechtfertigt werden, vgl. Art. 137 III 1. Satz WRV (i.V.m. Art. 140 GG):
 
 (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.
 
Durch diese Formulierung wird ein Sonderrecht für eine bestimmte Religionsgemeinschaft explizit ausgeschlossen.[4] Mithin würde ein solches Vorhaben in Deutschland scheitern.
 
2. Alternative Durchführungswege in Deutschland – Verleihung des Körperschaftsstatus
Da ein Islamgesetz in der vorliegenden Form nicht möglich ist, stellt sich die Frage, ob andere Möglichkeiten ersichtlich sind, den Islam in das bundesrepublikanische System einzugliedern (Hierzu bereits ein ausführlicher Beitrag unsererseits).
In Frage käme, den Islam, wie andere Religionsgemeinschaften in Deutschland, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen. Die Voraussetzungen hierfür finden sich ebenfalls in Art. 137 VIII WRV, der gem. Art. 140 GG Teil unserer Grundrechtsordnung ist:
 
 (8) Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob.
 
Es ist daher Sache der Länder, einzelne Religionsgemeinschaften, o.Ä. zu Körperschaften des öffentlichen Rechts zu ernennen.[5] Sollte ein Bundesland eine solche Gemeinschaft ernannt haben, gilt dieser Status auch für alle anderen Bundesländer, allerdings können die körperschaftlichen Rechte nur in dem betreffenden Bundesland erhoben werden.[6]
 
Generell müssen jedoch drei Kriterien erfüllt sein (vgl. Art 137 V WRV):

  1. Gewähr der Dauer, also langfristiges Bestehen der Gemeinschaft (in der Zukunft)
  2. Verfassung der Gemeinschaft i.S.d. tatsächlichen Beschaffenheit der Gemeinschaft
  3. Erhebliche Mitgliederanzahl

Liegen diese Voraussetzungen vor, kann eine Gemeinde zur Körperschaft des öffentlichen Rechts ernannt werden.
 
a) Problem: Verschiedene Glaubensrichtungen
 Es gibt jedoch ein ganz entscheidendes Problem, mit dem sich auch schon die Österreicher 1912 konfrontiert sahen: Es gibt nicht die eine Strömung innerhalb des Islams, die alle anderen unter sich vereint. Die einzelnen Richtungen sind teilweise nicht nur grundverschieden, sondern auch untereinander verfeindet (bspw. Schiiten und Sunniten). Den Islam als Ganzes zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu ernennen, ist daher schlichtweg unmöglich.
Zum Vergleich (selbstverständlich ist es kaum möglich Religionen untereinander zu vergleichen, es soll hier auch nur auf ein besseres Verständnis für die Sensibilität des Themas geschaffen werden):
Es gibt auch in Deutschland keine Körperschaft, die alle Christen unter einem Dach vereint. So gelten bspw. Katholiken und Evangelische Kirchen jeweils als getrennte Körperschaften.
 
b) Möglicher Lösungsansatz – Ernennung einzelner Glaubensströmungen
 Ein Lösungsvorschlag könnte z.B. die Ernennung einzelner Glaubensströmungen innerhalb des Islam zur Körperschaft des öffentlichen Rechts sein. So wurde bereits 2013 in Hessen die dort ansässige Ahmadiyya-Gemeinde zur Körperschaft des öffentlichen Rechts ernannt.[7] Im Jahr darauf wurde der Ahmadiyya-Gemeinde in Hamburg dieser Status zu Teil.[8] Dies ist allerdings auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft durchaus kontrovers diskutiert worden. Möglicherweise würde die weitere Ernennung anderer Glaubensströmungen diesen Diskurs etwas entschärfen und der weiteren Integration des Islam dienen.
 
3. Stellungnahme
 Dieser Artikel soll lediglich die Möglichkeiten aufzeigen, die in Österreich umgesetzten Regelungen auch in Deutschland einzuführen. Keineswegs soll die zu Recht geführte, kontroverse Debatte hierdurch ersetzt bzw. beantwortet werden. Eine solch aktuelle Debatte könnte jedoch durchaus Thema einer Examensklausur werden. Allein deshalb lohnt sich die Auseinandersetzung mit der grundgesetzlich gewährleisteten Religionsfreiheit.
 
 
____________________________________________________________________________________
[1] Volltext unter: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/ME/ME_00069/fname_367084.pdf, abgerufen am 09.03.2015.
[2] Interessante Lektüre zu diesem Thema: Potz, Richard, .SiAK-Journal 2013, S.45-54.
[3] BeckOK GG, Germann, Art. 4, Rn.23.
[4] BeckOK GG, Germann, Art. 4, Rn.42.
[5] Eine solche landesrechtliche Konkretisierung stellt z.B. das Gesetz über die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen vom 15. Oktober 1973 in Hamburg dar.
[6] Maunz/Dürig GG, Korioth,  Art. 137 WRV,Rn.72.
[7] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-06/islam-kirche-hessen-koerperschaft, abgerufen am 09.03.2015.
[8] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Jetzt-ist-der-Islam-in-Hamburg-angekommen,ahmadiyya102.html, abgerufen am 09.03.2015.

09.03.2015/0 Kommentare/von Dr. David Saive
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. David Saive https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. David Saive2015-03-09 14:09:402015-03-09 14:09:40Islamgesetz in Deutschland?
Dr. Christoph Werkmeister

Störung des Kölner Weihnachtsgottesdienstes durch Femen-Aktivistin

Aktuelles, Strafrecht BT

Im letzen Jahr ereignete sich kurz vor Weihnachten der folgende Sachverhalt, der sich hervorragend zum Abprüfen im Rahmen einer mündlichen Examensprüfung eignen würde:

Kurz nach Beginn der morgendlichen Weihnachtsmesse im Kölner Dom stürmte die 20-jährige Femen-Aktivistin Josephine Witt aus der ersten Reihe nach vorne und sprang nur mit einem Slip bekleidet auf den Altar. Sie hatte sich die Worte „I am God“ („Ich bin Gott“) auf den Oberkörper gemalt. Vor den Augen von Erzbischof Joachim Kardinal Meisner wurde die Frau von den Sicherheitskräften im Dom abgeführt (siehe hier).

