OVG Münster: Glasverbot zum Karnevalsauftakt in Köln
Es ist der perfekte Fall fürs Examen, insbesondere für die mündliche Prüfung – bunter Hintergrund, Anbindung an die Lebenswelt der (zumindest Kölner) Examenskandidaten, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und mit (guten) Grundkenntnissen zu lösen: Das OVG Münster hat – wiedermal – auf Beschwerde (§ 146 VwGO) eine einstweilige Anordnung des VG Köln (v. 3.2.2010 – 20 L 88/10) aufgehoben, in der das VG Köln die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen das Verbot des Mitführens und Benutzens von Glasbehältnissen im Kölner Karneval angeordnet hatte (Beschluss v. 9.11.2010, Az. 5 B 1475/10). Für den Examensfall eignet sich das Ausgangsvorfahren vor dem VG Köln besser, so dass hier der Fall in der Einkleidung des Antrags auf aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) dargestellt wird.
Sachverhalt
Die Stadt Köln hat ein „Verbot des Mitführens und Benutzens von Glasbehältnissen im Kölner Karneval“ im Amtsblatt der Stadt Köln, Nr. 2, vom 13.01.2010, veröffentlicht. Das „Verbot“ ist mit Rechtsmittelbelehrung, Anordnung der sofortigen Vollziehung und Androhung von Zwangsmitteln verbunden. (Details dazu VG Urteil Rn. 3,8f.)
Gegen dieses „Verbot“ hat der Antragssteller Klage erhoben. Nun stellt er einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, weil er am 11.11.2010 unbeschwert Karneval feiern und dabei Bier aus Flaschen trinken möchte. Wird das Gericht dem Antrag stattgeben?
Lösung
A. Zulässigkeit
I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 Abs. 1 VwGO
(+) Begründung: Subordinationstheorie / § 14 Abs. 1 OBG als streitentscheidende Norm / Vorgehen gegen VA in Form von Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2 VwVfG NW)
II. Statthafte Antragsart
Abgrenzung einstweiliger Rechtsschutz gem. § 123 Abs. 5 VwGO:
§ 80 Abs. 5 VwGO für Herstellung der aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage
§ 123 Abs. 1 VwGO für alles andere
Vorliegend stellt das „Verbot“ einen Verwaltungsakt in Form der Allgemeinverfügung dar. Argumente: Äußere Form, insbesondere Rechtsschutbelehrung. Auch materiell Voraussetzungen des § 35 S. 2 VwVfG erfüllt. Es geht um die Regelung des Einzelfalls Karneval in der Kölner Innenstadt. Wegen dieser Ereignisbezogenheit und weil sich das Verbot nur an eine begrenzte, zum fraglichen Zeitpunkt in Köln anwesende Personengruppe richtet, ist es eine Allgemeinverfügung. Vgl. dazu das VG Köln (Rn. 8):
Dabei geht die Kammer davon aus, dass es sich bei dieser Maßnahme entsprechend der dort gewählten Bezeichnung um eine personenbezogene Allgemeinverfügung handelt, nämlich um einen Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet (§ 35 Satz 2 1. Alternative VwVfG) und nicht um eine ordnungsbehördliche Verordnung, welche Rechtsnormcharakter aufweist. Denn die angefochtene Maßnahme ist von ihrer Form her als Allgemeinverfügung erlassen worden (entsprechende Rechtsmittelbelehrung, Anordnung der sofortigen Vollziehung, Androhung von Zwangsmitteln) und soll auch in Bezug auf den jeweiligen Adressaten einen Einzelfall regeln (Benutzung und Mitführen von Glasbehältnissen durch Personen, die sich in bestimmten Bereichen zu bestimmten Zeiten aufhalten).
Deshalb kann der Antragssteller sein Rechtschutzziel erreichen, indem er die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anordnen lässt. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ist nicht eingetreten, weil nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung angeordnet wurde. Dann ist die Verfügung unwirksam bzw. nicht vollziehbar und er kann trinken. Somit ist hier Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 statthaft. (Alternativ: In der Hauptsache Anfechtungsklage usw.)
