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Schlagwortarchiv für: Staatsexamen

Monika Krizic

Grundlagen des Verbraucherwiderrufsrechts bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen

Aktuelles, Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Kaufrecht, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schuldrecht, Startseite, Uncategorized, Verbraucherschutzrecht, Verschiedenes, Werkvertragsrecht, Zivilrecht

Gerade die besonders große Praxisrelevanz des Widerrufsrechts macht es auch nicht selten zum Inhalt von (Examens-)Klausuren. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über das Widerrufsrecht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen schaffen. Dabei widmet sich unsere Gastautorin Monika Krizic insbesondere dessen gesetzlicher Systematik sowie vereinzelter Probleme. Die Autorin studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn.

I. Grundlegendes

Das Ausüben des Widerrufsrechts führt zum Erlöschen des Schuldverhältnisses. Hinsichtlich seiner Rechtsfolgen entspricht das Widerrufsrecht am ehesten dem Rücktritt. Dies verwundert auch nicht, wenn berücksichtigt wird, dass das Widerrufsrecht früher durch den Gesetzgeber als besonderes Rücktrittsrecht kategorisiert wurde (Völker, ZJS 2014, 602). Gleichwohl zeichnet sich das Widerrufsrecht auch dadurch aus, dass es keines besonderen Rechtsgrundes für die Vertragsaufhebung bedarf. So muss nicht etwa eine Schlecht- oder Nichtleistung vorliegen.  Vielmehr genügt im Ausgangspunkt die Eigenschaft als Verbraucher (Stürner, Europäisches Vertragsrecht, 2021, § 14 Rn. 1). Teleologisch dient das Widerrufsrecht dem Schutz des Verbrauchers in bestimmten Vertragssituationen, in denen er sich in einer unterlegenen Stellung befindet (Stürmer, JURA 2016, 26).

II. Tatbestandsvoraussetzungen

1. Widerrufsrecht

Gem. § 355 Abs. 1 S. 1 BGB muss ein Widerrufsrecht durch Gesetz eingeräumt werden. Für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge wird dies ausdrücklich in § 312g Abs. 1 BGB normiert. Daneben sieht das Gesetz u.a. auch bei Verbraucherdarlehensverträgen (§ 495 Abs. 1 BGB), unentgeltlichen Darlehensverträgen (§ 514 Abs. 2 S. 1 BGB) sowie Verbraucherbauverträgen (§ 650l S. 1 BGB) ein Widerrufsrecht vor.

a) Außergeschäftsraumvertrag

Die situativen Voraussetzungen für einen Vertrag, der außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen wurde, werden in § 312b Abs. 1 S. 1 BGB geregelt. Maßgebliches Charakteristikum aller vier Nummern ist der Ort des Vertragsschlusses bzw. der Ort der Abgabe des Angebots (Weiler, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 35 Rn. 9).

aa) Vertragsschluss an einem Ort, der kein Geschäftsraum ist

Geschäftsräume sind nach § 312b Abs. 2 S. 1 BGB unbewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit dauerhaft ausübt und bewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit für gewöhnlich ausübt. Erfasst von Nr. 1 sind u.a. Vertragsschlüsse auf offener Straße, in der Privatwohnung oder in den Geschäftsräumen eines komplett unbeteiligten Unternehmens (Weiler, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 35 Rn. 11).

Fall 1 (BGH Urt. v. 6.7.2023 – VII ZR 151/22)

A ist Eigentümer eines Hauses und beauftragt B für Handwerksarbeiten an den Dachrinnen. B möchte die Arbeiten bei A beginnen und baut dafür auch ein Gerüst auf. Während der Ausführung der Arbeiten bemerkt B zusätzlich, dass der Wandanschluss des Dachs defekt ist. Noch vor Ort teilt B dem A den zusätzlichen Arbeitsaufwand samt Größenordnung der Vergütung mit. Einen Tag später erklärt sich A mit den zusätzlichen Arbeiten einverstanden. Nach mangelfreier Erbringung der Arbeiten, möchte A den Vertrag widerrufen.

Fraglich war hier vor allen Dingen, ob es sich um einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag i.S.v. § 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB handelt. In örtlicher Hinsicht fanden Angebot und Annahme außerhalb der Geschäftsräume statt. Problematisch war indes die zeitliche Differenz zwischen den beiden Willenserklärungen. Ob auch solche Konstellationen unter § 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB fallen, musste der BGH durch Auslegung ermitteln.

Gegen eine solche Kategorisierung spricht in systematischer Hinsicht die bewusste Differenzierung des Gesetzgebers zwischen „Vertrag“ einerseits und „Angebot“ andererseits im Rahmen des § 312b Abs. 1 S. 1 BGB. Besonderes Augenmerk wurde aber auf Sinn und Zweck der Norm gelegt. Teleologisch soll der Verbraucher vor einer „Überremplungssituation“ geschützt werden. Diese besteht aber nicht, wenn der Verbraucher – wie in diesem Fall – eine Überlegzeit hatte. Dann ist er nicht mehr derart schutzwürdig (BGH Urt. v. 6.7.2023 – VII ZR 151/22, NJW 2023, 3082 Rn. 23, 24). Folglich wurde eine Subsumption unter § 312 b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens von Angebot und Annahme abgelehnt.

bb) Angebotsabgabe des Verbrauchers an einem Ort, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist

Die situativen Umstände müssen ähnlich denen des § 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB sein. Der teleologische Hintergrund dieser Nummer liegt darin begründet, dass das Angebot für den Verbraucher bindend ist und der Vertragsschluss nur noch vom Unternehmer abhängt (Weiler, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 35 Rn. 11).

cc) Vertragsschluss in den Geschäftsräumen des Unternehmers, wenn der Verbraucher unmittelbar zuvor außerhalb der Geschäftsräume persönlich und individuell angesprochen wurde

Auch hier ist ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Ansprechen und dem Vertragsschluss erforderlich, da nur so ein Überrumplungseffekt auf Seiten des Verbrauchers anzunehmen ist (Weiler, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 35 Rn. 11).

dd) Organisierter Ausflug zur Bewerbung von Waren und zur Schließung von Verträgen

Bei Nr. 4 handelt es sich um sog. Kaffeefahrten, bei denen der Unternehmer den Ausflug bewusst als Kaufveranstaltung gestaltet (Schärtl, JuS 2014, 577, 579).

b) Fernabsatzvertrag

Daneben normiert § 312g Abs. 1 BGB auch für Fernabsatzverträge ein gesetzliches Widerrufsrecht. Die Definition dieser Vertragsart findet sich in § 312c Abs. 1 BGB. Sinn und Zweck dieses Widerrufsrechts ist es dem Informationsdefizit des Verbrauchers hinreichend Rechnung zu tragen. Dieses ergibt sich daraus, dass der Verbraucher bei der Verwendung von Fernkommunikationsmitteln nicht die Möglichkeit hat, die Ware oder Dienstleistung in Augenschein zu nehmen (Stürner, Europäisches Vertragsrecht, 2021, § 14 Rn. 3). Diese Ratio ist aber nicht tangiert, wenn Vertragsverhandlungen vor Ort stattfinden, der eigentliche Vertragsschluss dann aber unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln zustande kommt (Weiler, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 35 Rn. 20).

2. Ausschluss des Widerrufsrechts

Im Vergleich zu anderen Gestaltungsrechten des BGB wie etwa dem Rücktritt (§ 323 BGB), erfordert das Widerrufsrecht – außer den besonderen Vertragsschlussumständen – keine weiteren, besonderen materiellen Voraussetzungen. Allerdings darf mit Blick auf die zahlreichen Ausschlusstatbestände des § 312g Abs. 2 BGB nicht angenommen werden, dass das Widerrufsrecht uneingeschränkt weit ist. Die Gründe für einen solchen Ausschlusstatbestand sind vielfältig. Zum einen stehen hygienische Erwägungen dahinter (§ 312g Abs. 2 Nr. 3 BGB) und zum anderen Fallgestaltungen, in denen eine Rückabwicklung des Vertrags für den Unternehmer besonders belastend ist, weil die Sache für ihn dann praktisch unbrauchbar wäre (Stürner, JURA  2016, 26, 28). Dies ist insbesondere der Fall bei schnell verderblichen Lebensmitteln, individuell gefertigten Waren oder Waren, die sich nach der Lieferung untrennbar mit anderen Gütern vermischen.

Fall 2 (BGH Urt. v. 20.10.2021 – I ZR 96/20)

B vertreibt Treppenlifte in unterschiedlichen Variationen. Zum einen besteht die Möglichkeit aus vorgefertigten Standardbauteilen eine gerade oder kurvenförmige Treppe zu errichten. Zum anderen kann aber auch ein individueller Kurventreppenlift mit individuell angefertigten Schienen errichtet werden. Zu Hause bei A, informiert B den A darüber. A wiederum entschließt sich für einen Kurventreppenlift mit individuell anzufertigenden Schienen. Einige Tage nach Vertragsschluss möchte A den Vertrag widerrufen.

Es lag ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag vor, sodass der Anwendungsbereich des Widerrufsrechts eröffnet war. Entscheidend Streitpunkt war aber ein etwaiger Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB. Demnach besteht ein Widerrufsrecht nicht bei Verträgen zur Lieferung von Waren, die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind.

Es müsste zunächst ein „Vertrag zur Lieferung von Waren vorliegen“. Lieferung i.d.S. meint die Besitzübertragung und Übereignung der Sache nach § 929 S. 1 BGB. Der Kauf- und Werklieferungsvertrag sind auf Lieferung gerichtet. Dienst- und Werkverträge sind hiervon jedoch nicht erfasst (Weiler, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2020, § 35 Rn. 16).

Zur Abgrenzung dieser Vertragstypen stellte der BGH auf den Schwerpunkt der Leistung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung ab. Bilde die mit dem Warenumsatz verbundene Übertragung von Eigentum und Besitz den Schwerpunkt, sei ein Kauf- oder ein Werklieferungsvertrag anzunehmen. Liege hingegen die Montage- oder Bauleistung im Vordergrund, handle es sich vielmehr um einen Werkvertrag (BGH Urt. v. 20.10.2021 – I ZR 96/20, NJW-RR 2022, 121 Rn. 22).

Im konkreten Fall wurde betont, dass für A als Kunden die individuelle Erstellung eines Treppenlifts, der sich seinen Wohnverhältnissen anpasst, im Vordergrund stand. Demgegenüber nahm die Übereignung eine untergeordnete Rolle ein. Vor diesem Hintergrund wurde ein Werkvertrag angenommen und damit ein „Vertrag zur Lieferung von Waren“ i.S.v. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB abgelehnt.

Fall 3 (BGH Urt. v. 3.7.2019 – VIII ZR 194/16)

B vertreibt als Onlinehändler Matratzen, welche A für private Zwecke über die Website des B bestellt. In der Rechnung befand sich eine „Widerrufsbelehrung für Verbraucher“, welche folgende Passage enthielt: „Ihr Widerrufsrecht erlischt in folgenden Fällen vorzeitig: ‚Bei Verträgen zur Lieferung versiegelter Waren, die aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder der Hygiene nicht zur Rückgabe geeignet sind, wenn ihre Versiegelung nach der Lieferung entfernt wurde.‘“ In der Folgezeit wird die Matratze an A geliefert, welcher die Schutzfolie entfernt. Danach entschließt sich A jedoch den Kaufvertrag zu widerrufen.

Hier stand vor allen Dingen die Frage im Raum, ob die Matratze aufgrund der Entfernung der Schutzfolie „aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder der Hygiene nicht zur Rückgabe geeignet“ war i.S.v. § 312g Abs. 2 Nr. 3 BGB. Dabei wurde zunächst betont, dass die Ausnahmevorschrift zu einem grundsätzlich gegebenen Widerrufsrecht eng auszulegen ist. Entscheidend sei vor allen Dingen der Aspekt, ob sich die Ware noch mit verhältnismäßigem Aufwand wieder „verkehrsfähig“ machen lasse (BGH Urt. v. 3.7.2019 – VIII ZR 194/16, NJW 2019, 2842 Rn. 19). Hinsichtlich Matratzen wurde ausgeführt, dass auch nach der Rücksendung eine Reinigung oder Desinfektion durch den Unternehmer möglich sei, da gerade auch ein separater Markt für die Reinigung dieser bestehe (BGH Urt. v. 3.7.2019 – VIII ZR 194/16, NJW 2019, 2842 Rn. 20). Vor diesem Hintergrund wurde die Einschlägigkeit des Ausnahmetatbestands verneint.

3. Widerrufserklärung
a) Erklärung des Widerrufs

Gem. § 355 Abs. 1 S. 2 BGB erfolgt der Widerruf durch die Widerrufserklärung. Wie bei anderen Gestaltungsrechten auch, muss der Begriff „Widerruf“ nicht ausdrücklich erwähnt werden, vielmehr reicht es aus, wenn sich dies gem. §§ 133, 157 BGB aus den Umständen ergibt. Ein bloßes Rücksenden der Ware wird dem aber nicht gerecht, da § 355 Abs, 1 S. 3 BGB eine Erklärung verlangt. Bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen besteht für den Unternehmer zusätzlich noch die Möglichkeit ein Muster-Widerrufsformular zur Verfügung zu stellen, § 356 Abs. 1 S.1 BGB. Dies gestaltet die Rückabwicklung des Vertrags für beide Parteien einfacher: Der Unternehmer kann den Vertrag unmittelbar dem Kundenkonto zuordnen und dem Verbraucher wird aufgrund von § 356 Abs. 1 S. 3 BGB unverzüglich der Zugang des Widerrufs bestätigt (Stürner, JURA 2016, 26, 31).

b) Frist

Grundsätzlich beträgt die Widerrufsfrist für alle Verträge 14 Tage, § 355 Abs. 2 S. 1 BGB. Ihr Beginn wiederum richtet sich nach den Besonderheiten des jeweiligen Vertrags. Bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen sind die besonderen Regelungen des § 356 BGB zu beachten. Besonders praxisrelevant ist dabei § 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. a BGB, wonach bei einem Verbrauchsgüterkauf (§ 474 Abs. 1 BGB) die Widerrufsfrist erst mit Erhalt der Ware beginnt.

Von besonderer Relevanz im Rahmen dieses Tatbestandsmerkmals ist die Widerrufsbelehrung. Denn bleibt diese aus oder ist sie fehlerhaft, so hat dies gravierende Konsequenzen für den Unternehmer. So endet das Widerrufsrecht gem. § 356 Abs. 3 S. 2 BGB spätestens nach zwölf Monaten und 14 Tage nach den in § 356 Abs. 2 BGB jeweils genannten Zeitpunkten.

Jedoch ist die Wertung des Art. 10 Abs. 2 der Verbraucherrechte-Richtlinie (RL 2011/83/EU) zu beachten. Demnach gilt wieder die Widerrufsfrist von 14 Tagen, wenn der Unternehmer den Verbraucher nachträglich belehrt hat. Zwar wird dies nicht explizit in § 356 Abs. 3 BGB erwähnt, muss sich jedoch aus einer richtlinienkonformen Auslegung ergeben (Koch, JZ 2014, 758, 761).

4. Rechtsfolgen

Mit Ausüben des Widerrufsrechts wandelt sich das primäre Schuldverhältnis in ein Rückgewährschuldverhältnis um. Die allgemeine Rechtsfolge beinhaltet § 355 Abs. 3 S. 1 BGB, wonach im Falle des Widerrufs die empfangenen Leistungen unverzüglich zurückzugewähren sind. Besondere Regelungen für den Außergeschäftsraum- und den Fernabsatzvertrag finden sich wiederum in §§ 357, 357a BGB. Besonders erwähnenswert ist hierbei zum einen das Zurückbehaltungsrecht des Unternehmers nach § 357 Abs. 4 S. 1 BGB. Dadurch dass dieses Zurückbehaltungsrecht bereits erlischt, wenn der Verbraucher nur den Nachweis der Rücksendung erbracht hat, kommt es zu keiner übermäßigen Belastung des Verbrauchers (Koch, JZ 2014, 758, 762). Darüber hinaus kann dem Unternehmer für seine Ware ein Wertersatzanspruch in zwei Fällen zustehen. Zum einen ist dies gem. § 357a Abs. 1 Nr. 1 BGB der Fall, wenn der Wertverlust auf einen Umgang mit der Ware zurückzuführen ist, der zur Prüfung der Beschaffenheit, der Eigenschaft und der Funktionsweise der Ware nicht notwendig war. In teleologischer Hinsicht wird hier dem Interesse des Unternehmers an einem neuen Verkauf begegnet, wobei er aber auch die Beweislast dafür trägt (Koch, JZ 2014, 758, 753). Daneben hat der Verbraucher auch dann Wertersatz zu leisten, wenn eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung stattgefunden hat, wobei dieser Anspruch verschuldensunabhängig ist.

III. Zusammenfassung

Ein Überblick über das Widerrufsrecht zeigt, dass der Gesetzgeber dies in vielerlei Hinsicht verbrauchergünstig geregelt hat. Gleichwohl ist auch zu beachten, dass die typisierenden und abstrakten Regelungen stets versuchen einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Verbrauchern und Unternehmern zu erzielen.

14.10.2024/1 Kommentar/von Monika Krizic
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Monika Krizic https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Monika Krizic2024-10-14 12:53:222024-11-27 18:18:52Grundlagen des Verbraucherwiderrufsrechts bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen
Alexandra Ritter

Die europäischen Grundfreiheiten

Aktuelles, Europarecht, Europarecht Klassiker, Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Uncategorized, Verschiedenes

Der Beitrag befasst sich mit den Grundlagen zur Prüfung der europäischen Grundfreiheiten. Die Verfasserin bedankt sich bei Herrn Sören Hemmer für hilfreiche Anregungen und Ergänzungen zum Inhalt des Beitrags.

Wenn es um die Prüfung von Europarecht im ersten Staatsexamen geht, sind viele Kandidaten unsicher – denn der Materie wird in Studium und Repetitorium häufig nicht die gebührende Zeit im Lehr- und Lernplan eingeräumt. Dabei sind europarechtliche Klausuren im ersten Staatsexamen längst keine Seltenheit mehr. Dieser Beitrag ist daher einer unionsrechtlichen Thematik gewidmet, die in verschiedenen Einkleidungen in einer Klausur auftauchen kann: Es geht um die europäischen Grundfreiheiten. Welche Grundfreiheiten gibt es? Welche Bedeutung haben sie? Wie werden sie geprüft? Und: Wie sehen Klausurkonstellationen aus? All dies soll im Folgenden dargestellt und erläutert werden, um so zu einem grundlegenden Verständnis der Grundfreiheiten beizutragen, damit die Examensklausur im Ernstfall gemeistert werden kann. (Wer nur eine kurze Auffrischung benötigt, wird auch hier fündig.)

I. Welche Grundfreiheiten gibt es?

Die folgenden Definitionen sind der Darstellung bei Sauer, JuS 2017, 310, 314 entnommen.

Warenverkehrsfreiheit Art. 34 AEUV

Ware ist jeder körperliche Gegenstand, der einen Marktwert hat und Gegenstand eines Handelsgeschäfts sein kann Die Ware muss aus der Union stammen oder sich im freien Verkehr befinden, Art. 28 Abs. 2 AEUV.

Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 45 AEUV

Arbeitnehmer ist jeder Unionsbürger (Art. 20 Abs. 1 AEUV), der unselbstständig gegen Entgelt eine wirtschaftlich verwertbare Tätigkeit verrichtet.

Niederlassungsfreiheit Art. 49 AEUV

Eine Niederlassung ist anzunehmen, wenn jemand durch eine feste Basis dauerhaft am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats teilnimmt.

Dienstleistungsfreiheit Art. 56 AEUV

Dienstleistungen sind gegen Entgelt selbstständig erbrachte Leistungen, soweit sie von keiner anderen Grundfreiheit erfasst werden.

Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 AEUV

Unter den Kapital- und Zahlungsverkehr fällt der grenzüberschreitende Verkehr mit Sach- und Geldkapital zu Anlagezwecken – diese Grundfreiheit wird wegen ihrer sehr geringen Prüfungsrelevanz (Sauer, JuS 2017, 310, 314) im Nachfolgenden „ausgeblendet“ (s. aber Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 412).

II. Welche Bedeutung haben die Grundfreiheiten?

Die europäischen Grundfreiheiten sind ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Binnenmarkts (Sauer, JuS 2017, 310, 311). Durch sie können Behinderungen des gemeinsamen Binnenmarktes durch Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten verhindert werden, indem sie einen Ausgleich zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und der Union ermöglichen (Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407) – sie haben eine sogenannte negative Integrationsfunktion (Sauer, JuS 2017, 310, 312). Während die Grundfreiheiten ursprünglich eher den Charakter von Diskriminierungsverboten innehatten, wurde sie durch die Rechtsprechung des EuGH immer mehr zu Beschränkungsverboten ausgebaut (hierzu ausführlich Sauer, JuS 2017, 310).

1. Wer kann sich auf Grundfreiheiten berufen?

Die Grundfreiheiten sie sind (auch) subjektive Rechte, auf die sich der einzelne unionsweit unmittelbar berufen kann (Sauer, JuS 2017, 310, 311). Allerdings muss der Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen – auf ausschließlich inländische Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar (Bieber, Die Europäische Union, 15. Aufl. 2023, S. 340; zu den

2. Wer ist Adressat der Grundfreiheiten?

Adressaten der Grundfreiheiten sind zunächst die Mitgliedstaaten und damit sämtliche ihrer jeweiligen staatlichen Stellen (Sauer, JuS 2017, 310, 314). Aber auch die Unionsorgane, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU sind den Grundfreiheiten verpflichtet (Streinz/W. Schroeder, 3. Aufl. 2018, Art. 34 AEUVRn. 29). Nur in Einzelfällen hat der EuGH auch eine „Drittwirkung“ der Grundfreiheiten in Privatrechtsverhältnisse anerkannt, z.B. bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 AEUV bei mächtigen Wirtschafts-, Gewerkschafts- oder Sportverbänden (Sauer, 2017, 310, 314 m.N. der EuGH-Rechtsprechung).

III. Wie werden die Grundfreiheiten geprüft?

Die Prüfung der Grundfreiheiten ähnelt der Prüfung der Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes, d.h, es wird zunächst geprüft ob die jeweilige Grundfreiheit einschlägig ist (Anwendungsbereich ähnlich zum Schutzbereich), sodann ob eine Beschränkung vorliegt (ähnlich zum Eingriff) und zuletzt, ob die Beschränkung gerechtfertigt ist.

Zum Verständnis der Systematik bei der Prüfung der Grundfreiheiten, sind vorweg jedoch noch einige Erläuterungen anzubringen. Im Kern geht es darum, dass die übergeordnete Prüfsystematik sich stark aus der Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit entwickelt hat und diese dann auf andere Grundfreiheiten übertragen wurde. Daher wird zunächst die Entwicklung dieser Rechtsprechung anhand der wegweisenden Entscheidungen nachgezeichnet und danach das sich daraus ergebende Prüfungsschema erläutert.