Die Staatsanwaltschaft griff das Verhalten auf und ermittelte gegen die Aktivistin wegen Störung der Religionsausübung (§ 167 StGB). Der Straftatbestand gehört sicherlich nicht zum Kernfachpflichtstoff für die juristischen Staatsexamina. Da das AG Köln die Aktivistin aber kürzlich zu einer Geldstrafe verurteilt hat (Urteil vom 03.12.2014 – 647 Ds 240/14), gewinnt der Fall – nicht zuletzt, da Weihnachten wieder kurz vor der Tür steht – an Aktualität. Wenn es tatsächlich so kommen sollte, dürften die Prüfer allerdings keine Detailkenntnisse erwarten. Was hingegen erwartet werden kann, wäre das Auffinden des einschlägigen Straftatbestandes und zumindest der Versuch der Definition der relevanten Tatbestandsmerkmale.
Auffinden des Straftatbestandes
Der 11. Abschnitt des StGB beschäftigt sich mit Straftaten, welche sich auf Religion und Weltanschauung beziehen. In diesem Abschnitt findet sich der hier einschlägige § 167 StGB. Eine Strafbarkeit der Aktivistin kommt insbesondere gemäß § 167 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Betracht. Hiernach macht sich strafbar, wer einen kirchlichen Gottesdienst absichtlich und in grober Weise stört.
Definition der Tatbestandsmerkmale
Voraussetzung für die Strafbarkeit ist zunächst das Vorliegen eines Gottesdienstes. Gottesdienste sind Veranstaltungen von Mitgliedern einer Religionsgesellschaft zur gemeinsamen Anbetung und Verehrung von Gott nach ihren eigenen Vorschriften, Gebräuchen und Formen (OLG Celle NJW 1997, 1167). Das Vorliegen dieses Merkmals wäre im vorliegenden Fall ohne Probleme zu bejahen, da die Aktivistin während einer Messe im Kölner Dom protestiert hat. Der Gottesdienst müsste zudem von einer Kirche abgehalten werden. Da der Gottesdienst hier von der katholischen Kirche veranstaltet wurde, wäre auch dieses Merkmal ohne weiteres erfüllt.
Tathandlung ist das Stören der Veranstaltung. Der Begriff der Störung lässt sich derart definieren, dass eine Beeinträchtigung des konkreten Gottesdienstes vorliegen muss. Die Störung hat allerdings auch in grober Weise zu erfolgen. Es stehen also nur besonders empfindliche und nachhaltige Beeinträchtigungen eines Gottesdienstes unter Strafe. Ob eine grobe Störung vorliegt, ist somit eine Frage des Einzelfalls, wobei es insbesondere auf die Intensität (Art und Dauer) der Beeinträchtigung ankommt. Insofern ist unter anderem zu fragen, ob der Gottesdienst trotz der Störung fortgeführt werden kann. Vorliegend stand die Aktivistin auf dem Altar des Kölner Doms, sodass der Gottesdienst nur dann fortgeführt werden konnte, wenn sich die Aktivistin entfernt. Die Aktivistin musste hier sogar gewaltsam (durch Sicherheitskräfte) entfernt werden, sodass es nahe liegt eine grobe Störung anzunehmen.
Die Meinungsfreiheit der Aktivistin dürfte hingegen nicht bei der vorangestellten Abwägung zu berücksichtigen sein, da jedwede grobe Störung des Gottesdienstes letztlich zu einer erheblichen Beeinträchtigung der übrigen Gottesdienstteilnehmer (bzw. der Veranstalter) führt, sodass die Grundrechte der Aktivistin in diesem Zusammenhang keine Berücksichtigung finden. Durch das Schaffen der Norm des § 167 StGB hat der Gesetzgeber bereits eine Abwägung vorweggenommen und damit entschieden, dass die Meinungsfreiheit Dritter grundsätzlich hinter der Religionsfreiheit der Teilnehmer eines Gottesdienstes zurücksteht. Aus ebendiesem Grunde kommt auch keine Rechtfertigung der Tathandlung aufgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen der Aktivistin in Betracht.
Die Tathandlung, also das grobe Stören, muss vom Täter auch billigend in Kauf genommen werden (dolus eventualis). Im Hinblick auf den Taterfolg setzt der Tatbestand des § 167 StGB allerdings Absicht voraus. Es muss dem Täter also darauf ankommen, den Gottesdienst zu stören, wobei es aber unerheblich ist, wenn die Störung nur ein Mittel zu einem weiteren Zweck (z.B. dem Erlangen von medialer Aufmerksamkeit) ist. Angesichts der Motivation der Aktivistin, den Gottesdienst zu unterbrechen, um gegen das aus ihrer Sicht bestehende „Machtmonopol der katholischen Kirche“ zu protestieren, dürfte das Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen (obschon der gesteigerten Voraussetzungen) in diesem Fall zu bejahen sein.
Der Tatbestand des § 167 Abs, 1 Nr, 1 StGB war somit erfüllt. Der Auffassung des AG Köln kann also mit guten Argumenten gefolgt werden.
Denkbare Exkurse
Der hier nur kursorisch geschilderte Fall bietet sich nicht nur deshalb für mündliche Prüfungen an, da mit der Definition und Subsumtion des (voraussichtlich) unbekannten Straftatbestands die Argumentationsfähigkeit der Prüflinge auf die Probe gestellt wird. Der Fall bietet weiterhin die Möglichkeit, auf breiterer Ebene Wissen abzufragen, zum Beispiel zu den Themen Grundrechte und Religionsfreiheit (siehe dazu hier). Zudem können noch weitere (examensrelevantere) Straftatbestände als der hier einschlägige § 167 StGB geprüft und diskutiert werden. Dies wären etwa § 240 StGB (Nötigung), § 123 StGB (Hausfriedensbruch) oder § 185 StGB (Beleidigung). Im Rahmen einer mündlichen Prüfung würde sich die Diskussion folglich noch auf weitere Themen erstrecken.

