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Schlagwortarchiv für: Versammlung

Dr. Maike Flink

BVerfG: Keine „rechte“ Versammlung vor links-geprägtem Kulturzentrum

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat am 11.1.2020 (Az. 1 BvQ 2/20) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einer dem rechten politischen Spektrum zuzuordnenden Gruppierung abgelehnt. Diese hatte unter Berufung auf ihre Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 Abs. 1 GG begehrt, eine Demonstration – entgegen der Entscheidung der zuständigen Behörde – an dem von ihr gewünschten Versammlungsort durchführen zu dürfen. Die Entscheidung des Gerichts ist dabei gleich unter mehreren Gesichtspunkten von hoher Examensrelevanz: Wegen ihrer enormen Aktualität bietet sie sich hervorragend als Anknüpfungspunkt verfassungsrechtlicher Fragen in einer mündlichen Prüfung an, zudem gibt sie Gelegenheit sich noch einmal umfassend mit den Voraussetzungen der – in der Examensvorbereitung häufig zu Unrecht vernachlässigten – einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG und der in Prüfungen beliebten Versammlungsfreiheit auseinanderzusetzen.
 
I. Sachverhalt
Der – dem rechten politischen Spektrum zuzuordnende – Antragsteller wollte im Zeitraum vom 11.1.2020 (15 Uhr) bis zum 12.1.2020 (7 Uhr) eine Versammlung in einer Entfernung von 20 Metern zur „Roten Flora“ in Hamburg durchführen. Die „Rote Flora“ gilt als Zentrum der Autonomen-Szene, der unter anderem Mitglieder linksradikaler Bewegungen angehören. Das Motto der Veranstaltung sollte „Rote Flora – ein Ort undemokratischer Denkweise und Verfassungsfeindlichkeit“ lauten. Die Versammlungsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg erteilte dem Antragsteller die – für sofort vollziehbar erklärte – Auflage, die Veranstaltungen an einem anderen, etwa einen Kilometer von der „Roten Flora“ entfernten Ort stattfinden zu lassen. Dies begründete die Behörde damit, dass andernfalls mit gewalttätigen Ausschreitungen gerechnet werden müsse. Denn der Antragsteller – und damit der Veranstalter der Versammlung – sei eher dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen, sodass eine Versammlung vor der „Roten Flora“, die gerade Zentrum des linksextremistischen Spektrums sei, als besondere Provokation verstanden werden könnte. Gestützt auf die in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen sei mit einer Mobilisierung der linksextremen Szene und mit einer von ihr ausgehenden massiven Gewalttätigkeit zu rechnen. Insbesondere sei davon auszugehen, dass mit gefährlichen Gegenständen von den Dächern der „Roten Flora“ und umliegenden Gebäuden geworfen werden könnte. Die Behörde sehe sich – unabhängig von der Zahl der eingesetzten Polizisten – nicht in der Lage, diese Gefahr zu verhindern. Der Antragsteller erhob daraufhin Widerspruch und beantragte – erfolglos – verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz.
 
II. Die Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht trifft eine vorläufige Regelung eines Zustandes im Wege der einstweiligen Anordnung „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“ (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Maßgebliches Kriterium sind insofern die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits in der Hauptsache, d.h. einer durch den Antragsteller erhobenen Verfassungsbeschwerde (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Daher beschränkt sich die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG regelmäßig darauf, ob eine solche Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Ist der Ausgang einer möglichen Verfassungsbeschwerde jedoch vollkommen offen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch später keinen Erfolg hätte.
 
1. Die Anforderungen des Art. 8 GG
Dem Antragsteller entstehen indes für den Fall, dass die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, nur dann Nachteile, wenn eine spätere Verfassungsbeschwerde überhaupt denkbar wäre, er sich also auf eine möglicherweise verletzte Grundrechtsposition stützen kann. In Betracht kommt insofern eine mögliche Verletzung der aus Art. 8 Abs. 1 GG folgenden Versammlungsfreiheit. Gemäß Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln, wobei dieses Recht gem. Art. 8 Abs. 2 GG für Versammlungen unter freiem Himmel durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden kann.
In diesem Zusammenhang steht es dem Veranstalter auch frei, die Modalitäten der Versammlung frei zu wählen, d.h. sowohl die Versammlungszeit als auch den Versammlungsort selbst zu bestimmen.

„Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll. Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet das Grundrecht den Grundrechtsträgern so nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>). Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen – gegebenenfalls auch in Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung bringen können.“ (BVerfG v. 22.2.2011– 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201, 1204 Rn. 64)

Jedoch ist kein Zutrittsrecht zu nicht allgemein oder nur zu bestimmten Zwecken zugänglichen Orten vom Gewährleistungsinhalt des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst. Denn Art. 8 Abs. 1 GG verbürgt die Durchführung von Versammlungen an Orten, die einem allgemeinen öffentlichen Verkehr geöffnet sind und Orte öffentlicher Kommunikation bilden. Klassischerweise fällt hierunter insbesondere der öffentliche Straßenraum. Für die Frage, ob ein anderer Ort als der öffentliche Straßenraum ein öffentlicher Kommunikationsraum ist, ist das Leitbild des öffentlichen Forums maßgeblich. Dieses ist dadurch charakterisiert, dass dort, im Gegensatz zu Orten, die nur eine bestimmte Funktion haben, eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht. Ein solchermaßen für die Allgemeinheit geöffneter Ort kann nicht gegen politische Auseinandersetzung in Form einer Versammlung abgeschirmt werden. Denn die kollektive Meinungskundgabe und die Möglichkeit, in öffentlichen Foren Aufmerksamkeit zu erregen, sind konstitutive Elemente der Demokratie.
Im vorliegenden Fall sollte die Versammlung auf der Straße in unmittelbarer Nähe zur „Roten Flora“ durchgeführt werden. Die Wahl dieses Veranstaltungsortes – nämlich der öffentliche Straßenraum – ist ohne Zweifel von der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst. Eine spätere, darauf gestützte Verfassungsbeschwerde ist mithin denkbar. Dem Antragsteller können somit bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung Nachteile entstehen.
 
2. Die Folgenabwägung des Gerichts im Einzelnen
Daher kommt es entscheidend darauf an, welche Folgen eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, und welche Nachteilen demgegenüber entstünden, wenn die bergehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch später keinen Erfolg hätte. Seitens des Antragstellers ist – wie dargestellt – eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG denkbar. So formuliert auch das BVerfG:

„Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die versammlungsbeschränkende Auflage mit der Verfassung nicht vereinbar ist, so wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, das grundsätzlich auch die Bestimmung des Versammlungsorts umfasst. Der von dem Antragsteller ins Auge gefasste Versammlungsort in unmittelbarer Nähe der „Roten Flora“ ist für die geplante Versammlung und ihr gerade auf die „Rote Flora“ bezogenes kommunikatives Anliegen von erheblicher Bedeutung. Der Antragsteller hätte aber die Möglichkeit gehabt, die Versammlung – wenngleich an einem etwa einen Kilometer entfernten anderen Ort – unter dem vorgesehenen Motto und in der vorgesehenen Form überhaupt durchzuführen.“

Insofern muss in die Waagschale geworfen werden, dass der Antragsteller zwar in seinem Recht zur freien Wahl des Versammlungsortes verletzt ist, ihm aber – wenngleich unter der Auflage einer abweichenden Ortswahl – die Durchführung der Versammlung dennoch möglich gewesen wäre. Demgegenüber steht eine drohende Beeinträchtigung höchstwertiger Rechtsgüter wie Leib und Leben auch unbeteiligter Dritter, wie beispielsweise von Passanten, die das Gebiet um die „Rote Flora“ lediglich zufälligerweise betreten. So führt auch das Gericht aus:

„Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die Versammlung am ursprünglich vorgesehenen Ort […] wegen der von der Versammlungsbehörde befürchteten, nicht anders abwendbaren gewalttätigen Ausschreitungen nach § 15 Abs. 1 VersG hätte untersagt werden dürfen, so wäre es zu einer Gefährdung und gegebenenfalls auch Schädigung auch höchstwertiger Rechtsgüter einer ganz erheblichen Zahl von Personen gekommen, obwohl der Auslöser hierfür – die Versammlung an dem ursprünglich vorgesehenen […] Ort – wegen Vorliegens der Voraussetzungen eines polizeilichen Notstands rechtmäßigerweise hätte verhindert werden können.“

Angesichts der erheblichen Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben auch Unbeteiligter muss das Interesse des Veranstalters an der freien Wahl des Versammlungsortes zurücktreten. Die ihm entstehenden Nachteile wiegen nicht so schwer, dass dies die zu befürchtenden Folgen auch für gänzlich unbeteiligte Dritte aufwiegen könnte.
 
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass, sich mit den Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG auseinander zu setzen, sondern greift zugleich bekannte Probleme der Versammlungsfreiheit auf. Insbesondere eine saubere Herausarbeitung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit sollte jedem Examenskandidaten gelingen. Dabei gilt es nicht nur, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Leitbild des öffentlichen Forums zu verinnerlichen. Jedenfalls in der mündlichen Prüfung erscheint auch eine Anknüpfung an die Problematik gewaltbereiter Gegendemonstrationen denkbar: Was wäre, wenn der Veranstalter seine Versammlung hätte durchführen dürfen, diese auch friedlich verlaufen wäre, die Polizei sie aber dennoch wegen der gewalttätigen Gegendemonstration linksextremistischer Gruppierungen aufgelöst hätte? Zudem bietet die Entscheidung die Möglichkeit, verwaltungsrechtliche Problemstellungen mit den Prüflingen zu erörtern, denn sie weist einerseits mit Blick auf die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einen Bezug zum vorläufigen Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren und insbesondere den Voraussetzungen des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auf. Andererseits ist auch der Sprung in das Versammlungsrecht nicht weit.

17.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-02-17 10:00:462020-02-17 10:00:46BVerfG: Keine „rechte“ Versammlung vor links-geprägtem Kulturzentrum
Dr. Yannik Beden, M.A.

Grundrechte: Die 30 wichtigsten Definitionen für Klausur und Examen

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Der Grundrechtskatalog umfasst eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen definieren können sollte. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Grundrechtsklausur notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Eingriff
Nach dem sog. klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff jeder staatliche Akt, der final und unmittelbar die Rechtssphäre des Bürgers verkürzt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist. Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff bereits jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
(2) Geeignetheit
Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks dienlich bzw. förderlich sein kann.
(3)Erforderlichkeit
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es keine milderen, den Bürger weniger belastende Mittel gibt, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignet sind.
(4) Angemessenheit
Angemessen ist eine Maßnahme, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
(5) Verfassungsmäßige Ordnung
Verfassungsmäßige Ordnung i.S.v. Art 2 Abs. 1 GG meint alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beachte: Der Begriff findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG und hat in diesen Zusammenhängen andere Bedeutung!
(6) Glaube
Die Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten.
(7) Gewissen
Der Begriff meint jede ernste und sittliche, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiere Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen diese nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
(8) Wissenschaft
Jeder ernsthafte, auf einem gewissen Kenntnisstand aufbauende Versuch zur Ermittlung der wahren Erkenntnisse durch methodisch geordnetes und kritisch reflektierendes Denken.
(9) Formeller Kunstbegriff
Danach sind Kunst nur solche Tätigkeiten, die einer traditionellen Kunstform zuzuordnen sind (Malerei, Theater, Dichtung etc.).
(10) Materieller Kunstbegriff
Kunst liegt vor, wenn das Werk das geformte Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung bringt und das auf kommunikative Sinnvermittlung nach Außen gerichtet ist.
(11) Offener Kunstbegriff
Ein Kunstwerk liegt vor, wenn das Werk interpretationsfähig und -bedürftig sowie vielfältigen
Interpretationen zugänglich ist. 
(12) Meinung
Meinung ist jedes Werturteil, das durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist.
(13) Tatsache
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände oder Ereignisse. Der Wahrheitsgehalt der Äußerung steht bei der Tatsachenbehauptung im Vordergrund.
(14) Allgemeine Gesetze
Hierunter fallen alle Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Presse und Rundfunk an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, welches in der Rechtsordnung allgemein geschützt wird.
(15) Presse
Der Begriff meint alle Druckerzeugnisse, die unabhängig von der Anzahl ihrer Vervielfältigung zur allgemeinen Verbreitung geeignet und bestimmt sind (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften o.ä.).
(16) Rundfunk
Rundfunk meint jede an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtete, drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege elektrischer Schwingungen.
(17) Enger Versammlungsbegriff
Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
(18) Erweiterter Versammlungsbegriff
Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung. Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(19) Weiter Versammlungsbegriff
Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zweck eine innere Verbindung besteht. Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
(20) Verein
Verein ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.
(21) Beruf
Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient.
(22) Berufsausübungsregelung
Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im Einzelnen zu gestalten haben.
(23) Subjektive Berufswahlregelung
Bei der subjektiven Berufswahlregelung wird auf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen abgestellt, wobei es nicht auf den Einfluss des Betroffenen auf die Eigenschaften ankommt.
(24) Objektive Berufswahlregelung
Bei der objektiven Berufswahlregelung erfolgt die Beschränkung der Berufsfreiheit anhand von objektiven Kriterien, die nicht in der Person des Betroffenen liegen und auf die der Betroffene keinen Einfluss hat.
(25) Freizügigkeit
Freizügigkeit umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Hierzu gehört die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
(26) Wohnung
Der Begriff der Wohnung meint die räumliche Privatsphäre und damit jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens bestimmt. Auch Betriebs- und Geschäftsräume fallen unter den Schutzbereich; wegen des teilweise erheblichen Sozialbezugs von Betriebs- und Geschäftsräumen ist grundsätzlich aber ein im Vergleich zu privaten Wohnräumen geringeres Schutzniveau anzunehmen.
(27) Eigentum
Art. 14 GG ist ein „normgeprägtes Grundrecht“, sodass der Begriff des Eigentums nur schwerlich abschließend definiert werden kann. „Eigentum“ i.S. des GG sind jedenfalls alle vermögenswerten Rechte, die die Rechtsordnung dem Einzelnen dergestalt zuweist, dass dieser ausschließlich über das Recht verfügen kann. Eigentum iSd Art. 14 GG sind alle dinglichen Rechte des Zivilrechts, Ansprüche und Forderungen des privaten Rechts.   
(28) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden, zu verstehen.
(29) Enteignung
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter, durch Art. 14 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Die Enteignung beschränkt sich auf Vorgänge, bei denen Güter hoheitlich beschafft werden.
(30) Mittelbare Drittwirkung
Grundrechte entfalten mittelbar Wirkung in privaten Rechtsbeziehungen, indem Generalklausen und unbestimmte Rechtsbegriffe des Zivilrechts grundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden („Ausstrahlungswirkung“).
 