1. Die Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit

Die maßgeblichen Entscheidungen, die die Prüfung der Grundfreiheiten vorgeben, sind die in den Rechtssachen Dassonville (EuGH, Urt. v. 11.6.1975 – Rs. 8/74), Keck (EuGH, Urt. v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91, Rs. C-268/91) und Cassis de Dijon (EuGH, Urt. v. 20.2.1979 – Rs. 120/78).

a) Dassonville

Ausgangspunkt der Entscheidung in der Rechtssache Dassonville ist Art. 34 AEUV, der mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verbietet (die Rechtfertigungsmöglichkeiten nennt Art. 36 AEUV). Der EuGH definierte die „Maßnahmen gleicher Wirkung“ in seiner Entscheidung wie folgt:

„Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern […].“ (EuGH, Urt. v. 11.6.1975 – Rs. 8/74, Ls. 1)

Damit sind auch Maßnahmen erfasst, die nur potenziell, also nur möglicherweise den freien Waren- oder Personenverkehr behindern, was eine Ausweitung der Warenverkehrsfreiheit und der übrigen Grundfreiheiten zu umfassenden Beschränkungsverboten bewirkt hat (Sauer, JuS 2017, 310, 312).

b) Keck

Den nunmehr sehr weit geratenen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten hat der EuGH später durch seine Entscheidung in der Rechtssache Keck etwas korrigiert. In dieser Entscheidung führte der EuGH die Unterscheidung zwischen Beschränkungen beim Marktzutritt und Beschränkungen nach Marktzutritt (Synonym werden die Begriffe produkts- und vertriebsbezogene Beschränkung verwendet) ein. Erstere, also Beschränkungen bei Markzutritt fallen immer unter die Dassonville-Rechtsprechung, d.h. es genügt eine potenzielle Behinderung, um eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung anzunehmen. Anders aber bei den Beschränkungen nach Markzutritt. Hier besteht ein geringeres Schutzbedürfnis, sodass kein umfassendes Beschränkungsverbot notwendig ist (Sauer, JuS 2017, 310, 313). Vielmehr kommt der ursprüngliche Charakter der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote zum Tragen, denn eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung liegt nur dann vor, wenn die Regelung ausländische Waren aufgrund der Herkunft diskriminiert (EuGH, Urt. v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91, Rs. C-268/91 Rn. 16).

Achtung: In neuerer Rechtsprechung wird teilweise von einem „Drei-Stufen-Test“ (EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – C-110/05) gesprochen. Dabei wird auf der ersten Stufe danach gefragt, ob die Maßnahme des Mitgliedstaates bezweckt oder bewirkt, dass Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig behandelt werden; auf der zweiten Stufe danach, ob Hemmnisse für den freien Warenverkehr bestehen, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst dann, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten; und auf der dritten Stufe danach, ob durch die Maßnahme der Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert wird (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/T. Streinz, 80. EL 2023, Art. 34 AEUV Rn. 85). Beide Ansätze führen in den meisten Fällen zu demselben Ergebnis. Für die Klausur ist es daher ratsam, beide Ansätze darzustellen, es im Ergebnis jedoch offenzulassen, welche Formel vorzugswürdig ist (s.  zum „Drei-Stufen-Test“ auch Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 408).

c) Cassis de Dijon

Mit der Dassonville-Entscheidung ist nicht nur der Anwendungsbereich zu weit geraten, sondern auch die vorgesehenen Rechtfertigungsmöglichkeiten (Art. 36, 45 Abs. 3, 52 und 62 AEUV) passten nicht mehr zu dem weiten Beschränkungsbegriff. Darauf hat der EuGH in der Entscheidung zur Rechtssache Cassis de Dijon reagiert, indem er ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt hat, nämlich sog. zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses. Dabei handelt es sich um einen offenen Katalog, d.h. die Mitgliedstaaten können (nicht wirtschaftliche) Gemeinwohlbelange vortragen, die ihres Erachtens nach unter diese Erfordernisse des Allgemeininteresses fallen, ohne dass dieser spezifische Grund schon in der Rechtsprechung anerkannt sein muss (Sauer, JuS 2017, 310, 313). Diese Gemeinwohlbelange sind dann im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mit den Belangen der jeweiligen Grundfreiheit abzuwägen.

Diese ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe können jedoch nicht bei einer unmittelbaren Diskriminierung herangezogen werden – für diese Fälle bleibt es bei den geschriebenen Rechtfertigungsgründen (Streinz, Europarecht, 12. Aufl. 2023, Rn. 933). Ungeklärt ist jedoch bislang, ob die Erfordernisse des Allgemeinwohls zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Grundfreiheiten durch mittelbare Diskriminierung herangezogen werden können. Die Rechtsprechung des EuGH ist hier uneinheitlich (s. Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 84). Dafür spricht aber, dass es im Einzelfall schwierig sein kann zu ermitteln, ob eine mittelbare Diskriminierung oder eine den Marktzutritt beschränkende Regelung ohne Diskriminierung vorliegt und dazu eine häufig subjektiv ausfallende Wertung erforderlich ist (Sauer, JuS 2017, 310, 313).

Alle drei Entscheidungen werden mit Sachverhalt kompakt dargestellt bei Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 409 f.

2. Das Prüfungsschema

Das sich aus alledem ergebende Prüfungsschema ordnet sich wie folgt (zugrunde gelegt wurde die Darstellung bei Sauer, JuS 2017, 310, 314 f.):

1. Tatbestand

a) Anwendbarkeit (kein lex specialis im Unionsrecht)

Durch ihre negative Integrationsfunktion sind die Grundfreiheiten nur anwendbar, wenn kein sekundäres Unionsrecht in demselben Fall anwendbar ist.

b) Anwendungsbereich

Hier muss unter die Definition der jeweiligen Grundfreiheit subsumiert werden.

c) ggf. Abgrenzung andere Grundfreiheiten

Gerade die Dienstleistungsfreiheit muss von den anderen Grundfreiheiten abgegrenzt werden, da sie nur Anwendung findet, wenn keine andere Grundfreiheit einschlägig ist.

d) Staatliche Maßnahme

Geht die Maßnahme von einem der Adressaten der Grundfreiheiten aus? Wenn sie von einem privaten Akteur ausgeht, muss geprüft werden, ob sie einem Adressaten der Grundfreiheiten zugerechnet werden kann.

e) Grenzüberschreitender Bezug

Ausschließlich inländische Sachverhalte bieten keinen Anwendungsbereich für die Grundfreiheiten.

f) ggf. Bereichsausnahme

Im Falle der geregelten Bereichsausnahmen ist die jeweilige Grundfreiheit nicht anwendbar, s. Art. 45 Abs. 4, 51, 62 AEUV.

2. Beschränkung

Der Prüfungsaufbau unterscheidet sich danach, ob die Warenverkehrsfreiheit oder eine andere Grundfreiheit betroffen ist, da der Einstieg über die Dassonville-Rechtsprechung an den Wortlaut von Art. 34 AEUV anknüpft.

a) Für die Warenverkehrsfreiheit

aa) Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung oder Maßnahme gleicher Wirkung?

Liegt eine Beschränkung i.S.d. Dassonville-Rechtsprechung vor? Eine Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung wird im Klausurfall kaum vorliegen (Sauer, JuS 2017, 310, 314).

bb) Anwendung der Keck-Rechtsprechung

Unterscheidung zwischen Beschränkung bei Markzutritt und nach Marktzutritt, wobei letztere nur bei einer Diskriminierung wegen der Herkunft tatbestandsmäßig ist.

cc) Anwendung der Drei-Stufen-Rechtsprechung

Eine Maßnahme bezweckt oder bewirkt Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten weniger günstig zu behandeln (1), stellt Hemmnisse für den freien Warenverkehr dar, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedsstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst dann, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten (2) oder behindert den Zugang zum Markt eines Mitgliedsstaats (3) (EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – Rs. C-100/05 Rn. 35, 37).

b) Bei anderen Grundfreiheiten

aa) Liegt eine Beschränkung durch Diskriminierung wegen der Herkunft vor?

Wenn (+): ausdrücklich feststellen, dass es eines Rückgriffs auf die Keck-Rechtsprechung nicht Bedarf

bb) Wenn keine Diskriminierung vorliegt: Anwendung der Keck-Rechtsprechung

Liegt eine diskriminierungsfreie Maßnahme vor, die den Marktzutritt betrifft, sodass auch ohne Diskriminierung eine Beeinträchtigung vorliegt?

3. Rechtfertigung

a) Schranken

Die Grundfreiheiten sind nicht vorbehaltslos gewährleistet, sodass Beschränkungen ggf. gerechtfertigt sein können.

aa) Geschriebene Schranken

Zunächst ist auf die jeweiligen geschriebenen Schranken einzugehen, welche eng auszulegen sind (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Rn. 78): Art. 36, 45 Abs. 3, 52 Abs. 1 AEUV (letzterer ggf. i.V.m. Art. 62 AEUV)

bb) Kollidierendes Primärrecht

Schranken können sich auch aus anderem Unionsrecht ergeben, wenn es sich um Normen handelt kollidierende Allgemein- und Individualinteressen schützen. Gemeint sind Normen, „die aufgrund ihrer dogmatischen Struktur als Befugnisnormen für Eingriffe taugen“ (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 79). Dazu zählen u.a. die Unionsgrundrechte (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 79). Auf den Schutz der Grundrechte der Mitgliedstaaten kann als Rechtfertigungsgrund nur abgestellt werden, wenn es eine parallele Gewährleistung im Unionsrechts gibt und ein angemessener Ausgleich zwischen grundfreiheitlich und grundrechtlich geschütztem Rechtsgut gewährleistet ist (Sauer, JuS 2017, 310, 314). Es ist daher vorzugswürdig auf die Unionsgrundrechte abzustellen (vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 81). Zudem können die Grundrechte aus der EMRK herangezogen werden, Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 GRCh.

cc) Ungeschriebene Schranken (Cassis de Dijon)

Bei Beschränkungen ohne Diskriminierung kann auf ungeschriebene Rechtfertigungsgründe rekurriert werden, nämlich auf die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses. Bei mittelbaren Diskriminierungen bedarf es zumindest einer Argumentation (s. oben unter III.1.c)) bevor auf ungeschriebene Schranken zurückgegriffen werden darf.

c) Schranken-Schranke

Wie aus der Grundrechtsdogmatik bekannt sind auch Beschränkungen von Grundfreiheiten einer Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterziehen, wobei auf die bekannte Prüfung Legitimer Zweck (1), Geeignetheit (2), Erforderlichkeit (3) und Angemessenheit (4) zurückgegriffen werden kann (Sauer, JuS 2017, 310, 315). Vom EuGH selbst wird die Prüfung nur auf den ersten drei Stufen (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit) durchgeführt – in der deutschen Rechtsordnung wird jedoch die bekannte vierstufige Prüfung bevorzugt, sodass diese in der Klausur auch angewendet werden kann (Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2021, 407, 410 f.). Auch hier können die Unionsgrundrechte ins Spiel kommen, indem sie in die Abwägung einzubeziehen sind. Sie haben dann nicht wie oben die Funktion als Rechtfertigungsgrund, sondern eben als Schranken-Schranke (Calliess/Ruffert/Kingreen, 6. Aufl. 2022, Art. 34-36 AEUV Rn. 101, der auch auf zunehmende Kritik des Schrifttums hieran mit Blick auf Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh hinweist).

IV. Klausurkonstellationen

In Klausuren kann die Prüfung von Grundfreiheiten unterschiedlich eingekleidet sein. Möglich ist, dass lediglich materiell geprüft wird, d.h. lediglich die Frage gestellt ist, ob eine Maßnahme einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten begründet.

Diese materielle Frage kann aber auch prozessual eingekleidet sein. Zum einen durch nationales Prozessrecht, bspw. wenn ein Bürger sich durch eine Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt wehrt, weil er der Meinung ist, der Verwaltungsakt verstoße gegen eine Grundfreiheit. Bei Erledigung kann dieselbe Fragestellung dann in eine Fortsetzungsfeststellungsklage eingebettet sein.

Darüber hinaus ist eine Einkleidung in die Verfahren vor den europäischen Gerichten möglich (s. hierzu die Beiträge zu den Verfahren vor den Europäischen Gerichten Teil 1 und Teil 2). Bspw. kann die Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens die Verletzung von Grundfreiheiten durch einen Mitgliedstaat geltend machen oder es ist im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens herauszufinden, ob die Grundfreiheiten so auszulegen sind, dass eine Norm eines Mitgliedstaats damit nicht in Einklang steht. Denkbar ist auch eine Nichtigkeitsklage gegen einen Sekundärrechtsakt. Die möglichen Klausurkonstellationen sind also vielgestaltig (s. dazu auch Sauer, JuS 2017, 310, 315 f.). Mit einem grundlegenden Verständnis der hier vorgestellten Prüfungssystematik der Grundfreiheiten sollte aber dennoch eine überzeugende Prüfung gelingen!

06.03.2024/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2024-03-06 09:00:002024-04-17 10:20:27Die europäischen Grundfreiheiten
Gastautor

Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern nach § 19 I 1 StVG

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Johannes Zhou veröffentlichen zu können. Der Autor ist Rechtsreferendar am Landgericht Frankfurt am Main.

Der BGH beschäftigt sich in seiner Entscheidung vom 7.2.2023 (VI ZR 87/22) mit dem im Jahr 2020 neu hinzugefügten § 19 I 1 StVG. Diese Vorschrift regelt die Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern, welche vor 2020 noch in § 7 I StVG geregelt war. Kernproblem des Falles ist die Frage, ob von einem ordnungsgemäß abgestellten PKW-Anhänger eine Betriebsgefahr ausgeht, für die der Halter des Anhängers einzustehen hat.

I. Der Sachverhalt

Der Kläger ist Gebäudeversicherer und verlangt von dem Beklagten – einem Haftpflichtversicherer – Schadensersatz aufgrund eines Unfallereignisses im Zusammenhang mit einem PKW-Anhänger.

Bei der Beklagten ist ein PKW-Anhänger versichert, den der Versicherungsnehmer am Unfalltag ordnungsgemäß am Straßenrand abstellte. Ein Dritter, der nicht Partei des Verfahrens ist, befuhr mit seinem Fahrzeug diese Straße und stieß mit dem ordnungsgemäß geparkten PKW-Anhänger zusammen. Der Anhänger rollte aufgrund des Zusammenstoßes nach vorne und beschädigte das Eingangstor eines Grundstücks sowie die Fassade des auf dem Grundstück stehenden Gebäudes. Der Kläger übernahm als Gebäudeversicherer die dem Gebäudeeigentümer angefallenen Kosten für die Reparatur des Eingangstores und der Fassade.

Daraufhin machte der Kläger Schadensersatz gegen den Haftpflichtversicherer, bei dem der PKW-Anhänger versichert ist, geltend. Während das AG Friedberg der Klage stattgab, lehnte das LG Gießen den Schadensersatzanspruch ab. Das LG Gießen begründete dies damit, dass der Schaden nicht beim Betrieb des PKW-Anhängers eingetreten sei. Der Anhänger sei nämlich durch einen anderen Verkehrsteilnehmer, der mit dem Anhänger zusammenstieß, in Bewegung gesetzt worden.

II. Die Entscheidung

Der BGH bejaht den geltend gemachten Schadensersatz nach § 7 I StVG a.F. bzw. § 19 I 1 StVG i.V.m. § 115 I 1 Nr. 1, § 86 VVG. § 19 I 1 regelt nach der amtlichen Normüberschrift die Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen.

§ 19 I 1 StVG: „Wird bei dem Betrieb eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, ist der Halter des Anhängers verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“

Nach Auffassung des BGH gehe auch von einem ordnungsgemäß abgestellten PKW-Anhänger eine Betriebsgefahr aus. Demnach sei der Schaden am Gebäude beim Betrieb des Anhängers eingetreten. Hierbei geht der BGH zunächst auf die für § 7 I StVG entwickelten Grundsätze bezüglich der Betriebsgefahr von Kraftfahrzeugen ein:

„[8] a) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zu Recht angenommen hat, ist das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ in Bezug auf Kraftfahrzeuge entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10 mwN).[9] Erforderlich ist dabei stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll; die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit grundsätzlich maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. Senatsurteile vom 3. Juli 1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, juris Rn. 12 ff.; vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10; vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 319/18, VersR 2021, 597 Rn. 7, jeweils mwN). Der Betrieb dauert dabei fort, solange der Fahrer das Fahrzeug im Verkehr belässt und die dadurch geschaffene Gefahrenlage fortbesteht (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10 mwN).“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Diese Grundsätze überträgt der BGH auf die Halterhaftung für PKW-Anhänger nach § 19 I 1 StVG. In dem Geschehen habe sich die aus der Konstruktion des Anhängers resultierende Gefahr einer unkontrollierten Bewegung durch Fremdkraft verwirklicht. Das Abstellen des Anhängers im öffentlichen Verkehrsraum beseitige diese Gefahr nicht. Vielmehr wirke die Betriebsgefahr fort.

Schließlich dringt die Beklagte auch nicht mit dem Einwand durch, dass ein Dritter durch seinen Zusammenstoß mit dem Anhänger für das Unfallgeschehen maßgeblich verantwortlich sei. Dieser Umstand sei lediglich für die Abwägung der Verursachungsbeiträge im Rahmen eines etwaigen Gesamtschuldnerinnenausgleichs der Schädiger gem. §§ 426 I, 254 I BGB von Bedeutung. Der Umstand habe aber keine Auswirkung auf den zuvor bejahten Zurechnungszusammenhang zwischen dem Gebäudeschaden und Betrieb des Anhängers.

III. Einordnung

Der Gesetzgeber hat die Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern im Jahr 2020 neu geregelt, indem er diese aus den §§ 7, 8, 12, 17 und 18 StVG a.F. ausgliederte und die neuen §§ 19, 19a StVG einfügt hat (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Jahnke, § 19 StVG Rn. 3). Anlass für die Gesetzesänderung war die alte Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08), wonach bei Unfällen mit PKW-Anhängern die beteiligten Halter von Zugfahrzeug und Anhänger im Innenverhältnis zu gleichen Teilen hafteten. Diese Haftungsverteilung entsprach laut Gesetzesbegründung in der Regel jedoch nicht der jeweils gesetzten Betriebsgefahr (BT-Drs. 19/17964, S. 1). Im Zuge der Neuregelung des § 19 StVG schaffte der Gesetzgeber daher § 19 IV 2 und 3 StVG. Danach haftet grundsätzlich der Halter des Zugfahrzeuges im Innenverhältnis.

IV. Bedeutung für das Examen

Die Entscheidung des BGH eignet sich gut für Examensklausuren, da mit § 19 I 1 StVG eine vergleichsweise neue Anspruchsgrundlage abgeprüft werden kann. Entscheidend ist aber, dass hier eine auf den ersten Blick unbekannte Norm mit bereits gelerntem Wissen zu § 7 I StVG bewältigt werden kann. Der Wortlaut des § 19 I 1 StVG entspricht dem des § 7 I StVG.

Die Entscheidung des BGH gibt zudem Anlass, sich mit zahlreichen examensrelevanten Problemen zu beschäftigen und diese zu wiederholen. Über die für § 7 I StVG entwickelten Grundsätze zum Tatbestandsmerkmal „beim Betrieb“ hinaus, sollte im Hinblick auf Systematik auch ein Blick auf andere Gefährdungstatbestände wie § 833 S. 1 BGB oder § 1 ProdHaftG geworfen werden (zum Grundwissen Lorenz, JuS 2021, 307).

Auch eine Wiederholung der Vorschrift zum Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB sowie der examensrelevanten Vorschriften des VVG kann nicht schaden. Nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVG kann ein Geschädigter auch unmittelbar gegen den Versicherer Schadensersatz geltend machen. Bei § 86 I 1 VVG handelt es sich um eine sog. Legalzession (cessio legis). Danach geht der Anspruch des Versicherungsnehmers auf den Versicherer über, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt. Welche weiteren Vorschriften ordnen einen gesetzlichen Forderungsübergang an? Zum Beispiel: §§ 268 III 1, 774 I 1 BGB, § 116 SGB X.

28.06.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-06-28 09:30:182023-06-28 14:48:13Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern nach § 19 I 1 StVG
Alexandra Ritter

Die mündliche Prüfung im ersten Staatsexamen

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Viele Jahre bereitet man sich durch Studium und Repetitorium darauf vor und irgendwann ist es soweit: man schreibt das erste Staatsexamen. Sechs Klausuren und eine mündliche Prüfung (so zumindest in NRW) sollen im staatlichen Teil das juristische Können der Prüflinge abfragen. Jedem Jurastudenten ist bewusst, dass einem hier viel abverlangt wird. Umso größer ist die Freude, wenn man den wohl härtesten Teil, die sechs schriftlichen Klausuren, geschafft hat. Dann gilt es nur noch die letzte Hürde zu nehmen: die mündliche Prüfung.

Ich selbst habe die mündliche Prüfung im ersten juristischen Staatsexamen im Oktober 2022 in Köln absolviert und möchte in diesem Beitrag Einblicke in die Abläufe der Prüfung und auch Hinweise bezüglich der Prüfungsinhalte geben. Die Prüfung beginnt mit einem Vorgespräch bei dem Vorsitzenden der Prüfungskommission, gefolgt von der Vorbereitung des Vortrags und dem Vortrag selbst und danach finden die drei Prüfungsgespräche statt. Als Prüfling ist man Teil einer Gruppe von drei bis fünf Prüflingen und drei Prüfern.

Hinweis: In NRW besteht die mündliche Prüfung derzeit noch aus einem Vortrag und dem Prüfungsgespräch. Dies ist weiterhin der Fall für alle, die sich bis 2025 zur staatlichen Pflichtfachprüfung anmelden, s. Artikel 2 des Gesetzes vom 9. November 2021 (GV. NRW. S. 1190), hier abrufbar. Danach besteht die mündliche Prüfung gem. § 15 JAG NRW nur noch aus dem Prüfungsgespräch mit einer Dauer von 45 Minuten je erschienenem Prüfling, § 15 Abs. 4 JAG NRW.

Das Vorgespräch

Bevor es am Tag der mündlichen Prüfung mit der richtigen Prüfung losgeht, findet ein Vorgespräch mit dem Vorsitzenden statt. Dazu wird jeder Prüfling einzeln in das Prüfungszimmer gebeten, wo man fünf bis zehn Minuten mit dem Vorsitzenden spricht. Was in diesem Gespräch besprochen wird, kann sehr unterschiedlich sein. In meinem Fall war es so, dass der Vorsitzende ein wenig über den Lebenslauf und den Schwerpunkt geredet hat und was man neben dem Studium so macht. Man hat gemerkt, dass er sehr darum bemüht war, beruhigend zu wirken und einem, falls vorhanden, Angst vor der Prüfung zu nehmen. Manche Vorsitzenden fragen im Vorgespräch auch konkret danach, in welchen Notenbereich man es mit der mündlichen Prüfung schaffen möchte, was natürlich hilfreich sein kann. Teilweise wird auch danach gefragt, ob man den Tag lieber mit vielen oder längeren Pausen oder mit nur kurzen Unterbrechungen gestalten möchte, sodass die Prüfungskommission darauf Rücksicht nehmen kann, was die Mehrheit der Prüflinge bevorzugt.

Das Vorgespräch ist also nichts, wovor man Angst haben muss. Ganz im Gegenteil, denn man bekommt die Gelegenheit schon einmal den Raum zu sehen und, so banal es klingen mag, zu reden.

Die Vorbereitung des Vortrags

Nach dem Vorgespräch verlässt man den Prüfungsraum und nimmt die Schreibsachen mit in den Vorbereitungsraum. Dort bekommt man die Aufgabenstellung für den Vortrag und hat eine Stunde Zeit, um diesen vorzubereiten. Bei der Vorbereitung sollte man sich nicht davon aus dem Konzept bringen lassen, dass alle zehn bis 15 Minuten neue Prüflinge den Raum betreten, d.h. wenn erforderlich, sollte man sich Ohrstöpsel mitnehmen. In NRW werden die Gesetzestexte sowohl für die Vortragsvorbereitung als auch für die Gespräche vom Justizprüfungsamt gestellt, man sollte lediglich daran denken, eigene Buchstützen mitzubringen.

Der Vortrag

Nachdem die Vorbereitungszeit abgelaufen ist, wird man gebeten, den Vorbereitungsraum zu verlassen und direkt in das Prüfungszimmer zu gehen. Man geht also in den Raum und nimmt auf dem mittleren Stuhl Platz. An dieser Stelle sollte man sich die Zeit nehmen, die man braucht, d.h. in Ruhe die eigenen Notizen hinlegen, ggf. ein Gesetz aufschlagen, ein Glas Wasser einschenken und die Stoppuhr aufstellen. Dann signalisiert man den Prüfern, dass man anfangen möchte und trägt den Vortrag vor, so wie man es geübt hat. Nach zwölf Minuten ist dieser Teil der Prüfung dann auch geschafft.