10.12.2014/2 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2014-12-10 09:26:402014-12-10 09:26:40Störung des Kölner Weihnachtsgottesdienstes durch Femen-Aktivistin
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG: Kirchliche Loyalitätsobliegenheiten weiterhin nur eingeschränkt staatlich überprüfbar

Arbeitsrecht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Zivilrecht

Das BVerfG hat mit Beschluss vom 22. Oktober 2014  – 2 BvR 661/12, entschieden, dass das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8.9.2011 – 2 AZR 543/10 – die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes und Artikel 137 Absatz 3 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) verletzt.
I. Um was geht es?
Aus der Pressemitteilung des BVerfG:

„Die Beschwerdeführerin ist kirchliche Trägerin eines katholischen Krankenhauses. Seit dem 1. Januar 2000 beschäftigt sie den Kläger des Ausgangsverfahrens als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin, der zu diesem Zeitpunkt nach katholischem Ritus in erster Ehe verheiratet war. Ende 2005 trennten sich die Ehepartner. Zwischen 2006 und 2008 lebte der Kläger mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen; dies war dem damaligen Geschäftsführer der Beschwerdeführerin spätestens seit Herbst 2006 bekannt. Anfang 2008 wurde die erste Ehe des Klägers nach staatlichem Recht geschieden. Im August 2008 heiratete der Kläger seine Lebensgefährtin standesamtlich. Hiervon erfuhr die Beschwerdeführerin im November 2008. In der Folgezeit fanden zwischen der Beschwerdeführerin und dem Kläger mehrere Gespräche über die Auswirkungen seiner zweiten Heirat auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses statt. Im März 2009 kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. September 2009. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Mit Urteil vom 30. Juli 2009 stellte das Arbeitsgericht fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung aufgelöst worden sei und verurteilte die Beschwerdeführerin zur Weiterbeschäftigung des Klägers. Berufung und Revision der Beschwerdeführerin blieben im Ergebnis ohne Erfolg.“

II. Wie hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden?
Das BAG entschied mit Urteil vom 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, dass die Kündigung unwirksam sei. Zwar stellte es fest, dass auf der ersten Prüfungsstufe mit dem Loyalitätsverstoß der erneuten Heirat abstrakt ein Kündigungsgrund vorliege; doch überwiege das Interesse des Chefarztes an Fortführung des Arbeitsverhältnisses (gekürzt und hervorgehoben aus den Gründen, Rn. 40 ff.)

1. Der katholische Glaube ist nur regelmäßige Voraussetzung für die Übertragung von Leitungsaufgaben. Die Beklagte ist also durch die Grundordnung nicht gezwungen, ihr „Wohl und Wehe“ gewissermaßen bedingungslos mit dem Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter für die katholische Sittenlehre zu verknüpfen.
2. Durch diese Rechtslage ist es auch zu erklären, dass die Beklagte mehrfach Chefärzte beschäftigt hat bzw. beschäftigt, die als Geschiedene erneut geheiratet haben. Es handelt sich insoweit überwiegend um nichtkatholische Arbeitnehmer bzw. katholische Arbeitnehmer in besonderen Lebenslagen, denen gegenüber sie entweder von vornherein nicht die strenge Befolgung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verlangt oder mit Rücksicht auf besondere Gegebenheiten nicht durchsetzen zu müssen glaubte. Richtig ist, dass darin – anders als es das Landesarbeitsgericht gesehen hat – kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gefunden werden kann. Das ändert aber nichts daran, dass die Beklagte das Ethos ihrer Organisation durch eine differenzierte Handhabung bei der Anwendung und Durchsetzung ihres legitimen Loyalitätsbedürfnisses selbst nicht zwingend gefährdet sieht.
3. Die Beklagte hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts den nach dem Vertrag der Parteien der Wiederverheiratung gleichwertigen Verstoß des ehelosen Zusammenlebens des Klägers seit dem Herbst 2006 gekannt und hingenommen. Auch das zeigt, dass sie selbst ihre moralische Glaubwürdigkeit nicht ausnahmslos bei jedem Loyalitätsverstoß als erschüttert betrachtet, sondern sich, möglicherweise angesichts der ausgeprägten Verdienste des Klägers um die Patienten und ihres eigenen mit diesen Verdiensten verbundenen Rufs, durchaus zu unterscheiden gestattet.

III. Was bemängelt das BVerfG hieran?
Nach Ansicht des BVerfG verstößt diese Begründung gegen den Selbstbestimmungsgrundsatz der Kirchen. Danach ist anerkannt, dass die Kirchen selbst im Rahmen des ordre-public festlegen dürfen, welches einen Loyalitätsverstoß darstellt und wie schwer dieser zu gewichten ist:

Das Bundesarbeitsgericht hat Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG verkannt. Es hat auf der ersten Stufe eine eigenständige Bewertung religiös vorgeprägter Sachverhalte vorgenommen und seine eigene Einschätzung der Bedeutung der Loyalitätsobliegenheit und des Gewichtes eines Verstoßes hiergegen an die Stelle der kirchlichen Einschätzung gesetzt, obwohl sie anerkannten kirchlichen Maßstäben entspricht und nicht mit grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in Widerspruch steht.