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18.11.2019/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 1: Verfassungsrecht

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Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Beschl. v. 23.7.2019 – 1 BvR 2433/17): Fälschliche Einordnung prozessualer Äußerung als Schmähkritik verletzt Meinungsfreiheit
Das BVerfG hat kürzlich die Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik erneut konkretisiert. Dabei hat das Gericht herausgestellt, dass bei der Qualifizierung einer Aussage als Schmähkritik strenge Maßstäbe anzulegen sind. Erforderlich ist, dass die Äußerung tatsächlich auf die bloße Herabsetzung und Diffamierung einer anderen Person gerichtet ist, ohne sich inhaltlich mit der Sache auseinander zu setzen. Besonders hervorgehoben hat das BVerfG, dass auch Anlass und Kontext der Äußerung Berücksichtigung finden müssen um zu ermitteln, ob sie tatsächlich jedes sachlichen Bezugs entbehrt und auf eine persönliche Diffamierung gerichtet ist oder vielmehr ein Anlass für die jeweilige Aussage ausgemacht werden kann. So kann der Vergleich der Verhandlungsführung einer Richterin mit „einschlägigen Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“ oder einem „mittelalterlichen Hexenprozess“ nicht von vornherein als Schmähkritik eingeordnet werden. Das BVerfG formuliert dazu:

„Die Äußerungen entbehren […] nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen auch nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Die Äußerungen lassen nicht ohne weiteres den Schluss zu, der Beschwerdeführer habe der Richterin eine nationalsozialistische oder „mittelalterliche“ Gesinnung unterstellen wollen. Historische Vergleiche mit nationalsozialistischer Praxis begründen für sich besehen nicht die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 18.7.2019 – 1 BvL 1/18, 1 BvR 1595/18, 1 BvL 4/18) zur Verfassungskonformität der Mietpreisbremse
Ein großes mediales Echo hat auch die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungskonformität der Mietpreisbremse hervorgerufen. So stellte das Gericht fest:

„Die Regulierung der Miethöhe bei Mietbeginn durch § 556d Abs. 1 BGB verstößt in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren weder gegen die Garantie des Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen die Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG noch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.“

Schwerpunktmäßig hat das BVerfG sich in seinem Beschluss mit der Vereinbarkeit des § 556d Abs. 1 BGB mit Art. 14 Abs. 1 GG beschäftigt: Ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ist jedoch abzulehnen, da die Regelung eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Sie verfolgt das legitime Ziel, „durch die Begrenzung der Miethöhe bei Wiedervermietung der direkten oder indirekten Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken“. Indem sie Preisspitzen auf angespannten Wohnungsmärkten abschwächt, kann sie den Zugang einkommensschwacher Mieter zu Wohnraum schaffen und ist damit geeignet, den verfolgten Zweck zu erreichen, ohne dass vergleichbar wirksame, mildere Mittel zur Verfügung stehen. Letztlich ist die Regelung nach Ansicht des Gerichts auch angemessen, denn der Gesetzgeber hat die Belange von Mietern und Vermietern in einen sachgerechten Ausgleich gebracht. Den Interessen der Mieter kommt dabei besonderes Gewicht zu:

„Die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung geht auf der anderen Seite umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht […]. Das trifft auf die Miethöhenregulierung in besonderem Maße zu. Eine Wohnung hat für den Einzelnen und dessen Familie eine hohe Bedeutung […].“

Demgegenüber entsteht keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung seitens der Betroffenen Vermieter, denn auch eine nachträgliche Verschlechterung der Nutzungsmöglichkeiten bestehender Eigentumspositionen kann zulässig sein. So führt das Gericht aus:

„Auf dem sozialpolitisch umstrittenen Gebiet des Mietrechts müssen Vermieterinnen und Vermieter […] mit häufigen Gesetzesänderungen rechnen und können nicht auf den Fortbestand einer ihnen günstigen Rechtslage vertrauen […]. Ihr Vertrauen, mit der Wohnung höchstmögliche Mieteinkünfte erzielen zu können, wird durch die Eigentumsgarantie nicht geschützt, weil ein solches Interesse seinerseits vom grundrechtlich geschützten Eigentum nicht umfasst ist.“

Eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Interessen der betroffenen Vermieter ist zudem abzulehnen, da die ortsübliche Vergleichsmiete dem Vermieter einen am örtlichen Markt orientierten Mietzins sichert und damit die Wirtschaftlichkeit der Vermietung erhalten bleibt.
 
BVerfG (Beschl. v. 9.7.2019 – 1 BvR 1257/19) zur Strafbarkeit des faktischen Leiters einer nicht angemeldeten Versammlung
Das BVerfG hatte die Vereinbarkeit der Strafnorm des § 26 Nr. 2 VersG mit Art. 8 Abs. 1 GG zu beurteilen. § 26 Nr. 2 VersG bestimmt: „Wer als Veranstalter oder Leiter eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung (§ 14) durchführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ An der Verfassungskonformität der Norm bestehen dabei grundsätzlich keine Zweifel. Dies gilt nach der Ansicht des Gerichts auch, sofern sie dahingehend ausgelegt wird, dass auch der bloß faktische Versammlungsleiter einer nicht angemeldeten Veranstaltung als tauglicher Täter eingeordnet wird:

 „Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken.“

Es bestehen auch keine Bedenken, dass dies zu einer Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Veranstaltung führen könnte, denn es ist nur derjenige als Versammlungsleiter einzuordnen, der den Ablauf der Versammlung, ihre Unterbrechungen und ihre Schließung bestimmt. 
Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 2.7.2019 – 1 BvR 385/16) zur Verfassungskonformität eines Vereinsverbots
Das BVerfG hat sich mit der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Vereinsverbots am Maßstab von Art. 9 Abs. 2 GG beschäftigt. Gem. Art. 9 Abs. 2 GG ist ein Vereinsverbot dabei gerechtfertigt, wenn sich die jeweilige Vereinigung gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, also insbesondere, wenn sie schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen aktiv propagiert und fördert. Dabei gilt:

„Der Verbotstatbestand kann auch dann erfüllt sein, wenn die Vereinigung sich durch die Förderung Dritter gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet; Dazu gehört die finanzielle Unterstützung terroristischer Handlungen und Organisationen, wenn diese objektiv geeignet ist, den Gedanken der Völkerverständigung schwerwiegend, ernst und nachhaltig zu beeinträchtigen, und die Vereinigung dies weiß und zumindest billigt.“

30.09.2019/0 Kommentare/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-09-30 10:08:312019-09-30 10:08:31Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 1: Verfassungsrecht
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht, Versammlungsrecht

In einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss vom 9.7.2019 (Az. 1 BvR 1257/19) hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Frage zu befassen, ob eine strafrechtliche Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG (Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung) gegen die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers sowie gegen das strafrechtliche Analogieverbot und das Schuldprinzip verstößt.
Sowohl in Klausuren im Grundstudium als auch im Examen ist die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ein sehr beliebtes Prüfungsthema. Zusätzlich wandte sich der Beschwerdeführer vorliegend gegen ein Urteil, sodass eine Urteilsverfassungsbeschwerde zu prüfen ist, deren Prüfung vielen Studierenden Probleme bereitet. Die Entscheidung gibt Anlass, die Wesenszüge beider Themengebiete zu wiederholen. 
I. Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)
Der Beschwerdeführer A organisierte im Februar 2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Autobahnbrücke, an der neben ihm vier weitere Personen teilnahmen. Die Veranstaltung erfolgte als Ausdruck einer „Anti-Atom-Bewegung“. Zwei Teilnehmer seilten sich von der Brücke ab und spannten ein beschriftetes Banner zwischen sich auf. Die gesamte Veranstaltung wurde vom Beschwerdeführer durch Anweisungen koordiniert und auch beendet. Eine Anmeldung nach § 14 VersG erfolgte nicht. Die Teilnehmer waren mit dem Auto angereist und hatten Banner und Schilder vorbereitet. Zuvor hatten sie auch die Presse über die Veranstaltung informiert. A wurde vom Amtsgericht als faktischer Leiter der Versammlung wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung nach § 26 Abs. 2 VersG verurteilt. Hierdurch fühlt er sich in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
II. Lösung
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. (Hier sollte der Bearbeiter kurz ausführen, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist und Verletzungen des einfachen Rechts somit außer Betracht bleiben).
1. In Betracht kommt eine Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
(Anm: Das BVerfG prüfte in seinem Beschluss zunächst die Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG sowie des Gebots „Keine Strafe ohne Schuld“ aus Art. 2 Abs. 1 GG. Um jedoch den Aufbau der Urteilsverfassungsbeschwerde besser darstellen zu können, erfolgt hier zunächst die Prüfung der Versammlungsfreiheit, deren Aufbau Studenten geläufiger sein dürfte).  
a. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt die Zusammenkunft mehrerer Personen (nach hM mindestens zwei) zu einem gemeinsamen Zweck, wobei die Anforderungen an den Zweck umstritten sind (siehe dazu hier unseren Beitrag zu Art. 8 GG). Die Teilhabe an der Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten, wie vorliegend die Demonstration gegen den Einsatz atomarer Energie, genügt den Anforderungen jedenfalls. Die Versammlung muss friedlich und ohne Waffen verlaufen, was hier der Fall ist. Die Veranstaltung auf der Brücke fällt somit unter Art. 8 Abs. 1 GG. Es handelt sich um ein Deutschengrundrecht, von der deutschen Staatsangehörigkeit des A gem. Art. 116 Abs. 1 GG ist auszugehen.
b. Indem das Gericht strafrechtliche Sanktionen an die Ausübung der nach Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Tätigkeit anknüpft, hat es auch in den Schutzbereich eingegriffen.
c. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
Für Versammlungen unter freiem Himmel (d.h. solche, die nicht durch eine seitliche Abgrenzung vor unkontrolliertem Zugang von jedermann geschützt sind) sieht Art. 8 Abs. 2 GG einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Die Versammlung auf der Brücke war jedermann zugänglich und fand so unter freiem Himmel statt. In diesem Fall ist Art. 8 Abs. 1 GG durch oder auf Grund eines Gesetzes beschränkbar.
(Anm: An dieser Stelle folgt die Prüfung der „Schranken-Schranken“, deren Aufbau vielen Bearbeitern bei der Urteilsverfassungsbeschwerde Schwierigkeiten bereitet. Wichtig ist es zunächst zu prüfen, ob die Norm, aufgrund derer die Einschränkung vorgenommen wird, unabhängig von den Umständen des Falles den Anforderungen des GG standhält. Erst danach folgt die Prüfung des Einzelakts, d.h. hier des Urteils. Wo der Schwerpunkt liegt, richtet sich nach den Umständen des Falles. Der Schwerpunkt bei dieser Falllösung liegt eher auf der Ebene des Einzelaktes, nicht bei der Normprüfung.)
Die Verurteilung erfolgt auf Grundlage des § 26 Abs. 2 VersG i.V.m. § 14 VersG. An deren Wirksamkeit können insoweit Zweifel angestellt werden, als dass Art. 8 Abs. 1 GG das Recht verbürgt, sich ohne Anmeldung zu versammeln. Hier sollte der Bearbeiter ausführen, dass die Anmeldepflicht aus § 14 VersG den legitimen Zweck verfolgt, die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer zu garantieren und die Belastung Dritter etwa durch Verkehrsregelungen zu mindern. Sie kann im Einzelfall (etwa bei Eil- oder Spontanversammlungen) verfassungskonform ausgelegt werden. Nach Ansicht des BVerfG ist § 14 VersG ebenso verfassungsgemäß wie § 26 VersG. Insbesondere ist die Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG auf den Veranstalter und den Leiter der nicht angemeldeten Versammlung beschränkt, die bloße Teilnahme ist nicht mit Strafe bedroht.
(Anm: Im Rahmen einer Urteilsbeschwerde kann es erforderlich sein, auf der Normebene bereits die Vereinbarkeit mit anderen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu prüfen, da es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes insgesamt geht. Im vorliegenden Fall betreffen die Fragen der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG und dem Schuldprinzip allerdings die Auslegung im Einzelfall, nicht die Norm selbst, sodass die Prüfung getrennt erfolgt.)
Das Urteil des Amtsgerichts (Einzelaktsprüfung!) müsste im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG verfassungskonform sein.
Ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 GG könnte vorliegen, wenn im Fall keine Anmeldepflicht bestand, weil es sich um eine Spontanversammlung handelte. Für solche Versammlungen, die ungeplant und ohne Veranstalter stattfinden, ist in verfassungskonformer Auslegung eine Ausnahme von der Anmeldepflicht zu machen. Indes war die Versammlung auf der Brücke angesichts der vorangegangenen Planung (Anreise, Organisation von Kletterausrüstung, Information der Presse) ersichtlich nicht spontan, sodass die Ausnahme nicht greift.
Art. 8 Abs. 1 GG könnte verletzt sein, weil § 26 Abs. 2 VersG eine Strafbarkeit nur des „Leiters“ der Versammlung vorsieht. Hierbei könnte es sich ausschließlich um den in der Anmeldung gem. § 14 Abs. 2 VersG bezeichneten Leiter handeln. Die vorliegende Versammlung war nicht angemeldet, sodass A auch nicht der angegebene Leiter sein konnte.
Nach Auffassung der Rechtsprechung soll Leiter jedoch der sein, „der persönlich bei der Veranstaltung anwesend sei, die Ordnung der Versammlung handhabe und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimme, insbesondere die Versammlung eröffne, unterbreche und schließe“ (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1978, 118).
Das BVerfG führt aus:

„Im Gegenteil legt es der Wortlaut des § 26 Nr. 2 VersammlG nahe, als Leiter im Sinne der Bestimmung auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfüllt. Denn die Norm begründet ausdrücklich eine Strafbarkeit nicht nur des Veranstalters, sondern auch des Leiters von Versammlungen oder Aufzügen, die ohne die erforderliche Anmeldung durchgeführt werden.“

„Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken (…).“

A kontrollierte die Versammlung durch seine Anweisungen und beendete sie auch. Er nahm die Position eines faktischen Leiters ein. Eine Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nachdem nur der strafrechtlich sanktioniert werden könnte, der in einer Anmeldung nach § 14 Abs. 2 VersG als Leiter angegeben wurde, ließe die Norm faktisch ins Leere laufen, da es bei einer unangemeldeten Versammlung nie einen Leiter geben könnte. Mithin ist die Auslegung des Gerichts, nach der auch der faktische Leiter von § 26 Abs. 2 VersG erfasst ist, mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar, insbesondere verhältnismäßig.
(Anm: Die Verhältnismäßigkeit ist vom Bearbeiter selbstverständlich im bekannten Schema Legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit zu prüfen).
A ist durch das Urteil nicht in seiner Versammlungsfreiheit verletzt.
2. Die Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nach der auch der faktische Leiter erfasst sein soll, könnte gegen das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.

BVerfG: „Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.“

Nach Ansicht des BVerfG schließe der Begriff es zwar aus, die bloße Teilnahme zu bestrafen, der Begriff des Leiters unterliege aber einem Auslegungsspielraum (siehe dazu bereits die Argumentation oben). Aus § 14 Abs. 2 VersG könne nicht entnommen werden, dass nur der in der Anmeldung genannte Leiter von der Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG erfasst sein soll, da vorgenannte Norm nur die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Anmeldung regle. Die Wortlautgrenze ist nicht überschritten, das Analogieverbot ist nicht verletzt.
3. Die Auslegung könnte gegen das Schuldprinzip verstoßen, weil dem faktischen Leiter die unterbliebene Anmeldung (die dem Veranstalter, nicht dem Leiter obliegt) nicht zur Last gelegt werden kann. Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ ist als Verfassungsprinzip anerkannt. Er besagt, dass Handeln nur bestraft werden kann, wenn es vorwerfbar ist. Der Grundsatz hat keinen Niederschlag im Wortlaut des Grundgesetzes gefunden, wird vom BVerfG aber aus einem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet (siehe Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7 ff.; BVerfG, NvwZ 2003, 1504 m.w.N.). Indes sanktioniert § 26 Abs. 2 VersG nicht die unterbliebene Anmeldung, sondern die Durchführung der nicht angemeldeten Versammlung. Wer in leitender Funktion tätig wird, führt aber die Versammlung gleichwohl durch. Dazu das BVerfG:

„Insoweit steht es jedoch jedem Teilnehmer einer Versammlung frei, an dieser nicht in leitender Funktion mitzuwirken und sie so nicht selbst durchzuführen. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip ist insoweit nicht ersichtlich.“

A ist nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
 
III. Ausblick
Fragen zum Versammlungsrecht sind häufiger Prüfungsgegenstand öffentlich-rechtlicher Klausuren. Sie können in Gestalt einer Grundrechtsklausur oder verbunden mit Fragen des Polizeirechts auftauchen. Die Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde anhand einer Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG dürfte eher ungewöhnlich sein, bietet sich aber gerade deswegen besonders für zukünftige Klausuren an. Es gilt, sich nicht von der unbekannten Norm verunsichern zu lassen, und anhand der bekannten Schemata eine vertretbare Lösung zu erarbeiten. Insbesondere bei der verschachtelten Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde sollte dabei darauf geachtet werden, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und des Urteils getrennt zu prüfen.

28.08.2019/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-08-28 08:45:212019-08-28 08:45:21BVerfG zur Versammlungsfreiheit: Strafrechtliche Verurteilung eines nur „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Versammlung verfassungsgemäß
Dr. Yannik Beden, M.A.