Nach dem Vortrag hat man, je nachdem ob man eher am Anfang oder am Ende dran war, eine relativ lange Pause. Aus meiner persönlichen Erfahrung würde ich sagen, dass nach dem Vortrag der schwierigste Teil geschafft ist.

Die Gespräche

Nach dem Vortrag und der Pause beginnen die Prüfungsgespräche. Davon finden insgesamt drei statt, eines je Prüfer und Fachgebiet. In welcher Reihenfolge die Fachgebiete geprüft werden, teilen einem manche Vorsitzenden im Vorgespräch mit, ansonsten erfährt man es erst, wenn das erste Gespräch beginnt. In meinem Fall ging es mit Zivilrecht los, danach wurde Strafrecht geprüft und zum Schluss prüfte der Vorsitzende das öffentliche Recht.

Das Gespräch im Zivilrecht

Das Prüfungsgespräch im Zivilrecht begann damit, dass der Prüfer einen kleinen Fall geschildert hat. T bestellt über einen Lieferdienst bei dem Italiener Luigi einen Salat. Daraufhin ruft T noch bei Luigi an und sagt ihm, der Fahrer solle den Salat nur bei ihm an die Tür hängen, er (T) würde sich den Salat dann holen. Daraufhin hängt der Fahrer den fertigen Salat an die Tür des T. T jedoch vergisst den Salat. Währenddessen kommt die Nachbarskatze und frisst den Salat auf. Luigi möchte für den Salat bezahlt werden.

In dieser Prüfung hat der Prüfer eine feste Reihenfolge beim Abfragen der Prüflinge eingehalten, sodass man immer wusste, wann man an der Reihe sein könnte. Eingestiegen wurde dann mit möglichen Anspruchsgrundlagen, gefolgt von der Prüfung, wie zwischen wem ein Vertrag zustande gekommen ist, d.h. ob auch eine Stellvertretung stattgefunden hat. Der Ablauf gestaltete sich so, dass der Prüfer den Prüfling reden lässt und unterbricht, wenn es einer Konkretisierung bedarf. Das können Nachfragen sein wie: „Was bedeutet denn Stellvertretung? Aus welcher Norm nehmen Sie das?“ Wenn der Prüfer zum nächsten Prüfling übergegangen ist, war das immer mit einer konkretisierenden Frage verbunden, also zum Beispiel: „Herr XY, ist denn nun ein Vertrag zustande gekommen?“ Oder: „Frau XY, was ist denn nun mit dem Anspruch? Bekommt Luigi sein Geld?“ So kommt man voran wie bei einer normalen schriftlichen Fallprüfung, indem man sich im Kopf am Grundgerüst von Anspruch entstanden, Anspruch untergegangen, Anspruch durchsetzbar entlanghangelt. Hierbei hilft insbesondere lautes Nachdenken, da die Prüfer einen dann gegebenenfalls lenken können, indem sie einen Gedanken aufgreifen und Nachfragen stellen.

Ansonsten kann man sich die Nachfragen wie in einer Vorlesung oder AG vorstellen: „Was ist die geschuldete Leistung? Ist Konkretisierung eingetreten? Kommt es in unserem Fall darauf an, ob Unmöglichkeit eingetreten ist? Hat eine Übereignung stattgefunden?“, und so weiter. Das Prüfungsgespräch verbindet also die Prüfung eines Falles mit abstrakten Fragen zum Rechtsgebiet.

Nach dem ersten Prüfungsgespräch gab es dann wieder eine Pause.

Das Gespräch im Strafrecht

Auch das Gespräch im Strafrecht wurde mit einem (recht langen) Fall begonnen, den wir mitschreiben sollten:

A wird nach drei Jahren und damit Vollverbüßung einer Haftstrafe aus der Haft entlassen. Seine Familie will keinen Kontakt mehr zu ihm, er findet keine Arbeit und schläft auf der Straße. Dann entschließt er sich, Deutschland endgültig zu verlassen. Dazu benötigt er ein Fahrzeug, das er sich verschaffen und im Ausland dann verkaufen will. Er geht auf einen öffentlichen Parkplatz, auf dem B gerade mit dem Autoschlüssel in der Hand in sein Auto einsteigen will. A tritt an B heran und schlägt ihm fest in die Magengrube. B fällt vor Schmerzen gekrümmt zu Boden. Das nutzt A, um sich den Autoschlüssel zu nehmen und mit dem Auto davonzufahren. B geht später zur Polizei und erstattet Strafanzeige und stellt einen Strafantrag.

A fährt weiter und irgendwann wird sein Tank leer. Er begibt sich zur Tankstelle, deren Inhaber C ist, und füllt Benzin ein. Er denkt, der Mitarbeiter D (der für C arbeitet) würde ihn dabei beobachten. A tankt Benzin im Wert von 70 Euro. Dann fährt A, wie von Anfang an geplant, ohne zu bezahlen, davon. Bei einer Straßenverkehrskontrolle der Polizei wird A jedoch festgenommen. A geht mit den Beamten mit und wird vernommen. Dabei räumt er den Sachverhalt ein. Die Polizei fragt auch bei D nach, was geschehen war und D sagt, er habe private E-Mails auf dem Handy gelesen und nichts von A mitbekommen.

Die Staatsanwaltschaft stellt nun einen Antrag auf Untersuchungshaft. Die Aufgabenstellung ist: Wird der Richter den Haftbefehl erlassen? Die §§ 123, 246, 248b und 265a StGB sollen nicht geprüft werden.

Der Einstieg in den Fall ging hier also über eine Prüfung des Strafprozessrechts. Der Prüfer hat hier auch nicht in einer festen Reihenfolge geprüft, sodass man jederzeit gefragt sein konnte. Die Prüfung begann also mit den Voraussetzungen, insbesondere den materiellen, des Haftbefehls gem. §§ 112 ff. StPO. Darüber wurden dann auch die Verdachtsstufen und die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft abgeprüft.

Danach ging es in die materielle Fallprüfung, die wie in einer AG damit begann, dass ein Prüfling die in Betracht kommenden Straftatbestände nennen sollte. Aus den Protokollen ergab sich, dass unser Prüfer gerne Diebstahl prüft, weshalb auch erst Diebstahl und Körperverletzung genannt wurden, bevor auch der Raub von dem Prüfling erkannt wurde. Daran merkt man, dass Protokolle zur Vorbereitung zwar hilfreich sein können, man in der Prüfung jedoch unvoreingenommen an die Aufgabenstellung herangehen muss.

In der gesamten Prüfung im Strafrecht wurde auf gute Definitionen Wert gelegt und unproblematische Tatbestandsmerkmale hat der Prüfer schnell abgehakt. An manchen Stellen hat der Prüfer den Fall zwischendurch abgewandelt, z.B. hatte A dann bei dem Überfall auf B ein Schweizer Taschenmesser dabei, welches er immer dabei hat, sodass sich die Frage nach einer Qualifikation stellte.

Wie sich schon aus dem Fall zeigt, wurde noch der Dreiecksbetrug geprüft, aber das ist Standardwissen für das Staatsexamen. Es wurde also auch hier nichts Außergewöhnliches verlangt. Die Prüfung endete wieder mit Strafprozessrecht und den Haftgründen, wobei es darauf ankam, am Gesetz zu arbeiten und den Sachverhalt zu verwerten.

Auch nach diesem Gespräch gab es noch einmal eine kurze Pause.

Das Gespräch im öffentlichen Recht

Das letzte Gespräch war dann zum öffentlichen Recht. Zu diesem Zeitpunkt waren wir alle schon ziemlich müde, was der Prüfer auch wusste und uns daher motiviert hat, noch einmal alles zu geben.

Der Prüfer teilte uns zu Beginn mit, dass er mit zwei abstrakten Fragen beginnen und danach einen kleinen Fall prüfen möchte.

Die erste Frage war, ob man so etwas, wie es in § 13 Abs. 1 S. 3 VersG NRW steht: „Auf Bundesautobahnen finden keine Versammlungen statt“, als Gesetzgeber einfach so regeln könne. Hier ging es weniger um Gesetzgebungskompetenzen als um die Dogmatik bei Grundrechtseingriffen und insbesondere um die Wesentlichkeitsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Zudem wurde über die Autobahn übergeleitet zu den öffentlichen Sachen und dem Gemeingebrauch und der damit verbundenen Widmung. Zuletzt wurde bei dieser Frage der Bogen zur konkreten Normenkontrolle zu dem BVerfG geschlagen, ohne dass diese nun im Einzelnen geprüft werden sollte.

Die zweite Frage knüpfte an den Begriff der unmittelbaren Gefahr in § 13 Abs. 1 S. 1 VersG NRW an. Es wurde gefragt, welche Gefahrenbegriffe es gibt und wo Beispiele zu finden sind. Hier ging es insbesondere darum, dass der Begriff der unmittelbaren Gefahr noch nicht geklärt sei und es kam dem Prüfer darauf an, überzeugende Ansätze zu hören, wie man die unmittelbare Gefahr sinnvoll definieren könnte. Man musste also ein wenig kreativ werden.

Dann wurde der Fall geschildert: A hat beim OLG schon einige gescheiterte Verfahren geführt, er verliert immer wieder. Dann wird ein Fall vom OLG an das LG zurückverwiesen. Der Richter R ist zuständig. A hat den Verdacht, R könne schon am OLG einmal in einem Verfahren tätig gewesen sein, das er verloren hat und bei dem er sich ungerecht behandelt gefühlt hat. Er schreibt daher an den Präsidenten des LG mit der Bitte um Auskunft, ob R damals Richter am OLG war. Der Präsident antwortet mit: „Das sage ich Ihnen nicht.“ Was macht A?

Der erste Kandidat fand den Einstieg in den Fall über den einstweiligen Rechtsschutz. Dann wurde geprüft, wonach sich einstweiliger Rechtsschutz richtet. Der Prüfer wollte also keine vollständige Zulässigkeitsprüfung hören, sondern lediglich die statthafte Rechtsschutzform prüfen. Es ging dann weiter mit der Frage, woher A denn einen Informationsanspruch nehmen könnte. Da wurde von dem Prüfling das Informationsfreiheitsgesetz NRW genannt. Ab dann ging es darum, mit dem unbekannten Gesetz zu arbeiten. Es kam darauf an zu erkennen, nach welcher Norm der Anwendungsbereich des Gesetzes geprüft werden muss und aus welcher Norm sich konkret der Anspruch auf Informationserteilung ergibt. In diesem Zusammenhang sprachen wir noch über den Geschäftsverteilungsplan und die Aufgabenteilung bei Gericht zwischen Aufgaben der Rechtsprechung und Verwaltung. Außerdem wollte der Prüfer wissen, ob es im Fall Sinn ergab, dass A sein Anliegen an den Präsidenten des LG richtete (was nicht der Fall war, da es ja um Tätigkeiten des R am OLG ging).

Danach war auch das letzte Gespräch beendet.

Das Ende der mündlichen Prüfung

Nach dem letzten Prüfungsgespräch gibt es eine letzte Pause, bzw. Wartezeit. Die Prüfer beraten sich im Prüfungsraum über die Noten und alle Prüflinge warten vor dem Raum.

Nach ca. 20 Minuten wurden wir wieder hineingebeten. Hier ein wichtiger Hinweis: Wenn man für die Notenverkündung in den Prüfungsraum geht, bleibt man zunächst am Platz stehen, bis der Vorsitzende einem das Zeichen gibt, dass man sich setzen kann. Manche Prüfer reagieren sehr stark darauf, wenn man sich nicht an diese Regel hält. Wer die Regel kennt, sollte sie fairerweise auch seinen Mitprüflingen mitteilen, denn vom Prüfungsamt wird man nicht darauf hingewiesen.

Bei uns wurde nun also die Gesamtnote für die mündliche Prüfung und die sich daraus ergebende Gesamtnote für jeden Prüfling verkündet. Danach setzten wir uns und es wurde für jeden einzelnen Prüfling erläutert, welche Note es für den Vortrag gab und welche für die Gespräche – hier bekommt man eine Gesamtnote für alle drei Gespräche, wobei manche Vorsitzende darauf eingehen, in welchen Fächern man stärker und in welchen schwächer war, aber Einzelnoten gibt es nicht.

Dann wurde noch die Lösung des Falls aus dem Vortrag besprochen und es gab die Gelegenheit Fragen zu stellen. Danach war es auch schon vorbei und wir durften das Gebäude verlassen.

Fazit

nsgesamt ist der Tag der mündlichen Prüfung wirklich nicht schlimm. Es ist allerdings ein ziemlich anstrengender Tag und man sollte darauf achten, zwischendurch genug Wasser zu trinken und auch etwas Kleines zu essen, z.B. ein Brötchen oder einen Müsliriegel. Während der Gespräche merkt man von der eigenen Müdigkeit kaum etwas, aber in den Pausen macht sich die Anstrengung bemerkbar. Da ist es hilfreich, wenn man sich in der Gruppe nett unterhält und die Pausen dadurch kurzweilig gestaltet.

Als Tipp für die Prüfung würde ich sagen, dass man klar und deutlich reden und bei allen Antworten, den gestellten Fall des Prüfers im Blick behalten und den Fallbezug wahre sollte. Außerdem lohnt es sich, laut zu denken, auch wenn man kurz nicht weiter weiß, denn die Prüfer sind einem meistens wohlgesonnen und wollen einem helfen, den richtigen Lösungsweg zu finden. Zudem sind bei den meisten Prüfern Nachfragen, insbesondere zu dem geschilderten Sachverhalt, gestattet und werden auch nicht negativ aufgefasst.

Ansonsten gilt natürlich, dass man zur Prüfung angemessen angezogen erscheinen und sich fair gegenüber den Mitprüflingen verhalten sollte. Bei den meisten Prüfern bestimmen diese, wer wann etwas sagen soll und man meldet sich nicht einfach.

Und damit an alle, die die mündliche Prüfung noch vor sich haben: Es ist kein Hexenwerk und mit einer ordentlichen Vorbereitung gibt es nichts zu befürchten. Bald ist es geschafft!

06.03.2023/2 Kommentare/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2023-03-06 09:00:002023-05-24 13:35:52Die mündliche Prüfung im ersten Staatsexamen
Redaktion

Examensklausuren müssen kostenlos kopiert werden

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Das BVerwG stellt klar: Das Einsichtsrecht des Prüflings aus § 23 JAG NRW in seine Prüfungsarbeiten verdrängt Art. 15 DSGVO nicht. Prüflingen steht somit der allgemeine datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO auf Zugang zu all ihren personenbezogenen Daten in Kopieform zu, der nach Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO kostenlos zu erfüllen ist. Mit diesem Urteil bestätigt das BVerwG (BeckRS 2022, 42146) sowohl die Entscheidung des VG Gelsenkirchen (27.4.2020 – 20 K 6392/18) als auch die Berufungsentscheidung des OVG Münster (8.6.2021 – 16 A 1582/20). Beide Gerichte hatten dem klagenden Prüfling den datenschutzrechtlichen Anspruch ohne Einwände zuerkannt.

I. Was umfasst der Anspruch auf Datenauskunft?

Art. 15 DSGVO berechtigt jeden, der Subjekt einer Datenverarbeitung ist (die betroffene Person) gegenüber demjenigen, der die Verarbeitung vornimmt, also mit den Daten im Sinne des Art. 4 Nr. 2 DSGVO umgeht (Verantwortlicher), hier das Justizprüfungsamt (BVerwG, BeckRS 2022, 42146 Rn. 29) Auskunft über die verarbeiteten personenbezogenen Daten sowie einige Zusatzinformationen zu verlangen. Auskunft muss dabei gemäß Art. 15 Abs. 3 S. 1 DSGVO durch Kopie sämtlicher personenbezogenen Daten, die verarbeitet werden, erteilt werden. Im Einzelnen sind Rechtsnatur und Reichweite der Kopieverpflichtung zwar umstritten, für die hiesige Sachlage ist der Streit jedoch nicht entscheidungserheblich, sodass auch hier auf eine Darstellung verzichtet wird. Wer an den dogmatischen Hintergründen und der Reichweite des Anspruchs näher interessiert ist, dem sei eine Lektüre der Guidelines des Europäischen Datenschutzausschusses sowie der Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH Pitruzella ans Herz gelegt.

Wesentlich ist, dass grundsätzlich sämtliche seiner personenbezogene Daten im Sinne des Art. 4 Nr. 1 DSGVO dem Anspruchsteller kopiert werden müssen. Danach sind personenbezogen sämtliche „Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden „betroffene Person“) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann“. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff des personenbezogenen Datums, auch im Kontext des Auskunftsrechts, weit zu verstehen. Er ist nicht auf private oder sensible Informationen beschränkt, sondern umfasst potentiell alle Arten von Informationen unter der Voraussetzung, dass es sich um Informationen über eine Person handelt. Sogar subjektive Beurteilungen einer anderen Person über den Betroffenen sind erfasst und damit auch Auskunftsgegenstand (EuGH NJW 2018, 767 – Nowak – Rn. 34).

Schon 2018 hat der EuGH ausdrücklich entschieden, dass die schriftlichen Antworten eines Prüflings sowie die Anmerkungen des Prüfers selbst personenbezogene Daten des Prüflings sind. Im Einzelnen begründete der EuGH dies wie folgt:

„37 Zunächst spiegelt der Inhalt dieser Antworten nämlich den Kenntnisstand und das Kompetenzniveau des Prüflings in einem bestimmten Bereich sowie gegebenenfalls seine Gedankengänge, sein Urteilsvermögen und sein kritisches Denken wider. Im Fall einer handschriftlich verfassten Prüfung enthalten die Antworten zudem kalligrafische Informationen. 38 Des Weiteren zielt die Sammlung dieser Antworten darauf ab, die beruflichen Fähigkeiten des Prüflings und seine Eignung zur Ausübung des betreffenden Berufs zu beurteilen. 39 Schließlich kann sich die Verwendung dieser Informationen, die insbesondere im Erfolg oder Scheitern des Prüflings der in Rede stehenden Prüfung zum Ausdruck kommt, insoweit auf dessen Rechte und Interessen auswirken, als sie beispielsweise seine Chancen, den gewünschten Beruf zu ergreifen oder die gewünschte Anstellung zu erhalten, bestimmen oder beeinflussen kann. 40 Die Feststellung, dass die schriftlichen Antworten eines Prüflings in einer berufsbezogenen Prüfung Informationen darstellen, die aufgrund ihres Inhalts, ihres Zwecks und ihrer Auswirkungen Informationen über diesen Prüfling darstellen, gilt im Übrigen auch dann, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um eine Prüfung handelt, bei der Dokumente benutzt werden dürfen. 41 Wie die Generalanwältin beim EuGH in Nr. 24 ihrer Schlussanträge dargelegt hat (BeckRS 2017, 118086), zielt nämlich jede Prüfung darauf ab, die individuelle Leistung einer konkreten Person, des Prüflings, festzustellen und zu dokumentieren, und – insbesondere im Unterschied zu einer repräsentativen Umfrage – nicht darauf, Informationen zu erlangen, die von dieser Person unabhängig sind. 42Was die Anmerkungen des Prüfers zu den Antworten des Prüflings angeht, ist festzustellen, dass diese – ebenso wie die Antworten des Prüflings in der Prüfung – Informationen über den betreffenden Prüfling darstellen. 43So kommt im Inhalt dieser Anmerkungen die Ansicht oder Beurteilung des Prüfers in Bezug auf die individuelle Leistung des Prüflings in der Prüfung und insbesondere in Bezug auf dessen Kenntnisse und Kompetenzen in dem betreffenden Bereich zum Ausdruck. Diese Anmerkungen zielen im Übrigen gerade darauf ab, die Beurteilung der Leistung des Prüflings durch den Prüfer zu dokumentieren, und können, wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Auswirkungen auf den Prüfling haben. 44Die Feststellung, dass die Anmerkungen des Prüfers zu den vom Prüfling in der Prüfung gegebenen Antworten Informationen darstellen, die aufgrund ihres Inhalts, ihres Zwecks und ihrer Auswirkungen mit dem betreffenden Prüfling verknüpft sind, wird nicht dadurch entkräftet, dass diese Anmerkungen zugleich Informationen über den Prüfer darstellen.“(EuGH, NJW 2018, 767 Rn. 37 ff.)

Somit sind nicht nur die Klausur selbst, sondern auch die Anmerkungen des Prüfers sowie seine Benotung und der ausgefüllte Erwartungshorizont jeweils ein personenbezogenes Datum des Prüflings und damit Auskunftsgegenstand. Zu diesem Ergebnis kam – wenig überraschend – auch das BVerwG (BVerwG, BeckRS 2022, 42146 Rn. 18). Darüber hinaus könnte selbst der Sachverhalt ein personenbezogenes Datum des Prüflings darstellen, sofern dieser auf dem ausgeteilten Bogen eigene Anmerkungen vornimmt. Auch diese wären dann Kopiegegenstand.

II. Möglichkeit verdrängender nationaler Vorschriften

Art. 15 DSGVO ist als Verordnungsvorschrift nach Art. 288 Abs. 2 AEUV auch in Deutschland unmittelbar und zwingend anwendbar. Die Wirkung der Verordnung kann nur dann durchbrochen werden, wenn dies in der DSGVO selbst vorgesehen ist. Zwar enthält diese in Art. 23 DSGVO eine Öffnungsklausel auch für die Einschränkung der Betroffenenrechte wie etwa dem Recht auf Auskunft, allerdings sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass § 23 JAG NRW das Auskunftsrecht verdrängen soll, so das BVerwG (BeckRS 2022, 42146 Rn. 38 f.). Einsicht ist etwas anderes als eine Kopie. Das Prüflinge bisher die Möglichkeit haben, auf Antrag eine kostenpflichtige Kopie zu beantragen, ist also unschädlich für den datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch.

III. Keine Auskunftsverweigerung möglich

Das Auskunftsrecht lässt sich aus verschiedenen Gründen einschränken. Zum einen darf die Auskunft nach Art. 15 Abs. 4 DSGVO die Rechte und Freiheiten anderer nicht beeinträchtigen, zum anderen darf der Auskunftsantrag nicht offenkundig unbegründet oder exzessiv sein. Auch dann ist gemäß Art. 12 Abs. 5 S. 2 lit. b) DSGVO die Verweigerung denkbar.

Da der Antrag im vorliegenden Fall zum ersten Mal gestellt wurde, kam das BVerwG richtigerweise zu dem Ergebnis, dass eine exzessive und offenkundig unbegründete Antragstellung nicht vorliegt. Auch werden mit der Kopieerteilung keine Rechte des Prüfers als andere Person beeinträchtigt, da dessen Korrektur von vornherein mit der Maßgabe erstellt wird, „dass diese den Prüflingen auf Antrag hin zugänglich gemacht werden können“ (BVerwG, BeckRS 2022, 42146 Rn. 31). Auch bereitet die Kopieerstellung keinen unverhältnismäßigen Aufwand.