Konkret bedeutet dies, dass das Bundesarbeitsgericht selbst gewertet hat, wie schwerwiegend der Loyalitätsverstoß ist. So führte es wie dargestellt an, dass der kirchliche Träger schon lange Kenntnis vom Getrenntleben des Klägers hatte und der Verstoß daher weniger schwer wiege. Zudem führte es an, dass die Kirche selbst offenbar davon ausgehe, auch nicht-katholische Personen zu beschäftigen. Hier muss sich das BAG an die von der Kirche vorgegebenen Wertung halten und kann nicht aus den Umständen ziehen, dass der Verstoß auf der ersten Stufe doch nicht so schwer wiege.
IV. Wie geht´s jetzt weiter?
Der Fall wurde zum BAG zurückverwiesen, § 95 Abs. 2 Hs. 2 BVerfGG. Bei erneuter Prüfung der Wirksamkeit der Kündigung wird es auf erster Stufe einen schweren Loyalitätsverstoß annehmen müssen, so wie die Kirche ihn vorgibt. Dennoch könnte die Kündigung sich letztlich als unwirksam herausstellen, denn auf zweiter Stufe, der Interessenabwägung, müssen die widerstreitenden Grundrechtspositionen in Einklang gebracht werden. So spricht für die Kirche zwar das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV sowie Art. 4 GG (zur genauen Abgrenzung s. Rn. 83 ff. des Beschlusses), doch streiten für den Kläger der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie der Gedanken des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG). Vieles spricht aber dafür, dass die Kündigung auf Grund der Leitungsposition, des schweren Loyalitätsverstoßes und der Tatsache, dass all dies schon bei Vertragsschluss für den Arzt vorhersehbar war, wirksam ist.
V. Fazit
Auch in einer Examensklausur kann das kirchliche Selbstbestimmungsrecht abgefragt werden. Hierzu sollte diese aktuelle Entscheidung des BVerfG bekannt sein. Hat man dieses erst einmal herausgearbeitet, ist der Rest klassische Grundrechtsabwägung, die auch ohne vertiefte Kenntnisse des Arbeitsrechts zumutbar ist. Zugleich bietet der Fall viel Gesprächsstoff für abendliche Diskussionen über „Gott und die Welt“…

21.11.2014/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2014-11-21 13:55:592014-11-21 13:55:59BVerfG: Kirchliche Loyalitätsobliegenheiten weiterhin nur eingeschränkt staatlich überprüfbar
Dr. Christoph Werkmeister

BVerwG: Keine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen (Schwarze Magie / Burkini)

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Verwaltungsrecht

Das BVerwG hat vor Kurzem zwei äußerst examensrelevante Urteile gefällt, die sich mit der Religionsfreiheit im Spannungsfeld zwischen staatlichen Bildungsauftrag sowie elterlichem Erziehungsrecht beschäftigen. Wer sich in den nächsten Zeit für die mündliche Prüfung im ersten oder zweiten Staatsexamen meldet, sollte sich einmal intensiver mit den Sachverhalten auseinandergesetzt haben. Darüber hinaus liefen die den Urteilen zugrunde liegenden Sachverhalte bereits in einer Reihe von Staatsprüfungen (siehe zuletzt im Juni 2013 im ersten Staatsexamen in NRW). Aus diesem Grund muss das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis, das diesen Fällen zugrunde liegt, auch für Klausurkonstellationen beherrscht werden.
Der Fall Krabat
Wir berichteten bereits im Jahr 2011 über eine Entscheidung des OVG Münster (Urteil vom 22.12.2011 – 19 A 610/10; siehe dazu unseren Beitrag hier). In der Sache ging es um die Frage, ob die Kläger, bekennende Zeugen Jehovas, ihren Sohn von einer Unterrichtsveranstaltung befreien konnten. Die Eltern wollten nicht, dass ihr Sohn im Rahmen einer Unterrichtsstunde den Film „Krabat“ besucht. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch des Autors Ottfried Preußler. Die Eltern monierten, dass der Film unter anderem Praktiken schwarzer Magie zeige und dass ihr Glaube ihnen verbiete, sich mit schwarzer Magie zu befassen.
Das OVG Münster konstatierte seinerzeit, dass die Eltern in diesem Fall berechtigt waren, das Kind von der Unterrichtsveranstaltung fernzuhalten. Das BVerwG hob diese Entscheidung nunmehr auf (Urteil vom 11.09.2013 – 6 C 12.12; siehe dazu auch die entsprechende Pressemitteilung des BVerwG). Die Schule habe mit der Filmvorführung nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot verstoßen, bei der Ausgestaltung des Unterrichts Neutralität in religiöser Hinsicht zu wahren. Eine Unterrichtsbefreiung sei aus religiösen Gründen nur in begrenzten Ausnahmefällen möglich. Sonstige Beeinträchtigungen religiöser Vorstellungen seien grundsätzlich als typische, von der Verfassung von vornherein einberechnete Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen. Für eine Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen sei es erforderlich, dass den religiösen Belangen des Betroffenen eine besonders gravierende Beeinträchtigung drohe und der schulische Wirkungsauftrag im Vergleich hierzu lediglich nachrangig berührt werde.
Der Burkini-Fall
Am gleichen Tag, an dem eine Entscheidung in der o.g. Sache gefällt wurde, urteilte das BVerwG, dass muslimische Schülerinnen regelmäßig keine Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht verlangen können. Dies ergebe sich deshalb, da ihnen die Möglichkeit offen stehe, einen sogenannten Burkini zu tragen. Der Burkini (auch Burqini oder Bodykini) ist ein zweiteiliger Schwimmanzug für muslimische Frauen. Er ist aus Elastan gefertigt, hat eine integrierte Kopfbedeckung und erfüllt die Anforderungen des Hidschab (so Wikipedia). Die vorgenannte Linie zugunsten des staatlichen Erziehungsauftrages führt sich hier also fort.
Das BVerwG führt in seiner entsprechenden Pressemitteilung aus:

 Das Tragen eines Burkini war der Klägerin zumutbar. Die Klägerin hat nicht hinreichend verdeutlichen können, dass und inwiefern die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht bei Anlegen eines Burkini die aus ihrer Sicht maßgeblichen muslimischen Bekleidungsvorschriften verletzt hätte. Eine Befreiung war auch nicht deshalb geboten, weil sie im Schwimmunterricht den Anblick männlicher Mitschüler in Badekleidung hätte auf sich nehmen müssen. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit vermittelt grundsätzlich keinen Anspruch darauf, im Rahmen der Schule nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter – einschließlich solcher auf dem Gebiet der Bekleidung – konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet sind. Die Schulpflicht steht nicht unter dem Vorbehalt, dass die Unterrichtsgestaltung die gesellschaftliche Realität in solchen Abschnitten ausblendet, die im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden mögen. Die Gefahr zufälliger Berührungen mit männlichen Mitschülern hätte durch eine entsprechend umsichtige Unterrichtsdurchführung seitens der Lehrer sowie durch eigene Vorkehrungen der Klägerin auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden können.