Ferner könnte der Antragssteller auch gegen die „Androhung von Zwangsmitteln“ vorgehen. Dagegen könnte zunächst sprechen, dass es dem Antragssteller ersichtlich in erster Linie darum geht, die Wirkungen des Verbotes für sich zu beseitigen. Andererseits jedoch ist anzunehmen, dass er möglichst umfänglich gegen alles vorgehen möchte, was sein Rechtschutzbegehren stützt. Dazu gehört auch die Androhung von Zwangsmitteln. Somit ist zu kären, welche Antragsart insofern statthaft ist. Die Rechtsprechung nimmt an, dass es sich um einen Verwaltungsakt handelt. Eine Meinung in der Literatur hält die Androhung dagegen lediglich für eine Wissenserklärung der Verwaltung. Für die Rechtsprechung spricht die Regelung des § 8 AG VwGO NRW. Auf dieser Grundlage ist hier ebenfalls ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, weil die Anfechtungsklage auch hier keine aufschiebende Wirkung hat, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 8 AG VwGO NRW (Vgl. VG Köln Rn. 5).
III. Antragsbefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO analog
Der Antragssteller ist auch antragsbefugt. Er hat unwidersprochen vorgetragen, zur fraglichen Zeit in Köln Bier aus Glasbehältnissen zu sich nehmen zu wollen. Dies wird ihm durch die Allgemeinverfügung verwehrt. Damit schränkt sie ihn zumindest in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein. Sie umfasst schlechthin das Recht zu tun und zu lassen, was man möchte, also auch die Wahl des Behältnisses umfasst, aus dem man sein Bier zu sich nimmt.
Auch die Androhung von Zwangsmitteln ist die Vorstufe für einen möglichen Eingriff in die Rechte des Antragsstellers und damit ist er auch insofern antragsbefugt. Durch die Androhung wird die konkrete Möglichkeit geschaffen, gegen ihn Zwang auszuüben. Ferner lässt sie sich auch selbst als Eingriff im engeren Sinne betrachten, da ihm eine verfahrensmäßige Absicherung seiner Rechte genommen wird.
IV. Sonstiges
Antragsgegner ist der Oberbürgermeister der Stadt Köln § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO analog i.V.m. § 5 Abs. 2 S. 1 AG VwGO. Ein Rechtschutzbedürfnis besteht. Die Sache ist in der Hauptsache bereits anhängig, sie hat aber keine aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 1 VwGO.
B. Objektive Antragshäufung § 44 VwGO analog
Es sind zwei Anträge: Der gegen das Verbot und der gegen die Androhung von Zwangsmitteln.
C. Begründetheit
Der Antrag gegen das Glasverbot könnte schon insofern begründet sein, als die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig sein könnte. Dafür bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Ferner sind die Anträge begründet, wenn das öffentliche Vollziehungs- und das private Aussetzungsinteresse überwiegt. Das private Aussetzungsinteresse überwiegt das öffentliche Vollziehungsinteresse, wenn eine summarische Prüfung der Hauptsache ergibt, dass die sofort vollziehbare Verfügung offensichtlich rechtswidrig ist. An der Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungaktes besteht kein öffentliches Interesse (vgl. VG Köln Rn. 6).
[Hinweis: Auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann für sich genommen rechtswidrig sein. Selbst wenn der VA in der Hauptsache offensichtlich rechtmäßig ist, kann deshalb die Anordnung aufgehoben werden. Trotzdem ist dann der vorliegende Antrag nach h.M. nicht begründet: Ist nur die Anordnung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO unwirksam, ordnet das Gericht nicht die aufschiebende Wirkung an, sondern hebt nur die Anordnung auf. Dann ist es möglich, dass die Behörde eine weitere Anordnung erlässt. Dem Bürger ist also nur bedingt geholfen.)
