OVG NRW: Uneingeschränktes Streikverbot für Beamte in Deutschland
Thematisch passend zu den derzeit laufenden Warnstreiks der Angestellten im öffentlichen Dienst (Bus- und Bahn) in verschiedenen Großstädten hat sich das OVG NRW gestern mit der Frage auseinandergesetzt, ob Beamten in Deutschland ein Streikrecht zusteht (OVG NRW, 3d A 317/11.O – Beschluss vom 7.03.2012). Die Urteilsbegründung liegt derzeit noch nicht vor, folgt im Ergebnis aber der bisherigen höchstrichterlichen Rechtssprechung (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 11.06.1958 – 1 BvR 1/52, 46/52 -, BVerfGE 8, 1, 17; BVerwG, Urteil vom 03.12.1980 – 1 D 86/79 -, BVerwGE 73, 97 ff.). Kommentare sind wie immer ausdrücklich erwünscht.
Sachverhalt (verkürzt)
Die verbeamtete Lehrerin L ist mit ihrer derzeitigen Berufssituation unzufrieden. Sie beschließt daher, am 28.01.2009, 05.02.2009 und 10.02.2009 ohne Genehmigung des Dienstherrn (Land NRW) an Warnstreiks der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) teilzunehmen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Unterricht kann sie an diesen Tagen nicht erteilen. In der Folge wird ihr vom Land NRW durch eine Disziplinarverfügung eine Geldbuße in Höhe von 1.500 EUR auferlegt.
L ist erbost. Sie beruft sich auf die EMRK und die Rechtssprechung des EGMR zum Beamtenrecht, wonach ihr ein Streikrecht zustehe. Die Geldbuße sei „völlig rechtswidrig“.
Art. 11 EMRK, Art. 9 Abs. 3 GG als Anknüpfungspunkt
Ausgangspunkt für die Prüfung sind die jeweiligen Normen des GG und der EMRK zur Koalitionsfreiheit, Art. 11 EMRK und Art. 9 Abs. 3 GG. Hiernach ist zunächst jeder berechtigt, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen und die im Rahmen des Arbeitsverhältnisses bestehenden Rechte gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. L beruft sich auf die „EMRK und die Rechtsprechung des EGMR“. Hiernach gilt die Koalitionsfreiheit auch dann, wenn auf Seiten des Arbeitgebers der Staat steht. Der Staat muss Tätigkeiten der Gewerkschaften zulassen und ermöglichen. Das Streikrecht für Angehörige des öffentlichen Dienstes darf zwar beschränkt, nicht aber völlig ausgeschlossen werden (EGMR, 6.2.1976, EGMR-E 1, 172 – Schmidt u. Dahlström/Schweden; EGMR, 27. 6. 2002, Nr. 38190/97 – Federation of Offshore workers‘ trade unions/Norwegen für Ölarbeit). Da bei der Auslegung des Grundgesetztes die Wertungen der EMRK und des EGMR zu berücksichtigen sind, soweit dem nicht wichtige Prinzipien des deutschen Verfassungsrechts entgegenstehen, müssen diese Grundsätze auch für Art. 9 Abs. 3 GG gelten.
Beschränkung durch Art. 11 Abs. 2 S.2 EGMR?
Art. 11 Abs. 2 EGMR sieht in besonderen Ausnahmefällen eine Beschränkung der in Abs. 1 genannten Rechte vor. Es besteht allerdings Einigkeit darüber, dass dies nur unter äußerst engen Voraussetzungen möglich ist (Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 11, Rz. 35). Der Begriff der „Staatsverwaltung“ wird eng ausgelegt. Hier könnte wohl – in einer Klausur – vertreten werden, dass, auch mit Blick auf Satz 1, nur solche Angehörige des öffentlichen Dienstes gemeint sind, die für die Funktionweise des Staates und seiner demokratischen Ordnung unerlässlich sind, sodass ein Streik zu erheblichen Erschütterungen im Staatsgefüge führen würde (a.A. vertretbar). Ob dies auch auf Lehrer zutrifft, ist wahrscheinlich eher zweifelhaft. Das EGMR hat diese Frage jedenfalls bisher offen gelassen (EGMR, 22.11.2001, 39799/98 NJW 2002, 3087 – Volkmer/Deutschland)
Einschränkung über Art. 33 Abs. 5 GG – Grundsätze des Berufsbeamtentums
Das OVG ist offensichtlich einen anderen – direkteren – Weg gegangen und hat die Einschränkung der EMRK mit der Anwendbarkeit der Grundsätze zum Berufsbeamtentum gemäß Art. 33 Abs. 5 GG begründet. Die EMRK stehen nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht über dem Grundgesetz, sondern mit den Bundesgesetzen auf einer Stufe. Daher müsse sich Art. 11 EMRK an Art. 33 Abs. 5 GG messen lassen. Um aus der Pressemitteilung zu zitieren:
Die in Art. 11 EMRK und in Art. 9 Abs. 3 GG geregelte Koalitionsfreiheit werde durch die in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums eingeschränkt, so dass Beamten in der Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf deren Treuepflicht gegenüber ihrem Dienstherrn und vor dem Hintergrund der Erhaltung der Funktionsfähigkeit staatlichen Handelns ein Streikrecht nicht zustehe. Dieses Streikverbot gelte unabhängig davon, welche konkrete Funktion der einzelne Beamte ausübe, denn allein der Status als Beamter sei entscheidend.