14.09.2013/von Dr. Christoph Werkmeister
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Dr. Deniz Nikolaus

EGMR: Das sichtbare Tragen eines Kruzifix am Arbeitspatz ist von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt

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Der EGMR (ECHR 012 (2013)) hat am 15.01.2013 entschieden, dass das sichtbare Tragen eines Kruzifixes am Arbeitsplatz grundsätzlich von der Religionsfreiheit geschützt ist. Dies ist nur im Einzelfall, nämlich dann, wenn die Religionsfreiheit mit kollidierenden Rechten anderer nicht in Einklang zu bringen ist, anders. Während eine British-Airways-Stewardess bei der Arbeit eine Kette mit Kreuz tragen darf, ist dies einer Krankenschwester nach Ansicht des Gerichts vor dem Hintergrund der Religionsfreiheit indessen nicht zwingend zu gestatten. Mit Eintritt der Rechtskraft wird diese Entscheidung für alle 46 Mitgliedsländer des Europarates, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert haben, bindend. Gerügte Staaten sind angehalten, ihre Gesetze entsprechend zu ändern und anzupassen.
Die (noch nicht im Volltext vorliegende) Entscheidung steht im Einklang mit der Kruzifix-Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 2011, in der die Straßburger Richter Kreuze in italienischen Klassenräumen für zulässig hielten (wir berichteten dazu hier, zu Kopftuch und anderen religiösen Bekleidungsstücken, siehe hier).
Sachverhalt
Geklagt hatten zwei praktizierende Christinnen britischer Staatsangehörigkeit. Eine davon war Angestellte des Bodenpersonals der Fluggesellschaft British Airways und die andere Krankenschwester in einem Krankenhaus. Beide sahen sich durch eine Anordnung ihres Arbeitgebers, ihre Kruzifixe bei der Arbeit unter der Kleidung zu tragen, in ihrer Religionsfreiheit verletzt.
Die Kleiderordnung der Fluggesellschaft British Airways sah eine Uniform vor und untersagte den Mitarbeitern, Schmuck oder jegliche religiöse Symbole ohne Erlaubnis offen zu tragen. Dagegen erlaubte die Fluggesellschaft muslimischen Frauen oder Sikhs, ein Kopftuch beziehungsweise einen Turban in den Farben der Uniform zu tragen.
Im Fall der Krankenschwester verboten die einschlägigen Bestimmungen das Tragen von Schmuck im Krankenhaus aus gesundheitlichen und sicherheitsrechtlichen Gründen, da die Patienten sich bei unbedachten Bewegungen an der Kette verletzen oder bei offenen Wunden infizieren könnten.
Beide Klägerinnen behaupteten, das sichtbare Tragen des Kreuzes sei ein wichtiger Bestandteil der Manifestation ihres Glaubens. Sie fühlten sich daher durch das Verbot diskriminiert.
Entscheidung
Der EGMR entschied im Fall der Flugbegleiterin, dass das Verbot der Fluggesellschaft,keine sichtbaren Kreuze tragen zu dürfen, einen Verstoß gegen Artikel 9 (freedom of religion) EMRK darstellt. Die Richter wogen die Religionsfreiheit der Mitarbeiterin und das (von der Fluggesellschaft vorgebrachte) entgegenstehende Interesse, ein bestimmtes öffentliches Image zu wahren, gegeneinander ab und entschieden zu Gunsten der Klägerin. Ihren religiösen Glauben nach außen zu manifestieren überwiege im Lichte der Religionsfreiheit das (grundsätzlich ebenfalls anzuerkennende) Interesse der Fluggesellschaft. Die Richter sprachen der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 2000 Euro zu.
Anders lag nach Ansicht des Gerichts der Fall der christlichen Krankenschwester. Hier stehe der Religionsfreiheit der Klägerin der Schutz der Gesundheit der Patienten gegenüber. Es bestünde nämlich die (aus Sicht der Klinikleitung begründete) Gefahr, dass sich die (vornehmlich älteren) Patienten an dem offen getragenen Kreuz verletzen könnten. Insoweit überwiegt nach Ansicht des Gerichts der Gesundheitsschutz die durch Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 14 (prohibition of discrimination) EMRK geschützte Religionsfreiheit der Krankenschwester.
Kruzifix-Entscheidung des BVerfG
Um die Entscheidung in den nationalen Kontext einordnen zu können, soll an dieser Stelle auf die aufsehenerregende Kruzifix-Entscheidung des BVerfG vom 10. August 1995 (BVerfGE 93, 1) eingegangen werden. Hier wurde der Verfassungsbeschwerde dreier minderjähriger schulpflichtiger Kinder und ihrer Eltern stattgegeben, die sich gegen die Anbringung von Kruzifixen und Kreuzen in bayrischen Klassenzimmern gewandt hatten. Die Anbringung von Kruzifixen beruhte auf einer Rechtsverordnung für die Volksschulen in Bayern (VSO) dessen einschlägiger Teil in § 13 Abs. 1 S. 2 wie folgt lautete:

…In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen…

Daraufhin hielt das BVerfG in seinem Leitsatz fest:

Die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.