I.Aussichten in der Hauptsache: Rechtmäßigkeit des Glasverbotes
1) EGL
§ 14 Abs. 1 OBG NW
2) Formelle Rechtmäßigkeit
VG Köln (Rn. 9):
Formelle Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung bestehen allerdings nicht. Insbesondere ist sie durch die Veröffentlichung im Amtsblatt der Stadt Köln, Nr. 2, vom 13.01.2010 gemäß § 41 Abs. 3 und 4 VwVfG ordnungsgemäß bekanntgegeben worden. Soweit in der Inhaltsangabe der Veröffentlichung von „öffentlicher Zustellung“ anstatt Bekanntmachung die Rede ist, ist dies unschädlich, da sich aus Ziffer 6 der Verfügung mit hinreichender Deutlichkeit der Bekanntgabewille nach § 41 Abs. 3 und 4 VwVfG ergibt und die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung nach § 10 Abs. 1 LZG NRW zudem offenkundig nicht vorliegen.
3) Materielle Rechtmäßigkeit
a) Vorliegen einer konkreten Gefahr (§ 14 Abs. 1 OBG)
Allgemein: Gefahr ist eine Lage, die bei ungehindertem Ablauf des Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führen wird. Hat sich die Gefahr bereits zu einem Schaden entwickelt, so ist es Aufgabe der Gefahrenabwehr, die Fortdauer der eingetretenen Störung zu unterbinden und weitere Störungen abzuwehren. (VG Köln Rn. 11)
Im Ergebnis vom VG Köln verneint (Rn. 12ff, Hervorhebungen vom Verfasser):
„Der klassische Gefahrenbegriff ist dadurch gekennzeichnet, dass „aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden“. Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein „Besorgnispotenzial“. Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bietet keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu begegnen, […]
Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Das trifft sowohl für die „konkrete“ Gefahr zu, die zu Abwehrmaßnahmen im Einzelfall berechtigt, als auch für die ordnungsbehördlichen Verordnungen zugrunde liegende „abstrakte“ Gefahr. Die abstrakte Gefahr unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose bzw. durch die Betrachtungsweise: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen, was wiederum zur Folge hat, dass auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall – anders als bei der konkreten Gefahr – verzichtet werden kann. Hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit muss differenziert werden je nachdem, welches Schutzgut auf dem Spiel steht. Ist der möglicherweise eintretende Schaden sehr groß, dann können an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nur entsprechend geringe Anforderungen gestellt werden. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu einer hinreichend abgesicherten Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine Gefahr, sondern – allenfalls – eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden dann Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben, vgl. BVerwG, Urteil vom 26.06.1970 – IV C 99.67 – DÖV 1070, 713, 715; Urteile vom 28.06.2004 – 6 C 21/03 – Juris, vom 03.07.2002 – 6 CN 8/01 – BverwGE 116, 358 sowie Urteil vom 19. Dezember 1985 – 7 C 65.82 – BVerwGE 72, 300; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.07.2009 – 1 S 2200/08 Juris.
Auf der Grundlage des vorstehend dargelegten Gefahrenbegriffs kann die Kammer gegenwärtig nicht feststellen, dass allein durch das durch die Allgemeinverfügung untersagte Mitführen und die Benutzung von Glasbehältnissen in den räumlich und zeitlich definierten Grenzen die Gefahrenschwelle bereits überschritten wird. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass es in der Vergangenheit im Kölner Straßenkarneval zu den in der Allgemeinverfügung beschriebenen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dadurch gekommen ist, dass Glasbehältnisse entgegen § 5 Abs. 1 der Kölner Straßenordnung vom 01.04.2005 (KStO) nicht ordnungsgemäß entsorgt wurden bzw. es in Verbindung mit Alkoholkonsum zu Störungen im Sinne des § 12 lit. c) KStO gekommen ist. Ebenso wenig verkennt die Kammer, dass nicht ordnungsgemäß entsorgte Glasbehältnisse und entstehender Glasbruch zu Stolperfallen werden, Verletzungen verursachen, bei körperlichen Auseinandersetzungen als gefährliche Waffe eingesetzt und zu einer Behinderung von Einsatzkräften etwa durch Reifenschäden führen können.
