Impfpflichten beschäftigen die Öffentlichkeit spätestens seit es Impfstoffe gegen COVID-19 gibt. Hieß es zunächst noch, niemand wolle eine Impfpflicht einführen, haben mehrere Virusvarianten und immer höher steigende Infektionszahlen den Wind gedreht und die Diskussion neu befeuert. Nun hat die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht Einzug in das Infektionsschutzgesetz gefunden: Die Regelung des § 20a IfSG entfaltet ihre Wirkung mit Ablauf des 15.3.2022.
A. Die Aussage Markus Söders
Auf einer Videoschalte des CDU-Vorstands verkündete Markus Söder, er werden „großzügigste Übergangsregelungen“ (zitiert nach ZDF heute, letzter Abruf: 9.2.2022) schaffen. Doch bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht handelt es sich um eine Norm des Bundesrechts. Daher ist jede neu geschaffene landesrechtliche Regelung, die eine solche Impfpflicht abschafft oder ihren Regelungsgehalt beschränkt, bereits wegen Verstoßes gegen Art. 31 GG, der den Vorrang von Bundesrecht gegenüber Landesrecht normiert, verfassungswidrig.
Anknüpfungspunkt eines bayerischen Alleinganges kann daher nur der Vollzug des Bundesrechts sein, der nach Art. 83 und Art. 30 GG grundsätzlich Aufgabe der Länder ist.
B. Die derzeitige Ausgestaltung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht
Bevor sich der Verfassungsmäßigkeit einer fehlenden Umsetzung gewidmet wird, müssen zunächst die Grundzüge der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erläutert werden. Sofern nämlich ein Umsetzungsspielraum verbleiben sollte, spricht zunächst nicht zwangsläufig etwas gegen eine zurückhaltende Umsetzung.
Die Impfpflicht ist Regelungsgegenstand des § 20a IfSG. Abs. 1 präzisiert dabei die Tätigkeitsbereiche, die von der Impfpflicht erfasst sind, u.a. Krankenhäuser (Nr. 1 lit. a) und Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen (Nr. 2).
Zur Kontrolle der Einhaltung der Impfpflicht sieht § 20a Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 IfSG sowohl für die von Abs. 1 S. 1 erfassten Personen, die bereits in den genannten Einrichtungen tätig sind, als auch für diejenigen, die dort erst noch tätig werden sollen, die Pflicht vor, bis zum 16. März 2022 einen Nachweis einer COVID-19-Impfung gegenüber der Leitung der Einrichtung vorzulegen.
Rechtliche interessant ist: An eine Verletzung der Nachweispflicht hat der Gesetzgeber unterschiedliche Folgen geknüpft, je nachdem, ob die betroffene Person bereits in einer von § 20a Abs. 1 S. 1 IfSG erfassten Einrichtung tätig ist oder dort erst noch tätig werden soll. Nur in letzterem Fall tritt ipso iure ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot nach § 20a Abs. 3 S. 4, 5 IfSG ein (Siehe auch Fuhlrott, GWR 2022, 22 (24). Im Hinblick auf Personen, die bereits in der jeweiligen Einrichtung tätig sind, besteht hingegen zunächst nur die Verpflichtung der Einrichtungs- oder Unternehmensleitung, das zuständige Gesundheitsamt über den fehlenden (oder u.U. gefälschten oder unrichtigen) Nachweis zu informieren, § 20a Abs. 2 S. 2 IfSG. Die Entscheidung über ein Tätigkeits- oder Betretungsverbot liegt sodann nach erneuter Anforderung des Nachweises im Ermessen des Gesundheitsamtes, § 20a Abs. 5 S. 3 IfSG.
Damit besteht ein Ermessensspielraum der Behörde, im Einzelfall ein solches Verbot anzuordnen. Wie weit dieser reicht, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Nach der Gesetzesbegründung ist von einem Verbot abzusehen, wenn das Paul-Ehrlich-Institut einen Lieferengpass bei den Impfstoffen bekannt gemacht hat (BT-Drucks. 20/188, S. 42.) – ob dies allerdings der einzige Grund ist, um insbesondere von einem Tätigkeitsverbot abzusehen, das für Personen nach § 20a Abs. 3 IfSG ja bereits aus dem Gesetz selbst folgt, ist unklar.
Festzuhalten bleibt in praktischer Hinsicht: Die Anordnung eines Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbots für bereits beschäftigte Personen wird eine Einzelfallentscheidung sein, die angesichts der bereits jetzt herrschenden Überbelastung der Gesundheitsämter die Durchsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vor enorme praktische Herausforderungen stellen wird.
Ein solcher Entscheidungsspielraum besteht jedoch nicht bei Neueinstellungen ab dem 16. März. Dort besteht bereits ipso iure ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot, der Arbeitgeber darf den Beschäftigten bereits von Gesetzes wegen nicht einsetzen. Anknüpfungspunkt einer bayerischen Weigerung kann daher nur die Kontrolle dieser Verbote sein.
C. Verstoß gegen Art. 83 GG und den Grundsatz der Bundestreue
Bei der in § 20a IfSG normierten einrichtungsbezogenen Impfpflicht handelt es sich um Bundesrecht. Die Aufgabe, dieses zu vollziehen und im Einzelfall durchzusetzen, ist ausweislich der Art. 30 und Art. 83 GG Sache der Länder.
Damit ist zutreffend: Der Bund ist grundsätzlich auf die Länder angewiesen, wenn es um die Umsetzung der Impfpflicht geht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Länder in ihrer Umsetzung frei sind.
