BVerfG: Schweigende Zusammenkunft einer rechten Gruppe = Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG (+)
In einem Beschluss vom 10.12.2010 (1 BvR 1402/06) hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die in Art. 8 Abs. 1 GG verankerte Versammlungsfreiheit auch die non-verbale Meinungsäußerung schützt.
Sachverhalt
In dem zugrunde liegenden Fall hatte sich eine Gruppe aus der rechten Szene schweigend entlang einer angemeldeten Demonstration unter freiem Himmel mit dem Motto „Keine schweigenden Provinzen – Linke Freiräume schaffen“ postiert. Über Plakate, Flugblätter oder sonstige Hilfsmittel der Kommunikation verfügte sie nicht. Der Gruppe ging es darum gegangen, gegenüber den Teilnehmern der linken Demonstration „Gesicht zu zeigen“. Nachdem der Einsatzleiter der Polizeikräfte dreimal einen Platzverweis gegen die Gruppe ausgesprochen hatte, verließ diese den Ort. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer, ein Mitglied der Gruppe, nachträglich wegen fahrlässiger Teilnahme an einer unerlaubten Ansammlung gemäß § 113 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 des Brandenburgischen Polizeigesetzes (BbgPolG) zu einer Geldbuße. Das Amtsgericht qualifizierte die Zusammenkunft der Gruppe also als eine Ansammlung nach § 113 Abs. 1 OWiG und sah sie mithin nicht vom Grundrechtsschutz des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst. Die Zusammenkunft habe nicht der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gedient, sondern nur den Zweck verfolgt, die Teilnehmer der linken Demonstration durch bloße Anwesenheit zu provozieren, so das Amtsgericht. Die gegen das Urteil des Amtsgerichts erhobene Rechtsbeschwerde vor dem Oberlandesgericht blieb ohne Erfolg. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
BVerfG: Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG schützt auch die non-verbale Meinungsäußerung
Das BVerfG hat in seinem Beschluss – entgegen der Auffassung des Amtsgerichts – die Zusammenkunft der Gruppe als eine Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG qualifiziert.
Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>; BVerfGK 11, 102 <108>). Die Versammlungsfreiheit schützt Versammlungen und Aufzüge – im Unterschied zu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen – als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Dieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Daher gehören auch solche Zusammenkünfte dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 <342 f.>; 87, 399 <406>). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>).
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich nur bei kollektiver Unfriedlichkeit, mithin wenn sie im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen (vgl. BVerfGE 69, 315 <361>). Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <351>; BVerfGK 4, 154 <158>; 11, 102 <108>).
Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die Zusammenkunft inhaltlich auf das Versammlungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen war. Der Beschwerdeführer und die anderen Mitglieder der Gruppe wollten nach den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts mit der Zusammenkunft „Gesicht zeigen“ und sich gegen die Aussage des von der angemeldeten Demonstration ausgerufenen Mottos stellen. Die Anwesenheit der von auswärts angereisten Gruppe zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort war erkennbar geprägt von dem Willen der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Gruppe, die aufgrund der kurz geschorenen Haare und der szenetypischen Aufmachung vom objektiven Empfängerhorizont aus betrachtet als dem rechtsradikalen Spektrum angehörend identifizierbar war und als solche von den Polizeikräften auch identifiziert wurde, in zeitlicher und örtlicher Nähe zu der ausdrücklich linksgerichteten – der zweite Teil des Mottos lautete: „Linke Freiräume schaffen“ – Versammlung postierte, nämlich an einer Straße entlang der Demonstrationsroute außerhalb des Stadtkerns der Kleinstadt F., kurz bevor sich die angemeldete Demonstration in Bewegung setzte.
Die Versagung der Versammlungseigenschaft kann das Amtsgericht verfassungsrechtlich tragfähig nicht darauf stützen, dass nach dem Willen der Gruppe weder mit den Teilnehmern der angemeldeten Demonstration noch mit der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikation stattfinden sollte. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch non-verbal, durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden. Laut Sachverhalt wollte die Gruppe mit ihrer Zusammenkunft ein Gegenbild zu der von der angemeldeten Demonstration propagierten Lebenswirklichkeit entwerfen. Überdies lautete der erste Teil des Mottos der angemeldeten Demonstration „Keine schweigenden Provinzen“. Angesichts dieser Umstände hätte das Amtsgericht sich damit auseinandersetzen müssen, dass der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen der Gruppe hier naheliegenderweise eine eigenständige Aussage zukommen kann. Sofern sich der von der Gruppe geleistete Beitrag zu der öffentlichen Meinungsbildung darin erschöpfte, Ablehnung gegenüber dem von der angemeldeten Demonstration proklamierten Versammlungsmotto zu bekunden, wäre dies unschädlich, da es auf die Wertigkeit der geäußerten Meinung nicht ankommt.
Verfassungsrechtlich tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die – folglich auf der Grundlage der Feststellungen des Amtsgerichts als Gegendemonstration einzustufende – Zusammenkunft des Schutzes des Art. 8 GG wieder verlustig gegangen ist, sind der Entscheidung des Amtsgerichts nicht zu entnehmen. Insbesondere lässt eine eventuell notwendige, aber unterbliebene Anmeldung nicht den Grundrechtsschutz der Zusammenkunft entfallen. Feststellungen zu einer kollektiven Unfriedlichkeit der Zusammenkunft hat das Amtsgericht nicht getroffen.
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