Es liegt aber offen zu Tage und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig, dass das Mitführen und die Benutzung von Glasbehältnissen für sich genommen noch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt. Eine Gefahr entsteht nur dann und soweit zusätzliche Verursachungsbeiträge hinzukommen. So muss als weiterer Verursachungsbeitrag stets mindestens hinzukommen, dass die mitgeführten Glasbehältnisse ordnungswidrig entsorgt werden. Selbst eine ordnungswidrige Entsorgung, die im Übrigen in der Kölner Straßenordnung bereits bußgeldbewehrt ist, führt aber ohne das Hinzutreten weiterer Umstände noch nicht zu einer konkreten Verletzungsgefahr oder Behinderung von Einsatzkräften. Erforderlich ist zusätzlich in der Regel der Eintritt von Glasbruch oder sogar – im Falle der missbräuchlichen Verwendung als Schlagwaffe oder Wurfgeschoss – ein bewusster Willensentschluss eines Einzelnen zur Begehung von Straftaten. Angesichts der Vielschichtigkeit der denkbaren maßgeblichen Kausalzusammenhänge verbietet es sich nach Auffassung der Kammer, ordnungsrechtliche Maßnahmen bereits an ein objektiv noch nicht gefahrbegründendes Handeln anzuknüpfen. [Anmerkung: Hier also Theorie der
[In Rn. 17 folgt dann eine genaue Schilderung der Umstände im Kölner Karneval. Für jeden, der es nicht selbst miterlebt hat, durchaus lesenswert.]
Das OVG Münster (Rn. 7ff.) bejaht dagegen eine Gefahr:
Zwar wird im Allgemeinen durch das Mitführen und Benutzen von Glasbehältnissen die Schwelle zur konkreten Gefahr im Sinne von § 14 OBG NRW nicht überschritten. Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann.
Nach den vom Antragsgegner umfangreich dargestellten Erfahrungen anlässlich des Straßenkarnevals in den vergangenen Jahren dürfte jedoch seine Annahme nicht zu beanstanden sein, Glasbehältnisse, die von Feiernden mitgeführt würden, führten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch zu Beginn der aktuellen Karnevalssession am 11. November 2010 zu einer Störung der öffentlichen Sicherheit.
Eine ordnungsrechtlich relevante Störung tritt bereits durch die ordnungswidrige Entsorgung von Glasflaschen im öffentlichen Straßenraum ein und nicht erst durch hiervon ausgehende Verletzungen Dritter oder die Verwendung von Flaschen als Waffen im Rahmen gewaltsamer Auseinandersetzungen. Die in früheren Jahren jeweils im Straßenraum festzustellenden unüberschaubaren Mengen von ordnungswidrig entsorgten Glasflaschen und Scherben, die der Antragsgegner anschaulich als „Scherbenmeer“ bezeichnet und fotografisch dokumentiert hat, können unter den besonderen Umständen des L. Karnevals bei der gebotenen wertenden Betrachtung bereits als unmittelbare Folge des Mitführens von Getränkeflaschen aus Glas angesehen werden. Von einem bloßen Gefahrenverdacht kann keine Rede sein. Zur Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist jedenfalls nicht die Feststellung erforderlich, dass nahezu jedes Glasbehältnis im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Verbotsverfügung ordnungswidrig entsorgt wird. Auch kommt es nicht darauf an, ob die Berge von Glasflaschen und -scherben in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen sind. Die Fülle des teilweise knöchelhoch in den Straßenraum gelangenden Glases lässt sich nur noch schwer als Ergebnis zusätzlicher Verursachungsbeiträge einzelner Verhaltensstörer begreifen. Näher liegt die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit, nach der Getränkeflaschen, die von Feiernden im L. Straßenkarneval mitgeführt werden, letztlich das Scherbenmeer entstehen lassen und damit zum Eintritt eines Schadens für die öffentliche Sicherheit beitragen. Gründe für die Berechtigung einer derartigen besonderen Beurteilung der Verhältnisse im L. Straßenkarneval sind die große Zahl von mehreren zehntausend Feiernden auf relativ engem Raum, der überaus verbreitete Einfluss von Alkohol und die ausgelassene Stimmung der Narren. Diese Umstände führen erfahrungsgemäß verbreitet zu einem achtlosen Umgang mit Glasflaschen.