Der Senat des BVerfG stellte vorerst auf die Verletzung der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG ab. Zur Freiheit der positiven Ausübung umfasse die Glaubensfreiheit aber auch, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese negative Freiheit beziehe sich ebenfalls auf Glaubenssymbole. Dem Staat sei durch Art. 4 Abs. 1 GG eine Pflicht auferlegt, Einzelnen oder religiösen Gemeinschaften einen Betätigungsraum zur Entfaltung zu sichern und vor Angriffen konkurrierender Religionsgruppen zu schützen. Allerdings entfalte Art. 4 Abs. 1 GG keinen Anspruch des Einzelnen darauf, durch staatliche Hilfe seiner religiösen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Dies folge aus dem Grundsatz staatlicher Neutralität. Der Staat könne die friedliche Koexistenz nur bewahren, wenn er in Glaubensfragen Neutralität bewahre. Dieses Gebot fände seine Grundsätze neben Art. 4 Abs. 1 GG auch in Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 11 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV.
Im Anschluss daran erwog das BVerfG die Verletzung der Glaubensfreiheit durch § 13 Abs. 1 S. 3 VSO. Die staatliche Anbringung des Kreuzes führe dazu, dass die Schüler ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert seien und gezwungen würden, „unter dem Kreuz zu lernen“ (Kreuz als Zwangselement). Das Kreuz (mit oder ohne Korpus) sei das spezifische Glaubenssymbol der Christen und nicht nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur. Für Nichtchristen und Atheisten sei das Kreuz gerade wegen der Bedeutung Symbol der „missionarischen Ausbreitung“ bestimmter Glaubensüberzeugungen. Ein staatliches Bekenntnis zu diesem Glaubensinhalt berühre daher die Religionsfreiheit.
Im dritten Teil befasste sich das BVerfG mit einer möglichen Rechtfertigung. Da das Grundrecht auf Glaubensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet wird, muss sich die Einschränkung aus der Verfassung selbst ergeben. Als Erstes wurde eine Rechtfertigung aus Art. 7 Abs. 1 GG (staatliche Schulhoheit) angesprochen. Art. 7 Abs. 1 GG erteile dem Staat ein Erziehungsauftrag unabhängig von den Eltern. Problematisch hierbei ist jedoch, dass in der Schule unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern intensiv aufeinander treffen. Um diesen Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern zu lösen, zieht das BVerfG den Grundsatz der „praktischen Konkordanz“ heran. Dieser Grundsatz fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden darf, sondern dass alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren. Ein solcher Ausgleich könne aber nicht dazu führen, dass alle kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen abgestreift werden. Allerdings sei es in einer pluralistischen Gesellschaft unmöglich, allen Erziehungsvorstellungen voll Rechnung zu tragen. Das Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit sei mithin vom Landesgesetzgeber unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen. Dem Landesgesetzgeber sei die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht verboten. Voraussetzung sei jedoch, dass damit nur das unerlässliche Minimum an Zwangselementen verbunden ist. Im vorliegenden Fall überschreite die staatlich angeordnete Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern die Grenzen religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Art. 7 Abs. 1 GG als Einschränkung der Glaubensfreiheit wurde daher im Ergebnis verneint.
Weiterhin wurde auch eine Rechtfertigung der Anbringung der Kreuze aufgrund der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens abgelehnt. Gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezwecke in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten, so dass es keine Bedeutung habe, dass die Anhänger christlichen Glaubens im Klassenzimmer in der Mehrheit seien.
Fazit
Diese Entscheidung des BVerfG ist nicht als Widerspruch zu den Entscheidungen des EGMR zu betrachten. Als säkularer Staat ist Deutschland grundsätzlich religionsfreundlich, sog. „offene Neutralität“. Jedoch wurde die Neutralität vom Gericht nicht, wie teilweise angenommen, im Sinn eines Laizismus gedeutet, der die Entfernung aller religiösen Elemente aus dem öffentlichen Leben verlangt. Es wurde ausdrücklich anerkannt, dass religiöse Bezüge auch in den Bereich des öffentlichen Schulwesens hineinwirken können. Das Gericht hat sich nur von der staatlich angeordneten Anbringung von Kreuzen ohne Ausgleichsregelung distanziert, nicht von Kreuzen in Klassenzimmern generell.
Wie die aktuelle Entscheidung des EGMR noch einmal verdeutlicht, gilt auch in Europa auf Grundlage der EMRK die Religionsfreiheit. Sie ist sowohl von den Mitgliedsstaaten als auch von den Staatsangehörigen (namentlich in Person der Arbeitgeber) zu achten. Allerdings gilt die Religionsfreiheit auch insoweit nicht uneingeschränkt. Insbesondere wenn höherrangige Interessen wie gesundheitliche und sicherheitsrechtliche Aspekte entgegenstehen, kann diese eingeschränkt werden. Pauschale Verbote, Religionssymbole am Arbeitsplatz sichtbar zu tragen, verstoßen aber grundsätzlich gegen Artikel 9 EMRK.
 

22.01.2013/1 Kommentar/von Dr. Deniz Nikolaus
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Deniz Nikolaus https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Deniz Nikolaus2013-01-22 10:00:422013-01-22 10:00:42EGMR: Das sichtbare Tragen eines Kruzifix am Arbeitspatz ist von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt
Dr. Christoph Werkmeister

Aktuelle examensrelevante verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung mit weiterführenden Hinweisen

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Verwaltungsrecht

In den letzten Tagen sind erneut eine Reihe von öffentlich-rechtlichen Problemkreisen durch die verwaltungsgerichtliche Judikatur gegangen (siehe zur Examensrelevanz der aktuellen Judikatur hier). Kandidaten, für die bald die mündliche Prüfung ansteht, sollten sich deshalb mit den im Folgenden genannten Problemkreisen einmal kurz auseinandergesetzt haben. Daneben ist es zumindest denkbar, dass die folgenden Sachverhalte zu gegebener Zeit auch als Aufhänger in Klausuren für das erste sowie zweite Staatsexamen Eingang finden werden.
Da die Pressemitteilungen der genannten Fälle die jeweils einschlägige Problematik bereits ausreichend erläutern, werden im Folgenden lediglich Auszüge aus den respektiven Mitteilungen zitiert, wobei jeweils am Ende auf weiterführende Lektüre hingewiesen wird.
VG Neustadt: Gewerberechtliche Untersagung einer „Seitensprungagentur“ (Beschluss vom 21.12.2012 – 4 L 1021/12.NW)