Die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG: Definitionen und Streitstände

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Das Recht auf Versammlung ist in seiner grundrechtlichen Dimension regelmäßig Prüfungsgegenstand, oftmals werden auch in verwaltungs- bzw. polizeirechtlichen Klausurkonstellationen Kenntnisse zum Versammlungsrecht vorausgesetzt. Einige Problemstellungen zur Versammlungsfreiheit gehören dabei zu „Klausurklassikern“, bei denen von jedem Prüfling Grundkenntnisse bis hin zu vertieften Kenntnissen erwartet werden. Neben den notwendigen Definitionen müssen auch eine Reihe von Meinungsstreitständen zu Problemstellungen, die überdurchschnittlich häufig abgefragt werden, bekannt sein. Der nachstehende Beitrag gibt einen Überblick zu den klausur- bzw. examensrelevantesten Definitionen und zeigt zudem – nicht abschließend – die wichtigsten Streitstände mit kurzen Erläuterungen zu den jeweils vertretenen Ansichten in Rechtsprechung und Literatur auf.
I. Definitionen
1. Versammlung
(1) Enger Versammlungsbegriff (BVerfG): Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (BVerfG v. 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01 und BvQ 30/01, NJW 2001, 2459 (2460)).  
(2) Erweiterter Versammlungsbegriff: Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung (so noch BVerwG v. 21.4.1989 – 7 C 50/88, NJW 1989, 2411 (2412)).
→ Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(3) Weiter Versammlungsbegriff: Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zwecke eine innere Verbindung besteht
→ Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
2. Friedlich
Friedlich ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen bzw. aufrührerischen Verlauf annimmt oder von vornherein auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet ist. Entscheidend sind im Zweifel das Verhalten der Versammlungsleitung und/oder die Mehrzahl der Versammlungsteilnehmer.
3. Ohne Waffen
Die Versammlung findet ohne Waffen statt, wenn keine Waffen im Sinne von § 1 Abs. 2 WaffG mitgeführt werden und auch keine gefährlichen Werkzeuge, die zum Zwecke des Einsatzes mitgeführt werden, vorhanden sind.
4. Unter freiem Himmel
Die Begrifflichkeit aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt nach Art. 8 Abs. 2 GG ist nicht wortwörtlich zu verstehen. Vielmehr muss nach Sinn und Zweck zwischen Versammlungen unter freiem Himmel und solchen in geschlossenen Räumlichkeiten differenziert werden: Die Versammlung „unter freiem Himmel“ birgt vergleichsweise eher die Gefahr einer unmittelbaren Konfrontation mit Unbeteiligten, sie hat ein größeres Konfliktpotential mit Blick auf Rechte Dritter. Die Versammlung in geschlossenen Räumen ruft hingegen üblicherweise weniger regelungsbedürftige Konflikte hervor. Entscheidend ist deshalb für die Versammlung unter freiem Himmel, dass eine erhöhte Gefährlichkeit dadurch besteht, dass ein unkontrollierter Zugang grundsätzlich für jedermann möglich ist. Davon ist auszugehen, wenn keine Eingangs- bzw. Zugangskontrollen existieren.
II. Problemstellungen / Streitstände
Im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit werden einige Problemfälle wiederkehrend abgefragt. Oftmals geht es dabei nur um verfassungsrechtliche Spezifika, teilweise werden auch versammlungsrechtsspezifische Fragestellungen aufgeworfen. Die nachstehenden Klausurkonstellationen sind – ohne dass man sich in der Vorbereitung hierauf beschränken sollte – diejenigen, die jedem Prüfling für eine erfolgreiche Fallbearbeitung bekannt sein sollten.
1. Unmittelbare Grundrechtsbindung Privater
Ein echter Klausurklassiker dürfte mittlerweile die Fraport Entscheidung des BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201 sein. Zwei der zentralen Rechtsfragen des Urteils sind die Grundrechtsbindung öffentlich beherrschter (privater) Unternehmen sowie das Verständnis des Forums, das für die Versammlung genutzt wird.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt (aus dem Urteil entnommen) zugrunde:

Der Flughafen Frankfurt a. M. wird von der Fraport-AG, der Bekl. des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Bekl.), betrieben, in deren Eigentum auch das Flughafengelände steht. Zum Zeitpunkt des den Anlass für den Zivilrechtsstreit bildenden „Flughafenverbots“ gegenüber der Bf. im Jahr 2003 besaßen das Land Hessen‚ die Stadt Frankfurt a. M. und die Bundesrepublik Deutschland zusammen circa 70% der Aktien, während sich der Rest in privater Hand befand. Seit dem Verkauf der Bundesanteile halten das Land Hessen und die Stadt Frankfurt a. M., Letztere über eine 100%-ige Tochter, zusammen nunmehr rund 52% der Aktien. Die übrigen Anteile befinden sich in privatem Streubesitz. Bei Verhängung des Meinungskundgabe- und Demonstrationsverbots befanden sich auf dem Flughafen Frankfurt a. M. sowohl auf der „Luftseite“, dem nur mit Bordkarte zugänglichen Bereich hinter den Sicherheitskontrollen, als auch auf der „Landseite“, dem ohne Bordkarte zugänglichen Bereich vor den Sicherheitskontrollen, eine Vielzahl von Läden und Serviceeinrichtungen sowie eine Reihe von Restaurants, Bars und Cafés.
Die Benutzung des Flughafengeländes durch Flugpassagiere und andere Kunden regelte die Bekl. durch die vom Land Hessen genehmigte Flughafenbenutzungsordnung in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung vom 1. 1. 1998. Diese enthielt in Teil II (Benutzungsvorschriften) unter anderem folgende Bestimmung:
4.2. Sammlungen, Werbungen, Verteilen von Druckschriften. Sammlungen, Werbungen sowie das Verteilen von Flugblättern und sonstigen Druckschriften bedürfen der Einwilligung des Flughafenunternehmers.
In der derzeit geltenden Fassung vom 1. 12. 2008 erklärt die Flughafenbenutzungsordnung Versammlungen in den Gebäuden des Flughafens ausdrücklich für unzulässig.
Die Bf. betrat gemeinsam mit fünf weiteren Aktivisten der „Initiative gegen Abschiebungen“ am 11. 3. 2003 den Terminal 1 des Flughafens, sprach an einem Abfertigungsschalter Mitarbeiter der Deutschen Lufthansa an und verteilte Flugblätter zu einer bevorstehenden Abschiebung. Mitarbeiter der Bekl. und Einsatzkräfte des Bundesgrenzschutzes beendeten die Aktion. Mit Schreiben vom 12. 3. 2003 erteilte die Bekl. der Bf. ein „Flughafenverbot“ und wies sie darauf hin, gegen sie werde Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gestellt, sobald sie „erneut hier unberechtigt angetroffen“ werde. Mit einem erläuternden Schreiben vom 7. 11. 2003 wies die Bekl. die Bf. unter Verweis auf ihre Flughafenbenutzungsordnung darauf hin, sie dulde „mit uns nicht abgestimmte Demonstrationen im Terminal aus Gründen des reibungslosen Betriebsablaufs und der Sicherheit grundsätzlich nicht“. 

Fraglich war zunächst, ob die Fraport AG als privates Unternehmen überhaupt unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Ausgangspunkt ist dabei Art. 1 Abs. 3 GG, wonach die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Zwischen Bürgern wirken die Grundrechte grundsätzlich nicht unmittelbar, sondern nur im Wege der sog. mittelbaren Drittwirkung, die im Zivilrecht wiederum durch „Einfallstore“ wie Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe stattfindet.
Was gilt aber, wenn ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen sowohl im Eigentum Privater, als auch der öffentlichen Hand steht? Das BVerfG stellt in der Fraport Entscheidung fest: „Ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen unterliegt dann der unmittelbaren Grundrechtsbindung, wenn es von den öffentlichen Anteilseignern beherrscht wird. Dies ist in der Regel der Fall, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen. Insoweit kann grundsätzlich an entsprechende zivilrechtliche Wertungen angeknüpft werden“ (BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201 (1203)). Auf die konkreten Einwirkungsbefugnisse soll es hingegen nicht ankommen. Die Gegenansicht lehnt eine unmittelbare Grundrechtsbindung des Unternehmens insgesamt ab, vielmehr soll die Grundrechtsbindung und Grundrechtsverpflichtung nur den einzelnen öffentlich-rechtlichen Anteilseigner treffen. Im Übrigen kann danach allenfalls eine mittelbare Drittwirkung von Grundrechten in Betracht kommen. Anknüpfungspunkt für diese Ansicht ist der Wortlaut aus Art. 1 Abs. 3 GG. In tatsächlicher Hinsicht obläge es dann dem öffentlich-rechtlichen Anteilseigner, auf das privatrechtlich organisierte Unternehmen einzuwirken und dadurch seinen grundrechtlichen Pflichten nachzukommen. Vermieden werden soll dadurch in erster Linie eine übermäßige Belastung der privaten Anteilseigner. Dieses Argument wird seitens der Rechtsprechung entkräftet, indem auf die Freiwilligkeit einer Beteiligung am Unternehmen abgestellt wird. Den privatrechtlichen Akteuren stehe es danach frei, sich am Unternehmen zu beteiligen oder nicht, was auch dann gelte, wenn die Eigentumsverhältnisse erst nachträglich durch Eintritt der öffentlichen Hand verändert werden. In der Klausur sind beide Ansichten vertretbar, allerdings wird man mit Blick auf den Aufbau des Gutachtens im Zweifel besser fahren, wenn man der Ansicht des BVerfG folgt.
Zuletzt muss auch mit Blick auf das Forum, in dem eine Versammlung zulässig ist, nach den Vorgaben des BVerfG unterschieden werden: Art. 8 GG berechtigt nicht dazu, Versammlungen überall und uneingeschränkt abzuhalten. Das bedeutet allerdings im Umkehrschluss nicht, dass nur der öffentliche Straßenraum genutzt werden darf. Das Gericht weitet das Grundrecht in seiner örtlichen Dimension aus: „Entsprechendes gilt aber auch für Stätten außerhalb des öffentlichen Straßenraums, an denen in ähnlicher Weise ein öffentlicher Verkehr eröffnet ist und Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen. Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder sonstige Begegnungsstätten ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können. Dies gilt unabhängig davon, ob die Flächen sich in eigenen Anlagen befinden oder in Verbindung mit Infrastruktureinrichtungen stehen, überdacht oder im Freien angesiedelt sind.“ (BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201 (1204)).
2. Spontanversammlungen
Versammlungen sind nicht immer von langer Hand geplant, sie können auch spontan, etwa aufgrund eines aktuellen, möglicherweise unerwarteten Geschehens entstehen. Die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG schützt auch solche Versammlungen. § 14 Abs. 1 VersG sieht nun vor, dass öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel spätestens 48 Stunden vor Bekanntgabe bei der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstands der Versammlung anzumelden sind.
Das Spannungsverhältnis zwischen Spontanversammlungen und der Anmeldepflicht aus § 14 Abs. 1 VersG muss im Wege der verfassungskonformen Auslegung gelöst werden: Die Pflicht zur rechtzeitigen Anmeldung von Spontanversammlungen bzw. Spontandemonstrationen entfällt, sofern sich diese aus aktuellem Anlass augenblicklich ergeben. Die versammlungsrechtlichen Bestimmungen sind auf Spontanversammlungen nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht anwendbar, „soweit der mit der Spontanveranstaltung verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschriften nicht erreicht werden könnte. Ihre Anerkennung trotz Nichtbeachtung solcher Vorschriften lässt sich damit rechtfertigen, dass Art. 8 Abs. 1 GG grundsätzlich die Freiheit garantiert, sich “ohne Anmeldung oder Erlaubnis” zu versammeln, dass diese Freiheit zwar nach Absatz 2 für Versammlungen unter freiem Himmel auf gesetzlicher Grundlage beschränkbar ist, dass solche Beschränkungen aber die Gewährleistung des Absatz 1 nicht gänzlich für bestimmte Typen von Veranstaltungen außer Geltung setzen dürfen, dass vielmehr diese Gewährleistung unter den genannten Voraussetzungen von der Anmeldepflicht befreit.“ (BVerfG Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, NJW 1985, 2395 (2397)). 
3. Hervorrufen gewaltbereiter Gegendemonstration
Verursacht eine Versammlung eine Gegendemonstration, kollidieren regelmäßig verfassungsrechtlich geschützte Güter. Das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters hinsichtlich des Ortes der Versammlung ist im Ausgangspunkt zwar von Art. 8 GG geschützt, allerdings kann es durch Rechte Dritter beschränkt sein. Die gegenläufigen Interessen müssen dabei austariert werden. Trifft eine Veranstaltung auf eine Gegendemonstration und sind damit Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung  – etwa aufgrund Konfrontationsgefahren – verbunden, so ist der zuerst angemeldeten Versammlung grundsätzlich Priorität einzuräumen (VGH München v. 16.9.2015 – 10 CS 15.2057). Etwas anderes gilt jedoch, wenn wichtige Gründe wie etwa die besondere Bedeutung des Ortes und des Zeitpunktes für die Verfolgung des jeweiligen Versammlungszwecks für eine andere Vorgehensweise sprechen. Maßgebend ist der Prioritätsgrundsatz jedenfalls, wenn die später angemeldete Versammlung allein oder überwiegend den Zwecke verfolgt, die zuerst angemeldete Versammlung an einem bestimmten Ort zu verhindern (BVerfG Beschl. v. 6.5.2005 – 1 BvR 961/05, NVwZ 2005, 1055 (1055)).
4. Auflösen der Versammlung bei einzelnen unfriedlichen Teilnehmern
Probleme bereiten Versammlungen oftmals, wenn sie zwar in ihrer Gesamtheit keinen aufrührerischen bis hin zu einem gewalttätigen Verlauf nehmen, allerdings einzelne Teilnehmer der Veranstaltung unfriedliches Verhalten aufweisen. Das Spannungsverhältnis ergibt sich daraus, dass diejenigen Teilnehmer der Versammlung, die sich friedlich verhalten, nicht in ihren verfassungsrechtlichen geschützten Positionen durch unfriedliches Verhalten anderer Teilnehmer beeinträchtigt bzw. beschränkt werden sollen. Das BVerfG geht davon aus, dass die Versammlungsfreiheit auch dann geschützt werden muss, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne Teilnehmer oder eine Minderheit zu rechnen ist. Das gilt jedenfalls, soweit nicht zu befürchten ist, dass die Veranstaltung im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf annehmen wird. Ein präventives Verbot der gesamten Versammlung ist nur unter Zugrundelegung eines strengen Maßstabs an die Gefahrenprognose möglich. Erforderlich ist deshalb eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ des Schadenseintritts (vgl. Drosdzol, JuS 1983, 414 (415)). Zudem müssen alle sonstigen in Betracht kommenden Mittel zuvor ausgeschöpft worden sein (vgl. insgesamt hierzu BVerfG Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, NJW 1985, 2395).   
5. Versammlungen mit musikalischen/künstlerischen Elementen
Sind politisch motivierte Veranstaltungen, die auch musikalische Darbietungen und kommerzielle Elemente enthalten, unter den Schutz der Versammlungsfreiheit zu fassen? Mit dieser Fragestellung befasste sich u.a. das VG Hannover, Beschl. v. 8.11.2013 – 10 B 7448/13. Bei einer dem linken Spektrum zuzuordnenden mit dem Leitthema „Für ein menschenwürdiges Leben – Gegen Sozialabbau und Behördenwillkür“ fanden neben Reden und Diskussion zu politischen Inhalten auch öffentliche Konzerte sowie der Verkauf von CDs und Merchandise Produkten statt. Legt man den engen Versammlungsbegriff des BVerfG an, ist fraglich, ob in einer solchen Konstellation noch von einer gemeinschaftlichen Erörterung und Kundgebung mit dem – ausschließlichen – Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gesprochen werden kann. Nach der Rechtsprechung bedarf es einer Schwerpunktbetrachtung: Der Schutz von Art. 8 GG entfällt jedenfalls dann, wenn die musikalischen und kommerziellen Bestandteile der Veranstaltung den eigentlichen Zweck – Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung – „an den Rand drängen“. Andererseits ist es nicht unüblich und für die Durchsetzung der kollektiven Meinungsbildung sogar oftmals förderlich, wenn Inhalte der Versammlung durch musikalische Begleitung unterstützt bzw. verstärkt werden. Dies gilt umso mehr, wenn die musikalische Darbietung einen Kontext zur politischen Diskussion aufweist.
 