Im Ergebnis beruht das unterschiedliche Ergebnis auf der allgemeinen Frage, wie früh eine Gefahr i.S.d. § 14 Abs. 1 OBG entsteht. Während das VG Köln eher im Sinne der Theorie der unmittelbaren Verursachung erst die Handlungen als ordnungsrechtlich fassbar sieht, die das Umschlagen einer Situation in eine Gefahr bewirken, ist das OVG Münster großzügiger. Es stellt im Rahmen einer wertenden Betrachtung darauf ab, dass die Situation, auch wenn das Tragen von Flaschen selbst keine Gefahr ist, zwangsläufig zu einer solchen führt. Da das Wegwerfen von Flaschen selbst nicht verhindert werden kann, darf das Ordnungsrecht früher eingreifen – nämlich dort, wo es noch etwas bewirken kann und bereits die Mitnahme verbieten.
b) Störerverantwortlichkeit (§§ 17ff. OBG)
VG Köln hat auch hier Bedenken. Es stellt auf die Heranziehung der Feiernden als Nichtstörer nach § 19 OBG ab und sieht dessen Voraussetzungen als nicht erfüllt an:
In der Allgemeinverfügung selbst heißt es hierzu: „Es gilt eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwenden. Maßnahmen gegen die Verantwortlichen, die durch das Fallen- oder Stehenlassen bzw. Einsatz ihrer Flaschen und Gläser als Wurf- oder Schlagwerkzeug in einer Auseinandersetzung Verletzungsgefahren verursachen, sind nicht wirksam möglich. Maßnahmen gegen andere als die sich in den bezeichneten Arealen aufhältigen Personen versprechen keinen gleich wirksamen Erfolg. Ein Vorgehen lediglich gegen einzelne Störer bietet keinen ausreichenden Schutz bei der Masse an feiernden Karnevalisten.“ Nach diesen Ausführungen handelt es sich offenbar um eine Heranziehung der von der Allgemeinverfügung betroffenen Personen als Nichtstörer nach § 19 OBG NRW. Die dort genannten engen Voraussetzungen liegen allerdings zur Überzeugung der Kammer nicht vor. Fehlt es nach den obigen Darlegungen bereits an einer konkreten Gefahr durch das untersagte Tun, so fehlt es erst recht an der in § 19 OBG geforderten gegenwärtigen erheblichen Gefahr. Zudem fehlen aber sowohl in der Allgemeinverfügung als auch in der Beschlussvorlage des Rates vom 27.11.2009 nebst Anlagen tragfähige Aussagen dazu, aus welchen Gründen Maßnahmen gegen die nach §§ 17 oder 18 OBG NRW vorrangig heranzuziehenden Verhaltens- bzw. Zustandsstörer nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen. So fehlen etwa jegliche Angaben dazu, ob überhaupt und gegebenenfalls in welchem Umfang in der Vergangenheit versucht wurde, Verstöße gegen §§ 5 bzw. 12 KStO zu ahnden. Es ist zwar naheliegend, dass die Überwachung und Ahndung von Verstößen gegen §§ 5 und 12 KStO im Rahmen einer Massenveranstaltung wie dem Kölner Karneval mit größeren Schwierigkeiten verbunden ist als die Überwachung des durch die Allgemeinverfügung angeordneten Verbots. Es ist jedoch ein allgemeiner Grundsatz des Polizei- und Ordnungsrechts, dass Verfügungen nicht lediglich zur Erleichterung polizeilicher bzw. ordnungsrechtlicher Aufsicht dienen dürfen,
Das OVG Münster hat auch insofern weniger Bedenken. Es stellt auf § 18 Abs. 1 OBG (Zustandsstörer) ab.