„4 Das gilt zum einen mit Blick auf den Aufwand, der, wie von dem Oberverwaltungsgericht festgestellt, bei dem Landesjustizprüfungsamt durch die Bearbeitung des Antrags des Klägers in Gestalt der Herstellung und Übermittlung von insgesamt 348 Kopien in eng begrenztem Umfang entsteht. Die Berücksichtigung eines durch etwaige vergleichbare Anträge anderer Prüflinge hervorgerufenen Aufwands ist ausgeschlossen, da es nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 12 Abs. 5 Satz 2 DSGVO auf die Anträge „einer“ betroffenen Person ankommt. Es liegt auf der Hand, dass die durch den Antrag des Klägers verursachte geringe Mühewaltung des Landesjustizprüfungsamts die Annahme eines exzessiven Antrags auch dann nicht rechtfertigen könnte, wenn man hierfür auf einen nach Maßgabe einer unverhältnismäßigen Aufwand abstellen wollte (in diesem Sinne etwa: Franck, in: Gola/Heckmann [Hrsg.], DS-GVO BDSG, 3. Aufl. 2022, Art. 15 DSGVO Rn. 51; Zikesch/Sörup, ZD 2019, 239 [243 f.]; Korch/Chatard, ZD 2022, 482 [483 f.]).“ (BVerwG, BeckRS 2022, 42146 Rn. 34)

IV. Ein abschließender Blick auf die (Klausur-)Praxis

Die Landesjustizprüfungsämter werden somit nicht darum herum kommen, auf Antrag der Prüflinge Kopien der Examensklausuren unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, so wie es eben unionsrechtlich in Art. 15 DSGVO iVm. Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO vorgesehen ist. Dieser Fall eignet sich im Übrigen hervorragend für eine Klausur, auch wenn die Justizprüfungsämter aus Angst vor Kopiebegehren wohl zögern werden, derartige Sachverhalte auszuteilen. Denn Auskunft muss eben nur auf Antrag des Prüflings erteilt werden und nicht ungefragt. Gleichwohl sei die Klausurlösung von Simon Marx, JuS 2022, 143 gemeinsam mit der hier besprochenen Entscheidung des BVerwG ans Herz gelegt. Aber Achtung: Für die Lösung empfehlen sich die vom LJPA zur Berufungs- und Revisionsbegründung vorgetragenen Argumente nicht – Jurastudenten und -studentinnen würden wohl das Nichtbestehen riskieren, wenn sie das Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht derart evident missachten.

22.02.2023/1 Kommentar/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2023-02-22 10:00:002023-04-17 09:34:36Examensklausuren müssen kostenlos kopiert werden
Gastautor

Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände

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Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf.

Ist das Betäubungsmittelstrafrecht – zumindest als Lehrmaterie – im Studium noch völlig unbekannt, so erhält es spätestens im Referendariat eine große Relevanz. Denn nicht zuletzt in der Strafstation, in der als Referendarin plötzlich die Rolle einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwaltes zu übernehmen ist, kommt es zu einer Konfrontation mit genau diesem strafrechtlichen Nebengebiet. Vor den Strafrichterinnen finden sich gerne verschiedenste Ausprägungen von Täterinnen, die mit dem Betäubungsmittelstrafrecht in Berührung gekommen sind. Sei es ein einmaliger Erwerb zur Erprobung, seien es Hobby-Kifferinnen oder sogar Kleindealer*innen, die am jeweiligen Hauptbahnhof ihre Runden drehen.

I. Der Begriff des „Betäubungsmittels“

Um in die Materie einzusteigen, drängt sich jedoch zunächst eine erste Frage auf: Wie wird überhaupt der Begriff des „Betäubungsmittels“ im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) bestimmt? Welche Substanzen dürfen denn gerade nicht hergestellt, verkauft oder erworben werden? Auf eine Legaldefinition hofft man hier vergeblich; es gibt keine abstrakt-generellen Merkmale, anhand derer eine Begriffsdefinition stattfindet (vgl. BeckOK BtMG/Exner BtMG § 1 Rn. 1). Um dieses Rätsel zu lösen, lohnt sich jedoch ein Blick in § 1 Abs. 1 BtMG und davon gleich weiter in die Anlagen I bis III. Denn: Betäubungsmittel im Sinne des BtMG sind die in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen. Um die Schnelligkeit der Drogenszene hinsichtlich der Kreation neuer Suchtstoffe aber nicht außer Acht zu lassen, gibt es in § 1 BtMG noch die Abs. 2- 4, die eine Verordnungsermächtigung enthalten und die Bundesregierung ermächtigen, noch kurzfristig den Begriff des Betäubungsmittels über die Positivliste der Anlagen I-III hinaus zu weiten (vgl. JuS 2019, 211f.).

Mit Blick auf diese Anlagen fallen nun mehrere Dinge auf: Was viele erleichtern mag, sogenannte Genussdrogen (womit Alkohol, Koffein und Nikotin gemeint sind) sind keine Betäubungsmittel und nicht von der Positivliste umfasst. Ebenso nicht umfasst, sind solche Mittel des täglichen Lebens, die auf zweckentfremdende Weise wie beispielsweise mittels Inhalierens zum Rauschmittel gemacht werden. Man denke hier an das bekannte Phänomen des „Klebstoff-Schnüffelns“. Die Positivliste zeigt auf, nur besonders gefährliche psychotrop wirksame Stoffe und Zubereitungen sind als Betäubungsmittel erfasst (vgl. BeckOK BtMG/Exner BtMG § 1 Rn. 6). Diese werden wiederum in einer Dreiteilung aufgeführt: In Anlage I nicht verkehrsfähige, mithin medizinisch ungeeignete, gesundheitsschädliche Stoffe (zB Psilobycin-Pilze), in Anlage II verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Stoffe (zB Metamphetamin), in Anlage III verkehrsfähige und verschreibungsfähige Stoffe (zB Tilidin).

II. Die Mengenbegriffe des BtMG

Ist nun die Einordnung als Betäubungsmittel erfolgreich vorgenommen, stellt sich auch schon die zweite große Frage: In welcher Menge liegt das Betäubungsmittel im konkreten Fall vor? Denn das Betäubungsmittelstrafrecht ist nicht nur von der Art, sondern auch von der Menge des Rauschgiftes geprägt. Die jeweilige Menge gilt als Indikator für den Unrechtsgehalt der Tat (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29 Rn 14) und wirkt sich somit auf die tatbestandliche Einordnung und die Rechtsfolgen aus. Dabei wird zwischen drei Mengenbegriffen differenziert: die geringe Menge, die nicht geringe Menge und die normale Menge. Die geringe Menge findet in den § 29 Abs. 5 und § 31a BtMG Erwähnung und ermöglicht unter Umständen das Absehen von Verfolgung oder Bestrafung. Unter der geringen Menge versteht man eine solche, die zum einmaligen bis höchstens dreimaligen Gebrauch geeignet ist (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29a Rn.16). Die Grenzwerte sind je nach Betäubungsmittel verschieden und richten sich vorrangig nach dem Wirkstoffgehalt. Für einige Betäubungsmittel haben die Obergerichte entsprechende Grenzwerte festgelegt; im Übrigen ermittelt sich dieser regelmäßig aus dem Dreifachen einer Konsumeinheit des jeweiligen Betäubungsmittels für durchschnittliche Konsument*innen (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29a Rn.17). Die nicht geringe Menge liegt bei sichtlichem Überschreiten der geringen Menge vor und katapultiert den Deliktscharakter von einem Vergehen auf ein Verbrechen. Das zeigen die §§ 29a ff. BtMG.Auch hierzu haben die Obergerichte einige Grenzwerte festgelegt. Die normale Menge erfasst den Raum zwischen der geringen und der nicht geringen Menge. Sie ist gesetzlich nicht normiert, findet sich aber in § 29 BtMG wieder (vgl. JA 2011, 613f.).

III. Die wichtigsten Straftatbestände

In den §§ 29 bis 30b BtMG sind die Straftatbestände des BtMG normiert. Dabei ist § 29 BtMG in Form eines Vergehenstatbestandes der Grundtatbestand und enthält eine umfangreiche Aufzählung von Handlungsmodalitäten, die unter Strafe gestellt sind. Dabei umfasst die Norm strafbare Verhaltensweisen für Konsumentinnen (zB „erwirbt“) sowie für Versorgerinnen (zB „veräußert“). Regelmäßig relevant werden dabei die Varianten des § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 BtMG. In diese lohnt sich ein Blick. Die darauffolgenden §§ 29a ff. haben als Qualifikationen Verbrechenscharakter. Dass es eine so umfassende Normierung von Handlungsmodalitäten gibt, ist darauf zurückzuführen, dass Schutzgut der Straftatbestände die menschliche Gesundheit ist und daher möglichst jeder Kontakt zu Betäubungsmitteln strafrechtlich erfasst werden sollte (vgl. JA 2011, 614). Auch aus diesem Grund ist eine extensive Auslegung der Tatbestände vorzunehmen.

IV. Der Grundtatbestand

Da § 29 BtMG ein sehr umfangreicher Grundtatbestand ist, konzentrieren wir uns hier auf die praxisrelevantesten Handlungsmodalitäten: § 29 Abs. 1 Nr. 3, der erlaubnislose Besitz von Betäubungsmitteln, dient als Auffangtatbestand und soll dort Strafbarkeitslücken schließen, wo unklar ist, wie – also durch welche Handlung – es zu dem letztlich feststehenden Besitz gekommen ist. Erforderlich ist nur noch die tatsächliche Verfügungsmacht (vgl. JuS 2019, 214). Mit der Nr. 3 wurde mithin eine Beweiserleichterung für die Strafverfolgungsbehörden geschaffen (vgl. BeckOK BtMG/Wettley BtMG § 29 Rn 472). In allen anderen Fällen, in denen sich die Erlangung der Betäubungsmittel aufschlüsseln lässt, ist Nr. 3 nicht mehr anzuwenden. Weshalb wir uns nun Nr. 1 zuwenden. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG wird bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft. Eigentlich ist diese Aufzählung trotz der verschiedensten Varianten sehr einfach: sobald man unerlaubt, also ohne behördliche Erlaubnis, in Kontakt mit Betäubungsmitteln kommt, ist das schlecht. Von besonderer Bedeutung ist aber das Handeltreiben. Denn dieses ist Dreh- und Angelpunkt für die effektive Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität. Das Handeltreiben setzt nämlich nicht den Erfolg eines Absatzes voraus, sondern umfasst alle Stadien, die einem Absatzgeschäft vorausgehen (vgl. BeckOK BtMG/Becker BtMG § 29 Rn. 53f.). Mit dem Handeltreiben wird damit ein ganzes Bouqet an strafwürdigem Verhalten erfasst, was die Abgrenzung zwischen Vollendung und Versuch sowie Täterschaft und Teilnahme oftmals erschwert. Ausreichend kann so beispielsweise bereits die erfolglose Bemühung um einen Ankauf von Betäubungsmitteln für einen späteren Weiterverkauf sein (JuS 2019, 214).

V. Die Verbrechenstatbestände

Was muss nun passieren, damit aus diesem Grundtatbestand ein Verbrechen wird? Das wiederum zeigen die §§ 29a, 30 und 30a BtMG. Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr werden Personen bestraft, die über 21 Jahre alt sind und Betäubungsmittel an solche Personen abgeben, verabreichen oder überlassen die unter 18 Jahre alt sind (§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG) sowie Personen, die – unabhängig vom Alter – mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge agieren (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Die Qualifizierung zum Verbrechen beruht damit im Falle der Nr. 1 auf der gehobenen Verwerflichkeit, als erwachsene Person Minderjährigen Betäubungsmittel zur Verfügung zu stellen und das unabhängig davon, ob dies in der Funktion als Dealer*in oder im privaten Umfeld erfolgt (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG § 29a Rn. 1,2). Minderjährige sind immer besonders schutzwürdig und dürfen nicht zur Sucht „verführt“ werden. Im Falle der Nr. 2 beruht die Qualifizierung auf der unüblich hohen Menge. Einen weiteren Qualifikationstatbestand normiert § 30 BtMG, der seinen Verbrechenscharakter jedoch aus anderen Umständen erhält: Im Fokus stehen bei § 30 Abs. 1 BtMG eine Bandenmitgliedschaft, Gewerbsmäßigkeit, das leichtfertige Verursachen des Todes (Achtung: hierbei handelt es sich um eine Erfolgsqualifikation) und – hier zeigt sich ein Muster – das Einführen einer nicht geringen Menge an Betäubungsmitteln. Der Strafrahmen steigt im Gegensatz zu § 29a BtMG auf eine Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Um sowohl die Bande als auch die Gewerbsmäßigkeit zu definieren, kann einfach auf die Definitionen des allgemeinen Vermögensstrafrechts zurückgegriffen werden (vgl. JuS 2019, 213). Fallen nun Bandenmitgliedschaft und nicht geringe Menge zusammen, wird § 30a Abs. 1 BtMG relevant und der Strafrahmen steigt erneut, nun auf ein Mindestmaß einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Wichtig ist, dass sich die Bandenabrede auch auf genau diese nicht geringe Menge beziehen muss (vgl. MüKoStGB/Oğlakcıoğlu BtMG § 30a Rn. 16). § 30a Abs. 2 BtMG ähnelt § 29a Abs. 1 BtMG. So wird in Nr. 1 wieder auf das Erwachsenen-Minderjährigen-Verhältnis abgestellt, allerdings mit dem Unterschied, dass es sich bei § 30a Abs. 2 Nr. 1 BtMG um eine Anstiftungshandlung („bestimmt“) handelt. Die betroffenen Minderjährigen sollen nun auch noch für die erwachsene Person im Drogenmilieu tätig werden. § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG kombiniert nun das Mitsichführen einer Schusswaffe oder sonstiger Gegenstände mit dem Agieren mit einer nicht geringen Menge. § 30b BtMG ist kein eigenständiger Straftatbestand, sondern weitet den Anwendungsbereich des § 129 StGB aus (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG § 30b Vorb.). Relevant wird dies im Bereich der organisierten Betäubungsmittelkriminalität.

Wichtig ist stets, die Normen genau zu lesen, denn die Handlungsmodalitäten, die vom Grundtatbestand übernommen werden, variieren bei den Qualifikationen stets. Nicht immer sind alle Modalitäten erfasst; meist sogar nur eine Auswahl. Außerdem hat der Gesetzgeber ausreichend Gebrauch von minder schweren Fällen gemacht, wie sich meist am Ende der jeweiligen Norm zeigt.

VI. Konkurrenzen

Mit Blick auf die Handlungsmodalitäten des § 29 Abs. 1 BtMG und dabei insbesondere auf das unerlaubte Handeltreiben, ist leicht vorstellbar, dass mehrere Handlungsmodalitäten, die sich auf ein und dasselbe Betäubungsmittel beziehen, hintereinander auftreten können. Dies führt uns zu der Frage: Wie ist dieser Umstand konkurrenzrechtlich zu bewerten? Im Betäubungsmittelstrafrecht existiert die sogenannte Bewertungseinheit, die einen Fall der tatbestandlichen Handlungseinheit darstellt (vgl. BeckOK BtMG/Becker BtMG § 29 Rn 103-105). So wird beispielsweise Anbau, Lagerung, Transport und Verkauf einer bestimmten Rauschgiftmenge zu einer Tat, nämlich dem Handeltreiben zusammengefasst.

Das Betäubungsmittelstrafrecht ist folglich kein zu unterschätzendes strafrechtliches Nebengebiet, das sowohl in seinem Zweck herausragende Bedeutung innehat als auch in seiner Anwendung einige Abgrenzungsschwierigkeiten bereithält. Gerade in der Praxis sind die Strafverfolgungsbehörden einigen Hürden ausgesetzt und nicht stets ist zweifelsfrei zu klären, ob beispielsweise gewerbsmäßig gehandelt wird, wo die Betäubungsmittel versteckt sind und wer alles Teil der Organisationsstruktur ist.

01.02.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-01 10:00:002023-01-25 11:49:57Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
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Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Maximilian Drews veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und berichtet über sein absolviertes Pflichtpraktikum in einer Bonner Großkanzlei.

Im Hauptstudium stehen die meisten Juristinnen und Juristen vor der Frage, wo man die Pflichtpraktika absolviert und wie man dieses gestalten möchte. Für welche Art Praktikum die Entscheidung ausfällt, ist oft typenabhängig und hängt unter anderem davon ab, wie man die eigene berufliche Zukunft gestalten möchte. Soll das Rechtspflegepraktikum am Gericht absolviert werden, um bereits einen Einblick in die Richtertätigkeit zu erhalten? Oder soll es doch eher die Staatsanwaltschaft sein? Womöglich kann man sich auch eine spätere Tätigkeit in einer Großkanzlei vorstellen, auch wenn viele die dortige Tätigkeit – zu Unrecht (?) – mit einem hohen Leistungsdruck, langen Arbeitszeiten und einer gewissen Anonymität verbinden. Um dem vorzubeugen, bieten viele Großkanzleien ein- bis zweimal jährlich ein ansprechendes sechswöchiges Praktikantenprogramm an, sodass Studierende sich dort selbst ein Bild machen können. Auch ich habe mir diese Gedanken und Sorgen gemacht, mich aber schlussendlich für ein solches Praktikum in einer Bonner Großkanzlei entschieden.

In diesem Beitrag möchte ich euch – die ihr vielleicht vor einer ähnlichen Entscheidung steht – meine eigenen Erfahrungen, die ich als Teilnehmer des Programms „Interns‘ 22“ der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg (FGS) gemacht habe, mitteilen und euch so die Entscheidung womöglich erleichtern.

I. Ein kurzer Blick auf Flick Gocke Schaumburg

FGS bietet Studierenden die Möglichkeit, sechs Wochen Teil eines Teams in einem Rechtsgebiet zu sein und dort aktiv praktische Erfahrungen machen zu können. Es handelt sich um eine 1972 in Bonn gegründete Kanzlei, die ihren Fokus insbesondere auf steuerzentrierte Rechtsberatung legt. Der steuerrechtliche Themenbereich wird durch unternehmensrelevante Gebiete des Wirtschaftsrechts ergänzt. Das umfasst Bereiche wie z.B. Gesellschaftsrecht, Kartellrecht und Arbeitsrecht. Bei FGS arbeiten daher neben Rechtsanwälten auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zusammen, es wird ein interdisziplinärer Ansatz bei der Bewältigung der Aufgaben verfolgt. Aufregend ist, dass FGS nicht nur die Möglichkeit bietet, sich für den Hauptstandort Bonn zu bewerben, sondern man auch an andere Standorte in Deutschland wechseln kann. Mit den Orten Berlin, München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf erhält man hier eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten, um außerhalb der Arbeitszeit auch neue Städte in Deutschland zu erkundigen.

II. Wie läuft das Bewerbungsverfahren ab?

Das Bewerbungsverfahren beginnt ca. ein halbes Jahr vor dem Start des Programms. Die Bewerbung umfasst ein ordentliches Anschreiben, das eine Motivation für das Praktikum bei FGS beinhaltet und das Rechtsgebiet, indem man gerne aktiv werden will. Dazu müssen noch ein paar weitere Dokumente, wie Lebenslauf, Notenübersichten, Studienbescheinigung und Abiturzeugnis eingereicht werden. In einem weiteren Schritt wurde ich zu einem Auswahlgespräch eingeladen. Jenes wird in der Regel mit Mitarbeitern aus der Personalabteilung geführt. Ziel ist vor allem, gegenseitiges Kennenlernen und zu schauen, ob ein Engagement als Praktikant für beide Seiten funktionieren würde. Auch wenn es sich um ein Auswahlgespräch handelt, habe ich von Anfang an gemerkt, dass FGS Interesse an dem Bewerber hat und es ihnen darauf ankommt, jungen Juristen, BWLern oder Law & Economic Studenten, eine Möglichkeit zu bieten, sich weiterentwickeln und eine gute Erfahrung machen zu können.

Das Bewerbungsgespräch war bei mir geprägt von einer entspannten Stimmung, sodass wir ungezwungen und locker über meinen eigenen Werdegang, meine bisherigen Entscheidung in meinem Leben, meine bisherigen Engagements und natürlich das Studium sprechen konnten. Zusätzlich durfte ich Fragen stellen, Vorstellungen äußern und es wurden auch individuelle Bedürfnisse berücksichtigt. Bei mir war es z.B. so, dass ich neben dem Praktikum weiterhin gerne einen Tag am Lehrstuhl arbeiten wollte. Ich konnte dies, ohne mir Sorgen machen zu müssen, erwähnen – die Anwälte und Anwältinnen waren selbst Studierende und kennen das, sodass sie für vieles Verständnis haben. Hier lässt sich für vieles eine Lösung finden.

Nachdem man das Auswahlgespräch erfolgreich hinter sich gebracht hat, muss man nur noch den Praktikumsvertrag unterschreiben und startet dann in die sechs Wochen.

III. Die Mitarbeit im Team

Am zweiten Tag des Praktikums trafen wir auf unsere Teams. Die Größe des Teams variiert je nach Bereich. Im Arbeitsrecht-Team, das von Herrn Dr. Tobias Nießen geleitet wird, gibt es z.Zt. insgesamt acht Anwältinnen und Anwälte. Zusätzlich gibt es noch die Assistenz, sowie Wissenschaftliche Mitarbeiter und Studentische Hilfskräfte. Nachdem ich von meiner Tutorin, Frau Dr. Siegfanz-Strauß, begrüßt wurde, stellte diese mich dem Team vor.

Danach startete auch direkt die aktive Mitarbeit. Die Aufgaben bekam ich nicht nur von meiner Tutorin, sondern auch von den anderen Anwälten und Anwältinnen. Dadurch, dass jeder mich mit in die Arbeit am Mandat einbezog, erhielt ich viele Einblicke in Frage- und Problemstellungen des individuellen Arbeitsrechts, des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts. Zu meinen Aufgaben zählten neben Recherchen zu inhaltlichen Punkten und dem Übersetzen von Klageschriften auch das selbstständige Formulieren von Mandantenschreiben, insbesondere bzgl. rechtlicher Fragestellungen. Die vielen abwechslungsreichen und fordernden Aufgaben und die Herausforderung, sich immer wieder in neue Themengebiete einzuarbeiten, hat mir großen Spaß gemacht. Ich kam mit den Anwältinnen und Anwälten inhaltlich ins Gespräch, durfte selbst Lösungen erarbeiten und diese später präsentieren. Vor allem die aktive Beteiligung an Due Diligence- Prüfungen durch die Überprüfung von arbeitsvertraglichen Klauseln und die Verbindungen von Arbeits- und Gesellschaftsrecht hat mir besonders gefallen.

Weiterhin wurde mir durch die direkte Einbindung in die Kommunikation mit Mandanten der spannende, abwechslungsreiche und internationale Arbeitsalltag der Anwältinnen und Anwälte nähergebracht, denn nicht alle Mandanten befinden sich in Deutschland. Nichtsdestotrotz finden auch vor Ort immer wieder Gerichtstermine statt, so konnte ich etwa am Arbeitsgericht Koblenz an einer Güteverhandlung teilnehmen.

Neben der gelungenen Integration durch die vielen Aufgaben war aber auch die offene, direkte und freundliche Art und Weise, mit der ich aufgenommen wurde, ausschlaggebend dafür, dass ich mich direkt wohlfühlte. Meine Arbeit wurde immer wertgeschätzt, was ich unter anderem daran merkte, dass meine Meinungen und meine Sichtweisen den Anwältinnen und Anwälten wichtig waren und ich aktiv in Diskussionen mit eingebunden wurde. Zudem war jeder im Team stets offen für Fragen und nahm sich stets die Zeit, mir die Sachverhalte und Entwicklungen der unterschiedlichen Mandate zu erklären. Für das Studium und das Examen konnte ich im individuellen Arbeitsrecht einiges mitnehmen, z.B. zur Kündigung oder zur Gestaltung von arbeitsvertraglichen Klauseln. Weiterhin konnte ich im Bereich Argumentationsstruktur und Ausdrucksweise viel durch die Anwälte und Anwältinnen lernen und werde dies im weiteren Studium anwenden und mich verbessern können.

IV. Was wird noch vom Praktikantenprogramm umfasst?

Neben der Arbeit in den Teams zeichnet sich das Programm durch eine Vielzahl von Veranstaltungen und Events aus.

Am ersten Tag wurden zunächst alle Praktikanten aller Standort in Bonn empfangen und bekamen eine Führung durch das Bürogebäude. Danach durften wir uns auf einen Akademie-Vortrag von Herrn Graf von Hoyos freuen. Der Vortrag thematisierte richtige professionelle Umgangsformen, Networking und gute Kommunikation, sodass man eine Idee davon bekam, wie man sich z.B. gegenüber Geschäftspartnern, Mandanten und/ oder bei offiziellen Anlässen verhalten soll, wie man guten Smalltalk führt und sich ein gutes und weitreichendes Network aufbauen kann. Vor allem die lebendige und unterhaltenden Art und Weise des Vortrags, verbunden mit praktischen Anwendungsübungen, machten diesen zu einem Ereignis mit Mehrwert, von dem ich sowohl privat als auch für das spätere Berufsleben einiges mitnehmen werde.