Damit hat das OVG NRW zum Ausdruck gebracht, dass es für die Anwendung von Art. 33 Abs. 5 GG hinsichtlich Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht darauf ankommt, welche Funktion, d.h. welches Amt der Beamte im Einzelfall innehat oder wie bedeutend sein Fernbleiben von Dienst für die Funktionsweise des Verwaltungsapparates hat. Die Vorinstanz (VG Kassel) war der Auffassung, dass Art. 33 Abs. 5 GG selbst im Lichte der EMRK einschränkend dahingehend ausgelegt werden müsse, dass auch Beamten ein Streikrecht haben. Dem tritt das OVG NRW entgegen. Ein Hergebrachter Grundsatz i.S.v. Art. 33 V GG ist nicht jede überkommene beamtenrechtliche Detailregelung; vielmehr „kann es sich nur um jenen Kernbereich von Strukturprinzipien handeln, die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren, Tradition bildenden Zeitraumes, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind“ (Battis, BBG, § 4, Rz. 4). Zu den hergebrachten Grundsätzen zählt nach Ansicht des OVG und in Fortführung der höchstrichterlichen Rechtsprechung damit auch das besondere Verhältnis des Beamten zum seinem Dienstherrn (Stichwort: Sonderrechtsverhältnis), dem Staat, und die besondere Verantwortung für die Allgemeinheit bzw. für die Funktionsfähigkeit des Staatsapparates. Ein Streik und streikähnliche Handlungsweisen („Dienst nach Vorschrift“ o. ä.) zur Verfolgung von Beschäftigungsbelangen oder -interessen ist den Beamten daher verwehrt; denn ein derartiger „Arbeitskampf“ würde sich letztlich gegen den Gesetzgeber oder die gesetzlich festgelegte Rechtsstellung des Beamten richten (Badura in: Maunz/Dürig, GG, Art. 33, Rz. 58. Auch hier lässt sich mit Sicherheit ohne weiteres das Gegenteil vertreten, zumal die L lediglich an drei Unterrichtstagen fehlte und „schwere Beeinträchtigungen“ für den ordnungsgemäßen Ablauf des Schulbetriebs allem Anschein nicht gegeben waren.
Fazit
Schöne Entscheidung, die gewiss bald Eingang in Klausuren und mündliche Prüfungen finden wird. Es lässt sich nicht nur abprüfen, in welchem Verhältnis die EMRK und der EGMR zu den Normen des GG stehen, sondern es ist auch eine gute Argumentation hinsichtlich Art. 33 Abs. 5 GG gefragt. Auf das Ergebnis, ob ein Streikrecht in Frage kommt, wird es dabei wohl weniger ankommen, das zeigt schon die Uneinigkeit der Rechtsprechung der letzten Jahre. Vielmehr sollte man sich mit den wesentlichen Grundsätzen im Beamtenrecht und Art. 33 GG wenigstens einmal beschäftigt haben. Zudem ist der Prüfling gezwungen, einen Blick in Art. 11 EMRK zu riskieren.
In rechtlicher Hinsicht wird abzuwarten sein, ob möglicherweise das BVerfG das letzte Wort haben wird. Ein uneingeschränktes Streikverbot für Beamte ist jedenfalls ein klarer Bruch mit der sich aus der Rechtssprechung des EGMR abzeichnenden Tendenz, nach der Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst „normalen“ Angestelltenverhältnisse zunehmend angeglichen werden.
Zwar hat das VG Kassel (Az. 28 K 1208/10.KS.D) am 27.7.2011 einen ähnlichen Fall entschieden, aber in diesem Verfahren war Vorinstanz das VG Düsseldorf, 15.12.2010 – 31 K 3904/10, da die örtlich zuständige Berufsinstanz des VG Kassel der Hessische VGH in Kassel und andererseits das OVG Münster Berufungsinstanz für das VG Düsseldorf ist.
Aktuell noch eine Entscheidung hierzu (https://beck-aktuell.beck.de/news/ovg-lueneburg-kein-streikrecht-fuer-verbeamtete-lehrer). Das Thema wird garantiert bald im Examen laufen.
Die Vorinstanz zur Entscheidung des OVG NRW war sicher nicht das VG Kassel, da Kassel in Hessen liegt. Meines Wissens war Vorinstanz das VG Düsseldorf (Urt. v. 15.12.2010 – 31 K 3904/10).