Bei dieser Ausgangslage dürfte der Antragsgegner berechtigt sein, schon das Einbringen von Glasbehältnissen in bestimmte Bereiche der L. Innenstadt, die sich zum Sessionsauftakt am 11. November als Hauptanziehungspunkte erwiesen haben, während der Feierlichkeiten mit ordnungsrechtlichen Mitteln zu unterbinden. Bei summarischer Prüfung spricht auch viel dafür, dass der Antragsgegner all diejenigen als Störer in Anspruch nehmen darf, die die tatsächliche Verfügungsgewalt über gefahrbringende Glasbehältnisse innehaben. Schließlich bestätigen die Erfahrungen des Antragsgegners mit einem vergleichbaren Glasverbot anlässlich der letzten Karnevalssession, dass die von Glasflaschen ausgehende Gefahrenlage auf diese Weise hinreichend wirksam bekämpft werden kann. Ausweislich des Erfahrungsberichts des Antragsgegners zur Umsetzung des Konzepts an den Karnevalstagen im Winter 2009/10 waren die vom Glasverbot erfassten Innenstadtbereiche insgesamt so glas- und scherbenfrei wie schon lange nicht mehr. Diese Erkenntnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die L1. im letzten Winter nur eine geringe Reduzierung des spezifischen Abfallgewichts festgestellt hat. Der Antragsgegner hat dies plausibel dahingehend erläutert, dass die an den Kontrollstellen separat eingesammelten Glasflaschen anschließend versehentlich gemeinsam mit dem übrigen Müll verwogen und entsorgt worden sind.
4. Rechtsfolge: Ermessen
Keine Anhaltspunkt für Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Im Hinblick auf die möglichen Biertrinker geht es nur um eine Änderung des Behältnisses, was ein relativ kleiner Eingriff ist.
II. Die Androhung der Zwangsvollstreckung
VG Köln:
„Der Zwangsmittelandrohung in Ziffer 4 der Allgemeinverfügung ist aus den vorgenannten Gründen die Grundlage entzogen. Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass insoweit auch unabhängig von der Frage der Rechtswidrigkeit der Ziffern 1 bis 3 der Verfügung Bedenken gegen die Wirksamkeit bestehen, da es an der gemäß § 63 Abs. 6 Satz 1 VwVG NRW erforderlichen Zustellung fehlt“
Das OVG Münster hat sich dazu nicht geäußert. Das Problem der Zustellung bleibt allerdings. Hier könnte man evtl. auf § 63 Abs. 1 S. 5 VwVG NW verweisen (offengelassen von OVG Münster NVwZ-RR 2008, 294). Selbst dann ist das Vorliegen dessen Voraussetzungen problematisch; laut OVG Münster (NVwZ-RR 2008, 294) gilt § 63 Abs. 1 S. 5 VwVG NW in beiden Alternativen nur für Eilfälle und nicht für sonstige Umstände, die sich etwa aus der vorgeschriebenen Anwendung des Verwaltungszustellungsgesetzes NW ergeben. Auch ein öffentliche Bekanntgabe ändert daran nichts; anders als für eine Allgemeinverfügung ist für die Androhung die öffentliche Bekanntgabe gerade nicht vorgesehen. Im Ergebnis würde auch das OVG Münster die Zustellung wohl für nicht ordnungsgemäß halten, vgl. abermals NVwZ-RR 2008, 294. Dann ist der Verwaltungsakt wegen gänzlich fehlender Bekanntgabe wohl unwirksam (§ 41 Abs. 1 VwVfG), zumindest aber formell rechtswidrig.