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18.03.2019/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Dr. Matthias Denzer

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06.02.2019/0 Kommentare/von Dr. Matthias Denzer
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Dr. Sebastian Rombey

Versammlungsverbot in Heidenau ist rechtswidrig

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Die aufgeheizte Stimmung in der Diskussion um Flüchtlinge war vor allem in der kleinen sächsischen Stadt Heidenau in den vergangenen Tagen spürbar. Die Stadt fühlte sich überfordert und verbot alle Versammlungen in der Stadt von Freitag bis Montagmorgen. „Wir dürfen Rechtsextremen nicht das Feld überlassen!“, kritisierte zB Cem Özdemir (Grüne), Jörg Radek (Gewerkschaft der Polizei) wertete es als „Kniefall vor dem braunen Mob“. Das VG hat das umstrittene Verbot nun aufgehoben.
I. Ausgangslage
Das zuständige Landratsamt hatte ein Versammlungsverbot für alle öffentlichen Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel in Heidenau von gestern, 28.08. (14.00 Uhr) bis Montagmorgen, 31.08.2015 (6.00 Uhr) ausgesprochen. Das für die gesamte Stadt Heidenau über das gesamte Wochenende geltende Demonstrationsverbot wurde von der Behörde mit Hinweis auf eine erhebliche Gefährdung für die öffentliche Sicherheit begründet.
Hintergrund des behördlichen Handelns waren neben den allgemein im Dresdner Raum bekannten rechtsextremen Gruppierungen sowie den enormen Problemen bei der Handhabung der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen insbesondere Vorfälle in der Nähe des Erstaufnahmelagers für Flüchtlinge in Heidenau, wo sich über mehrere Tage hinweg Rechtsradikale zu Demonstrationen gegen die Asylpolitik und die untergebrachten Asylanten versammelt hatten. So waren am vergangenen Wochenende u. a. mehr als 30 Polizisten verletzt worden. Darüber hinaus wurde von der Behörde angeführt, dass nicht genug Kapazitäten bestünden, um gegen die Störer vorgehen und die in Frage stehenden Rechtsgüter schützen zu können. Des Weiteren könnten die von der Polizei bei derartigen Umständen einzusetzenden Mittel wie Wasserwerfer unbeteiligte Dritte sowie friedliche Versammlungsteilnehmer unverhältnismäßig schädigen. Mithin sei insgesamt ein polizeilicher Notstand gegeben.
II. Eilentscheidung
Die 6. Kammer des VG Dresden hat nun auf den Eilantrag eines Bürgers, der an der geplanten Demonstration „Dresden Nazifrei“ teilnehmen wollte, nach summarischer rechtlicher Sachverhaltsprüfung entschieden, dass das allgemeine Verbot für alle geplanten Versammlungen im Stadtgebiet „offensichtlich rechtswidrig“ sei (AZ 6 L 815/15). Damit hat der Antrag des Bürgers nach § 80 V VWGO Erfolg, so dass der Suspensiveffekt wieder hergestellt wird. Die geplanten und angemeldeten Versammlungen rechter Gruppierungen und gemäßigter Gegenbewegungen sowie das Willkommensfest für Flüchtlinge können nun doch stattfinden. Zur Begründung führte das Gericht aus (Wortlaut der Pressemitteilung):
Die Rechtswidrigkeit „ (…) des Verbots folge zum einen aus dem Umstand, dass der polizeiliche Notstand, der zur Begründung der Allgemeinverfügung herangezogen worden sei, schon nicht hinreichend vorgetragen und belegt worden sei. So stütze sich die  vorgenommene Gefahrenprognose lediglich auf die Ereignisse des vergangenen Wochenendes ohne sich konkret mit den für das kommende Wochenende angezeigten Versammlungen auseinanderzusetzen und darzulegen, wie von der zu erwartenden Teilnehmerzahl eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen solle. Insoweit reiche es nicht aus, auf die aus dem gesamten Bundesgebiet erwarteten übrigen Demonstranten zu verweisen.
Das VG sieht also die Begründung des polizeilichen Notstandes als nicht ausreichend an. Insbesondere kann durch den alleinigen Verweis auf nicht genügend vorhandene Polizeikräfte ein derartig einschneidendes Verbot nicht begründet werden.
Darüber hinaus erscheine die Allgemeinverfügung, die ein vollständiges Verbot sämtlicher Versammlungen für das gesamte Wochenende umfasse, unverhältnismäßig. Sie stelle nach Überzeugung der Kammer schon nicht das mildeste Mittel dar, um den von der Behörde angenommenen Gefahren, die von den angezeigten Demonstrationen ausgehen sollen, wirksam zu begegnen. So seien für Freitag, den 28. August 2015 lediglich zwei Demonstrationen in Heidenau angemeldet und eine weitere für Samstag, den 29. August 2015. Es sei weder vorgetragen noch ersichtlich, aus welchen Gründen diese Versammlungen nicht beispielsweise in örtlicher oder zeitlicher Hinsicht beauflagt worden seien, um ein Aufeinandertreffen der unterschiedlichen politischen Lager zu unterbinden.“
Das VG verneint zudem die Verhältnismäßigkeit des allgemeinen Verbotes, genauer gesagt die Erforderlichkeit, es hätten mildere und gleich geeignete Mittel zur Sicherstellung der Öffentlichen Sicherheit bestanden, so zB die zeitliche oder auch örtliche Trennung der Demonstrationen.
Rechtlich stellt sich weitergehend aber die Frage, wie das generelle Versammlungsverbot einzustufen ist. Nach Ansicht des VG Dresden handelt es sich hierbei richtigerweise um eine Allgemeinverfügung. Eine solche stellt einen Unterfall eines Verwaltungsaktes dar (sodass sie mit der Anfechtungsklage im Hauptverfahren angegriffen werden kann) und richtet sich an einen nur nach allgemeinen Merkmalen bestimmbaren Adressatenkreis.
Zweifeln könnte man bei der rechtlichen Betrachtung auch daran, ob sich das geplante Willkommensfest für Flüchtlinge überhaupt als Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts qualifizieren lässt. Eine Versammlung ist nach der Definition des BVerfG eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfGE 104, 92, 104). Dieser für Art. 8 I GG entwickelte Grundsatz findet unstreitig auch im VersG Anwendung.
Die Personengruppe, die an dem Willkommensfest teilnimmt, muss u. a. innerlich durch einen gemeinsamen Zweck verbunden sein. Streitig ist dabei, worin genau der gemeinsame Zweck liegen muss. Nach dem BVerfG ist – wie an der vorstehenden Definition gesehen – die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung erforderlich; das Gericht vertritt also den engen Versammlungsbegriff. Dies wird u. a. bei der Betrachtung von Großveranstaltungen wie der Love Parade deutlich, bei der zwar eine gewisse politische Intention vorhanden war, die Musik sowie der Spaß aber eindeutig im Vordergrund standen, so dass der Versammlungscharakter verneint wurde. Grund dessen ist, dass derartige Events nicht grundlos in den Schutzbereich des Art. 8 GG einbezogen werden sollen. Aufgrund des Bezugs der Versammlungsfreiheit zur Meinungsfreiheit des Art. 5 I GG (Versammlungsfreiheit als „kollektive Meinungsfreiheit“; Komplementärfunktion) und der historischen Intention des Versammlungsbegriffs ist eine enge Begriffsdefinition also unvermeidbar; abzulehnen sind damit der weite, aber auch der engste Versammlungsbegriff.
Bei dem Willkommensfest handelt es sich zwar um eine Grillparty, bei der man annehmen könnte, dass lediglich das gesellige Zusammensein mit Spaßcharakter vordergründig sei. Vor dem politischen Hintergrund der Brisanz der Flüchtlingsdebatte, den Ausschreitungen im Dresdner Raum, und der Tatsache, dass gerade durch das Willkommensfest eine deutsche Willkommenskultur für Flüchtlinge bzw. Asylsuchende gelebt werden sollte, wird man die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aber nicht verneinen können. Eine Versammlung ist deshalb anzunehmen.
III. Beschluss des Sächsischen OVG
Das Sächsische OVG in Bautzen hat auf die Beschwerde des Landkreises gegen die Eilentscheidung des VG Dresden hin nun in einem Beschlussverfahren beschlossen, dass lediglich die Versammlungen des Bündnisses „Dresden Nazifrei“ stattfinden dürfen. Für die stattfindenden Veranstaltungen bestehen aber strenge Auflagen, so dürfen zB Flaschen, die als Wurfgeschosse dienen könnten, nicht mitgeführt werden (Auflagen dürfen von der Polizei in Bezug auf Demonstrationen ausschließlich auf Grundlage des VersG erlassen werden; Stichwort „Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts“). Das Demonstrationsverbot bleibt damit für rechte Gruppierungen und deren Aufmärsche am Wochenende bestehen.
Entgegen einer hohen Anzahl von Falschmeldungen in der Presse ist darauf hinzuweisen, dass das OVG Sachsen nicht entschieden hat, dass das Verbot nur in Teilen rechtswidrig ist. Der Antragssteller, der an der Veranstaltung „Dresden Nazifrei“ teilnehmen wollte, ist nämlich lediglich in Bezug auf diese Versammlung antragsbefugt, so dass nur diesbezüglich ein Beschluss ergehen kann. Die Rechtmäßigkeit oder auch Rechtswidrigkeit des Verbots in Bezug auf die anderen Versammlungen stand also gar nicht gerichtlich in Frage, so dass das VG Dresden dazu nicht hätte Stellung nehmen dürfen und das Demonstrationsverbot deshalb insoweit bestehen bleibt.
IV. Ausblick
Ein Antrag nach § 32 BVerfGG ist nach verschiedenen Pressemitteilungen anhängig. Es erscheint aber fraglich, ob das BVerfG eine einstweilige Anordnung aussprechen wird, da eine solche grds. bewusst nur unter strengen Anforderungen ergeht.
Vgl. zu den Problemen im Versammlungsrecht näher hier.
Update! 29.08.2015, 13.20 Uhr:
Das BVerfG hat das Demonstrationsverbot per einstweiliger Anordnung iSd § 32 BVerfGG in vollem Umfang für rechtswidrig erklärt und damit die Ausgangsentscheidung des VG bestätigt (AZ 1 BvQ 32/15)! Es müssten alle Demonstrationen ermöglicht werden. Zu beachten ist vor diesem Hintergrund, dass das BVerfG bei einer derartigen Anodnung nicht wie das VG Dresden oder das OVG Sachsen allein die Interessen des antragsbefugten Antragsstellers in den Blick nehmen, sondern alle widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägen kann.
Im Zuge dieser Folgenabwägung hat das BVerfG insbesondere beanstandet, dass das OVG das Antragsbegehren nicht hinreichend im Lichte des Art. 8 I GG ausgelegt habe. Das OVG wäre dazu verpflichtet gewesen, den Antragssteller konkret zu fragen, ob er noch an weiteren Veranstaltungen habe teilnehmen wollen. Dann wäre die Aufhehbung des Verbots nämlich – wie bei der Eilentscheidung des VG Dresden geschehen – auf alle Versammlungen zu erstrecken gewesen.
Die Verfassungsrichter argumentierten zudem, dass die hohen Anforderungen für eine Anordnung nach § 32 BVerfGG deshalb gegeben seien, weil ohne eine solche Anordnung bei späterer erfolgreicher Verfassungsbeschwerde gegen das Demonstrationsverbot dieVersammlungsfreiheit durch den Staat hätte beschränkt und in dem hier doch sehr engen und räumlich begrenzten Zusammenhang gänzlich außer Kraft gesetzt werden können. Anderenfalls hätte viele Bürger außerhalb des Wochenendes nur wenige bis gar keine Möglichkeiten, um ihre Meinungen öffentlich kundtun zu können.
Im rechtlichen Kern wurden die Bedenken der Fachgerichte (VG und OVG) hinsichtlich des Vorliegens eines polizeilichen Notstandes sowie der Verhältnismäßigkeit des Verbots geteilt (vgl. näher die Pressemitteilung).

29.08.2015/1 Kommentar/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2015-08-29 12:08:382015-08-29 12:08:38Versammlungsverbot in Heidenau ist rechtswidrig
Redaktion

Examenskandidaten aufgepasst: BVerfG zum Versammlungsrecht

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Versammlungsrecht

Examensrelevante Entscheidung im Öffentlichen Recht:

Eine Besprechung von BVerfG, Beschl. vom 26.06.2014, 1 BvR 2135/2009 = NVwZ 2014, 1453f.
 
I. Einleitung
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt Anlass, sich mit dem immer wiederkehrenden Thema des Versammlungsrechts zu befassen. Neben den grundrechtlichen Bezügen, sollte man dabei die einfachgesetzliche Ausprägung des Versammlungsrechts nicht aus den Augen verlieren. Zumeist setzt jedoch auch eine Klausur, die schwerpunktmäßig ordnungsrechtlich (= einfachgesetzlich) zu lösen ist, eine Prüfung von Art. 8 GG voraus. Tendenziell reicht der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit sehr weit. Die Anforderungen an die Einschränkungen des Versammlungsrechts liegen ebenfalls hoch. Beides hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss erneut betont.
II. Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin nahm am 1. Mai 2008 an einer Versammlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in München mit dem Thema „01. Mai. Tag der Arbeit“ teil. Angemeldet waren eine stationäre Auftaktkundgebung, ein Versammlungszug und eine stationäre Abschlusskundgebung. Für die Versammlung hatte das Kreisverwaltungsreferat München als zuständige Versammlungsbehörde mit Bescheid vom 28. April 2008 unter dem Unterpunkt „Kundgebungsmittel / Versammlungshilfsmittel“ unter anderem die Auflage erlassen, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen. Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: „Bullen raus aus der Versammlung!“ und „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“. Zu einer „Störung“ oder „Unruhe“ kam es innerhalb der Versammlung nicht. Der Ausspruch konnte von den Versammlungsteilnehmern allerdings gut wahrgenommen werden.
Gegen die Beschwerdeführerin wurde ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerin mit angegriffenem Urteil wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (Nichtbeachtung beschränkender Auflagen) gemäß § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 15 Abs. 1 VersG zu einer Geldbuße von 250 Euro.
III. Leitsätze/Inhalt der Entscheidung

  1. Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art 8 Abs 1 GG) umfasst grundsätzlich auch die Verwendung von Lautsprechern als Hilfsmittel. Wer an einer von Art 8 GG geschützten Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen.
  2. Die Bußgeldvorschriften des § 29 Abs 2, Abs 1 Nr 3 VersammlG sind stets im Licht der grundlegenden Bedeutung von Art 8 Abs 1 GG auszulegen; Maßnahmen nach dieser Vorschrift müssen sich auf das beschränken, was zum Schutze gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist.

Dazu bezieht das Gericht zunächst zu der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 GG unmissverständlich Stellung:
Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet. Die Beschwerdeführerin war unstreitig Teilnehmerin einer auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung und damit einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit grundsätzlich umfasst war damit auch die Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel. Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen standen auch inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der Versammlung. Mögen sie auch keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein, so gaben sie jedenfalls das versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem auf den Willensbildungsprozess gerichteten Aufzug selbst nur solche Personen befinden sollen, die am Willensbildungsprozess auch teilnehmen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess unbeteiligte Polizisten, die als solche nicht erkennbar sind. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen. Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen. Insoweit ist die entsprechende Lautsprecheraussage nicht – wie das Amtsgericht annimmt – dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen.
Danach setzt sich das Gericht mit den konkreten Äußerungen auseinander. Es wägt die konkrete Maßnahme mit den konkreten Konsequenzen ab.
Indem die amtsgerichtliche Entscheidung die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einer Geldbuße in der Sache allein darauf stützte, dass sie die Lautsprecheranlage zu einem anderen Zweck als zu einer im engen Sinne themenbezogenen Durchsage oder Ordnungsmaßnahme nutzte, verkennt sie den Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG, der – wie dargelegt – jedenfalls grundsätzlich auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt. Insoweit konnte sich das Gericht auch nicht uneingeschränkt auf die entsprechende Auflage berufen. Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit Versammlungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berücksichtigung des Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der Lautsprecheranlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die Lautsprecherdurchsagen der Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Der bloße Aufruf „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“ mag bei lebensnaher Betrachtung kurzfristige Irritationen von Versammlungsteilnehmern hervorrufen, war aber ersichtlich nicht zur Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Versammlung geeignet. Insbesondere wurden Zivilpolizisten nicht konkret und in denunzierender Weise benannt und so etwa in die Gefahr gewalttätiger Übergriffe aus der Versammlung gebracht. Auch eine mögliche Beeinträchtigung der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld rechtfertigten
IV. Anmerkung
Die Entscheidung des BVerfG bezieht zu wichtigen Elementen des Versammlungsrechts Stellung. Neben den Lautsprechern als spezifisches Hilfsmittel stärkt die Entscheidung die Verwendung anderer, „versammlungstechnischer“ Hilfsmittel. Die Effektivität einer Versammlung darf insbesondere bei wachsender Teilnehmerzahl und Größe nicht durch die Einschränkung von technischen Hilfsmitteln unterlaufen werden. Insofern ist die Entscheidung klar und begrüßenswert:
Technische Hilfsmittel sind als Versammlungshilfsmittel unerlässlich. Interessant wird es vor allem dann werden, wenn sich zukünftige Versammlungsleiter moderner Kommunikationsmittel (wie z. B. einer Versammlungs-APP) bedienen, die den Schutzbereich weiterer Grundrechte berühren könnte, wenn sie beschränkt werden. Nach den dargelegten Grundsätzen sollten auch weitere Hilfsmittel großzügig zu gewähren sein.
In dem zweiten Teil der Entscheidung steigt das Bundesverfassungsgericht weit in die einfach gesetzliche Auslegung des Versammlungsrechts ein. Zwar stellt es anfangs klar (hier nicht abgedruckt), dass es nur verfassungsspezifische Verletzungen prüft, dennoch werden konkrete Umstände der Versammlung detailliert abgewogen. Dabei sticht hervor, dass unruhestiftende Äußerungen auch konkrete Unruhe oder Störungen hervorrufen müssen.
Für die Ausbildung und Klausurvorbereitung sind diese Grundsätze zu berücksichtigen. Eingerahmt von verfassungsprozessrechtlichen und anderen grundrechtlichen Problemen, kann die Entscheidung ohne weiteres Gegenstand einer Prüfung werden. Dabei könnten auch neue Elemente oder Hilfsmittel hinzugefügt oder mit anderen Entscheidungen zum Versammlungsrecht kombiniert werden.
In dem Kontext der Versammlungsfreiheit ist eine weitere, konsequent fortschreitende Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts zu beachten. Das Gericht bezieht besondere „private“ und „öffentliche“ Plätze in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG ein. Virulent ist das Thema vor allem durch die sog. „Fraport-Entscheidung“ (BVerfG NJW 2011, 1201) geworden, in der das Gericht Teile des Frankfurter Flughafens – vor dem Hintergrund der Grundrechtsbindung „gemischtwirtschaftlicher Unternehmen“ – für Versammlungen öffnete. Dies wird nun durch die jüngste Rechtsprechung des Gerichts für Friedhöfe und ähnliche Plätze erweitert. Die Voraussetzungen nach BVerfG NJW 2014, 2706 sind zwar engmaschig, jedoch wird der Schutzbereich grundsätzlich berührt, wenn auf Friedhöfen oder ähnlich geschützten Bereichen demonstriert wird.