Der Fokus der ersten beiden Tage lag allerdings darauf, dass alle gut ankommen und die Praktikanten sich untereinander kennenlernen. Nach einer Stadtrundfahrt in einem Cabrio-Bus endete der Tag mit einem gemeinsamen BBQ. Beide Veranstaltungen eröffneten uns Praktikanten die Chance untereinander ins Gespräch zu kommen. Schön war auch, dass beim BBQ neben dem herrlich sommerlichen Abendwetter und dem guten Essen zum Teil einige Tutoren und Tutorinnen hinzukamen, sodass man bei einer lockeren Atmosphäre und einem guten Glas Wein oder Kölsch in den gemeinsamen Austausch kam. Dadurch, dass das Programm am nächsten Tag erst um 10 Uhr fortgeführt wurde, konnten wir lange am Bonner Standort verweilen und es war genügend Zeit mit jedem in Kontakt treten zu können.

Auch in den darauffolgenden Wochen begleitete uns ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm. Wöchentlich gab es Fachvorträge, z.B. zur Wirtschaftsprüfung, zum Arbeitsrecht, Steuerrecht und Gesellschaftsrecht. Durch diese erhielt ich eine inhaltliche Vorstellung von und einen guten Überblick über die Bereiche in der Praxis. Beispielsweise wurde uns im Bereich „Steuern und M&A Transaktionen“ der Verkaufsprozesses eines Unternehmenskaufs von der Anbahnungsphase bis zum Vollzug (Closing) nähergebracht und wir lernten was einen „Asset Deal“ von einem „Share Deal“ unterscheidet und welcher wann sinnvoller ist.

Auch hier wurde immer ein steuerlicher Bezug hergestellt und die steuerlichen Vor- und Nachteile der Deals angesprochen. Außerdem gab es noch Schulungen zu Word, PowerPoint und Excel, bei denen man nicht ausschließlich Basiswissen, sondern auch tiefergehendes Knowhow vermittelt bekam. Abschließend wurde zu jedem Thema eine ausgiebige Q&A Session durchgeführt. Zudem konnten wir alle zwei Wochen in kleineren Gruppen einen Legal-English-Kurs teilnehmen, bei dem wir grammatikalisch und sprachlich gefördert und uns die Unterschiede zwischen „legal“ und „regular“ Englisch erklärt wurden. Hierbei kam es unserem muttersprachlichen Englischlehrer auf viel Kommunikation untereinander an, bei der ihm aber immer auch der Spaß wichtig war. Des Weiteren nahmen wir an einem Auftrittskompetenztraining teil. Letzteres schulte uns unter anderem zu den Themen freie Rede, Stegreifreden, Auftritte in virtuellen Veranstaltungen und Vorträge vor einem Publikum. Dabei wurde auch auf Besonderheiten im virtuellen Raum, in dem man z.B. die Wirkung nur durch Kopf und Oberkörper erzeugen kann, und auf das richtige Setting & Verhalten vor der Kamera eingegangen. So sollte man bei virtuellen Vorträgen unter anderem einen Raum mit Tiefe nutzen und auf den passenden Bildausschnitt achten. Durch interaktive Aufgaben und Übungen hatte man zudem die Möglichkeit das Gelernte bei kleinen Vorträgen umzusetzen und bekam dafür konstruktive Feedbacks. All das wird mir bei zukünftigen mündlichen Prüfungen und/oder Präsentationen eine Hilfe sein.

In besonderer Erinnerung bleiben mir der Bonner Firmenlauf mit anschließendem Ausklang, bei dem FGS mit über 80 Teilnehmern vertreten war, und die 50-jährige Jubiläumsfeier, zu der wir Praktikanten auch eingeladen wurden. Mit ca. 1000 Gästen startete dieser nachmittags im Atrium des FGS-Gebäudes. Alle Standorte wurden zudem durch lokale kulinarische Leckerbissen repräsentiert. So wurde unter anderem Weißwurst mit Brezeln für den Standort München und Currywurst für Berlin angeboten. Begleitet wurde die Veranstaltung durch Livemusik im Hintergrund. Zu meinem persönlichen Highlight zählt der weitere Ablauf des Abends. Nachdem Ausklang der Veranstaltung machten sich viele von uns auf den Weg in die Bonner Altstadt, wo wir zunächst noch eine Kneipe besuchten und später in einem Club endeten. Getragen wurde der gesamte Tag dabei von einer lustigen und gelösten Stimmung, großartigen Gesprächen und jeder Menge Spaß.

V. Ein Praktikums-Fazit

Das Praktikum bei FGS hat mir gezeigt, dass Großkanzlei zwar ein forderndes, motiviertes und anspruchsvolles, aber trotzdem angenehmes Umfeld sein kann, bei dem das Miteinander und die gute juristische Arbeit im Vordergrund steht. In positiver Erinnerung wird mir die professionelle und kommunikative sowie sehr kollegiale Zusammenarbeit zwischen den Anwälten bleiben. Teilweise bestätigten sich zwar längerer Arbeitszeiten (ca. 19-20 Uhr) und Stress, dennoch konnte man immer die Freude der Anwälte und Anwältinnen an der Juristerei erkennen.

Teil eines großen Teams zu sein, täglich seinen Beitrag zu diversen spannenden Projekten zu leisten und die Atmosphäre einer Großkanzlei über diesen Zeitraum mitzuerleben, sind Erfahrungen, die mich auch in Zukunft begleiten und die mir Motivation für das weitere Studium geben werden. Dank der vielen Veranstaltungen, der gemeinsamen Mittagessen und Spaziergänge war das Praktikum ebenfalls wertvoll, um Freundschaften zu schließen und Studenten und Studentinnen aus anderen Semestern kennenzulernen

Insgesamt blicke ich auf eine abwechslungsreiche, aufregende und bereichernde Zeit zurück, die mich als Juristen und als Person weitergebracht hat und die ich jedem weiterempfehlen kann.

VI. Ein kurzes Interview

Meine Tutorin Frau Dr. Siegfanz-Strauß aus dem Arbeitsrecht-Team geht hier noch einmal auf einige Fragen rund um das Praktikantenprogramm ein:

  1. Was erhofft man sich, insbesondere im Bereich Arbeitsrecht von dem Praktikantenprogramm – ergeben sich dadurch Möglichkeiten?

Wir hoffen, den Praktikanten im Praktikantenprogramm einen möglichst umfassenden Einblick in unsere Arbeit – inhaltlich und „organisatorisch“ – zu ermöglichen und gestalten dabei die Zeit bei uns möglichst interessant und lehrreich. Dabei versuchen wir, den Praktikanten als Team-Mitglied vollständig zu integrieren. Auch ist es wichtig, Möglichkeiten zu gestalten, die im Programm und im Team gewonnenen Kontakte auszubauen und bereits in diesem frühen Stadium dabei zu unterstützen, ein persönliches Netzwerk zu schaffen.  Dieses soll ehemaligen Praktikanten insbesondere die Möglichkeit geben, einen/mehrere Ansprechpartner für persönliche oder „strategische“ Fragen in Bezug auf die weiteren Schritte der juristischen Ausbildung zu gewinnen.

  1. Welche Erwartungen werden an den Praktikanten im Team gestellt?

Wir hoffen, dass es den Praktikanten gelingt, sich gut in das Team zu integrieren und Aufgaben zu verstehen und bestmöglich umzusetzen. Dabei kommt es uns bei den Praktikanten noch nicht darauf an, dass wir das Ergebnis 1:1 verwerten können, sondern vielmehr darauf, dass wir sehen, dass der Praktikant Engagement und Interesse an unserem Rechtsgebiet zeigt sowie Problemfelder erkennt und lernt, mit diesen umzugehen. Dabei setzen wir auf einen engen Austausch mit den Anwälten/Anwältinnen und Feedback, damit auch in der kurzen Zeit Fortschritte erzielt werden, die zu weiteren Einblicken und Zufriedenheit des Praktikanten führen. 

  1. Welche Möglichkeiten bestehen über das Praktikantenprogramm hinaus in Kontakt zu bleiben?

Bei FGS schaffen wir den weiteren Kontakt insbesondere über das KIT-Programm (keep-in-touch). Mit diesem Programm möchten wir mit Teilnehmern das gegenseitige Kennenlernen vertiefen und im Idealfall künftig in gleicher oder anderer Funktion wieder zusammenkommen. Die Programmteilnehmer werden deswegen zu verschiedenen FGS-Veranstaltungen eingeladen, erhalten aktuelle Informationen zu Entwicklungen bei FGS und bleiben auch mit dem für sie zuständigen Partner in Kontakt.

Darüber hinaus besteht aber auch in den einzelnen Abteilungen die weitergehende Möglichkeit, persönlich in Kontakt zu bleiben. Es ist uns wichtig, unsere Praktikanten auch im Anschluss an das Praktikantenprogramm weiterhin auf ihrem Weg zu begleiten und freuen uns immer, wenn wir immer einmal wieder kontaktiert werden, wenn unser Rat gefragt ist oder sich die Möglichkeit ergibt, gemeinsam weitere Karriereschritte zu planen. Dies kann über das Telefon, per E-Mail aber auch über Plattformen wie LinkedIn erfolgen.

  1. Was ist dir persönlich besonders wichtig (bzgl. des Programms, des Praktikanten)?

Mir persönlich ist es wichtig zu sehen, dass es ein Praktikant schafft, sich ins Team zu integrieren und sich bemüht, Aufgaben zu lösen und dabei auch aus Feedback zu lernen. Unsere Aufgabe dabei ist es, dem Praktikanten diese Möglichkeiten zu eröffnen, indem wir ihn offen aufnehmen, für Rückfragen jederzeit zur Verfügung stehen und ihm Aufgabenstellungen erläutern und diese in den Kontext einordnen. Wir hoffen, in der Praktikumszeit einen so weitgehenden Einblick in unsere Arbeit liefern zu können, dass der Praktikant am Ende weiß, dass die Tätigkeit als Anwalt/Anwältin im Bereich Arbeitsrecht bei FGS eine sehr interessante Option für den späteren Karriereweg ist.

03.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-03 07:26:222023-01-04 10:57:01Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“
Gastautor

Das Sanktionssystem im Jugendstrafrecht – von Erziehungsmaßregeln bis zur Jugendstrafe

Rechtsgebiete, StPO, Strafrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.

Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe? Einstellen oder aburteilen? Liest man sich erst einmal in die Grundlagen des Jugendstrafrechts ein, fällt auf: Das Jugendstrafrecht hat als Sonderstrafrecht für junge Täter*innen ein ganz eigenes Rechtsfolgensystem. Dieses nachvollziehen zu können, erfordert eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem JGG. Das Jugendstrafrecht geht mit Strafe nämlich deutlich anders um als das Erwachsenenstrafrecht. Es stellt den Erziehungsgedanken in den Vordergrund und nimmt Abstand von negativer Generalprävention. § 5 JGG enthält ein in sich geschlossenes eigenständiges System von Rechtsfolgen. § 5 JGG gilt für Jugendliche und über § 105 Abs. 1 JGG in großen Teilen für Heranwachsende und normiert als mögliche Rechtsfolgen eine Trias aus Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmitteln (§§ 13- 16 JGG) und der Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). § 5 Abs. 1 JGG erfasst die reinen Erziehungsmaßnahmen, Abs. 2 die Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe). Wegen des unterschiedlichen Schwerpunktes in der Zielsetzung der Sanktionen sind die Rechtsfolgen des JGG gegenüber denen des Erwachsenenstrafrechts ein „aliud“ (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 5 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 5 Rn. 9). Gemäß § 8 JGG können die möglichen Sanktionen auch miteinander kombiniert werden.

I. Erziehungsmaßregeln

Fangen wir vorne an: Erziehungsmaßregeln können aus Anlass der Straftat angeordnet werden. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Erziehungsmaßregeln sind (1) die strafrechtliche Verantwortlichkeit, (2) Erziehungsbedürftigkeit, (3) Erziehungsfähigkeit und (4) Erziehungsbereitschaft. Ob sie angeordnet werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes. Entscheidend ist, dass die Erziehungsmaßregeln aus der Sicht des Gerichts nur erzieherische, positiv-präventive Zwecke verfolgen dürfen; Gesichtspunkte der Sühne und Vergeltung dürfen keine Rolle spielen (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 9 Rn. 7). Die Erziehungsmaßregeln stehen unter dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie sind nicht dafür bestimmt, das Unrecht der Tat auszugleichen, sondern werden nur aus Anlass der Tat angeordnet. Was genau Erziehungsmaßregeln sind, normiert § 9 JGG: Nr. 1 die Erteilung von Weisungen, Nr. 2 die Anordnung, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 in Anspruch zu nehmen. Diese Aufzählung ist erschöpfend und gilt gemäß § 105 Abs. 1 JGG auch für Heranwachsende. § 10 JGG definiert wiederum Weisungen als „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen“. Kommen die Jugendlichen oder Heranwachsenden Weisungen schuldhaft nicht nach, so kann gemäß § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung zuvor erfolgt war. Dieser Arrest wird in der Form des § 16 JGG angeordnet, ist also Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest. Die Erziehungsmaßregel „Hilfe zur Erziehung“ gemäß § 12 JGG wird in § 105 JGG nicht erwähnt und gilt daher nur für Jugendliche.

II. Ahndungsmittel

Reichen Erziehungsmaßregeln hingegen nicht aus, so hat das Gericht auf Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe) zurückzugreifen. Die Ahndungsmittel berücksichtigen neben dem Erziehungsgedanken ebenso die Sanktionszwecke der Sühne und Vergeltung.

III. Zuchtmittel

Auf der zweiten Stufe der Rechtsfolgentrias stehen nun die Zuchtmittel. Zuchtmittel haben nicht die Rechtswirkung einer Strafe. Die Verhängung von Zuchtmitteln setzt voraus, dass einerseits Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen, andererseits die einschneidendere Ahndungsform der Jugendstrafe nicht geboten ist (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 13 JGG Rn. 4; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 13 Rn. 7 ff.).  § 13 Abs. 2 JGG enthält einen abschließenden Katalog von Zuchtmitteln: Die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen und den Jugendarrest. Die Verwarnung gemäß § 14 JGGgilt als mildestes Zuchtmittel. Sie kommt bei leichten Verfehlungen in Betracht. Die Verwarnung kann isoliert ausgesprochen oder mit anderen Maßnahmen kombiniert werden (§ 8 JGG). Die Ermahnung unterscheidet sich von der Verwarnung dadurch, dass sie kein Zuchtmittel ist, formlos erteilt wird und zur Einstellung des Verfahrens führt. Auflagen gemäß § 15 JGG dienen der Ahndung der Tat. Das mit den Auflagen angeordnete Verhalten ist eine echte tatbezogene Sühneleistung mit dem erzieherischen Zweck, den Jugendlichen und Heranwachsenden von weiteren Straftaten abzuhalten. Abs. 1 enthält dabei eine abschließende Regelung der im Jugendstrafrecht zulässigen Auflagen: Schadenswiedergutmachung, Entschuldigung, Arbeitsleistungen und Zahlung eines Geldbetrages. Bei schuldhafter Nichterfüllung von Auflagen kann das Gericht entsprechend § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest als Ungehorsamsarrest verhängen (§ 15 Abs. 3 JGG). Der Jugendarrest gemäß § 16 JGG ist Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 16 Rn. 27 ff.) und kann gegen Jugendliche sowie Heranwachsende verhängt werden. Jugendarrest ist kurzzeitiger Freiheitsentzug ohne Rechtswirkungen einer Strafe. Höchstmaß des Dauerarrestes ist ein Zeitraum von vier Wochen. Die oder der Verurteilte gilt nicht als vorbestraft.

IV. Jugendstrafe

In den §§ 17 ff. JGG finden sich die Vorschriften über die Jugendstrafe, dem letzten Glied der Rechtsfolgentrias. Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. Eine Jugendstrafe kann gegen Jugendliche und Heranwachsende verhängt werden. Voraussetzung für die Verhängung ist gemäß § 17 Abs. 2 JGG das Vorliegen einer „schädlichen Neigung“, die in der Tat hervorgetreten ist, das Nichtausreichen von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln zur Erziehung oder die Erforderlichkeit der Strafe aufgrund der Schwere der Schuld. Schädliche Neigungen liegen vor, „wenn bei dem Täter erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel zu beobachten sind, die ohne eine längere Gesamterziehung die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat angelegt waren und im Zeitpunkt des Urteils noch gegeben sind und deshalb weitere Straftaten befürchten lassen.“ Die besondere Schwere der Schuld ist regelmäßig nur bei Tötungsdelikten oder Delikten mit Todesfolge gegeben. § 18 JGG gibt als Dauer der Jugendstrafe als Mindestmaß 6 Monate, als Höchstmaß 10 Jahre an. Entgegen § 18 Abs. 1 JGG beträgt bei Heranwachsenden die Höchststrafe bis zu zehn Jahren, bei Mord und Vorliegen der besonderen Schwere der Schuld bis zu 15 Jahren (§ 105 Abs. 3 JGG). Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Dauer der Jugendstrafe nach der erforderlichen erzieherischen Einwirkung zu bemessen. § 18 Abs. 2 JGG steht damit im Kontrast zum Zumessungsprogramm des allgemeinen Strafrechts in § 46 StGB und bildet die Grundlage für eine eigenständige jugendstrafrechtliche Zumessungslehre.

V. Strafaussetzung zur Bewährung

Bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht regelmäßig die Vollstreckung der Strafe unter den Voraussetzungen des § 21 JGG zur Bewährung aus. Bei einer günstigen Prognose ist die Strafaussetzung zwingend vorgeschrieben. Voraussetzung für eine günstige Prognose ist die Erwartung, dass die oder der Jugendliche oder Heranwachsende künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird, und zwar aufgrund der Möglichkeiten in der Bewährungszeit und ohne die Einwirkung des Strafvollzuges. Die Strafaussetzung ist sowohl von einer günstigen Sozial- als auch von einer positiven Sanktionsprognose abhängig (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 21 JGG Rn. 8; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 21 Rn. 11ff.). Die Höchstgrenze der Strafaussetzung zur Bewährung beträgt zwei Jahre und richtet sich damit nach dem allgemeinen Strafrecht. Die Bewährungszeit darf gemäß § 22 JGG drei Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten.  Auflagen und Weisungen nach § 23 JGG sind als flankierende Maßnahmen zu der Strafaussetzung auf Bewährung möglich.

VI. Vorabentscheidung gemäß § 27 JGG

§ 27 JGG normiert keine eigenständige Rechtsfolge des Jugendstrafrechts im strafrechtlichen Sinne. Die Vorschrift erlaubt nur in bestimmten Fällen die Aufspaltung der sonst vorgeschriebenen einheitlichen Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage. Hinsichtlich des Schuldspruchs trifft das Gericht eine rechtskraftfähige Vorabentscheidung, während die Rechtsfolgenbestimmung in Ob und Maß zunächst noch aufgeschoben und vom Bewährungsverlauf abhängig gemacht wird (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 27 Rn. 2). Inhaltlich regelt die Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz „in dubio pro reo“, die dazu führt, dass begründete Zweifel an dem Vorliegen einer schädlichen Neigung im notwendigen Umfang nicht dazu führen, von vornherein in dubio pro reo von einer Jugendstrafe abzusehen, sondern die Entscheidung darüber bis zur endgültigen Gewissheit aufzuschieben. Die Regelung des § 27 JGG soll den Jugendlichen und Heranwachsenden eine Chance bieten, in der Bewährungszeit (§ 28 JGG) zu zeigen, dass die festgestellten schädlichen Neigungen nicht den Umfang haben, den die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert. Die Entscheidung nach § 27 JGG wird in das Bundeszentralregister, nicht jedoch in das Führungszeugnis eingetragen. Die Eintragungen werden entfernt, wenn der Schuldspruch getilgt oder in eine Entscheidung einbezogen wird, die in das Erziehungsregister einzutragen ist. Wird die schädliche Neigung im erforderlichen Umfang festgestellt, ist gemäß § 30 Abs. 1 JGG eine Jugendstrafe zu verhängen. Wird diese hingegen nicht festgestellt, wird der Schuldspruch gemäß § 30 Abs. 2 getilgt (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 30 Rn. 18, 19).

VII. Aburteilung

Haben sich Jugendliche oder Heranwachsende wegen mehrerer Straftaten strafbar gemacht, setzt das Gericht gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 JGG nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest. Dabei dürfen die gesetzlichen Höchstgrenzen des Jugendarrestes und der Jugendstrafe nicht überschritten werden.

Wurden mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen begangen und werden diese gleichzeitig abgeurteilt, gilt gemäß § 32 S. 1 JGG einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die auch nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Liegt das Schwergewicht im allgemeinen Strafrecht, so ist dieses anzuwenden.

Welche dieser Sanktionsmittel schlussendlich verhängt werden, liegt im Ermessen des zuständigen Jugendgerichtes. Entscheidend sind neben der Schwere der Tat insbesondere die Reife der Jugendlichen und Heranwachsenden, die Vorschläge der Jugendgerichtshilfe sowie das Nachtatverhalten.

VIII. Einstellungsmöglichkeiten im JGG

Ähnlich wie im Erwachsenenstrafrecht gibt es aber auch im Jugendstrafrecht Einstellungsmöglichkeiten. Es muss also nicht immer jede Verfehlung vor Gericht landen oder auch durch Urteil entschieden werden. § 45 JGG ermöglicht ein Absehen von der Verfolgung.  Die Staatsanwaltschaft kann ohne Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen. § 45 JGG ist eine der wesentlichen Grundlagen der Diversion im Jugendstrafverfahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 45 JGG Rn. 4). § 47 JGG ermöglicht die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht. Eingestellt werden kann, „wenn 1. die Voraussetzungen des § 153 der Strafprozeßordnung vorliegen, 2. eine erzieherische Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 2, die eine Entscheidung durch Urteil entbehrlich macht, bereits durchgeführt oder eingeleitet ist, 3. der Richter eine Entscheidung durch Urteil für entbehrlich hält und gegen den geständigen Jugendlichen eine in § 45 Abs. 3 Satz 1 bezeichnete Maßnahme anordnet oder 4. der Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist.“ Die Einstellung nach § 47 JGG bedarf gemäß Abs. 2 der Zustimmung der Staatsanwaltschaft, sofern nicht bereits der vorläufigen Einstellung zugestimmt wurde. Einer Zustimmung bedarf es ferner nicht, wenn die Einstellung im vereinfachten Jugendverfahren (§§ 76 ff. JGG) erfolgt und die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat.

In § 2 JGG ist klar normiert, dass der Erziehungsgedanke im Vordergrund zu stehen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Dieser Hintergedanke muss bei der Konfrontation mit dem Jugendstrafrecht auch stets beachtet werden. Nur mit diesem Hintergrund kann ein passender Umgang mit Jugendlichen und Heranwachsenden und die Prävention weiterer Taten erreicht werden. Dringend notwendig ist dafür die vertiefte Kenntnis des Sanktionssystems als „aliud“ zum Erwachsenenstrafrecht.

30.11.2022/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-11-30 10:00:002022-12-23 08:49:45Das Sanktionssystem im Jugendstrafrecht – von Erziehungsmaßregeln bis zur Jugendstrafe
Gastautor

Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick

Rechtsgebiete, Startseite, StPO, Strafrecht, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.

Begeht eine Erwachsene oder ein Erwachsener eine Straftat, passiert meist Folgendes: Wir arbeiten uns materiell-rechtlich durch die Straftatbestände des StGB und prozessrechtlich durch die Verfahrensvorschriften der StPO und des GVG. Wir finden die einschlägigen Paragrafen, klagen vor der Strafrichterin oder dem Strafrichter, dem Schöffengericht, dem Landgericht oder sogar Oberlandesgericht an und verhandeln meist öffentlich über die zu erwartende Strafe. Doch was geschieht, wenn die Täterin oder der Täter jünger als 21 Jahre alt ist?