Vielmehr geht mit der Kompetenz auch eine Verpflichtung zum Vollzug einher. So entschied des BVerfG bereits am 25.06.1974,
„daß die Länder nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sind, zur Ausführung von Bundesgesetzen tätig zu werden.“ (BVerfGE 37, 363, 385)
Auch die Behauptung, die Gesundheitsbehörden seien nicht in der Lage, die Impfpflicht durchzusetzen und zu kontrollieren, trägt nicht. Denn Folge der Ausführungspflicht der Länder ist ebenfalls die Pflicht, ihre Verwaltung nach Art, Umfang und Leistungsvermögen einer sachgerechten Erledigung des sich aus der Bundesgesetzgebung ergebenden Aufgabenbestands einzurichten (BVerfGE 55, 274, 318). Ein etwaiger Einwand, die Umsetzung sei in der Form nicht möglich, vermag nicht zu überzeugen, erfolgte der Beschluss der einrichtungsbezogenen Impfpflicht noch im Jahr 2021.Eine vollständige Nichtumsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht stellt damit bereits einen Verstoß gegen Art. 83 GG dar.
Ebenfalls würde der Freistaat Bayern gegen den Grundsatz der Bundestreue und des bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen. Aus dem Bundesstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG wird der Grundsatz abgeleitet, dass die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen und der Bund den Gliedern die Treue halten und sich verständigen müssen (BVerfG 1, 299, 315). Bund und Länder sind insbesondere zu gegenseitiger Rücksichtnahme und Unterstützung in wechselseitiger Loyalität verpflichtet.
D. Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG
Art. 20 Abs. 3 GG statuiert die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz. Art. 20 Abs. 3 GG in Gestalt des Rechtsstaatsprinzips formuliert daher den Grundsatz „Vorrang des Gesetzes“. Jedes staatliche Handeln der Exekutive darf daher rechtlichen Regelungen nicht zuwiderlaufen. Zu beachten ist, dass zumindest bei bereits beschäftigten Personen ein Ermessensspielraum der zuständigen Behörde verbleibt. Solange dieser noch in einem zulässigen Maße ausgeübt wird, muss ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG verneint werden. Sofern es jedoch nicht bei einer Einzelfallentscheidung bleibt, sondern Verwaltungsvorschriften das Gebot formulieren, grundsätzlich keine Tätigkeits- und Beschäftigungsverbote auszusprechen, greift der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes ein.
Da die Aussage Söders ein solches Verhalten vermuten lässt, verstößt dies gegen das Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorrangs des Gesetzes gem. Art. 20 Abs. 3 GG.
E. Reaktionsmöglichkeiten des Bundes
Dem Bund steht zunächst einmal die Möglichkeit offen, vor dem BVerfG ein Bund-Länder-Streitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG einzuleiten. Erlässt die Landesregierung Bayerns ein Landesgesetz, welches die einrichtungsbezogene Impfpflicht konterkariert, kann zudem eine abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf Antrag der Bundesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages erstrebt werden.
In der Examensprüfung ist zudem an die Möglichkeit des Bundeszwangs gem. Art. 37 GG zu denken – selbst wenn dieses Instrument in der Geschichte des Grundgesetzes noch nicht zum Einsatz kam. Der Bundeszwang setzt ausweislich des Wortlautes von Art. 37 Abs. 1 GG voraus, dass das Bundesland zurechenbar Bundespflichten – hier die Vollzugspflicht – verletzt. Problematisch kann im Einzelfall jedoch werden, dass die Bundesregierung Maßnahmen des Bundeszwangs nur mit Zustimmung des Bundesrates treffen kann, wobei das betroffene Bundesland im Bundesrat selbst mitwirken kann (BeckOK GG/Hellermann, 49. Ed., Art. 37 GG Rn. 8.4). Zur Durchführung des Bundeszwangs besitzt die Bundesregierung nach Art. 37 Abs. 2 GG ein umfassendes Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und Behörden.
Neben dem Bundeszwang kann der Bund zudem auf verwaltungstechnische Maßnahmen zurückgreifen. Die Bundesregierung übt nach Art. 84 Abs. 3 die Bundesaufsicht über die Länder bei dem Vollzug von Bundesrecht aus. Hierzu steht der Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 3 S. 2 die Möglichkeit offen, einen Beauftragten zu den obersten Landesbehörden zu entsenden. Stellt die Bundesregierung bei der Ausführung des Bundesrechts durch die Länder rechtliche Mängel fest, kann der Bundesrat gemäß Abs. 4 wiederum auf Antrag der Bundesregierung beschließen, dass das jeweilige Bundesland Bundesrecht verletzt hat (sog. Mängelrüge).
F. Summa: Das Land Bayern wird die Impfpflicht umsetzen müssen
Die vorangegangenen Erwägungen zeigen, die Nichtumsetzung der Impfpflicht begegnet mehreren verfassungsrechtlichen Hürden. Verfassungsrechtlich nicht von vornherein ausgeschlossen ist lediglich die zurückhaltende Anordnung von Beschäftigungs- und Tätigkeitsverboten durch die Gesundheitsbehörden im Einzelfall. Aber auch hier muss der Vorrang des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG beachtet werden. Der Gesetzgeber geht eben grundsätzlich von der Anordnung eines solchen Verbots aus. Daher dürften allgemeine Anordnungen und Verwaltungsvorschriften, die der zuständigen Behörde aufgeben, nur zurückhaltend hiervon Gebrauch zu machen, ebenfalls verfassungswidrig sein.