20.02.2015/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2015-02-20 09:00:062015-02-20 09:00:06Examenskandidaten aufgepasst: BVerfG zum Versammlungsrecht
Nicolas Hohn-Hein

VG Hannover: Open-Air-Konzert nicht durch Versammlungsrecht geschützt

Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Versammlungsrecht, Verwaltungsrecht

In einer bereits im letzten Jahr veröffentlichten Entscheidung des VG Hannover (Beschluss vom 08.11.2013 – 10 B 7448/13) hat sich das Gericht mit der Frage beschäftigt, wann eine politisch motivierte Veranstaltung, die auch Musikdarbietungen beinhaltet, als Versammlung im Sinne von Art. 8 GG anzusehen ist und damit in den besonderen Schutzbereich des Versammlungsrechts fällt. Die nachfolgende Besprechung orientiert sich an der uns vorliegenden Pressemitteilung des VG Hannover.
Sachverhalt
A veranstaltet seit einiger Zeit Aktionen der sog. „Unabhängige Montagsdemo-Berlin“ (UMOD-Berlin), einer dem linken politischen Spektrum zuzuordnenden Aktivistengruppe. Die Veranstaltungen finden für gewöhnlich in der Innenstadt von Hannover unter freiem Himmel statt. Leitthema ist regelmäßig „Für ein menschenwürdiges Leben – Gegen Sozialabbau und Behördenwillkür“. Auf den Zusammenkünften werden Reden zu politischen Themen gehalten und Diskussionsrunden organisiert. Während der Veranstaltungen gibt es auch Musikdarbietungen der in der Szene bekannten Musikgruppe QULT.
Am 02.11.2013 meldet A bei der Polizeidirektion Hannover die für den 09.11.2013  in der Zeit von 13.00 bis 21.00 Uhr an der Kröpcke-Uhr/Georgstraße geplante Aktion an. Mit schriftlichem Bescheid vom 04.11.2013 untersagt die Polizeidirektion Hannover dem A die Durchführung der Veranstaltung und ordnet die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an.
Als Begründung führt die Polizeidirektion aus, dass es sich nicht um eine Versammlung im Sinne von Art. 8 GG handele und damit nicht vom Niedersächsischen Versammlungsgesetz gedeckt sei. Zwar stelle der Antragsteller die „UMOD-Berlin“ in seinen Versammlungsanzeigen als eine Gruppe vor, welche „auf der Straße“ demonstriere. Inzwischen habe sich aber herausgestellt, dass diese Betätigungen, sofern sie überhaupt vorhanden seien, einen verschwindend geringen Anteil einnähmen. Vorrangige Ziele dieser Aktionen seien die Durchführung öffentlicher Konzerte und kommerzieller Handlungen für und durch die Gruppe „Qult“. So werden – was zutrifft – während der Aktionen u.a. T-Shirts und CDs der Musikgruppe gegen eine kleine Spende „verschenkt“. Der insgesamt kommerzielle Zweck ergebe sich auch aus den Äußerungen der Band im Internet.
A ist erschüttert und fühlt sich massiv in seiner Versammlungsfreiheit verletzt. Immerhin sei es nicht untypisch, dass auf solchen Veranstaltungen auch Bands auftreten, die für die politischen Ziele der Aktivistengruppen werben. Nur auf diese Weise könne man die notwendige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhalten. Dass dabei auch u.a. CDs an die Teilnehmer der Aktionen verschenkt werden, diene allein der Förderung des übergeordneten Zwecks der politischen Meinungsbildung und sei nicht von kommerziellen Überlegungen der Musikgruppe QULT getragen.
A möchte sich im Wege des Eilrechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO beim VG Hannover gegen die Verfügung der Polizeidirektion wehren, da er die Aktion am 09.11.2013 unbedingt durchführen will. Hat der Antrag des A Aussicht auf Erfolg?

Anmerkung: Hinsichtlich der Grundlagen und der zu prüfenden Fragen des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes sei an dieser Stelle auf unsere Beitragsreihe „Einstweiliger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren“ verwiesen.

 
Reine Musikveranstaltungen nicht von Versammlungsrecht geschützt
Das Gericht geht zunächst von der Definition der „Versammlung“ im Sinne von Art. 8 GG aus. Wir erinnern uns: Versammlung ist das Zusammenkommen mehrerer – mindestens 2 – Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen (kommunikativen) Zwecks bei Vorliegen einer gewissen inneren Verbundenheit. Nach dem „engen Versammlungsbegriff“ des BVerfG untermalen nur politische oder öffentliche Themen der Versammlungsfreiheit (grundsätzlich BVerfG NJW 2001, 2549).

Anmerkung: Das Niedersächsische Versammlungsgesetz hat diesen Versammlungsbegriff übrigens in § 2 NVersG übernommen. Die nachfolgenden Erwägungen haben jedoch für das gesamte Bundesgebiet Gültigkeit. In NRW bspw. findet mangels länderspezifischer Regelung das (Bundes-) Versammlungsgesetz Anwendung, in dem der Versammlungsbegriff nicht ausdrücklich aufgenommen worden ist.

Problematisch im vorliegenden Fall war, ob die Veranstaltung einen gemeinsamen kommunikativen Zweck im Sinne öffentlicher Meinungsbildung verfolgte oder reinen Unterhaltungszwecken diente. Eine Versammlung zeichnet sich u.a. insbesondere dadurch aus, dass die Teilnehmer gleichgerichtete (politische) Ziele verfolgen und sich im Wege der Zusammenkunft in der Öffentlichkeit Gehör bzw. zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen verschaffen.
Nach der gängigen Auffassung in der Rechtsprechung reicht daher eine bloß „lose“ Verbindung der Teilnehmer nicht aus. So ist der gemeinsame Konsum (Musik, Alkohol) nicht von der Versammlungsfreiheit geschützt, weil nicht die gemeinsame öffentliche Meinungsbildung im Vordergrund steht, sondern die individuelle Unterhaltung (BVerfG, NJW 2001, 2459 (2460) oder hier bzgl. „Fuckparade“ und „Loveparade“ – lesenswert!).
Diese wichtigen Grundsätze hat das Gericht für seine Entscheidung zunächst vorausgesetzt, wenn es in der Pressemitteilung heißt

Den Schutz von Art. 8 GG könnten solche Veranstaltungen beanspruchen, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet seien, nicht aber reine Musikveranstaltungen. Erst wenn der auf die öffentliche Meinungsbildung gerichtete Zweck an den Rand gedrängt werde, weil der Unterhaltungszweck im Vordergrund stehe, könne die Veranstaltung nicht mehr den Schutz von Art. 8 GG in Anspruch nehmen. Dabei sei im Zweifel für die Versammlungsfreiheit zu entscheiden.

Abzustellen ist daher im Ergebnis darauf, welchen inhaltlichen Schwerpunkt eine Versammlung aufweist.
 
Zweck der öffentlichen Meinungsbildung durch Musikdarbietung nicht an den Rand gedrängt
Gleichwohl erscheint es äußerst naheliegend, nicht jeder öffentlichen Veranstaltung mit politischem Hintergrund, bei der auch Musikgruppen auftreten, den Schutz des Versammlungsrechts pauschal zu versagen. Stattdessen ist eine Abwägung im Einzelfall zu treffen und im Zweifel das Versammlungsgesetz anwendbar. Gerade bei politischen Veranstaltungen ist es durchaus üblich, die politische „Message“ nicht allein durch Reden, Vorträge o.ä. zu vermitteln, sondern auch auf Musikgruppen zu setzen, die u.a. auch junge Leute anziehen sollen.
Dass dabei auch auf „Merchandise-Maßnahmen“ gesetzt wird, um die Veranstaltung zu finanzieren, ist Teil der Durchführung der Veranstaltung und steht genauso wie der Auftritt einer Band nicht per se im Vordergrund, solange im konkreten Fall der Aspekt der politischen Meinungsbildung nicht völlig an den Rand gedrängt wird. Dies hat auch das VG Hannover Anlehnung an die insoweit eindeutige Rechtsprechung des BVerfG gesehen, denn

[e]s sei nicht erkennbar, dass der auf die öffentliche Meinungsbildung gerichtete Zweck der vom Antragsteller geplanten Veranstaltung an den Rand gedrängt werde. Selbst die Polizeidirektion gehe davon aus, dass der Antragsteller mit seinen Veranstaltungen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung nehmen wolle. Dem entsprechend werte sie nach wie vor die Aktionen, die ohne Mitwirkung der Band „Qult“ erfolgten, als Versammlungen im Sinne des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes. Dass diese Absicht bei Auftreten der Band „an den Rand gedrängt“ würden, lasse sich nicht feststellen. Zwar rückten die Äußerungen der Band auf ihrer Internetseite, das Aufstellen von Spendenkörben und das „Verschenken“ von CDs gegen eine Spende ihr Auftreten in die Nähe des Auftritts sonstiger Musikgruppen, wie es häufig in den Fußgängerzonen insbesondere von Großstädten anzutreffen sei. Zu berücksichtigen sei aber die vom Antragsteller dargelegte Absicht, durch den Auftritt von „Qult“ Aufmerksamkeit für sein „politisches“ Anliegen zu wecken und Passanten anzusprechen, die er ansonsten nicht erreichen würde. Darüber hinaus stünden die Darbietungen der Band selbst zumindest zum Teil auch in einem Kontext zu dem eigentlichen vom Antragsteller verfolgten Anliegen und unterschieden sich damit von Musikdarbietungen zur bloßen Unterhaltung von Veranstaltungsteilnehmern.

Ergebnis: Der Antrag des A hatte damit Erfolg. Die Versammlung fiel unter das Versammlungsgesetz, wonach ein behördliches Versammlungsverbot nur dann ergehen kann, wenn eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht (vgl. bspw. § 8 I NVersG bzw. § 15 I VersG).
 
Fazit
Versammlungsrecht und Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO sind stets sehr beliebte Themen in beiden Examina. In einer Klausur ließe sich der Fall selbstverständlich noch mit weiteren zahlreichen Problemen des materiellen Rechts und des Prozessrechts verbinden.
Nachfolgend erhaltet ihr noch eine Auswahl weiterer lesenswerte Beiträge zum Versammlungsrecht:

  • https://www.juraexamen.info/vg-aachen-protestcamp-tagebau-hambach-muss-geraumt-werden/
  • https://www.juraexamen.info/vg-neustadt-verbot-eines-npd-trauermarsches-am-volkstrauertag-rechtmasig/
  • https://www.juraexamen.info/bverfg-zweite-reihe-rechtsprechung-bestatigt-sitzblockade-zudem-„versammlung“-nach-art-8-i-gg/
  • https://www.juraexamen.info/bverfg-1-bvr-140206-die-versammlungsfreiheit-schutzt-auch-die-non-verbale-meinungsauserung/

18.03.2014/1 Kommentar/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2014-03-18 09:00:062014-03-18 09:00:06VG Hannover: Open-Air-Konzert nicht durch Versammlungsrecht geschützt
Dr. Christoph Werkmeister

Aktuelle examensrelevante verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung

Kommunalrecht, Rechtsprechung

In den letzten Tagen ist wieder eine Reihe von öffentlich-rechtlichen Problemkreisen durch die verwaltungsgerichtliche Judikatur gegangen. Kandidaten, für die bald die mündliche Prüfung ansteht, sollten sich deshalb mit den im Folgenden genannten Themen einmal kurz auseinandergesetzt haben. Daneben ist es zumindest denkbar, dass die Sachverhalte zu gegebener Zeit auch als Aufhänger in Klausuren für das erste sowie zweite Staatsexamen Eingang finden werden. Da die Pressemitteilungen der genannten Fälle die jeweils einschlägige Problematik bereits ausreichend erläutern, werden im Folgenden lediglich Auszüge aus den respektiven Mitteilungen zitiert, wobei jeweils am Ende auf weiterführende Lektüre hingewiesen wird.
OVG Koblenz: Voraussetzungen für den Ausschluss eines Ratsmitglieds aus dem Stadtrat (Urteil vom 15.03.2013 – 10 A 10573/12.OVG)

Der Stadtrat von Trier durfte den Kreisvorsitzenden der Trierer NPD aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung aus dem Rat ausschließen. Der Ausschluss des Klägers aus dem Stadtrat gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 GemO Rheinland-Pfalz sei rechtmäßig gewesen. Insbesondere verstoße diese Vorschrift, wonach ein nach seiner Wahl rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteiltes Ratsmitglied vom Gemeinderat ausgeschlossen werden kann, wenn es durch die Straftat die für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit verwirkt hat, bei verfassungskonformer Auslegung nicht gegen die verfassungsrechtlich gewährleisteten Wahlgrundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Zwar stelle der Ausschluss aus dem Gemeinderat, durch den die Zusammensetzung eines gewählten Organs nach Abschluss des eigentlichen Wahlvorganges verändert werde, einen Eingriff in diese Wahlgrundsätze dar. Denn diese würden auch für das passive Wahlrecht gelten und das Recht gewährleisten, eine Wahl anzunehmen und das errungene Mandat auszuüben. Der Eingriff sei aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. § 31GemO Rheinland-Pfalz diene dem Schutz des Ansehens der Gemeindevertretung, sofern dadurch die verfassungsrechtlich gewährleistete Funktionsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung betroffen sei.
Nichts anderes ergibt sich für das OVG aus dem Umstand, dass der Bundesgesetzgeber nach § 45 Abs. 1 und 4 StGB erst bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen eines Verbrechens einen den Verlust öffentlicher Ämter rechtfertigenden Ansehensverlust von Straftätern annehme und im Kommunalrecht der anderen Bundesländer vergleichbare Regelungen über den Ausschluss von Mitgliedern aus dem Gemeinderat fehlten.