Diese Fragestellung kann beispielsweise in der mündlichen Prüfung auftauchen und wird die Prüflinge häufig überraschend treffen. Denn leider wird dieses strafrechtliche Nebengebiet oftmals  vernachlässigt. Wie dann zu antworten ist, verraten wir im Folgenden:

Unterhalb der magischen Altersgrenze von 21 Jahren ist das Jugendstrafrecht einschlägig. Das Jugendstrafrecht ist ein strafrechtliches Nebengebiet und Sonderstrafrecht für junge Täterinnen. Für Ermittlungs- und Strafverfahren gegen die jungen Täterinnen gelten zwar grundsätzlich die Vorschriften der StPO, aber nur bis zu dem Punkt, an dem das Jugendgerichtsgesetz (JGG) oder allgemeine Grundsätze des JGG vorrangig sind. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht, das auf die Tat bezogen ist, ist das Jugendstrafrecht auf die jeweiligen Täter*innen bezogen. Im Vordergrund steht nicht die Strafe, sondern die Erziehung. Gemäß § 2 Abs. 1 JGG soll die Anwendung des Jugendstrafrechts vor allem erneuten Straftaten von Jugendlichen oder Heranwachsenden (Rückfallkriminalität) entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Aus diesem Grund sieht das JGG auch andere Rechtsfolgen vor als das Erwachsenenstrafrecht. Als Rechtsfolgen normiert sind Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmittel (§§ 13-16a JGG), und die Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). Aspekte der negativen Generalprävention dürfen allgemein nicht berücksichtigt werden.

I. Anwendbarkeit des JGG

Doch zunächst stellt sich die Frage: Auf wen ist das Jugendstrafrecht anwendbar? Kinder unter 14 Jahren sind nach § 19 StGB schuldunfähig. Diese Schuldunfähigkeit stellt ein Prozesshindernis dar, sodass Kinder unter 14 Jahren strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden können (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 10). Im Falle von vermehrter Kinderdelinquenz muss das Verhalten für ein Kind unter 14 Jahren jedoch nicht folgenlos bleiben. Das Jugendamt – insbesondere die jeweils zuständige Jugendgerichtshilfe – kann sich einschalten. Bei der Frage nach dem Anwendungsbereich des JGG hilft § 1 Abs. 2 weiter: „Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.“ Ausschlaggebend ist stets das Alter zum Zeitpunkt der Tat. Das heißt, dass auch eine jetzt 25-jährige Täterin nach Jugendstrafrecht behandelt werden kann, wen sie die Tat eben acht Jahre zuvor begangen hat. Ist zweifelhaft, ob die oder der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden, ergänzt § 1 Abs. 3 JGG. Bei Zweifeln über den genauen Tatzeitpunkt oder über das exakte Geburtsdatum gilt also die jeweils günstigere Rechtsfolge (in dubio pro reo) (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 1 JGG Rn. 25; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 1 Rn. 3).

II. Gerichtliche Zuständigkeiten

Wer ist nun für dieses Sonderstrafrecht zuständig? Die örtliche Zuständigkeit folgt aus dem allgemeinen Strafverfahrensrecht; sie kann sich mithin nach den §§ 7 ff. StPO richten. Es ist aber in aller Regel das Gericht am Wohnort der Jugendlichen oder Heranwachsenden zuständig. Anders als bei Erwachsenen soll das Verfahren nämlich grundsätzlich bei dem Gericht stattfinden, wo seine Durchführung die Jugendlichen oder Heranwachsenden wegen des jugendlichen Alters am wenigsten belastet und dem die familiengerichtliche Zuständigkeit obliegt. Damit wird auch bezweckt, dass sowohl Jugendliche als auch Heranwachsende stets auf die gleichen Gesichter treffen und auf diese Weise dem Erziehungsgedanken besser Genüge getan werden kann. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 39, 40 und 41 JGG für Jugendliche, über § 108 Abs. 1 JGG für Heranwachsende. Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter ist gemäß § 39 JGG zuständig, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach dem JGG zulässige Nebenstrafe und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind.  Gemäß § 39 Abs. 2 JGG darf die Jugendrichterin oder der Jugendrichter auf Jugendstrafe von mehr als einem Jahr nicht erkennen. Das Jugendschöffengericht ist gemäß § 40 JGG zuständig für alle Verfahren, für die nicht die Jugendrichterin oder der Jugendrichter oder die Jugendkammer beim Landgericht zuständig sind. Die Rechtsfolgenkompetenz ist im Gegensatz zum Jugendrichter oder zur Jugendrichterin und allgemeinen Schöffengericht grundsätzlich unbeschränkt. Wendet das Jugendschöffengericht Jugendstrafrecht an, hat es eine unbeschränkte Rechtsfolgenkompetenz und kann bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen eine Jugendstrafe bis zur gesetzlichen Höchstgrenze verhängen; wendet es hingegen Erwachsenenstrafrecht an, hat es eine Strafgewalt in Höhe von 4 Jahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 40 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 40 Rn. 4). Die Jugendkammer ist gemäß § 41 JGG erstinstanzlich zuständig vor allem für die Sachen, die nach allgemeinem Recht vor das Schwurgericht gehören, für umfangreiche Sachen, die die Jugendkammer nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht übernommen hat, sowie nach § 103 Abs. 1 JGG für verbundene Verfahren gegen Jugendliche und Erwachsene, sofern für die Erwachsenen die große Strafkammer zuständig wäre. Als Rechtsmittelgericht entscheidet die Jugendkammer über Berufungen gegen Urteile der Jugendrichterin oder des Jugendrichters und des Jugendschöffengerichtes. Sie entscheidet auch über Beschwerden gegen Verfügungen und Entscheidungen der Jugendrichterin oder des Jugendrichters sowie des Jugendschöffengerichtes.

III. Beteiligte im Jugendstrafverfahren

Grundsätzlich finden sich die gleichen Beteiligten im Jugendstrafverfahren, die auch im Erwachsenenstrafverfahren vorzufinden sind: Staatsanwaltschaft, Gericht und gegebenenfalls Verteidigerin. Bei der Staatsanwaltschaft besteht eine eigene Abteilung mit Jugendstaatsanwältinnen, das Gericht ist mit Jugendrichterinnen besetzt und auch die eingesetzten Schöffen sollten pädagogisch qualifiziert sein. Besondere Beteiligte in einem Jugendstrafverfahren ist aber die Jugendgerichtshilfe (JGH) oder auch Jugendhilfe im Strafverfahren (JiS). Die Bezeichnung variiert je nach Jugendamt. Die JGH wird gemäß § 38 JGG von den Jugendämtern in Zusammenwirken mit den Vereinigungen der Jugendhilfe ausgeübt. Die Mitarbeiterinnen der JGH werden durch die Polizei und/oder Staatsanwaltschaft über jedes Verfahren informiert, das gegen Jugendliche oder Heranwachsende eingeleitet worden ist. Sie beraten die Beschuldigten und deren Angehörige, helfen bei Schwierigkeiten, die sich durch das Verfahren ergeben können, interessieren sich für die Persönlichkeit und die besonderen Lebensumstände der Betroffenen. Sie klären Beweggründe für die Straftat und verhelfen dem Gericht zu einem ausgewogenen Urteil, indem sie die Gesprächsergebnisse in Form eines Jugendgerichtshilfeberichtes vorlegen sowie bei der Gerichtsverhandlung eine mündliche Stellungnahme abgeben, verbunden mit einem Vorschlag der zu ergreifenden Maßnahme. Die Zuständigkeit der JGH richtet sich nach dem Wohnort. Bei Minderjährigen ist der Wohnort der Eltern ausschlaggebend, § 87b SGB VIII. Die Zuständigkeiten innerhalb der JGH sind wiederum unterteilt nach Stadtbezirken.

IV. Grundsatz der Nichtöffentlichkeit

Bei einem Jugendstrafverfahren ist ferner § 48 JGG zu beachten. Danach gilt im Jugendstrafverfahren der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit. § 48 JGG gilt dabei nicht für Heranwachsende, jedoch kann gemäß § 109 Abs. 1 S. 4 JGG die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies „im Interesse des Heranwachsenden geboten“ ist. Maßgeblich für die Anwendung des § 48 JGG ist wiederum das Alter der Angeklagten oder des Angeklagten zur Tatzeit.

V. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

Damit schlussendlich Jugendliche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, muss deren strafrechtliche Verantwortlichkeit positiv festgestellt werden. Gemäß § 3 JGG sind dabei die Einsichtsfähigkeit, Steuerungsfähigkeit und der individuelle Entwicklungsstand zu überprüfen. Ob auch auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht anzuwenden ist, entscheidet sich anhand der Kriterien der Marburger-Richtlinie (§ 105 JGG). Kriterien sind unter anderem die mangelhafte Ausbildung der Persönlichkeit, Hilflosigkeit, Naivität, Neigung zu abenteuerlichen Unternehmungen, spielerische Einstellung zur Arbeit, mangelnder Anschluss an Altersgenossen, keine Lebensplanung sowie mangelnde Eigenständigkeit. Wohnen Heranwachsende beispielsweise noch im Elternhaus, haben noch keinen Abschluss und weisen auch sonst keine besondere Selbstständigkeit auf, liegt die Anwendung des Jugendstrafrechts nahe. Es wird also deutlich, dass das Jugendstrafrecht durchaus vom Erwachsenenstrafrecht divergiert. Wo im Erwachsenenstrafrecht der Versuch gescheitert ist, die Täter*innen umzuerziehen, da versucht das Jugendstrafrecht früher anzusetzen und die junge Bevölkerung mit erzieherischen Mitteln und Einfühlungsvermögen zurück auf den gesetzestreuen Weg zu bringen

23.11.2022/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-11-23 10:00:002022-12-23 08:49:55Das Jugendstrafrecht – Ein Überblick
Dr. Philip Musiol

EuGH zur Vorratsdatenspeicherung

Europarecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite

Das Thema „Vorratsdatenspeicherung“ ist ein Dauerbrenner in Rechtsprechung und Klausuren. Am vergangenen Dienstag entschied der EuGH erneut über die Frage, welche Daten aus welchem Anlass gespeichert werden dürfen, bzw. ob auch eine anlasslose Speicherung zulässig sein kann (Urt. v. 20.09.2022, Rs. C-793/19, C-794/19). Im Kern geht es bei der Vorratsdatenspeicherung darum, dass Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze und -dienste verpflichtet werden, bestimmte Daten über ihre Nutzer, durchgeführte Telefonate, versendete Nachrichten und IP-Adressen zu speichern.

I.             Der Sachverhalt

Ausgangspunkt des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH war ein Verfahren vor dem VG Köln. Zwei Internetanbieter, von denen einer auch Telefondienste anbietet, klagten gegen die ihnen durch § 113a Abs. 1 TKG iVm. § 113b TKG auferlegte Pflicht, die Verkehrs- und Standortdaten betreffend die Telekommunikation ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern.

§ 113a Abs. 1 TKG lautet:

Die Verpflichtungen zur Speicherung von Verkehrsdaten, zur Verwendung der Daten und zur Datensicherheit nach den §§ 113b bis 113g beziehen sich auf Erbringer öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste für Endnutzer.

§ 113 b TGK lautet:

(1) Die in § 113a Absatz 1 Genannten sind verpflichtet, Daten wie folgt im Inland zu speichern:

1. Daten nach den Absätzen 2 und 3 für zehn Wochen,

2. Standortdaten nach Absatz 4 für vier Wochen.

(2) Die Erbringer öffentlich zugänglicher Telefondienste speichern

1.  die Rufnummer oder eine andere Kennung des anrufenden und des angerufenen Anschlusses sowie bei Um- oder Weiterschaltungen jedes weiteren beteiligten Anschlusses,

2. Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone,

3. Angaben zu dem genutzten Dienst, wenn im Rahmen des Telefondienstes unterschiedliche Dienste genutzt werden können,

4. im Fall mobiler Telefondienste ferner

a) die internationale Kennung mobiler Teilnehmer für den anrufenden und den angerufenen Anschluss,

b) die internationale Kennung des anrufenden und des angerufenen Endgerätes,

c) Datum und Uhrzeit der ersten Aktivierung des Dienstes unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone, wenn Dienste im Voraus bezahlt wurden,

5.  im Fall von Internet-Telefondiensten auch die Internetprotokoll-Adressen des anrufenden und des angerufenen Anschlusses und zugewiesene Benutzerkennungen.

Satz 1 gilt entsprechend

1.  bei der Übermittlung einer Kurz‑, Multimedia- oder ähnlichen Nachricht; hierbei treten an die Stelle der Angaben nach Satz 1 Nummer 2 die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht;

2.  für unbeantwortete oder wegen eines Eingriffs des Netzwerkmanagements erfolglose Anrufe …

(3) Die Erbringer öffentlich zugänglicher Internetzugangsdienste speichern

1. die dem Teilnehmer für eine Internetznutzung zugewiesene Internetprotokoll-Adresse,

2. eine eindeutige Kennung des Anschlusses, über den die Internetnutzung erfolgt, sowie eine zugewiesene Benutzerkennung,

3. Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone.

(4)      Im Fall der Nutzung mobiler Telefondienste sind die Bezeichnungen der Funkzellen zu speichern, die durch den anrufenden und den angerufenen Anschluss bei Beginn der Verbindung genutzt wurden. Bei öffentlich zugänglichen Internetzugangsdiensten ist im Fall der mobilen Nutzung die Bezeichnung der bei Beginn der Internetverbindung genutzten Funkzelle zu speichern. Zusätzlich sind die Daten vorzuhalten, aus denen sich die geografische Lage und die Hauptstrahlrichtungen der die jeweilige Funkzelle versorgenden Funkantennen ergeben.

(5)      Der Inhalt der Kommunikation, Daten über aufgerufene Internetseiten und Daten von Diensten der elektronischen Post dürfen auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden.

(6)      Daten, die den in § 99 Absatz 2 genannten Verbindungen zugrunde liegen, dürfen auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden. Dies gilt entsprechend für Telefonverbindungen, die von den in § 99 Absatz 2 genannten Stellen ausgehen. § 99 Absatz 2 Satz 2 bis 7 gilt entsprechend.

Das VG Köln gab der Klage statt und entschied, dass die klagenden Unternehmen nicht verpflichtet seien, die genannten Verkehrsdaten in Bezug auf die Telekommunikation der Kunden, denen sie einen Internetzugang zur Verfügung stellten, auf Vorrat zu speichern. Das VG Köln war der im Lichte des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970) der Ansicht, dass diese Verpflichtung gegen das Unionsrecht verstoße. Die Bundesrepublik Deutschland legte hiergegen Revision beim BVerwG ein. Das BVerwG legte dem EuGH daraufhin eine in sieben Ziffern untergliederte, detaillierte Vorlagefrage zur Vereinbarkeit der deutschen Regelung mit dem Unionsrecht vor (s. Rn. 39 des Urteils), die nach Ansicht des BVerwG von der Auslegung der Richtlinie 2002/58 (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) abhängig sei.

Art. 5 der Richtlinie 2002/58 bestimmt:

(1) Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. Diese Bestimmung steht – unbeschadet des Grundsatzes der Vertraulichkeit – der für die Weiterleitung einer Nachricht erforderlichen technischen Speicherung nicht entgegen.

(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Speicherung von Informationen oder der Zugriff auf Informationen, die bereits im Endgerät eines Teilnehmers oder Nutzers gespeichert sind, nur gestattet ist, wenn der betreffende Teilnehmer oder Nutzer auf der Grundlage von klaren und umfassenden Informationen, die er gemäß der Richtlinie [95/46] u. a. über die Zwecke der Verarbeitung erhält, seine Einwilligung gegeben hat. Dies steht einer technischen Speicherung oder dem Zugang nicht entgegen, wenn der alleinige Zweck die Durchführung der Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz ist oder wenn dies unbedingt erforderlich ist, damit der Anbieter eines Dienstes der Informationsgesellschaft, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wurde, diesen Dienst zur Verfügung stellen kann.

Hiervon lässt Art. 15 der Richtlinie 2002/58 Ausnahmen zu:

Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie [95/46] für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.

II.            Die Entscheidung

Der EuGH entschied, dass die beanstandeten deutschen Vorschriften gegen das Unionsrecht verstoßen. Schon zuvor hatte er entschieden, „dass die den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste durch nationale Rechtsvorschriften auferlegte Pflicht, Verkehrsdaten auf Vorrat zu speichern, um sie gegebenenfalls den zuständigen nationalen Behörden zugänglich zu machen, Fragen aufwirft, die nicht nur die Einhaltung der Art. 7 und 8 der Charta betreffen, sondern auch die in Art. 11 der Charta gewährleistete Freiheit der Meinungsäußerung, und dass diese Freiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darstellt, die zu den Werten gehört, auf die sich die Europäische Union nach Art. 2 EUV gründet“ (Rn. 59 mwN). Die Speicherung der genannten Daten einen Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten darstelle, Art. 7, 8 GRC. Insoweit sei insbesondere beachtlich, dass die Verkehrs- und Standortdaten Informationen über eine Vielzahl von Aspekten des Privatlebens der Betroffenen enthalten könnten. Dies ermögliche die Erstellung eines Profils der Betroffenen, das im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Privatlebens eine ebenso sensible Information darstellt wie der Inhalt der Kommunikation selbst. Die Eingriffswirkung sei umso stärker, je größer die Menge und die Vielfalt der gespeicherten Daten sei.

Dennoch sei eine Beschränkung der in Art. 7, 8, 11 der GRC verbürgten Rechte möglich, wie aus Art. 52 Abs. 1 GRC folge: Die Einschränkung der Ausübung dieser Rechte sei zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und dem Gemeinwohl oder den Rechten und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Dies komme auch durch Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 zum Ausdruck, der im Lichte von Art. 7, 8 und 11 sowie 52 Abs. 1 GRC auszulegen sei. Der EuGH differenziert in seinem Urteil nach der Art der gespeicherten Daten und nach den Zielen, die mit der Speicherung verfolgt werden. Die nationale Sicherheit ist dabei das wichtigste Ziel. Dies vorausgeschickt hat der EuGH dezidierte Vorgaben dazu gemacht, unter welchen Voraussetzungen welche bestimmten Daten in unionsrechtskonformer Weise gespeichert werden dürfen:

Zunächst entschied er, dass nationale Rechtsvorschriften, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen, gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 verstoßen.

Demgegenüber stehe er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die

– es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht;

–        zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nichtdiskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;

–        zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;

–        zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;

–        es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.

III.          Einordnung der Entscheidung

Das Thema Vorratsdatenspeicherung begleitet Studierende durch das gesamte Studium, regelmäßig ändert sich die Rechtslage oder es ergehen Urteile der Verwaltungsgerichte oder wie hier des EuGH. Angesichts des unionsrechtlichen Hintergrundes ist das Verhältnis von deutschen zu europäischen Grundrechten von Bedeutung, bzw. die Anwendbarkeit der europäischen Grundrechte zu prüfen. Es ist bekannt, dass nicht das gesamte nationale Recht auf seine Vereinbarkeit mit Grundrechten der Union zu überprüfen ist. Nach Art. 6 Abs. 1 EUV sind die Grundrechte der GRC gleichrangig mit EUV und AEUV, nach Art. 51 Abs. 1 GRC gilt die GRC für die Organe der Union und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Es bietet sich in hohem Maße an, diese Normen in einer Klausur zu zitieren, um deutlich zu machen, dass man auch im Europarecht „sattelfest“ ist. Nach der Rechtsprechung des EUGH führen die Mitgliedstaaten dann Unionsrecht durch, wenn sie im Anwendungsbereich des Rechts der Union agieren. Die vorliegend beanstandeten Vorschriften fallen in den Anwendungsbereich der RL 2002/58, mithin besteht ein unionsrechtlicher Hintergrund.

Bei der inhaltlichen Prüfung der Verhältnismäßigkeit kann sich an dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 1 Abs. 1 iVm. 2 Abs. 1 GG orientiert werden. Es ist überzeugend, hier Abstufungen nach Anlass und Art der zu erfassenden Daten vorzunehmen. Auch das Ziel der Speicherung ist von entscheidender Bedeutung. Je gewichtiger die verfolgten Ziele sind und je mehr greifbare Anhaltspunkte für eine mögliche Bedrohungslage vorliegen, desto eher wird eine Speicherung auch von Verkehrsdaten möglich sein. Dies äußert sich insbesondere daran, dass auch Veranlassung der zuständigen Behörden Telekommunikationsanbieter anlassbezogen für einen gewissen Zeitraum verpflichtet werden können, umfassend Daten über ihre Kunden und deren Telekommunikation zu speichern. Fraglich ist aber, weshalb der EuGH die Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Normen an Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 „aufhängt“, der ja gerade Einschränkungsmöglichkeiten des in Art. 5 der Richtlinie 2002/58 verbürgten Vertraulichkeitsgebots enthält. Wenn die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands nicht vorliegen, wird die Verbotsnorm verletzt.

Zusammenfassend handelt es sich um eine prüfungsrelevante Entscheidung, die Anlass bietet, sich mit den prozessualen Grundsätzen des Vorabentscheidungsverfahrens zu befassen und das Verhältnis von deutschen und europäischen Grundrechten zu wiederholen.

26.09.2022/1 Kommentar/von Dr. Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Philip Musiol2022-09-26 09:30:452022-10-24 14:34:31EuGH zur Vorratsdatenspeicherung
Dr. Yannick Peisker

Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung

Aktuelles, Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 hat das BVerfG entschieden, dass die Masernimpfpflicht nach § 20 IfSG verfassungsmäßig ist. Angesichts der noch ausstehenden Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Impfpflicht besitzt die Entscheidung nicht nur Bedeutung für Examenskandidaten, sondern eine weit darüberhinausgehende Relevanz für die Gesamtgesellschaft, womöglich auch mit nicht zu unterschätzender sozialer Sprengkraft. Ein Blick in die Entscheidungsgründe lohnt sich daher umso mehr.

Der hiesige Beitrag setzt sich mit der Entscheidung technisch auseinander und beinhaltet eine klausurmäßige Aufbereitung für Examenskandidaten, damit die Bausteine der Entscheidung im juristischen Gutachten auch an der richtigen Stelle verortet werden. Dort wo Ausführungen in der Klausurlösung nicht unbedingt erwartet werden können oder wo davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt hierzu keine Angaben macht oder machen kann, werden einige Passagen der Entscheidungsbegründung ausgelassen. Diese lassen sich natürlich hier aber noch einmal in der gesamten Länge nachlesen. Angesichts der Ausführlichkeit der Entscheidung wird hier auf eine Darstellung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verzichtet. Stattdessen wird sich auf eine Prüfung der Begründetheit konzentriert.

A. Der Sachverhalt

Die Beschwerdeführer richten sich gegen mehrere Regelungen des § 20 IfSG, im Einzelnen gegen § 20 Abs. 8 S. 1-3; Abs. 9 S. 1 und 6; Abs. 12 S. 1 und 3 sowie gegen Abs. 13 S. 1 IfSG.

Abs. 8 der Vorschrift regelt, dass Personen, die in einer bestimmten Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern, oder aber eine Immunität aufweisen müssen. Diese Pflicht gilt auch dann, wenn ausschließlich sogenannte Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die also mehrere Impfstoffkomponenten gegen verschiedene Krankheiten beinhalten. Für Personen, die in einer solchen Einrichtung tätig werden, gilt dies nach § 20 Abs. 9 ebenso. Kann eine betreute oder beschäftigte Person einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, darf sie nach § 20 Abs. 9 S. 6 und 7 weder in der Einrichtung tätig werden, noch dort betreut werden. Es handelt sich also um eine sogenannte mittelbare Impfpflicht, da kein unmittelbarer Impfzwang ausgeübt wird, sondern lediglich nachteilige Maßnahmen an die Nichtimpfung geknüpft werden. Zu einer Impfung selbst zwingt das Gesetz nicht unmittelbar. Der Nachweis ist nach Abs. 12 S. 1 dem zuständigen Gesundheitsamt vorzulegen, ist das Kind minderjährig, trifft diese Pflicht die Eltern (§ 20 Abs. 13 S. 1).