Der Antragsteller betrieb in Ludwigshafen eine sogenannte Seitensprungagentur nebst Partnervermittlung, ohne das Gewerbe angemeldet zu haben. Kunden übergab er gegen Entgelt eine Liste mit Telefonnummern von angeblich an Seitensprüngen oder einer näheren Beziehung interessierten Frauen. In der Folgezeit beschwerte sich bei der Stadt eine Frau über zunehmende telefonische Belästigungen von Männern. Sie habe dem Antragsteller ihre Daten nicht zur Verfügung gestellt. Eine Bundeszentralregisterauskunft ergab, dass der Antragsteller im Zeitraum 1997 – 2011 in 13 Fällen zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt worden war. Die Stadt untersagte diesem daraufhin wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit die Ausübung der Seitensprungagentur und ordnete die sofortige Vollziehung an.
Bei der Ausübung einer «Seitensprungagentur» handelt es sich nach dem VG wegen der Schutzbedürftigkeit der Kunden und der Missbrauchsanfälligkeit um ein nach der Gewerbeordnung besonders überwachungsbedürftiges Gewerbe („Vermittlung von Eheschließungen, Partnerschaften und Bekanntschaften“, vgl. § 38 Abs. 1 Nr. 3 GewO). Nach dem Gesamteindruck des bisherigen Verhaltens des Antragstellers fehle diesem jedoch die erforderliche Zuverlässigkeit für die Ausübung eines solchen Gewerbes. Er sei in der Vergangenheit mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zwar hätten die meisten der 13 im Bundeszentralregister eingetragenen Straftaten keinen Gewerbebezug. In ihrer Häufigkeit zeigten diese aber, dass der Antragsteller dazu neige, in strafbewehrter Weise die Rechtsordnung zu verletzen. Durch das bisherige gewerbliche Verhalten des Antragstellers sieht das VG die sich aufdrängende Prognose eines künftig rechtswidrigen Verhaltens bei der Ausübung des Gewerbes bestätigt. So habe er den Gewerbebetrieb erst angemeldet, nachdem ihn die Stadt dazu aufgefordert habe. Aus den Akten ergebe sich ferner, dass der Antragsteller Telefonnummern von Damen an potentielle Kunden weitergegeben habe, die ihm diese nicht zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt hätten.

Anmerkung: Das Gewerberecht ist äußerst häufig Gegenstand von Examensklausuren. Zum besseren Verständnis und zur Einordnung der hiesigen Entscheidung, empfiehlt sich insofern die Lektüre des „Mini-Crashkurses Gewerbeordnung“. Im Übrigen ergingen erst kürzlich andere äußerst examensrelevante Entscheidungen zum Rechtsbegriff der Zuverlässigkeit – dies jedoch in einem anderen Kontext, nämlich dem Schornsteinfegerrecht, siehe dazu hier).
VGH Mannheim: Disziplinarische Maßnahme gegen Pfarrer gerichtlich nicht überprüfbar (Beschluss vom 18.12.2012 – 4 S 1540/12)

Einem katholischen Pfarrer im Ruhestand wurde vorgeworfen, in den 1960er Jahren sexuelle Handlungen an Minderjährigen vorgenommen zu haben. Der Bischof erteilte ihm mit Dekret vom 22.06.2011 nach kanonischem Recht einen Verweis und fügte dem eine Buße hinzu. Insoweit erlegte er dem Antragsteller eine 20-prozentige Kürzung seiner Bezüge auf.
Das Gericht nahm an, dass die kirchenrechtliche Gehaltskürzung als disziplinarische Maßnahme nach kanonischem Recht nicht der Kontrolle durch ein staatliches Gericht unterliegt. Zwar sei es den öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften überlassen, für Streitigkeiten aus den Rechtsverhältnissen ihrer Beamten und Seelsorger den Rechtsweg zu staatlichen Verwaltungsgerichten wie bei Klagen staatlicher Beamter zu eröffnen. Eine solche kirchenrechtliche Rechtswegzuweisung gebe es hier aber nicht. Den Kirchen sei das Recht zur eigenständigen Ordnung und Gestaltung ihrer inneren Angelegenheiten verfassungsrechtlich gewährleistet. Soweit dieses Selbstbestimmungsrecht reiche, unterlägen sie nicht der staatlichen Gerichtsbarkeit. Das gelte insbesondere für die Art und Weise, in der die Kirche ihren geistlich-religiösen Auftrag auffasse und erfülle. Insoweit gehöre auch das Dienstrecht der Geistlichen zum Kernbereich innergemeinschaftlicher Angelegenheiten der Kirchen. Diesbezügliche Entscheidungen der Kirchen und Kirchengerichte seien von den staatlichen Gerichten hinzunehmen.
Auch die Justizgewährungspflicht des Staates und das Rechtsstaatsprinzip ermächtigten staatliche Gerichte nicht, über kircheninterne Maßnahmen zu entscheiden, heißt es im Beschluss weiter. Denn die nach kanonischem Recht als Werk der Caritas auferlegte Buße in Gestalt einer Gehaltskürzung sei eine solche rein innerkirchliche Maßnahme als Folge eines innerkirchlichen Pflichtenverstoßes des Antragstellers. Das Disziplinarrecht der Kirchen wurzele als Teil ihres Amtsrechts in ihrem geistlichen Wesen und bilde einen Kern ihres Selbstbestimmungsrechts.