Es handelt sich hierbei (mal wieder) um eine kommunalrechtliche Entscheidung, bei der (vermeintliche) Benachteiligungen der NPD im Vordergrund stehen. Die Entscheidung ist insbesondere deshalb interessant, da eine landesrechtliche Gemeinderechtsnorm am Maßstab der Wahlrechtsgrundsätze gemessen wird. Zudem stellt der argumentative Rekurs auf die Vorschrift des § 45 StGB eine Möglichkeit dar, um auch im weiteren systematischen Kontext zu punkten. Ähnliche Entscheidungen wurden bereits häufiger bei uns besprochen, weswegen an dieser Stelle auf die damaligen Beiträge verwiesen sei (s. dazu etwa hier, kürzlich auch hier sowie hier).
OVG Rheinland-Pfalz: Trauermarsch der NPD am Volkstrauertag (Urteil vom 20.03.2013 – 7 A 11277/12.OVG)

Die NPD hatte für den 13.11.2011 – den Volkstrauertrag – einen Trauermarsch mit etwa 40 Teilnehmern von Haßloch nach Böhl-Iggelheim angemeldet. Die Veranstaltung sollte nach ihren Angaben anlässlich des Volkstrauertages zum Gedenken an die in den Kriegen gefallenen Soldaten und Zivilisten sowie die in Böhl-Iggelheim umgekommenen deutschen Gefangenen des dortigen alliierten Gefangenenlagers stattfinden. Es war beabsichtigt Fahnen, Stellschilder, ein Handmegaphon, eine transportable Lautsprecheranlage, ein Lautsprecherfahrzeug, Fackeln und Transparente mitzuführen. Verschiedene Redner sollten zu Wort kommen und Flugblätter verteilt werden. Der beklagte Landkreis Bad Dürkheim verbot die Versammlung, weil sie gegen den Schutz des Volkstrauertages nach dem Feiertagsgesetz verstoße. Der sich über 5 km erstreckende Marsch mit Kundgebungsmitteln widerspreche dem Charakter des Volkstrauertages als Tag der Trauer und des stillen Gedenkens. Es sei auch mit Gegendemonstrationen und daher mit einem entsprechenden Polizeiaufgebot zu rechnen. Dies störe die Feiertagsruhe empfindlich. Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen.
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgericht war das Verbot der Versammlung rechtswidrig. Zwar habe der angemeldete Trauermarsch in seiner konkreten Ausgestaltung gegen das Feiertagsgesetz verstoßen. Dieses schütze den Volkstrauertag, der als Gedenktag für die Toten der beiden Weltkriege und die Opfer des Nationalsozialismus zu den wenigen stillen Feiertagen gehöre, besonders, indem es neben dem Verbot von Sport- und Tanzveranstaltungen öffentliche Versammlungen untersage, die nicht dem Charakter des Feiertags entsprächen. Die während der mehrstündigen Versammlung vorgesehene Verwendung eines Handmegaphons, einer transportablen Lautsprecheranlage und eines Lautsprecherfahrzeugs habe nicht zu Trauer und stillem Totengedenken beigetragen, sondern im Gegenteil das Gedenken der Bevölkerung empfindlich gestört. Das angeordnete Verbot des Trauermarschs sei jedoch unverhältnismäßig gewesen. Denn der genannte Verstoß gegen das Feiertagsgesetz hätte – ebenso wie etwaige weitere Verstöße – durch die Erteilung von Auflagen bezüglich der vorgesehenen Hilfsmittel sowie gegebenenfalls der Reden und Flugblätter abgewehrt werden können. Der Trauermarsch als solcher habe einen inhaltlichen Bezug zum Volkstrauertag und zum Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege gehabt. Er habe daher nach seinem Anlass dem Charakter des Feiertags keinesfalls widersprochen. Wenn es wegen Gegendemonstranten etwa im Hinblick auf ihre Anzahl und ihr – unfriedliches – Verhalten eines größeren Polizeiaufgebots bedurft haben sollte, wäre die Störung der Feiertagsruhe von den Gegendemonstranten ausgegangen und könne dem Kläger nicht zugerechnet werden.

Mal wieder eine versammlungsrechtliche Entscheidung, wobei insbesondere in materiellrechtlicher Sicht die Voraussetzungen eines Versammlungsverbots nach § 15 Abs. 1 VersG zu prüfen waren. Bei der Frage, ob von der Versammlung eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausging (hier in Form der Rechtsordnung, namentlich des Landesfeiertagsgesetzes), galt es die Besonderheiten des o.g. Sachverhalts zu beachten. Die Vorschrift des § 15 VersG ist hierbei zudem im Lichte der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Um sich die Systematik und Prüfung eines Versammlungsverbotes zu vergegenwärtigen, sei im Übrigen auf ausführlicheren Beitrag zu § 15 VersG in einem anderen examensrelevanten Einzelfall verwiesen (siehe dazu hier).

14.04.2013/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2013-04-14 08:37:262013-04-14 08:37:26Aktuelle examensrelevante verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung
Dr. Christoph Werkmeister

OVG Münster: Examensrelevante Entscheidungen 2012

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Verwaltungsrecht

Das OVG Münster veröffentlichte nunmehr eine Vielzahl von wichtigen Entscheidungen aus dem Jahr 2012 im Volltext. Die Entscheidungen sind allesamt als extrem examensrelevant einzuschätzen, wobei dies nicht bloß für das Land NRW, sondern für alle Länder gilt. Den Volltext der Entscheidung könnt Ihr schnell und kostenfrei erhalten, indem Ihr auf das jeweilige Aktenzeichen klickt. Wer weniger Zeit hat, sollte sich zumindest mit den Anmerkungen zu den Urteilen beschäftigen.

  • Klage gegen Versuchsreihen des CERN bleibt ohne Erfolg (Az. 16 A 591/11; die Anmerkung gibt es hier)
  • Öffentliches Training für Blockade eines „Naziaufmarsches“ (Az. 5 A 1701/11; die Anmerkung gibt es hier)
  • Beamte haben in der Bundesrepublik Deutschland kein Streikrecht (Az. 3d A 317/11.O; die Anmerkung gibt es hier)
  • Glasverbot im Kölner Straßenkarneval rechtmäßig (Az. 5 A 2375/10 und 5 A 2382/10; die Anmerkung gibt es hier)
04.01.2013/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2013-01-04 11:45:382013-01-04 11:45:38OVG Münster: Examensrelevante Entscheidungen 2012
Dr. Christoph Werkmeister

Versammlungsrecht: Zeigen von „Mohammed-Karikaturen“ zulässig

Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?

Das VG Berlin hat kürzlich eine äußerst examensrelevante Entscheidung zum Versammlungsrecht gefällt (Beschluss vom 16.08.2012 – VG 1 L 217.12). Eine vergleichbare Konstellation haben wir auch bereits anlässlich einer Demonstration in Bonn mit gleichem Ergebnis begutachtet.
Sachverhalt

Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Eilantrag dreier islamischer Moschee-Vereine zurückgewiesen. Beantragt war, der „Bürgerbewegung Pro Deutschland“ zu untersagen, während der am kommenden Samstag stattfindenden Demonstrationen vor deren religiösen Einrichtungen sogenannte „Mohammed-Karikaturen“ zu zeigen.
Die „Bürgerbewegung Pro Deutschland“ hat für den 18. August 2012 Versammlungen vor den religiösen Einrichtungen der Antragsteller mit dem Versammlungsthema „Der Islam gehört nicht zu Deutschland – Islamisierung stoppen“ angemeldet. Die Versammlungsbehörde hat der Anmelderin jeweils Versammlungsorte im Abstand von ca. 50 m vor den Einrichtungen der Antragsteller zugewiesen. Die Anmelderin hat angekündigt, im Kontext der Versammlungen die sog. „Mohammed-Karikaturen“ zeigen zu wollen.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts führte zur Begründung aus, es fehle an der für ein polizeiliches Einschreiten erforderlichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Es stehe nämlich nicht fest, dass das Zeigen von „Mohammed-Karikaturen“ strafrechtlich relevant sei. Für die Erfüllung des Straftatbestandes des § 166 StGB fehle es erkennbar an einer „Beschimpfung“ im Sinne des Verächtlichmachens des religiösen Bekenntnisses. Zudem fielen die Karikaturen unter die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG.
Durch das Zeigen der Karikaturen allein werde auch nicht zum Hass oder zu Gewaltmaßnahmen gegen einzelne Bevölkerungsgruppen aufgefordert, so dass auch der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) nicht erfüllt sei.
Gegen den Beschluss kann beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschwerde eingelegt werden. (Quelle: Pressemitteilung des VG Berlin).

Examensrelevanz
Die Entscheidung des VG ist als äußerst examensrelevant einzustufen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Sache bislang nur in erster Instanz im einstweiligen Rechtsschutz abspielte, ist noch mit weiteren Entscheidungen (und dementsprechend weiteren Argumentationsansätzen) zu dem Themenkreis zu rechnen.
Sofern man im Falle der Prüfung die §§ 166, 130 StGB als mögliche betroffene Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit schon einmal sieht und diskutiert, dürfte ein Großteil bereits geschafft sein.
Wenn darüber hinaus problematisiert wird, dass durch die Karikaturen auch Gewaltakte von Dritten provoziert werden, gilt es klarzustellen, dass die Versammelnden hierbei nicht als Störer, möglicherweise in Form eines Zweckveranlassers, in Betracht (s. dazu hier) kommen. Die Gefahr für die öffentliche Sicherheit geht damit nur von den potentiellen Gewalttätern aus, jedoch nicht von der Versammlung selbst.
Weiterhin kann der Vollständigkeit halber noch angebracht werden, dass sich die Versammelnden nicht bloß auf Art. 8 Abs. 1 GG, sondern ebenso noch auf Art. 5 Abs. 3 GG, also die Kunstfreiheit, berufen können.

17.08.2012/1 Kommentar/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-08-17 09:01:122012-08-17 09:01:12Versammlungsrecht: Zeigen von „Mohammed-Karikaturen“ zulässig
Tom Stiebert

Verbot des Zeigens der Mohammed-Karikaturen

Aktuelles, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Nicht nur in NRW befassen sich die Medien zur Zeit mit den Ausschreitungen zwischen Salafisten und pro-NRW-Symphatisanten, bei denen mehrere Polizisten teils schwer verletzt wurden. Auslöser dieser (kalkulierten) Auseinandersetzung war das Zeigen der bekannten Mohammed-Karrikaturen durch Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung pro-NRW.
Bereits im Vorfeld dieser Veranstaltung wurde ein Verbot des Zeigens dieser Karikaturen gefordert, dass aber vom OVG NRW abgelehnt wurde. Nach den Ausschreitungen von Bad Godesberg fordert NRW Innenminister Rolf Jäger erneut ein Verbot dieser Handlung und begründet dies mit der Eskalation der Gewalt. Das Verwaltungsgericht Minden entschied hingegen, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht vorläge. Die Bälle werden sich damit hin- und her gespielt.
An dieser Stelle sollen einige rechtliche Eckpunkte aufgezeigt werden, die bei einer solchen Entscheidung zu beachten sind.
I. Anwendung Versammlungsrecht
Die Karrikaturen werden im Rahmen und als Teil einer Versammlung von pro-NRW gezeigt, die auch nicht verboten wurde. Aufgrund der Polizeifestigkeit der Versammlung ist damit allein das Versammlungsgesetz maßgeblich. Ein Verbot kann damit aus § 15 VersG resultieren.
II. Voraussetzung: Gefährdung öffentliche Sicherheit und Ordnung
Zudem müsste eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen. Das VG Minden weist dies mit der Begründung ab:

„Zwar gab es bei zwei entsprechenden Veranstaltungen in Solingen und Bonn gewalttätige Ausschreitungen, jedoch gab es nach den dem Gericht vorgelegten Unterlagen zahlreiche andere derartige Veranstaltungen, bei denen es nicht zu Ausschreitungen gekommen ist.“

Inwiefern diese Aussage tatsächlich zutreffend ist, das heißt in welchen Fällen tatsächlich eine vergleichbare Situation – Zeigen der Karikaturen vor oder in der Nähe von Moscheen oder Gebetshäusern – vorgelegen hat, kann hier nicht überprüft werden. Es bestehen aber m.E. ausreichend Indizien, dass es erneut zu Ausschreitungen kommen wird. Beispielhaft hierfür eine Aussage von Pierre Vogel:

„Ich sage euch: wir distanzieren uns nicht. Wir hätten nicht dazu aufgerufen, aber wenn wir da gewesen wären, wer weiß wie wir reagiert hätten? Wenn der Prophet beschimpft wird, das ist halt die rote Linie.“

Weitere Ausschreitungen sind damit zu befürchten.
Zu beachten ist dabei allerdings eines – unmittelbar gehen diese Ausschreitungen nicht etwa von den rechtsextremen Demonstranten, sondern von den Salafisten aus. So ablehnenswert die von pro-NRW verbreitete Ideologie auch sein mag, die Versammlung als solche ist friedlich und unterliegt damit dem besonderen Schutz des Art. 8 GG. Die Gewalttätigkeiten gingen unmittelbar allein von den Salafisten als Teil der Gegendemonstration aus. Neben der Versammlungsfreiheit genießt das Zeigen der Karikaturen auch noch den besonderen Schutz der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG. Auch wenn das Zeigen der Karikaturen zuvorderst als Provokation gedacht ist, impliziert es zumindest auch eine Meinung in Form der Ablehnung des Islams bzw. zumindest von dessen radikalen Tendenzen. Der weite Auslegung der Meinungsfreiheit (ausgenommen sind allenfalls „Meinungen“ zum Holocaust) fordert damit auch eine Beachtung dieses Grundrechts, sofern man die Meinungskundgabe nicht schon als Teil der Versammlungsfreiheit sehen möchte. Diese verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen sind damit zu beachten.
Sowohl das Verbot der Versammlung von pro-NRW als solcher als auch das Verhängen des Verbots des Zeigens der Karikaturen als Auflage ist damit grundsätzlich nicht zulässig.
Grenzen können allenfalls dann bestehen, wenn die pro-NRW-Versammlung als Zweckveranlasser für die Unruhen anzusehen ist und eine Vereitelung der Gegenproteste und der Ausschreitungen nicht oder zumindest faktisch nicht möglich ist. Hier ist die Situation so, dass pro-NRW zwar die Ausschreitungen wohlkalkuliert heraufbeschworen hat, allerdings kann eine entsprechend große Polizeipräsenz eine Eskalation verhindern, sodass damit den Grundrechten von pro-NRW zur Geltung verholfen werden kann.
Das BVerfG hat dies wie folgt dargelegt:

Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so müssen sich behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer richten (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>). Mit Art. 8 GG wäre nicht zu vereinbaren, dass bereits mit der Anmeldung einer Gegendemonstration erreicht werden kann, dass dem Veranstalter der zuerst angemeldeten Versammlung die Möglichkeit genommen wird, sein Demonstrationsanliegen zu verwirklichen. Es ist Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken. Gegen die Versammlung als ganze darf in einer solchen Situation grundsätzlich nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 <360 f.>). Unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Versammlungsbehörde insoweit auch prüfen, ob ein polizeilicher Notstand durch Modifikation der Versammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurch den konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln.

III. Fazit
Grundrechtsschutz kann teuer sein – trotzdem ist er zu gewährleisten. Selbst wenn damit extremistische Ansichten geschützt werden müssen – egal ob links, rechts oder religiös – so muss der Staat dies tun – die Grundrechte gelten nicht allein für „die Guten“. Aus diesem Grund muss auch die pro-NRW-Demonstration geschützt werden. Nur in extremen Fällen – bspw. bei Abwägung mit der kollidierenden Religionsfreiheit Dritter und einem Überwiegen dieser Interessen – kann ein gegenteiliges Ergebnis bejaht werden.

08.05.2012/2 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2012-05-08 10:18:222012-05-08 10:18:22Verbot des Zeigens der Mohammed-Karikaturen
Dr. Stephan Pötters

Verteilung kostenloser Koranexemplare durch Salafisten – Rechtliche Implikationen

Aktuelles, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Wie in der Presse berichtet wurde (s. etwa den Beitrag in der Zeit oder im Spiegel), haben in zahlreichen deutschen Städten Anhänger der (radikalen) islamischen Strömung des Salafismus Koranexemplare gratis in Fußgängerzonen verteilt. Anfangs wurden die Informationsstände und Verteilaktionen wohl als Versammlung angemeldet, später hingegen nicht mehr.
Auch wenn es natürlich jetzt dem ein oder anderen Politiker unter den Fingern brennt, wird man letztlich gegen solche Verteilaktionen nichts unternehmen können, solange eben schlicht und einfach der Koran oder andere harmlose Schriften ausgegeben werden und eine öffentliche Hetze unterbleibt. Auch eine Genehmigungsbedürftigkeit für derartige Aktionen ist abzulehnen.
Versammlungsfreiheit tangiert?
Versammlungen sind nicht genehmigungspflichtig. Allenfalls besteht eine Anmeldepflicht, deshalb ist es natürlich verständlich, dass die Salafisten versucht haben, ihre Infostände und Verteilaktionen als Versammlungen anzumelden. Im Regelfall dürfte dies jedoch nicht gelingen, zumindest wenn man dem restriktiven Versammlungsbegriff des BVerfG folgt. Vorausgesetzt wird, dass der gemeinsame Zweck der Zusammenkunft auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist (BVerfGE 104, 92, 104). Infostände dienen eher dem Austausch von individuellen Meinungen, nicht aber der kollektiven Meinungsäußerung i.S.d. Art. 8 GG.
Genehmigungsbedürftige Sondernutzung nach Straßen- und Wegerecht?
Auch wenn damit der Schutz der Versammlungsfreiheit regelmäßig nicht greifen dürfte, bedeutet dies freilich nicht, dass es sich bei solchen Verteilaktionen etc. stets um eine genehmigungspflichtige Sondernutzung handelt.
Straßen- und Wegerecht ist zunächst Landesrecht, die Differenzierung zwischen Gemeingebrauch und genehmigungspflichtiger Sondernutzung ist jedoch in allen entsprechenden Regelungen gegeben – so z.B. §§ 14, 18 StrWG NRW:

§ 14 Gemeingebrauch
(1) Der Gebrauch der öffentlichen Straßen ist jedermann im Rahmen der Widmung und der verkehrsrechtlichen Vorschriften gestattet (Gemeingebrauch). Auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs besteht kein Rechtsanspruch.
[…]
(3) Kein Gemeingebrauch liegt vor, wenn die Straße nicht vorwiegend zu dem Verkehr benutzt wird, dem sie zu dienen bestimmt ist. Der Straßenanliegergebrauch (§ 14a) bleibt unberührt.
§ 18 Sondernutzungen
(1) Die Benutzung der Straßen über den Gemeingebrauch hinaus ist unbeschadet des § 14a Abs. 1 Sondernutzung. Die Sondernutzung bedarf der Erlaubnis der Straßenbaubehörde. […]

Es gibt in diesem Zusammenhang mehrere argumentative Ansatzpunkte, um die Genehmigungsfreiheit einer Koranverteilung zu begründen. Einerseits könnte man bei einer Fußgängerzone argumentieren, dass diese eben nicht bloß zur Fortbewegung gewidmet ist, sondern auch dem Verweilen und dem Gespräch mit anderen Bürgern dient (sog. kommunikativer Gemeingebrauch). In diese Richtung geht etwa die Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 8.4.1998 – 5 Ss OWi, NJW 1998, 2375):

„Die freihändige entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe von Schriften, Büchern und CDs religiösen Inhalts in einer Fußgängerzone durch einen Anhänger einer Glaubensgemeinschaft (hier: der Hare-Krishna-Bewegung) ist dem jedermann gestatteten Gemeingebrauch zuzurechnen und stellt keine erlaubnispflichtige Sondernutzung dar.
[…]
Gemeingebrauch ist der jedermann im Rahmen der Widmung und der verkehrsrechtlichen Vorschriften gestattete, ohne besondere gesetzliche Regelung gebührenfreie Gebrauch von öffentlichen Straßen, sofern sie vorwiegend zu dem Verkehr benutzt werden, dem sie zu dienen bestimmt sind (§ 14 I 1, III 1, IV NWStrWG). [… Es hat sich als] jetzt herrschende Auffassung durchgesetzt, daß innerörtliche Straßen, insbesondere Fußgängerbereiche, nach heutiger Anschauung nicht nur zur Fortbewegung von Menschen und Sachen bestimmt, sondern auch Ruhezonen sind, die Passanten zum Verweilen einladen und ihnen die Möglichkeit zum Austausch und Verbreiten von Informationen und Meinungen eröffnen sollen. Demgemäß sind Fußgängerzonen als ein allgemein zugängliches Forum der Kontaktaufnahme und Kommunikation zu betrachten. […] Daraus folgt: Nicht nur der mündliche Austausch bzw. die mündliche Verbreitung von Informationen und Meinungen, sondern auch die freihändige Verteilung von Zeitungen, Handzetteln, Flugblättern oder Tonträgern mit solchen Inhalten sind grundsätzlich dem jedermann erlaubnisfrei gestatteten Gemeingebrauch zuzurechnen.“

Will man diesen Weg nicht gehen, so ist es auch möglich, den unbestimmten Rechtsbegriff des Gemeingebrauchs „grundrechtsoffen“ im Lichte der Verfassung auszulegen. Diesen Weg scheint das BVerfG in einem Kammerbeschluss im Hinblick auf Art. 5 GG zu gehen (Beschluß vom 18.10.1991 – 1 BvR 1377/91, NVwZ 1992, 53). Ähnlich könnte man vorliegend im Hinblick auf das Recht auf freie Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) argumentieren, denn das Werben für die eigenen Glaubensinhalte durch Verteilen kostenloser Koranexemplare ist sicherlich vom Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst.
Dies bedeutet freilich nicht, dass ein Einschreiten gegen die Salafisten in jedem Fall unmöglich wäre. Wenn etwa eine Straße vollständig blockiert wird, könnte eine ungenehmigte Sondernutzung vorliegen. Auch ist natürlich ein Einschreiten nach Polizei- und Ordnungsrecht möglich, wenn nicht mehr nur harmloses Material verteilt wird. Es muss dann eben im Einzelfall das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und/oder Ordnung geprüft werden. Nicht aber können solche Verteilaktionen pauschal unter einen Erlaubnisvorbehalt gestellt werden, sodass die freie Religionsausübung in das Ermessen einer Behörde gestellt würde.

26.04.2012/25 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2012-04-26 15:05:062012-04-26 15:05:06Verteilung kostenloser Koranexemplare durch Salafisten – Rechtliche Implikationen
Dr. Christoph Werkmeister

OVG Koblenz: Nutzungsuntersagung für NPD-Parteiheim

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Verwaltungsrecht

An dieser Stelle möchte ich nur kurz auf eine aktuelle Entscheidung des OVG Koblenz aufmerksam machen (Beschluss v. 17.02.2012, Az. 8 B 10078/12.OVG). In der Sache ging es um ein gegenüber einem NPD-Kreisverband erlassenes Nutzungsverbot wegen eines Gebäudes, das ohne Baugenehmigung als Parteiheim genutzt wurde. Der Beschluss an sich ist rechtlich sowie tatsächlich wenig brisant. Dennoch haben Sachverhalte, die Vorgänge mit Bezug zu rechts- oder linksextremen Parteien aufweisen, stets einen gewissen Einfluss auf eine Vielzahl von mündlichen Prüfungsgesprächen. In der letzten Zeit berichteten wir zudem sehr häufig über derartige Fälle. Aus diesem Grund sei zumindest für alle mündlichen Prüfungskandidaten die Lektüre der einschlägigen Pressemitteilung des OVG Koblenz (s. dazu hier) und auch der weiterführenden verwandten Artikel (s. dazu hier) wärmstens ans Herz gelegt.

26.02.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-02-26 11:14:252012-02-26 11:14:25OVG Koblenz: Nutzungsuntersagung für NPD-Parteiheim
Dr. Christoph Werkmeister

VG Karlsruhe zur Zulässigkeit von Fackeln bei einer Mahnwache

Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung

Das VG Karlsruhe entschied kürzlich über die Zulässigkeit versammlungsrechtlicher Auflagen der Stadt Pforzheim im Hinblick auf das Mitführen von Fackeln bei einer Mahnwache einer rechten Gruppierung (Az. 2 K 378/12). Ermächtigungsgrundlage für derlei Auflagen ist – abgesehen von den Bundesländern mit eigenen Versammlungsgesetzen – grundsätzlich § 15 Abs. 1 VersG. Hiernach können Auflagen erlassen werden, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. 
Die Stadt hatte das Verbot ausschließlich mit einer Verletzung der öffentlichen Ordnung begründet. Der Begriff der öffentlichen Ordnung wird nach dem BVerfG definiert als die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (vgl. BVerfGE 69, 315, 352). 
Die Versammlung sollte am 23.02.2012 stattfinden, wobei dieses Datum in Pforzheim den offiziellen Gedenktag an das Bombardement der Stadt darstellt.

Das VG führt aus, dass die angegriffene Auflage sich nicht auf eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung stützen lasse. Sei eine Versammlung – wie vorliegend – inhaltlich unterhalb der Strafbarkeitsschwelle nach dem StGB ausgerichtet, komme eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit nur dann in Betracht, wenn über ihren bloßen Inhalt hinaus Besonderheiten der gemeinschaftlichen Kundgabe und Erörterung bzw. besondere Begleitumstände der Demonstration gegeben seien. Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn die befürchtete Gefahr auf besonderen, beispielsweise provokativen oder aggressiven Begleitumständen beruhe, die einen Einschüchterungseffekt sowie ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugten.
Das bloße Mitführen von Fackeln verstoße nicht schon als solches gegen die öffentliche Ordnung, sondern erst dann, wenn diese als typische Symbole der Darstellung nationalsozialistischer Machtausübung in aggressiv-kämpferischer Weise eingesetzt würden.   Aufgrund der konkreten Gegebenheiten sei vorliegend nicht ersichtlich, dass der Antragsteller die Fackeln als typische Symbole der Darstellung nationalsozialistischer Machtausübung in aggressiv-kämpferischer Weise einsetzen werde und hierdurch ein Einschüchterungseffekt sowie ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft entstünden.
Die geplante Mahnwache finde nicht in der Innenstadt und damit im unmittelbaren Bereich der zeitgleich stattfindenden Lichterkette zum Gedenken der Bürger an den Jahrestag des Bombardement von Pforzheim, sondern in einiger Entfernung vom Stadtzentrum statt. Eine unmittelbare Konfrontation mit den im Zentrum dem Bombenangriff gedenkenden Bürgern sei nicht zu befürchten. Auch eine Berücksichtigung der Erfahrungen aus den vergangenen Jahren, in denen der Antragsteller stets Fackeln bei der stillen Mahnwache mitgeführt habe, lasse derzeit keinen Raum für die Annahme, dass durch die Verwendung von Fackeln nationalsozialistische Veranstaltungsrituale aufgegriffen würden, die bei der Bevölkerung Assoziationen an paramilitärische Aufmärsche hervorrufen könnten. 
Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung sei auch nicht unter dem  Aspekt des Symbolschutzes des 23. Februar erkennbar. Der 23. Februar besitze keinen unmittelbaren Bezug zu den NS-Verbrechen dergestalt, dass sich der angemeldeten Mahnwache des Antragstellers eine Provokation für die Menschen, die der Opfer des Nazi-Regimes gedenken, entnehmen ließe. Dabei werde nicht verkannt, dass der 23. Februar für die Bürger der Antragsgegnerin ein offizieller Gedenktag der Stadt sei, der dem friedlichen Gedenken an die Opfer des Bombenangriffs auf die Stadt Pforzheim diene, Quelle: Pressemitteilung des VG Karlsruhe).

20.02.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-02-20 15:50:582012-02-20 15:50:58VG Karlsruhe zur Zulässigkeit von Fackeln bei einer Mahnwache
Dr. Christoph Werkmeister

OVG Koblenz zu NPD-Gedenkmarsch in Trier

Öffentliches Recht, Rechtsprechung

Beck-aktuell berichtet über einen brisanten Beschluss des OVG Koblenz (Beschl. v. 27.01.2012, Az. 7 B 10102/12.OVG):

Von einer Demonstration, die eine unzweifelhaft dem rechtsextremen Spektrum angehörende Partei am 27.01.2012 durchführen wolle, gehe eine erhebliche Provokationswirkung aus. Sie beeinträchtige das sittliche Empfinden der Bürger und gefährde deshalb die öffentliche Ordnung. Diese Gefahr ergebe sich aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung, nämlich einer Demonstration von Rechtsextremisten am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und am internationalen Holocaust-Gedenktag.

Das Urteil als solches ist weniger examensrelevant. Es ruft allerdings erneut all diejenigen examensrelevanten Problemkreise in unser Gedächtnis, die im Zusammenhang mit extremistischen Parteien stehen. Gerade mündliche Prüfungsgespräche werden oftmals im Lichte solcher Entscheidungen und den zugehörigen Assoziationen gestaltet. Hingewiesen sei aus diesem Grund auf die folgenden examensrelevanten Problemkreise.

30.01.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-01-30 20:26:562012-01-30 20:26:56OVG Koblenz zu NPD-Gedenkmarsch in Trier
Dr. Christoph Werkmeister

Montagsmärsche und Proteste gegen Banken

Aktuelles, Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Focus-online berichtet über zunehmende Proteste gegen Großbanken. Der stellvertretender Vorsitzende der Partei DIE LINKE Klaus Ernst äußerte etwa sich dahingehend, dass er sich vorstellen könne, dass überall Initiativen entstehen und jeden Montag vor der örtlichen Filiale der Deutschen Bank oder der Commerzbank dafür demonstriert werde, dass die Banken an die Kette gelegt werden. Der Protest müsse im ganzen Land spürbar werden. Durch die Macht der Banken werde die Demokratie ausgehebelt.
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Solche Kundgebungen bieten für den Jurastudenten genügend Anlass, sich mit den Standardproblemen des Versammlungsrechts zu beschäftigen. Derartige Äußerungen von Politikern sorgen insbesondere im mündlichen Prüfungsgespräch für Anregungen der Prüfer. Neben den gängigen Problemen ist im Zuge neuer Technologien und sozialer Netzwerke fraglich, inwiefern die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG auch bei virtuellen Aufmärschen Anwendung finden kann. Zwei der Autoren von Juraexamen.info haben sich bereits im Rahmen eines Beitrags für die kostenfreie Online-Fachzeitschrift ZJS mit dieser Thematik beschäftigt. Es sei deshalb insbesondere auf die Ausführungen auf S. 226 des verlinkten Beitrags verwiesen.

17.10.2011/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2011-10-17 08:16:412011-10-17 08:16:41Montagsmärsche und Proteste gegen Banken
Dr. Christoph Werkmeister

Der Fall Thessa – Haftung für die Folgen einer ungewollten Facebook-Party / Party des Jahres