Die hiesigen Beschwerdeführer waren die Eltern mehrerer Kinder, die in einer solchen Gemeinschaftseinrichtung untergebracht werden sollten. Die minderjährigen Kinder sind nicht geimpft und verfügen auch über keine Immunität gegen Masern. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Entscheidung setzt sich damit ausschließlich mit der Impfpflicht für betreute Personen, nicht aber für Beschäftigte auseinander. Die Erwägungen des BVerfG lassen sich aber übertragen. Sollte der Klausursachverhalt auf die Beeinträchtigung der Grundrechte der dort Beschäftigten abzielen, kann daher ähnlich verfahren werden. Zu prüfen wäre dann eine Verletzung des Art. 12 GG neben einer Verletzung des Art. 2 GG.

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.

I. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Zunächst könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers […]. Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind […]. Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 78-79.

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn durch zielgerichtetes staatliches Handeln in Form eines Rechtsaktes, welcher mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, unabhängig davon, ob die Wirkung final, unmittelbar, rechtlich erfolgt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, sofern die Grundrechtsbeeinträchtigung einer grundrechtsgebundenen Gewalt zugerechnet werden kann und nicht unerheblich ist. Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Eingriff vor:

„Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen […]. Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 81

Mithin liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor.

3. Rechtfertigung

Eine Verletzung des Grundrechts liegt nicht vor, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist, dies wäre der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) Wahrung des Gesetzesvorbehalts

In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darf nach S. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, um ein solches handelt es sich bei den angegriffenen Regelungen des § 20 IfSG.

b) Formelle Verfassungsmäßigkeit

§ 20 IfSG müsste formell verfassungsmäßig sein.

aa) Zuständigkeit

Es handelt sich um ein Bundesgesetz, der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuständig, es handelt sich um eine Maßnahme gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren.

bb) Verfahren

Die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren wurden eingehalten.

cc) Wahrung des Zitiergebots

Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wurde für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in § 20 Abs. 4 GG gewahrt.

c) Materielle Verfassungsmäßigkeit

Das Gesetz müsste materiell verfassungsmäßig sein.

aa) Verstoß gegen Art. 20 GG

Die Regelung des IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn sie nicht gegen die Grundsätze des Art. 20 GG verstößt. In Betracht kommt vorliegend ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes. Diese gebieten konkret, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. Zum einen ist der Gesetzgeber geboten die Fragen zu regeln, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, zum anderen die Regelungen, die für Staat und Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind.

„Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten […]. Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz […]. Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 96

Ein Verstoß kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt werden kann:

„§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen […]. Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt […].

So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocke […] und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. […] Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 98-100

Berücksichtigt man diese Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung, liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor. Dieses Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung ist auch für die nachfolgenden Ausführungen zu unterstellen, die Norm besitzt ausschließlich diesen Rechtsgehalt.

bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung

Die angegriffenen Normen müssten auch verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgt, die Regelung zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung angemessen ist, das heißt die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen steht.

(1) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber müsste einen legitimen Zweck verfolgen:

 „Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen […]. Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. […] Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden […]. […] Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 106-107.

Die Impfpflicht verfolgt daher einen legitimen Zweck.

(2) Geeignetheit

Die gesetzliche Regelung müsste geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, das heißt sie müsste in der Lage sein, diesen Zweck zu fördern:

„Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen […] erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs […] Der Impfschutz wirkt lebenslang.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 114-115

Die Impfpflicht ist zur Zielerreichung geeignet.

(3) Erforderlichkeit

Dies gesetzliche Regelung müsste erforderlich sein, das heißt es dürften keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Zweckerreichung zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zu, die umso weiter reicht, je komplexer die zu regelnde Materie ist.

„Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher […] den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. […] Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. […] Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit […] Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen […]. Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 125-128

Die Impfpflicht ist daher zur Zielerreichung erforderlich.

(4) Angemessenheit

Die gesetzliche Regelung müsste angemessen sein, das heißt die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der verfolgten Zwecke stehen:

(aa) Eingriffsintensität

Fraglich ist, als wie gewichtig die Eingriffsintensität der Impfpflicht zu beurteilen ist.

„Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen […] nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden […]. Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich […]. […] Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten […]. Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. […] Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können […]. Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen […]. Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an […]. Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 142-145

Die Eingriffe wiegen nicht besonders schwer.

(bb) Überwiegen die verfolgten Interessen diese Intensität?

Die verfolgten Interessen müssten diese Eingriffsintensität überwiegen.

„Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % […].

Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich […]. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. […]

Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen […]. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden.

Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 149-152
(cc) Zwischenergebnis

Die verfolgten Zwecke überwiegen damit das Gewicht des Eingriffs, die verfassungskonform ausgelegte Regelung ist angemessen.

(5) Zwischenergebnis

Die Regelung ist verhältnismäßig.

cc) Zwischenergebnis

Die Regelung ist materiell verfassungsmäßig.

4. Ergebnis

Die Regelung ist nach verfassungskonformer Auslegung sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig. Der Eingriff in das Grundrecht ist mithin gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer sind in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verletzt.

II. Verletzung von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

Es könnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt […]. Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt […]. Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes ([…] handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 67-69

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen:

„Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 74-75

Auch ein Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt mithin durch § 20 IfSG vor.

3. Rechtfertigung

Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht verfassungswidrig, wenn er gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) formelle Verfassungsmäßigkeit

Hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Fraglich ist jedoch, ob auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Zitiergebot eingehalten wurde.

Dafür müsste es für Art. 6 Abs. 2 S. 1 jedoch überhaupt Anwendung finden.

„Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können […]. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt […]. Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 92

Das Zitiergebot musste daher nicht gewahrt werden, es kann der Verfassungsmäßigkeit nicht entgegenstehen.

b) materielle Verfassungsmäßigkeit

Ein Verstoß gegen Art. 20 GG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Regelung nicht vor. Es handelt sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch verfassungsimmanente Schranken im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden kann. Eine Rechtfertigung des Eingriffs im Wege der praktischen Konkordanz setzt voraus, dass ein kollidierendes Verfassungsgut vorliegt und ein verhältnismäßiger Ausgleich der kollidierenden Güter gewählt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme zum Ausgleich geeignet, erforderlich und angemessen ist.

aa) Verfolgung des Schutzes eines anderen Verfassungsgutes.

In Gestalt der staatlichen Schutzpflicht verfolgt die gesetzliche Regelung den Schutz eines anderen Verfassungsgutes.

bb) Eignung

Die Maßnahme ist zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, siehe oben.

cc) Erforderlichkeit

Selbiges gilt für die Erforderlichkeit

dd) Angemessenheit

Der Interessenausgleich müsste angemessen erfolgt sein, dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des einen Verfassungsgutes nicht außer Verhältnis zum Gewicht des den Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgutes steht.

(1) Eingriffsgewicht

Fraglich ist, wie gewichtig der Eingriff ist.

„Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. […] Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann […]. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen […]. Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. […] (135) Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko […]. Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus […]. Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. […] Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. […]

Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern […] beeinträchtigt. […] Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. […] Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 134-139

Der Eingriff ist daher nicht besonders schwerwiegend, aber auch nicht unerheblich.

(2) Ausgleich der Interessen

In Bezug auf den Interessenausgleich lässt sich weitestgehend nach oben verweisen, die dort angeführten Argumente lassen sich hier erneut platzieren.

ee) Zwischenergebnis

Die gesetzliche Regelung stellt einen angemessenen Ausgleich her, der Eingriff ist im Wege praktischer Konkordanz gerechtfertigt.

4. Ergebnis

Auch der Eingriff in das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist gerechtfertigt

III. Gesamtergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, die Beschwerdeführer sind nicht in ihren verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.

C. Eine kurze und abschließende Summa

Die wesentlichen Kernaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Impfpflicht für Masern ist zumutbar, auch wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nur die Kombinationsimpfstoffe verwendet werden dürfen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm vorliegen. Ein Impfstoff, der ausschließlich Wirkstoffe gegen Masern enthält, wäre jedoch ein milderes und gleichgeeignetes Mittel, sobald diese in Deutschland verfügbar sind, müssen diese verimpft werden. Letztlich sind sowohl Eingriffe in das Elternrecht, aber auch Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesichts der staatlichen Schutzpflicht für vulnerable Gruppen – also für Menschen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können – gerechtfertigt. Dies dürfte auch auf eine denkbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG zu übertragen sein. Auch mit Blick auf die Corona-Impfpflicht der in Gesundheitseinrichtungen tätigen Personen nach § 20a IfSG dürfte das BVerfG die entscheidenden Weichen gestellt haben.

18.08.2022/3 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-18 11:03:272022-08-18 15:18:28Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung
Dr. Yannick Peisker

BGH: Neues zur Sterbehilfe im Rahmen des § 216 StGB

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Mit Entscheidung v. 28.6.2022 (Az. 6 StR 68/21) hat der BGH die bereits aus der „Gisela-Entscheidung“ bekannten Grundsätze zur Abgrenzung der straflosen Beihilfe zur strafbaren Tötung nach § 216 StGB weiter präzisiert. Dieses Problem ist ein echter Examensklassiker und immer wieder Gegenstand mündlicher und schriftlicher Prüfungen. Eine genaue Lektüre nicht nur dieses Beitrags, sondern auch der Entscheidungsgründe, die in Teilen wiedergegeben werden, kann sich daher bezahlt machen. Die neue Entscheidung des BGH soll zum Anlass genommen werden, die Problematik der Abgrenzung der straflosen Beihilfe von der strafbaren Tötung auf Verlangen noch einmal aufzubereiten. Auch sollen wertvolle Hinweise auf eine mögliche verfassungskonforme Auslegung infolge der Rechtsprechung des BVerfG zum grundrechtlichen Schutz der Selbsttötung. Eine klausurmäßige Aufbereitung der Probleme ist hier auffindbar.

I. Der Sachverhalt der Entscheidung

Der Sachverhalt, über den der sechste Senat des BGH zu entscheiden hatte, gestaltete sich wie folgt:

O wurde seit 2016 von der seiner Ehefrau T, einer ehemaligen Krankenschwester, betreut. Er hatte seit 1993 ein schweres chronisches Schmerzsyndrom entwickelt und war krankheitsbedingt berufsunfähig und in Rente. Er litt zudem unter zahlreichen Erkrankungen. Seine Schmerzen nahmen 2019 weiter zu und sein Zustand verschlechterte sich stetig, sodass er erwog, die Dienste eines Sterbehilfevereins in Anspruch zu nehmen. Nahezu wöchentlich äußerte er seinen Wunsch, sterben zu wollen. Er bat die T darauf hin, ihn ein paar Tage nicht zu pflegen und wegzufahren, damit er sich mit Tabletten das Leben nehmen wollte. Die T weigerte sich jedoch. Sein Leiden verschlimmerte sich weiter. Während eines gemeinsamen Kaffeetrinkens sagte O „Heute machen wir’s“, der T war klar, dass O sich das Leben nehmen wollte. Gegen 23:00 forderte O die T auf, ihm alle vorrätigen Tabletten zu geben, die O daraufhin selbständig einnahm. Dann forderte er die T auf, ihm alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu geben, was sie auch tat. O und T sprachen noch miteinander, bevor er einschlief, gegen 3:30 konnte T seinen Tod feststellen. Er starb an Unterzuckerung infolge des Insulins, die eingenommenen Tabletten waren ebenfalls zur Herbeiführung des Todes geeignet, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Ursächlich war damit die Gabe des Insulins.

II. Die Prüfung der Strafbarkeit der T

Täter des § 216 StGB ist nur, wer die Straftat auch selbst vornimmt. Es gelten die allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe. Auf eine erneute Darstellung der Abgrenzung zwischen subjektiver Theorie und Tatherrschaftslehre soll hier verzichtet werden. Denn auch der BGH ist zumindest im Kontext des § 216 StGB von seinem subjektiven Ansatz abgewichen und stellt prinzipiell ausschließlich darauf ab, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht (BGH NJW 1965, 699, 701) Gerade im Falle des einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmordes, wo grundsätzlich beide Suizidenten einen entsprechenden Willen gebildet haben, sei eine subjektive Abgrenzung fraglich (BGH NJW 1965, 699, 700).

In seiner jüngsten Entscheidung formuliert der BGH wie folgt:

„Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom andern bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor […]. Die Abgrenzung strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid kann dabei nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden. Geboten ist vielmehr eine normative Betrachtung.“

BGH, Beschl. v. 28.06.2022 – 6 StR 68/21 Rn. 14 f.

Der BGH verordnete die Tatherrschaft bei O selbst. T hingegen habe lediglich unterstützende Akte vorgenommen und sei demnach lediglich Gehilfin einer straflosen Beihilfe zum Suizid.

Dieses Ergebnis mag zunächst erstaunen, denn das Spritzen des Insulins hat ausschließlich T vorgenommen, bei genauer Betrachtung ist dies jedoch folgerichtig und nicht als Täterhandlung einzuordnen.

„[Denn] Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich [O] in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls „als Zombie zurückkehren“. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein [O] bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulinspritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass [O] sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. […].

BGH, Beschl. v. 28.06.2022 – 6 StR 68/21 Rn. 16.

In anderen Worten: Die Tatsache, dass sowohl der Suizident als auch die betreuende Person aktive Handlungen vornehmen ist unerheblich, sofern es sich um einen Gesamtplan handelt und über diesen Gesamtplan allein der Suizident die Tatherrschaft innehat.

III. Keine Strafbarkeit durch Unterlassen

Wird der Suizident bewusstlos oder schläft ein, kommt es vorliegend zu keinem Tatherrschaftswechsel und damit zu einer Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB. Denn trotz kraft der hier bestehenden Ehe zu bejahenden Garantenstellung der T für den O, liegt keine Garantenpflicht für das Leben ihres Mannes vor. Ein frei und selbstbestimmt gefasster Sterbewille führt zur Suspendierung der Garantenpflicht. Es gilt dasselbe wie für ärztliche Garantenpflichten, zu denen sich der BGH bereits mit seinen beiden Entscheidungen vom 3.7.2019 – 5 StR 132/18; 5 StR 393/18 geäußert hatte. Die Besprechung durch Juraexamen.info lässt sich hier abrufen.

IV. Exkurs: Verfassungskonforme Auslegung des § 216?

In seiner Entscheidung reißt der BGH zudem die Problematik an, ob durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB auch eine Neubewertung der Verfassungsmäßigkeit des § 216 StGB angezeigt ist. Zur Erinnerung: Das BVerfG hat in seiner Entscheidung (BVerfGE 153, 182) aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch die grundrechtlich geschützte Freiheit abgeleitet, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung dieser Selbsttötung auch auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Wenn die betroffene Person zur Wahrnehmung dieses Freiheitsrechts auch auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, schützt das APR auch vor einer Beschränkung gegenüber Dritten, die eine solche Unterstützung anbieten (Rn. 213). Strafrechtliche Normen dürften nach Auffassung des BVerfG nicht dazu führen, dass diese freie Entscheidung letztlich unmöglich gemacht wird, anderenfalls wird der verfassungsrechtliche Schutz dieser Freiheit nicht mehr gewährleistet (Rn. 273).

Eine Vergleichbarkeit der Konstellationen ist nicht von der Hand zu weisen, denn auch hier wird die Möglichkeit des Sterbewilligen, auf die Unterstützung Dritter zurückzugreifen, durch die Strafandrohung des § 216 StGB beschränkt. Dies sieht auch der 6. Senat des BGH so. Nach den Angaben in der o.g. Entscheidung hält er es für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB stets einer verfassungskonformen Auslegung bedürfe. Es seien jedenfalls die Fälle vom Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen. Dies sei der Fall, wenn sie darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt.

Wie genau eine solch verfassungskonforme Auslegung auszusehen hat und an welchem Merkmal des § 216 Abs. 1 StGB hier anzuknüpfen sein sollte, lässt der BGH offen. Für Studierende stellt sich daher die schwierige Frage, an welcher Stelle dieses Problem verortet werden sollte. Denkbar ist die Anwendung des § 34 StGB unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen. Der Wunsch des Suizidenten müsste intern gegen sein Rechtsgut „Leben“ abgewogen werden. Sofern der Suizidwunsch selbstbestimmt und frei von Willensmängeln bestand, müsste eine entsprechende Abwägung von „Tod“ gegen „Leben“ ausnahmsweise zulässig sein.

V. Wann liegen die Voraussetzungen für eine solche verfassungskonforme Auslegung vor?

Nicht geklärt ist hingegen, wann es einer Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung umzusetzen. In der Kommentarliteratur wird teils eine solch faktische Unmöglichkeit ausgeschlossen, sie könne nahezu nie vorliegen. Denn so sei vorstellbar, dass durch eine technische Einrichtung, durch die der Suizident mittels eines Augenzwinkerns eine Maschine in Gang setzen könne, auch ein an Armen und Beinen gelähmter Suizident selbständig töten könne. Sofern eine solche Einrichtung verfügbar sei, werde bis zur Verfügungstellung lediglich die Lebenszeit verlängert, dies sei auch aus verfassungsrechtlichen Gründen hinzunehmen (zu alldem Schneider, MüKoStGB, 4. Auflage 2021, § 216 StGB Rn. 60 mwN). Sofern der Sachverhalt auf eine solche Möglichkeit aber nicht ausdrücklich hinweist und er zugleich die körperliche Unfähigkeit zur Selbsttötung betont, liegt nahe, dass der Klausurersteller auf eine solch verfassungskonforme Einschränkung hinauswollte. Das genaue Lesen des Klausursachverhalts ist hier besonders essentiell. Gleichwohl ist damit natürlich nur Examenskandidaten, nicht aber der Praxis geholfen.

12.08.2022/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-12 08:22:172022-08-12 08:27:44BGH: Neues zur Sterbehilfe im Rahmen des § 216 StGB
Dr. Yannick Peisker

Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – Oder: Warum Bayern sich der Impfpflicht nicht entziehen kann

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Impfpflichten beschäftigen die Öffentlichkeit spätestens seit es Impfstoffe gegen COVID-19 gibt. Hieß es zunächst noch, niemand wolle eine Impfpflicht einführen, haben mehrere Virusvarianten und immer höher steigende Infektionszahlen den Wind gedreht und die Diskussion neu befeuert. Nun hat die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht Einzug in das Infektionsschutzgesetz gefunden: Die Regelung des § 20a IfSG entfaltet ihre Wirkung mit Ablauf des 15.3.2022.

A. Die Aussage Markus Söders

Auf einer Videoschalte des CDU-Vorstands verkündete Markus Söder, er werden „großzügigste Übergangsregelungen“ (zitiert nach ZDF heute, letzter Abruf: 9.2.2022) schaffen. Doch bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht handelt es sich um eine Norm des Bundesrechts. Daher ist jede neu geschaffene landesrechtliche Regelung, die eine solche Impfpflicht abschafft oder ihren Regelungsgehalt beschränkt, bereits wegen Verstoßes gegen Art. 31 GG, der den Vorrang von Bundesrecht gegenüber Landesrecht normiert, verfassungswidrig.
Anknüpfungspunkt eines bayerischen Alleinganges kann daher nur der Vollzug des Bundesrechts sein, der nach Art. 83 und Art. 30 GG grundsätzlich Aufgabe der Länder ist.

B. Die derzeitige Ausgestaltung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht

Bevor sich der Verfassungsmäßigkeit einer fehlenden Umsetzung gewidmet wird, müssen zunächst die Grundzüge der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erläutert werden. Sofern nämlich ein Umsetzungsspielraum verbleiben sollte, spricht zunächst nicht zwangsläufig etwas gegen eine zurückhaltende Umsetzung.
Die Impfpflicht ist Regelungsgegenstand des § 20a IfSG. Abs. 1 präzisiert dabei die Tätigkeitsbereiche, die von der Impfpflicht erfasst sind, u.a. Krankenhäuser (Nr. 1 lit. a) und Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen (Nr. 2).

Zur Kontrolle der Einhaltung der Impfpflicht sieht § 20a Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 IfSG sowohl für die von Abs. 1 S. 1 erfassten Personen, die bereits in den genannten Einrichtungen tätig sind, als auch für diejenigen, die dort erst noch tätig werden sollen, die Pflicht vor, bis zum 16. März 2022 einen Nachweis einer COVID-19-Impfung gegenüber der Leitung der Einrichtung vorzulegen.
Rechtliche interessant ist: An eine Verletzung der Nachweispflicht hat der Gesetzgeber unterschiedliche Folgen geknüpft, je nachdem, ob die betroffene Person bereits in einer von § 20a Abs. 1 S. 1 IfSG erfassten Einrichtung tätig ist oder dort erst noch tätig werden soll. Nur in letzterem Fall tritt ipso iure ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot nach § 20a Abs. 3 S. 4, 5 IfSG ein (Siehe auch Fuhlrott, GWR 2022, 22 (24). Im Hinblick auf Personen, die bereits in der jeweiligen Einrichtung tätig sind, besteht hingegen zunächst nur die Verpflichtung der Einrichtungs- oder Unternehmensleitung, das zuständige Gesundheitsamt über den fehlenden (oder u.U. gefälschten oder unrichtigen) Nachweis zu informieren, § 20a Abs. 2 S. 2 IfSG. Die Entscheidung über ein Tätigkeits- oder Betretungsverbot liegt sodann nach erneuter Anforderung des Nachweises im Ermessen des Gesundheitsamtes, § 20a Abs. 5 S. 3 IfSG.

Damit besteht ein Ermessensspielraum der Behörde, im Einzelfall ein solches Verbot anzuordnen. Wie weit dieser reicht, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Nach der Gesetzesbegründung ist von einem Verbot abzusehen, wenn das Paul-Ehrlich-Institut einen Lieferengpass bei den Impfstoffen bekannt gemacht hat (BT-Drucks. 20/188, S. 42.) – ob dies allerdings der einzige Grund ist, um insbesondere von einem Tätigkeitsverbot abzusehen, das für Personen nach § 20a Abs. 3 IfSG ja bereits aus dem Gesetz selbst folgt, ist unklar.

Festzuhalten bleibt in praktischer Hinsicht: Die Anordnung eines Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbots für bereits beschäftigte Personen wird eine Einzelfallentscheidung sein, die angesichts der bereits jetzt herrschenden Überbelastung der Gesundheitsämter die Durchsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vor enorme praktische Herausforderungen stellen wird.
Ein solcher Entscheidungsspielraum besteht jedoch nicht bei Neueinstellungen ab dem 16. März. Dort besteht bereits ipso iure ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot, der Arbeitgeber darf den Beschäftigten bereits von Gesetzes wegen nicht einsetzen. Anknüpfungspunkt einer bayerischen Weigerung kann daher nur die Kontrolle dieser Verbote sein.

C. Verstoß gegen Art. 83 GG und den Grundsatz der Bundestreue

Bei der in § 20a IfSG normierten einrichtungsbezogenen Impfpflicht handelt es sich um Bundesrecht. Die Aufgabe, dieses zu vollziehen und im Einzelfall durchzusetzen, ist ausweislich der Art. 30 und Art. 83 GG Sache der Länder.
Damit ist zutreffend: Der Bund ist grundsätzlich auf die Länder angewiesen, wenn es um die Umsetzung der Impfpflicht geht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Länder in ihrer Umsetzung frei sind.
Vielmehr geht mit der Kompetenz auch eine Verpflichtung zum Vollzug einher. So entschied des BVerfG bereits am 25.06.1974,

„daß die Länder nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sind, zur Ausführung von Bundesgesetzen tätig zu werden.“ (BVerfGE 37, 363, 385)

Auch die Behauptung, die Gesundheitsbehörden seien nicht in der Lage, die Impfpflicht durchzusetzen und zu kontrollieren, trägt nicht. Denn Folge der Ausführungspflicht der Länder ist ebenfalls die Pflicht, ihre Verwaltung nach Art, Umfang und Leistungsvermögen einer sachgerechten Erledigung des sich aus der Bundesgesetzgebung ergebenden Aufgabenbestands einzurichten (BVerfGE 55, 274, 318). Ein etwaiger Einwand, die Umsetzung sei in der Form nicht möglich, vermag nicht zu überzeugen, erfolgte der Beschluss der einrichtungsbezogenen Impfpflicht noch im Jahr 2021.Eine vollständige Nichtumsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht stellt damit bereits einen Verstoß gegen Art. 83 GG dar.