III. Ergänzende Folgenabwägung?
[Kommt in der Klausur nicht vor, in der Wirklichkeit meistens, weil Unklarheiten im tatsächlichen Bereich bestehen. Vgl. OVG Münster Rn. 12: Wegen der rechtlichen Unsicherheiten, die nach der summarischen Rechtmäßigkeitsprüfung verbleiben, ist ergänzend eine allgemeine Folgenabwägung durchzuführen. Auch danach besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Durchsetzung des mit der streitigen Allgemeinverfügung angeordneten Glasverbots. Nach dem Erfahrungsbericht des Antragsgegners ist das die Verfügung flankierende Kontrollkonzept nicht von vornherein untauglich zur Bekämpfung des verbreiteten Glasbruchs beim L. Straßenkarneval. Gegenüber den zu bekämpfenden Gefahren wiegt die mit dem Verbot einhergehende Belastung für die Karnevalisten, Glasbehältnisse in abgegrenzten Bereichen der L. Innenstadt zu Zeiten besonderen Besucherandrangs weder mitführen noch benutzen zu dürfen, weniger schwer. Dies gilt vor allem mit Blick auf die vom Antragsgegner hervorgehobenen Alternativen, die auf dem Markt erhältlich sind (v. a. Plastikflaschen, Dosen, Pappbecher u. a.).]
Super Artikel, schöne Gegenüberstellung der unterschiedlichen Ansichten, klarer Aufbau.
Zwei kleine Fehler sind mir aufgefallen:
1.“Ferner sind die Anträge begründet, wenn das öffentliche Vollziehungs- und das private Aussetzungsinteresse überwiegt.“ ??
2. „[Anmerkung: Hier also Theorie der….“ Jaaa…? 😉
Hi Nico,
völlig richtig Deine Hinweise.
Zu 2. Dort wollte ich auf die Theorie der unmittelbaren Verursachung hinweisen. Das ist dann später aber etwas nach unten gerutscht, direkt über b) Störerverantwortlichkeit (§§ 17ff. OBG).
Freut mich, dass Dir der Artikel sonst gefallen hat!
Bis dann
Johannes
Hi!
Wirklich ein guter Artikel.
Allerdings hat sich das OVG Münster wohl entgegen den Ausführungen unter II. zu der Problematik der Zustellung geäußert und zwar schon in dem Beschluss zum 1. Verbot. Dort heißt es: „Hinsichtlich der Zwangsmittelandrohung fällt die Interessenabwägung dagegen zu Gunsten des Antragstellers aus. Insoweit bestehen aus den vom Verwaltungsgericht angeführten Gründen Bedenken gegen eine ordnungsgemäße Zustellung. Insbesondere ist zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 10 LZG NRW vorliegen. Es bleibt dem Antragsgegner jedoch unbenommen, etwaige Zwangsmittelandrohungen den jeweils Betroffenen vor Ort unmittelbar zuzustellen.“ Insbesondere der letzte Satz erscheint mir wichtig, da man hieraus gut eine praxisorientierte Frage in der mündlichen Prüfung bilden kann.
VG
Stephan
nsoweit bestehen aus den vom Verwaltungsgericht angeführten Gründen Bedenken gegen eine ordnungsgemäße Zustellung. Insbesondere ist zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 10 LZG NRW vorliegen. Es bleibt dem Antragsgegner jedoch unbenommen, etwaige Zwangsmittelandrohungen den jeweils Betroffenen vor Ort unmittelbar zuzustellen.
Stephan, meinst du also, dass es der Behörde nicht möglich war mittels Amtsblatt eine Zustellung der Allgemeinverfügung zu erwirken. Wie hätte die Behörde handeln müssen, um formelle rechtmäßig zuzustellen?
Antragsgegner ist nun die Stadt Köln.