Anmerkung: Der hier dargestellte Sachverhalt eignet sich – aufgrund der Verneinung des Verwaltungsrechtswegs – weniger für eine Examensklausur. Wahrscheinlicher ist, dass dieser Sachverhalt im Rahmen von mündlichen Prüfungen abgefragt wird. Die Entscheidung ist insofern besonders interessant, da im Querschnitt noch weitere aktuelle Entwicklungen, etwa im kirchlichen Arbeitsrecht, in das Gespräch mit einfließen können (siehe dazu hier). Gleichzeitig bietet sich der Fall für den Prüfer als Eingangstor an, um verwaltungs- sowie verfassungsrechtliche Fragestellungen rund um die Religionsfreiheit zu erörtern (siehe dazu aktuell etwa hier).
VG Neustadt: Zur Entziehung der Fahrerlaubnis in einem Sonderfall (Urteil vom 18.12.2012 – 1 L 986/12.NW)

Der Antragsteller besitzt nur die Fahrerlaubnis für die Klassen M, L und S […]. Er fährt dementsprechend ein Elektrofahrzeug, dessen Geschwindigkeit auf 45 km/Std. beschränkt ist. Nach einem Unfallgeschehen mit dem Fahrzeug im Straßenverkehr wurde er mit rechtskräftigem Strafbefehl zu einer Geldstrafe verurteilt wegen Verkehrsunfallflucht und fahrlässiger Körperverletzung. Im Verkehrszentralregister wurden dafür 12 Punkte eingetragen und er nach dem im Punktesystem vorgesehenen Maßnahmenkatalog verwarnt. Die Straßenverkehrsbehörde forderte ihn darüber hinaus auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten über seine Fahreignung vorzulegen und entzog ihm, nachdem er das Gutachten nicht vorlegte, die Fahrerlaubnis wegen fehlender Eignung zum Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr und ordnete den sofortigen Vollzug an.
Nach Auffassung des Gerichts hat die Behörde das medizinisch-psychologische Gutachten nicht rechtmäßig angefordert, deshalb dürfe sie aus der unterbliebenen Vorlage des Gutachtens nicht den Schluss ziehen, dass der Antragsteller zum Führen von Fahrzeugen ungeeignet sei. Bei der Anordnung des Gutachtens habe sie ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt und sei nicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls eingegangen. Diese bestünden hier darin, dass der Antragsteller im Unterschied zum Regelfall eines Kraftfahrers nur deutlich in der Geschwindigkeit reduzierte Fahrzeuge führen dürfe und nach seinen Angaben zudem nur einen eingeschränkten örtlichen Bereich befahre. Außerdem sei bei der Ermessensausübung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er durch die Verwarnung und den Strafbefehl nachdrücklich im Hinblick auf seine Pflichten als Verkehrsteilnehmer ermahnt worden sei. Der Gesetzgeber gehe grundsätzlich davon aus, dass die abgestuften Maßnahmen nach dem Punktekonto im Verkehrszentralregister ausreichend seien, auch dies habe in die Ermessenserwägungen mit einbezogen werden müssen.

Anmerkung: Fälle zur Entziehung des Führerscheins werden durchaus Gegenstand von Examensklausuren. Zum Verständnis des einschlägigen Rechtsrahmens, der FeV sowie dem StVG, sei aus diesem Grund auf einen weiterführenden Beitrag verwiesen.

11.01.2013/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2013-01-11 15:30:092013-01-11 15:30:09Aktuelle examensrelevante verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung mit weiterführenden Hinweisen
Dr. Christoph Werkmeister

Aktuelle verwaltungsrechtliche Themen

Aktuelles, Öffentliches Recht, Verwaltungsrecht

In den letzten Tagen sind eine Reihe von öffentlich-rechtlichen Problemkreisen durch Presse und Judikatur gegangen. Kandidaten, für die bald die mündliche Prüfung ansteht, sollten sich deshalb mit den im Folgenden genannten Problemkreisen einmal kurz auseinandergesetzt haben. Daneben ist bei den folgenden Sachverhalten zumindest denkbar, dass diese – wenigstens als Aufhänger – auch in Klausuren Eingang finden.
Di Fabio: Beamtenstreik ist und bleibt rechtswidrig

Das Streikverbot für Beamte duldet nach Ansicht des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio keine Ausnahmen. Warnstreik-Aktionen von verbeamteten Lehrern im Jahr 2010 seien mit den Grundsätzen des Berufsbeamtentums nicht vereinbar und Sanktionen des Dienstherren gegen die Betroffenen deshalb rechtens, sagte di Fabio am 31.10.2012 in Berlin bei der Präsentation eines vom dbb Beamtenbund und Tarifunion in Auftrag gegebenen Gutachtens (Quelle: Beck aktuell). Wir berichteten bereits ausführlich über die höchst examensträchtige Problematik des Streikrechts von Beamten (siehe dazu unbedingt hier).

VerfGH Bayern: Volksbegehren gegen Studiengebühren in Bayern zulässig

Der bayerische Verfassungsgerichtshof in München hat ein Volksbegehren der Freien Wähler gegen die Studiengebühren in Bayern zugelassen und folgt dabei der Argumentation der Antragsteller, dass «Haushaltsfragen» nicht das Thema seien (Quelle: Beck aktuell). Fragestellungen rund um Volksentscheide und plebleszitäre Elemente der Demokratie waren bereits mehrfach Aufhänger für Examensklausuren (siehe zu diesen Themen deshalb umfassender hier).

VG Gießen: Verbot einer Tanzveranstaltung am Karfreitag rechtmäßig

Das VG Gießen hat entschieden, dass die Verbotsverfügung des Regierungspräsidiums Gießen vom 03.04.2012, mit dem eine vom Kläger angemeldete „Tanzdemo“ unter dem Motto „Tanzen gegen das Tanzverbot an den Osterfeiertagen“ verboten worden war, rechtens war (siehe zu dieser Entscheidung die umfassende Pressemitteilung des Gerichts). Eine ähnliche Fragestellung, die auch bereits Gegenstand von Examensklausuren war, wurde im Jahr 2009 vom BVerfG entschieden (siehe dazu unseren Beitrag hier).

04.11.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-11-04 11:26:542012-11-04 11:26:54Aktuelle verwaltungsrechtliche Themen
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