Deliktsrecht, Zivilrecht

Vor kurzem ereignete sich ein beinahe unvorstellbarer Sachverhalt in den Vorgärten des Hamburger Vororts Bramberg (siehe eine Aufnahme vor Ort hier oder auch hier).
Der Fall Thessa
Die fünfzehnjährige Schülerin Thessa (oder auch „Tessa“, das konnte ich leider nicht verifizieren, ich hoffe, mir sei verziehen) hatte bei Facebook ihre Geburtstagseinladung gepostet. Diese Einladung war, bedingt durch ein Versehen, als „öffentlich“ gekennzeichnet, d.h. die Einladung war für alle Facebooknutzer einsehbar. Mehr als 15.000 Partywütige aus ganz Deutschland hatten bei Facebook ihr kommen angekündigt. Als Thessa das Missgeschick bemerkte und sogar ihr Facebook-Profil löschte, hatte sich die „Party des Jahres“, wie die Schülerin sie nannte, bereits über Facebook hinaus verselbstständigt. In Blogs und auf verschiedensten Internetseiten und sozialen Netzwerken wurden die User dazu angehalten, Thessas Geburtstagsparty zu besuchen.
Es tauchten zum Zeitpunkt der angekündigten Feier tatsächlich über 1.000 Menschen auf, obwohl Thessas Party abgesagt wurde. Die Situation artete aus: Vermummte Partygäste pöbelten gegen die Polizei und stimmten Sprechchöre an. Blumenbeete wurden zertrampelt. Darüber hinaus flogen Bierflaschen durch die Luft und Feuerwerkskörper explodierten.  Im Laufe des Abends wurden Mülltonnen und sogar eine Gartenlaube angezündet. Auch einige Autos wurden leicht beschädigt.
Rechtliche Implikationen
In rechtlicher Hinsicht stellt sich nun für die Nachbarn von Thessas Familie die Frage, von wem sie Ihre Schäden ersetzt verlangen können. Selbstredend bestehen deliktische Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m den Schutzgesetzen aus dem StGB gegen die unmittelbaren Störer. Da sich eine Vielzahl der Randalierer nicht mehr ausmachen lässt, stellt sich darüber hinaus die weitaus interessantere Frage, ob Ansprüche der Nachbarn auch gegen Thessa oder ihre Eltern bestehen.
I. Ansprüche gegen Thessa
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB könnte demnach einem der betroffenen Nachbarn direkt gegen die fühnzehnjährige Thessa zustehen. Hierfür müssten die Tatbestandsmerkmale des § 823 Abs. 1 BGB erfüllt sein.
1. Rechtsgutsverletzung: Eine Rechtsgutsverletzung besteht vorliegend in dem beschädigten Eigentum der Nachbarn. Zusätzlich können bestimmte Nachbarn unter erhöhtem beweisrechtlichen Aufwand Gesundheitsschäden geltend machen, sofern der Lärm zu einem außerordentlichen Schlafentzug geführt hat.
2. Handlung: Als schadensbegründende deliktische Handlung von Thessa wäre hier das Einstellen der Party auf Facebook zu diskutieren.
3. Haftungsbegründende Kausalität: Bei diesem Punkt bestehen bereits ernsthafte Bedenken. Das Einstellen der Party auf Facebook war selbsverständlich äquivalent kausal (d.h. conditio sine qua non) für den eingetretenen Schaden. Hätte Thessa die Party nicht online angekündigt, wäre es nicht zu dem Ansturm an Partygästen und damit zu den Verwüstungen gekommen.
Fraglich ist jedoch, ob ein solcher Ausgang bereits vorhersehbar – also adäquat kausal war (zur Eingrenzung durch die adäquate Kausalität siehe BGHZ 41, 125; offengelassen in BGH 57, 27 f.). Grundsätzlich gilt, dass das Dazwischentreten eines Dritten für sich gesehen noch nicht dazu ausreicht, um die adäquate Kausalität zu verneinen. In diesem Fall müsste man entsprechend der allgemeinen Verkehrsanschauung bewerten, ob ein solcher Verlauf gänzlich außergewöhnlich und nicht zu erwarten war. Dies wäre im vorliegenden Fall wohl zu verneinen, da bei einer öffentlichen, an tausende von Menschen gerichteten Einladung damit zu rechnen ist, dass davon auch einige erscheinen werden.
Schließlich kann das Erfordernis der haftungsbegründenden Kausalität auch noch nach der Lehre des Schutzzwecks der Norm zu verneinen sein. Hiernach sind nur diejenigen Rechtsgutsverletzungen zurechenbar, die vom Schutz des § 823 Abs. 1 BGB erfasst sind. Beispielsweise ist ein Nervenschock, der aufgrund einer  Unfallmeldung über eine dem Geschädigten nicht nahestehende Person ergeht, dem Auslöser nicht zurechenbar. Ein solcher Schaden fällt vielmehr unter die Kategorie des allgemeinen Lebensrisikos. Im vorliegenden Fall würde eine solche Annahme aber wohl zu verneinen sein. Eine Massenparty mit über 1.000 Teilnehmern findet nicht ohne Auslöser statt und stellt damit kein allgemeines Lebensrisiko dar.  Die haftungsbegründende Kausalität ist damit zu bejahen.
4. Rechtswidrigkeit: Durch die Tatbestandsmäßigkeit ist die Rechtswidrigkeit bereits indiziert.
5. Verschulden: Ein Verschulden von Thessa könnte hier in Form von Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 1 BGB) vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn Thessa die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hätte. In diesem Kontext stellt sich somit die diskussionswürdige Frage, welche Verhaltensmaßstäbe beim Erstellen von Facebook-Einträgen zu erwarten sind.
Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass das Entstehen einer Massenparty, wie im Fall von Thessa zwar theoretisch möglich, aber dennoch eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Deshalb kann vom Facebook-Nutzer nicht erwartet werden, mit gehöriger Sorgfalt bei Partyeinladungen zu prüfen, ob diese als öffentlich oder privat gekennzeichnet wurde. Insofern lag beim Erstellen von Thessas Einladung (ohne eine sorgfältige Prüfung dessen Inhalts ) noch kein fahrlässiges Verhalten vor.
Ein anderer Anknüpfungspunkt für eine deliktische Handlung stellt allerdings die fehlende Überwachung einer solchen Einladung dar. Sobald Thessa bemerken konnte, dass die Facebook-Einladung „öffentlich“ war und eine Vielzahl an Menschen ihr Kommen ankündigten, musste sie den Status ändern. Eine solche Pflicht ergibt sich als Verkehrssicherungspflicht, die hier durch die Schaffung einer potentiellen Schadensquelle vorliegt. Da Thessa (soweit ich den Sachverhalt richtig erfassen konnte) aber sofort reagiert hat und innerhalb kürzester Zeit ihre Anmeldung zurück zog, dürfte sie dieser Verkehrssicherungspflicht nachgekommen sein.
Aus diesem Grund fehlt es an der Fahrlässigkeit von Thessas Verhalten, so dass ein Verschulden i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB nicht vorliegt.
6. Ergebnis: Thessa haftet den Nachbarn nicht aus § 823 Abs. 1 BGB.
(7. Haftungsausschluss:) Sofern man allerdings eine Haftung von Thessa bejaht hätte, wäre ein Ausschluss der Haftung nach § 828 Abs. 3 BGB noch zu diskutieren. Hiernach ist die Haftung von über siebenjährigen Minderjährigen ausgeschlossen, wenn die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht beim Minderjährigen fehlt. In diesem Fall würde man wohl argumentieren, dass ein Minderjähriger durchaus nachvollziehen kann, dass eine Einladung an eine extrem hohe Zahl an Teilnehmern eine Party von erheblichem Ausmaß und damit auch ein erhebliches Störerpotential entfalten kann. Die Einsichtsfähigkeit wäre dann im speziellen Einzelfall von Thessa zu evaluieren, wobei man diese wohl gut vertretbar bejahen könnte.
II. Haftung der Eltern von Thessa
Eine Haftung von Thessas Eltern kommt lediglich nach § 832 BGB in Betracht. Es handelt sich hierbei um eine Haftung für vermutetes eigenes Verschulden der Eltern. Die Eltern wären allerdings sehr wahrscheinlich in der Lage, die Haftung nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB auszuschließen, wenn sie ihrer Aufsichtspflicht genüge getan haben.
Von Eltern wird nicht erwartet, dass sie ihre Kinder rund um die Uhr überwachen. Auch in Bezug auf Internettätigkeiten der Kinder wird es als ausreichend angesehen, wenn die Eltern die Kinder grundsätzlich und generell über die Gefahrenpotentiale des Internets aufklären. Einem fünfzehnjährigen Kind die Nutzung des Internets oder Facebook zu verbieten, wäre eine unverhältnismäßige Maßnahme, die von den Aufsichtspflichten der Eltern auch nicht erfasst ist.
Eine Haftung der Eltern ist aus diesem Grund schwerlich zu begründen.
Folglich können die Nachbarn sich lediglich an die unmittelbaren Störer halten. Eine Haftung von Thessa oder ihren Eltern besteht (bei Annahme des oben geschilderten Sachverhalts) nicht.
Examensrelevanz
Da der Fall kurios, aktuell und rechtlich nicht unkompliziert ist, eignet er sich hervorragend für eine mündliche Prüfung. Auch in eine Klausur könnte der Fall in Zukunft Eingang finden. Die Probleme rund um die Kausalität und das Verschulden von Thessa können durchaus anders gelöst werden – wichtig ist lediglich, dass eine wohlbegründete Ansicht des Prüflings erkennbar ist.

04.06.2011/10 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2011-06-04 13:54:002011-06-04 13:54:00Der Fall Thessa – Haftung für die Folgen einer ungewollten Facebook-Party / Party des Jahres
Nicolas Hohn-Hein

BVerfG: Zweite-Reihe-Rechtsprechung bestätigt. Sitzblockade zudem „Versammlung“ nach Art. 8 I GG

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

In einer aktuellen Entscheidung (1 BvR 388/05 – Beschluss vom 7.03.2011) hat sich das BVerfG zur sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung und dem strafrechtlichen Gewaltbegriff geäußert. Außerdem geht es um die Reichweite des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 I GG.
Sachverhalt
K hatte zusammen mit 40 weiteren Personen im März 2004 an einer Demonstration gegen den bevorstehenden Irak-Krieg teilgenommen. Mittels einer Sitzblockade auf einer Straße, die zu einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt führte und vorwiegend von amerikanischem Militärpersonal benutzt wurde, sollte der Verkehr erheblich gestört werden. Dies war den Demonstranten auch gelungen. Durch die Blockade waren die ankommenden und auch darauffolgenden Fahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert worden, sodass sich ein Stau für einige Stunden gebildet hatte und es zu erheblichen Wartezeiten für die Betroffenen gekommen war. Erst nachdem die Polizei die Demonstranten nach mehrmaliger Aufforderung zum Verlassen der Fahrbahn zwangweise weggetragen hatte, konnte der Verkehr wieder normal fließen. In dem darauffolgenden Strafverfahren gegen die Teilnehmer der Sitzblockade wurde u.a. K wegen gemeinschaftlicher, vorsätzlicher Nötigung nach § 240 Abs.2 StGB in letzter Instanz vom Landgericht L rechtskräftig verurteilt.
Als Begründung wurde vom Gericht u.a. angeführt, die Demonstranten hätten die vor ihnen anhaltenden Fahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert und damit Gewalt ausgeübt. Außerdem habe die Blockade darauf abgezielt, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für deren politische Ziele zu erregen. Dies sei jedoch dann nicht zulässig, wenn dabei Zwangswirkungen auf Dritte ausgeübt werden. Jedenfalls hätten die Betroffenen (US-amerikanische Staatsbürger und Soldaten) gar keinen Einfluss auf Entscheidungen der politischen Führung gehabt.
K sieht sich in seinen Grundrechten aus Art. 103 Abs.2 GG und Art. 8 Abs.1 GG verletzt. Die Demonstration sei gerade ohne Gewaltanwendung vonstatten gegangen, da K und seine Mitstreiter lediglich auf dem Boden gesessen und gar nichts getan hätten. Zudem habe man gegen eine eventuelle deutsche Beteiligung am Irak-Krieg demonstriert. Dass es bei der Blockade zu Behinderungen bestimmter Personen gekommen sei, sei Sinn der Aktion und damit gewollt gewesen. Gemessen an dem verfolgten Zweck seien die entstandenen Behinderungen aus seiner Sicht völlig unerheblich gewesen. K erhebt deshalb Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Entscheidung des Landgerichts. Von der Zulässigkeit der Klage ist auszugehen.
Kleine Geschichte der sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BVerfG
Bei der Frage, ob gegen das Analogieverbot nach Art. 103 GG verstoßen wurde, indem die Sitzblockade als eine Anwendung von „Gewalt“ angesehen worden ist, verweist das BVerfG weitgehend auf die Entwicklung des Gewaltbegriffs und der sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung und stellt die wesentlichen Argumente dar. Die Entscheidung ist diesbezüglich zu Wiederholungszwecken sehr lesenswert. Im Folgenden sollen nur die wesentlichen Textstellen hervorgehoben werden.

Nach Art. 103 Abs. 2 GG darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen. Ausgeschlossen ist jede Auslegung einer Strafbestimmung, die den Inhalt der gesetzlichen Sanktionsnorm erweitert und damit Verhaltensweisen in die Strafbarkeit einbezieht, die die Tatbestandsmerkmale der Norm nach deren möglichem Wortsinn nicht erfüllen. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes zieht der richterlichen Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist. Da Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten verlangt, ist dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Vergangenheit mehrfach Gelegenheit, die Auslegung des in § 240 Abs. 1 StGB geregelten Gewaltbegriffs durch die Strafgerichte anhand von Art. 103 Abs. 2 GG zu überprüfen. Während das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 11. November 1986 infolge Stimmengleichheit den sogenannten „vergeistigten Gewaltbegriff“ im Ergebnis noch unbeanstandet ließ, gelangte es nach erneuter Überprüfung in seinem Beschluss vom 10. Januar 1995 zu der Auffassung, dass eine auf jegliche physische Zwangswirkung verzichtende Auslegung des § 240 Abs. 1 StGB mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist. Für die Konstellation einer Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße mit Demonstranten auf der einen und einem einzigen Fahrzeugführer auf der anderen Seite stellte es fest, dass eine das Tatbestandsmerkmal der Gewalt bejahende Auslegung die Wortlautgrenze des § 240 Abs. 1 StGB überschreitet, wenn das inkriminierte Verhalten des Demonstranten lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist.
In der Folge entwickelte der Bundesgerichtshof anlässlich von Sitzblockaden auf öffentlichen Straßen mit Demonstranten auf der einen und einem ersten Fahrzeugführer sowie einer Mehrzahl von sukzessive hinzukommenden Fahrzeugführern auf der anderen Seite die sogenannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs benutzt ein Demonstrant bei einer Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße den ersten aufgrund von psychischem Zwang anhaltenden Fahrzeugführer und sein Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines physischen Hindernisses für die nachfolgenden Fahrzeugführer. Diese vom zuerst angehaltenen Fahrzeug ausgehende physische Sperrwirkung für die nachfolgenden Fahrzeugführer sei den Demonstranten zurechenbar.
In seinem Beschluss vom 24. Oktober 2001 bekräftigte das Bundesverfassungsgericht seine in dem Beschluss vom 10. Januar 1995 angenommene Rechtsauffassung zu der Wortlautgrenze des Gewaltbegriffs. Dabei erkannte es eine Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB als mit Art. 103 Abs. 2 GG für vereinbar an, derzufolge das Abstellen von Fahrzeugen auf einer Bundesautobahn als Gewalt zu qualifizieren ist, weil dadurch aufgrund körperlicher Kraftentfaltung ein unüberwindliches Hindernis errichtet wird, das Zwangswirkung entfaltet. […]Die Zweite-Reihe-Rechtsprechung begegnet unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG jedenfalls mit Rücksicht auf § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB keinen Bedenken. Danach ergibt sich die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten gemäß § 240 Abs. 1 StGB im Ergebnis nicht aus deren unmittelbarer Täterschaft durch eigenhändige Gewaltanwendung, sondern aus mittelbarer Täterschaft durch die ihnen zurechenbare Gewaltanwendung des ersten Fahrzeugführers als Tatmittler gegenüber den nachfolgenden Fahrzeugführern. Diese Auslegung der strafbarkeitsbegründenden Tatbestandsmerkmale „Gewalt durch einen anderen“ sprengt nicht die Wortsinngrenze des Analogieverbots.

Auf den vorliegenden Fall bezogen, finden die aufgestellten Kriterien damit Anwendung. Die Sitzblockade hat zwar auf die in der ersten Reihe stehenden Fahrzeuge lediglich psychischen Zwang ausgeübt, indem deren Fahrzeugführer die eventuelle Verletzung der Demonstranten durch die Weiterfahrt nicht gewagt haben. Die darauffolgenden Fahrzeugführer sind dagegen Opfer einer Nötigung in mittelbarer Täterschaft geworden. Dass diejenigen in der ersten Reihe nach § 34 StGB gerechtfertig waren, steht der Annahme einer mittelbaren Täterschaft nach allgemeiner Auffassung nicht entgegen. Damit sei auch in dieser Hinsicht nicht gegen Art. 103 GG verstoßen worden.
Auch Sitzblockaden von Art. 8 I GG geschützt
Mit Blick auf eine jüngere Entscheidung zu „nonverbalem Protest“ (wir berichteten), stellt sich hier die Frage, ob eine Sitzblockade noch als Versammlung im Sinne von Art. 8 I GG einzustufen ist. Das Landgericht hatte dies noch abgelehnt. Das BVerfG hält den Schutzbereich auch bei Sitzblockaden für eröffnet.

Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist. Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung

Weit auszulegender, sachlicher Bezug
Das BverfG stellt klar, dass die Versammlungsfreiheit nicht deswegen eingeschränkt werden kann, weil die Versammlung nicht unmittelbar an dem Ort stattfindet, der einen engen räumlichen Bezug zu dem gewöhnlichen Aufenthalts- oder Arbeitsort der Entscheidungsträger hat oder sich unmittelbar gegen diese richtet. Es reicht insofern ein „weiter“ Sachbezug.

Schließlich hat das Landgericht mit verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Begründung den Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand und den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen verneint. Der Argumentation des Landgerichts, dass die unter Umständen betroffenen US-amerikanischen Staatsbürger und Soldaten die Irakpolitik der US-amerikanischen Regierung nicht beeinflussen könnten, so dass die Aktion von ihrem Kommunikationszweck her betrachtet ungeeignet gewesen sei, scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass ein derartiger Sachbezug nur dann besteht, wenn die Versammlung an Orten abgehalten wird, an denen sich die verantwortlichen Entscheidungsträger und Repräsentanten für die den Protest auslösenden Zustände oder Ereignisse aktuell aufhalten oder zumindest institutionell ihren Sitz haben. Eine derartige Begrenzung auf Versammlungen im näheren Umfeld von Entscheidungsträgern und Repräsentanten würde jedoch die Inanspruchnahme des Grundrechts der Versammlungsfreiheit mit unzumutbar hohen Hürden versehen und dem Recht der Veranstalter, grundsätzlich selbst über die ihm als symbolträchtig geeignet erscheinenden Orte zu bestimmen, nicht hinreichend Rechnung tragen. Überdies besteht vorliegend umso weniger Anlass an dem Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand der Aktion und den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen zu zweifeln, als sich unter den betroffenen Fahrzeugführern nicht nur US-amerikanische Staatsbürger, sondern auch Mitglieder der US-amerikanischen Streitkräfte befanden, die, wenn nicht in die unmittelbare Durchführung, so doch jedenfalls in die Organisation der kritisierten militärischen Intervention im Irak eingebunden waren.

Fazit
K war damit in seinem Grundrecht aus Art. 8 I GG verletzt. Gemessen an den behandelten Themen könnte die Entscheidung fast 1 zu 1 als Vorlage für eine Klausur dienen. Sowohl allgemeine Kenntnisse zur Prüfung einer Urteilsverfassungsbeschwerde und dem Versammlungsbegriff, als auch vertieftes Wissen bezüglich der klassischen Rechtsprechung zu Sitzblockaden kann so abgeprüft werden.

03.04.2011/1 Kommentar/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2011-04-03 12:29:092011-04-03 12:29:09BVerfG: Zweite-Reihe-Rechtsprechung bestätigt. Sitzblockade zudem „Versammlung“ nach Art. 8 I GG

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