Ebenfalls würde der Freistaat Bayern gegen den Grundsatz der Bundestreue und des bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen. Aus dem Bundesstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG wird der Grundsatz abgeleitet, dass die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen und der Bund den Gliedern die Treue halten und sich verständigen müssen (BVerfG 1, 299, 315). Bund und Länder sind insbesondere zu gegenseitiger Rücksichtnahme und Unterstützung in wechselseitiger Loyalität verpflichtet.

D. Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG

Art. 20 Abs. 3 GG statuiert die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz. Art. 20 Abs. 3 GG in Gestalt des Rechtsstaatsprinzips formuliert daher den Grundsatz „Vorrang des Gesetzes“. Jedes staatliche Handeln der Exekutive darf daher rechtlichen Regelungen nicht zuwiderlaufen. Zu beachten ist, dass zumindest bei bereits beschäftigten Personen ein Ermessensspielraum der zuständigen Behörde verbleibt. Solange dieser noch in einem zulässigen Maße ausgeübt wird, muss ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG verneint werden. Sofern es jedoch nicht bei einer Einzelfallentscheidung bleibt, sondern Verwaltungsvorschriften das Gebot formulieren, grundsätzlich keine Tätigkeits- und Beschäftigungsverbote auszusprechen, greift der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes ein.
Da die Aussage Söders ein solches Verhalten vermuten lässt, verstößt dies gegen das Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorrangs des Gesetzes gem. Art. 20 Abs. 3 GG.

E. Reaktionsmöglichkeiten des Bundes

Dem Bund steht zunächst einmal die Möglichkeit offen, vor dem BVerfG ein Bund-Länder-Streitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG einzuleiten. Erlässt die Landesregierung Bayerns ein Landesgesetz, welches die einrichtungsbezogene Impfpflicht konterkariert, kann zudem eine abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf Antrag der Bundesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages erstrebt werden.
In der Examensprüfung ist zudem an die Möglichkeit des Bundeszwangs gem. Art. 37 GG zu denken – selbst wenn dieses Instrument in der Geschichte des Grundgesetzes noch nicht zum Einsatz kam. Der Bundeszwang setzt ausweislich des Wortlautes von Art. 37 Abs. 1 GG voraus, dass das Bundesland zurechenbar Bundespflichten – hier die Vollzugspflicht – verletzt. Problematisch kann im Einzelfall jedoch werden, dass die Bundesregierung Maßnahmen des Bundeszwangs nur mit Zustimmung des Bundesrates treffen kann, wobei das betroffene Bundesland im Bundesrat selbst mitwirken kann (BeckOK GG/Hellermann, 49. Ed., Art. 37 GG Rn. 8.4). Zur Durchführung des Bundeszwangs besitzt die Bundesregierung nach Art. 37 Abs. 2 GG ein umfassendes Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und Behörden.
Neben dem Bundeszwang kann der Bund zudem auf verwaltungstechnische Maßnahmen zurückgreifen. Die Bundesregierung übt nach Art. 84 Abs. 3 die Bundesaufsicht über die Länder bei dem Vollzug von Bundesrecht aus. Hierzu steht der Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 3 S. 2 die Möglichkeit offen, einen Beauftragten zu den obersten Landesbehörden zu entsenden. Stellt die Bundesregierung bei der Ausführung des Bundesrechts durch die Länder rechtliche Mängel fest, kann der Bundesrat gemäß Abs. 4 wiederum auf Antrag der Bundesregierung beschließen, dass das jeweilige Bundesland Bundesrecht verletzt hat (sog. Mängelrüge).

F. Summa: Das Land Bayern wird die Impfpflicht umsetzen müssen

Die vorangegangenen Erwägungen zeigen, die Nichtumsetzung der Impfpflicht begegnet mehreren verfassungsrechtlichen Hürden. Verfassungsrechtlich nicht von vornherein ausgeschlossen ist lediglich die zurückhaltende Anordnung von Beschäftigungs- und Tätigkeitsverboten durch die Gesundheitsbehörden im Einzelfall. Aber auch hier muss der Vorrang des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG beachtet werden. Der Gesetzgeber geht eben grundsätzlich von der Anordnung eines solchen Verbots aus. Daher dürften allgemeine Anordnungen und Verwaltungsvorschriften, die der zuständigen Behörde aufgeben, nur zurückhaltend hiervon Gebrauch zu machen, ebenfalls verfassungswidrig sein.

09.02.2022/0 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-02-09 12:00:002022-07-21 08:58:14Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – Oder: Warum Bayern sich der Impfpflicht nicht entziehen kann
Alexandra Ritter

Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 3: Der Lieferantenregress

Aktuelles, Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Kaufrecht, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Jurastudenten und auch Praktiker werden die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegengenommen haben – mit dem Beginn des Jahres 2022 stehen größere Änderung im allseits prüfungs- und praxisrelevanten Kaufrecht an. Juraexamen.info gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen, die aufgrund der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 im Kaufrecht der §§ 433 ff. BGB erfolgen. Hierzu veröffentlichen wir eine Reihe von Beiträgen – in diesem dritten Teil der Reihe steht der Regressanspruch des Verkäufers gegen seinen Lieferanten im Fokus.
 
I.       Vorbemerkungen
Auch im Lieferantenregress des BGB hat die Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/711 Änderungen bewirkt: Die Meisten sind redaktioneller Natur, um bspw. die Änderungen von § 439 BGB aufzunehmen. Dennoch werfen sie klärungsbedürftige Rechtsfragen auf. Der Prüfungsaufbau jedoch bleibt unverändert.
Die Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/711 enthält in ihrem Art. 18 die Vorgaben für die Umsetzung des Regresses des Verkäufers auf den Lieferanten. Dort steht:

„Haftet der Verkäufer dem Verbraucher aufgrund einer Vertragswidrigkeit infolge eines Handelns oder Unterlassens einer Person in vorhergehenden Gliedern der Vertragskette, einschließlich des Unterlassens, Aktualisierungen für Waren mit digitalen Elementen gemäß Artikel 7 Absatz 3 zur Verfügung zu stellen, ist der Verkäufer berechtigt, bei den oder dem innerhalb der Vertragskette Haftenden Rückgriff zu nehmen. Bei welcher Person der Verkäufer Rückgriff nehmen kann, sowie die diesbezüglichen Maßnahmen und Bedingungen für die Geltendmachung der Rückgriffsansprüche bestimmt das nationale Recht.“

Die unionsrechtlichen Vorgaben haben erkennbar einen geringen Umfang und gem. Art. 18 S. 2 RL (EU) 2019/711 werden einige Regelungsaspekte den Mitgliedstaaten überlassen.
Der Lieferantenregress im Kaufrecht wird weiterhin in den §§ 445a, 445b und 478 BGB geregelt.
 
II.    § 445a Abs. 1 BGB
In § 445a BGB beschränken sich die Änderungen auf den ersten Absatz; Die Absätze 2 und 3  bleiben unverändert.
 
1.      Erweiterung der Bezugnahme auf § 439 BGB
Zunächst wird die Bezugnahme von § 445a Abs. 1 BGB auf § 439 BGB erweitert, sodass auch die Rücknahmekosten des Verkäufers gem. § 439 Abs. 6 S. 2 BGB (zu dieser Änderung s. den zweiten Beitrag dieser Reihe) in den Anwendungsbereich des Regressanspruchs fallen.
 
2.      Regressmöglichkeit für Aufwendungen des Verkäufers wegen § 475b Abs. 4 BGB
§ 445a aE BGB gibt dem Verkäufer nunmehr die Möglichkeit Regress beim Lieferanten zu nehmen für Aufwendungen, die ihm im Verhältnis zum Käufer wegen eines Mangels, der auf der Verletzung einer objektiven Aktualisierungspflicht gem. § 475b Abs. 4 BGB beruht, entstehen.
Diese Ergänzung am Ende von § 445a Abs. 1 BGB kann problematisch gesehen werden: Der Regressanspruch des Verkäufers gegen den Lieferanten beruht auf dem Gedanken, dass der Grund für die Inanspruchnahme des Verkäufers durch den Käufer ein Mangel ist, der aus der Sphäre des Lieferanten stammt (Looschelders, Schuldrecht BT, 15. Aufl. 2020, § 9 Rn. 1). Dies geht auch daraus hervor, dass gem. § 445a Abs. 1 BGB der Mangel bereits beim Übergang der Gefahr vom Lieferanten auf den Letztverkäufer vorgelegen haben muss. Der Lieferant haftet also über den Regressanspruch, weil er eine Pflicht, die er bereits gegenüber dem Verkäufer hatte, verletzt hat.
Eine Aktualisierungspflicht gem. § 475b Abs. 4 BGB hat der Lieferant gegenüber dem Verkäufer jedoch nicht (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067). In den Gesetzesmaterialien heißt es hierzu:

„Da in der Regel nicht der Verkäufer, sondern der Hersteller technisch und rechtlich in der Lage ist, die erforderlichen Aktualisierungen anzubieten, ist eine Aktualisierungsverpflichtung nur dann tatsächlich effektiv, wenn die Pflicht, Aktualisierungen bereitzustellen, durch die Lieferkette bis zum Hersteller weitergereicht wird.“ (BT-Drucks. 19/27424, S. 27)

Man geht also davon aus, dass der Verkäufer die Aktualisierung nicht anbieten kann. Dann allerdings stellt sich ein Folgeproblem: § 445a Abs. 1 BGB i.V.m. § 475b Abs. 4 BGB verpflichtet den Lieferanten nicht unmittelbar zur Vornahme der Aktualisierung, sondern zum Ersatz der Aufwendungen, die der Verkäufer im Rahmen der Nacherfüllung zu tragen hat. Solche Aufwendungen können einem Verkäufer, der die Aktualisierung nicht anbieten kann, jedoch gar nicht erst entstehen. Das vom umsetzenden Gesetzgeber angestrebte Ergebnis, eine Aktualisierungsverpflichtung herbeizuführen, kann mit § 445a Abs. 1 aE BGB nicht erreicht werden (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2068). Insbesondere bei einer längeren Lieferantenkette, müsste eine solche Pflicht über § 445a Abs. 3 BGB, also vermittelt über die gesamte Lieferkette bis zum Hersteller, hergestellt werden.
Der Lösungsvorschlag von Lorenz (NJW 2021, 2065, 2068) begegnet dem Problem mit einer teleologische Reduktion des § 445a Abs. 1 aE BGB, Der Regress des Verkäufers gegen den Lieferanten ist dann zu untersagen, „wenn das unterlassene Zurverfügungstellen von Aktualisierungen beim Verbraucher allein aus der Sphäre des Verkäufers selbst herrührt und nicht auf den Lieferanten oder einen Dritten zurückzuführen ist.“ (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2068). Diese Lösung steht in Einklang mit dem Wortlaut von Art. 18 S. 1 RL (EU) 2019/771. Denn nach Art. 18 S. 1 RL (EU) 2019/771 soll ein Regressanspruch bestehen, wenn ein voriges Glied der Vertragskette es unterlassen hat, „Aktualisierungen für Waren mit digitalen Elementen gemäß Artikel 7 Absatz 3 zur Verfügung zu stellen“, das heißt, es darf nicht allein der Verkäufer selbst für die unterlassene Aktualisierung verantwortlich sein.
 
III. § 445b BGB
§ 445b BGB regelt weiterhin Besonderheiten der Verjährung von Ansprüchen des Verkäufers gegen den Lieferanten nach § 445a BGB. § 445b Abs. 1 BGB wurde nicht geändert. In § 445b Abs. 2 BGB dagegen wurde Satz 2 aF gestrichen. Das bedeutet die Ablaufhemmung für die Ansprüche des Verkäufers gegen den Lieferanten aus gem. § 445a Abs. 1 BGB und gem. § 437 BGB ist nicht mehr auf fünf Jahre begrenzt.
Diese Änderung ist durch die Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 nicht vorgegeben. Hintergrund ist die soeben erläuterte Vorstellung des Gesetzgebers, dass über § 445a Abs. 1 aE BGB eine Verpflichtung des (Hersteller-)Lieferanten zur Aktualisierung bestehe und solche Aktualisierung über eine Dauer von mehr als fünf Jahren notwendig sein können (vgl. BT-Drucks. 19/27424, S. 28).
 
IV. § 478 BGB
Zuletzt sind die Änderungen von § 478 BGB zu betrachten. § 478 BGB modifiziert die Regelungen der §§ 445a und 445b BGB für den Fall, dass der letzte Verkauf in der Kette ein Verbrauchsgüterkauf i.S.v. § 474 Abs. 1 S. 1 BGB ist. Während § 478 Abs. 1 und Abs. 3 BGB unverändert sind, wurde in Absatz 2 ein Verweis auf die §§ 475b und 475c BGB eingefügt.
478 Abs. 2 BGB regelt die Haftungsbeschränkung des Lieferanten, bzw. deren Unwirksamkeit. Der Lieferant kann sich nicht auf eine Vereinbarung berufen, die vor Mitteilung des Mangels getroffen wurde und zum Nachteil des Unternehmers (Verkäufers) von §§ 478 Abs. 1, 433 bis 435, 437, 439 bis 443, 445a Absatz 1 und 2 sowie den §§ 445b, 475b und 475c BGB abweicht, wenn dem Rückgriffsgläubiger kein gleichwertiger Ausgleich eingeräumt wird. Neu ist die Aufnahme der §§ 475b und 475c BGB. Jedoch kommen diese Normen bei dem Regress des Unternehmers gegen den Lieferanten nicht zur Anwendung (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2068). Fraglich ist insoweit, wie zum Nachteil des Unternehmerverkäufers von den §§ 475b und 475c BGB abgewichen werden soll, wenn dem Unternehmerverkäufer die entsprechenden Rechte gar nicht zustehen. In den Gesetzesmaterialien beschränkt man sich auf den Hinweis, dass es sich um „Folgeänderungen“ handele, mit denen „der Einfügung der §§ 475b und 475c BGB-E Rechnung getragen“ werde (BT-Drucks. 2019/27424, S. 44). Die Ergänzung um §§ 475b und 475c BGB ist auch nicht für einen effektiven Verbraucherschutz notwendig, da seine Rechte aus §§ 475b und 475c BGB schon durch § 476 Abs. 1 S. 2 BGB geschützt sind.
 
V.    Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass es wie auch bezüglich der Nacherfüllung gem. § 439 BGB keine grundlegenden Änderungen im Lieferantenregress durch die Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (RL) 2019/771 gibt.
Problematisch ist aber die Ergänzung von § 445a Abs. 1 aE BGB um den pauschalen Verweis auf § 475b Abs. 4 BGB. Hier gilt es zu beobachten, wie Rechtsprechung und weitere Stimmen der Literatur dazu Stellung beziehen werden und welche Auswirkungen der Verweis in der Praxis haben wird.
Zudem ist der Verweis in § 478 Abs. 2 BGB auf die §§ 475b und 475c BGB kritisch zu hinterfragen. Für Studierende in der Klausursituation gilt es hier – wie immer in Konstellationen mit mehreren Beteiligten –, die einzelnen Vertrags- und Leistungsbeziehungen klar zu ordnen. Auch wenn es banal erscheinen mag, sollte eine Fallskizze mit den einzelnen Beziehungen der Beteiligten angefertigt und bei der Anfertigung der Lösung im Auge behalten werden.

18.01.2022/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2022-01-18 09:00:522022-01-18 09:00:52Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 3: Der Lieferantenregress
Gastautor

Schriftformerfordernisse in Klausur und Praxis

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Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Tashina Kopf veröffentlichen zu können. Die Autorin hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Flick Gocke Schaumburg.
Die Schriftform ist im juristischen Studium ab dem ersten Semester Vorlesungsstoff und prüfungsrelevant. Auch in längeren Klausuren des fortgeschrittenen Studiums können Schriftformprobleme gut eingebaut werden. Der folgende Beitrag soll daher einen abstrakten Überblick über die Regelungen der §§ 126, 126a BGB geben. Insbesondere die elektronische Form nach § 126a BGB soll näher erläutert werden.
I. Allgemeines
Die Schriftform ist in § 126 BGB geregelt. Nach Absatz 1 muss danach „die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden“. Die Schriftform kann auf zwei Weisen ersetzt werden: nach Absatz 3 durch die elektronische Form (siehe unten), nach Absatz 4 durch die notarielle Beurkundung.
II. Anforderungen
Die Anforderungen gelten einheitlich für alle gesetzlichen Schriftformerfordernisse. Dabei ist es unerheblich, wie die einzelne Norm formuliert ist, z.B. „schriftliche Erklärung“ oder „schriftliche Mitteilung“.
1. Urkunde
Die rechtsgeschäftliche Erklärung muss in einer Urkunde niedergeschrieben werden. Eine Urkunde ist jede durch Schriftzeichen dauerhaft verkörperte Willenserklärung, die einen Aussteller erkennen lässt und geeignet sowie bestimmt ist, im Rechtsverkehr Beweise zu erbringen. Die Art und Weise der Niederlegung der Schriftzeichen auf dem Urkundenmaterial spielt für das Schriftformerfordernis keine Rolle – sie können handschriftlich, aber auch durch einen Computerausdruck oder sonstige Weise aufgebracht werden. Das Rechtsgeschäft muss in einer Urkunde niedergelegt werden; bei mehreren Blättern muss die Verbindung deutlich gemacht werden (z.B. durch zusammenheften, aber auch Nummerierung der Seiten, einheitliche optische Gestaltung).
2. Inhalt
Die Urkunde muss das gesamte formbedürftige Rechtsgeschäft mit allen Einzelheiten darlegen. Nicht nötig ist hingegen die Angabe von Ort und Datum der Erstellung der Urkunde. Der notwendige Inhalt bestimmt sich nach dem jeweiligen Zweck des Schriftformerfordernisses im Einzelfall.
3. Unterzeichnung
Der Aussteller muss auf der Urkunde unterschreiben. Dies muss in der Regel am Ende der Urkunde geschehen, um einen räumlichen Abschluss darzustellen. Unter eine Unterschrift ergänzte Nachträge müssen erneut unterschrieben werden. Die Unterschrift kann jedoch auch bereits vor der schriftlichen Niederlegung des Inhalts erfolgen. Dabei kann sowohl ein teilweise fertiger Text unterschrieben werden, der später noch vervollständigt werden muss, sowie eine Blankounterschrift abgegeben werden. Bei einer solchen ist zu beachten, dass sich aus dem Zweck des Schriftformerfordernisses ergeben kann, dass auch die Ausfüllungsermächtigung der Schriftform genügen muss (z.B. Bürgschaft oder Kreditvertrag).
Der Aussteller hat mit seinem Namen zu unterzeichnen, um sich kenntlich zu machen. Dabei ist erforderlich, dass die Person zweifelsfrei feststellbar ist. Es ist deshalb auch ausreichend, mit nur einem Teil des Namens (insbesondere dem Nachnamen) zu unterschreiben oder einem Künstlernamen, wenn dieser hinreichenden Bezug auf die Person des Unterzeichners nimmt.
III. Elektronische Unterschrift
Im heutigen vermehrt digitalen Geschäftsverkehr ist das Festhalten an der händischen Unterschrift für die Erklärenden häufig mit zusätzlichen Umständen verbunden. Dies hat auch der Gesetzgeber erkannt, der mit § 126a BGB die Möglichkeit einer elektronischen Form eingeführt hat. Davon abzugrenzen sind bloße, nicht digital signierte elektronische Textdateien. Diese genügen NICHT der elektronischen Form.
1. Arten
Es gibt verschiedene Arten elektronischer Signaturen, die je nach Anwendungsbereich genutzt werden können. Neben der einfachen elektronischen Signatur kennt die eIDAS-Verordnung der Europäischen Union zu digitalen Unterschriften die fortgeschrittene elektronische Signatur sowie die qualifizierte elektronische Signatur. Die qualifizierte elektronische Signatur enthält alle Merkmale einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur sowie erhöhte Sicherheitsanforderungen.
Mit der qualifiziert elektronischen Signatur wird auch das Schriftformerfordernis eingehalten (§§ 126 Abs. 3, 126a Abs. 1 BGB). Eine einfache elektronische Signatur, z.B. durch Unterschrift auf einem Tablet oder Scannen einer handschriftlichen Unterschrift, ist für die Einhaltung der gesetzlichen Schriftform nie ausreichend. Durch sie wird das Sicherheitserfordernis der Schriftform nicht eingehalten, da sie ohne weiteres von einer anderen Person kopiert und weiterverwendet oder aus dem Dokument gelöscht werden kann. Sie kann also lediglich im Interesse der Vertragsparteien verwendet werden.
Die qualifiziert elektronische Signatur setzt hohe Anforderungen für ein digitales Sicherheitszertifikat, Identifizierung und Verschlüsselung. Die qualifizierte elektronische Signatur muss einem einzigen, dadurch identifizierbaren Schlüsselinhaber zugeordnet sein. Eine nachträgliche Veränderung muss erkennbar sein. Sie kann nur durch einen dazu qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter hergestellt werden, welcher ein Signaturschlüssel-Zertifikat ausstellt. Der genaue Vorgang des elektronischen Signierens befindet sich im dauernden Wandel. Eine Möglichkeit ist beispielsweise das Einführen einer Chipkarte in ein Kartenlesegerät und die anschließende Eingabe einer PIN.
Der Adressat der Willenserklärung, der Kenntnis über den öffentlichen Schlüssel des Erklärenden erhält, kann sich durch Einsichtnahme in das Zertifikat über die Identität des Unterzeichnenden versichern. Wegen des hohen zeitlichen und technischen Aufwands wird die qualifizierte elektronische Signatur deshalb bisher in der Praxis nicht viel eingesetzt. Ferner sind die Kosten nicht zu vergessen: eine Komplettausstattung mit Kartenlesegerät, Signaturkarte und Zertifikat mit einer Gültigkeitsdauer von drei Jahren kosten circa 120 bis 160€ (Quelle: Umweltministerium, abrufbar unter https://www.bmu.de/faq/was-kostet-eine-ausstattung-zur-qualifizierten-elektronischen-signatur, letzter Abruf v. 13.12.2021). Nach Ablauf der Gültigkeit muss eine Nachfolgekarte beantragt werden.
2. Keine Ersetzungsmöglichkeit
Jedoch gibt es auch weiterhin Vorschriften, die eine Schriftform vorschreiben, welche nicht durch die elektronische Form ersetzt werden kann (s.u. „QES –“). Dies ist der Fall, um die Zwecke der Schriftform einzuhalten, z.B. Schutz vor Übereilung.
3. Verwendung
Die elektronische Form setzt ein elektronisches Dokument voraus. Darunter sind elektronische Daten zu verstehen, die auf einem Schriftträger dauerhaft gespeichert sind und ohne technische Geräte nicht lesbar sind. Eine elektronische Wiedergabemöglichkeit muss bestehen.
Auch die qualifizierte elektronische Signatur muss das zu unterzeichnende Dokument abschließen. Sie kann deshalb erst hinzugefügt werden, nachdem das Dokument fertiggestellt ist. Dadurch erübrigt sich aber die Voraussetzung, dass die Unterschrift einen räumlichen Abschluss unter der Urkunde darstellen muss. Sie kann mithin an beliebiger Stelle eingefügt werden.
Bei gegenseitigen Verträgen müssen entgegen des unmittelbaren Verständnisses von § 126a Abs. 2 BGB die Vertragsparteien dasselbe elektronische Vertragsdokument signieren. Es reicht jedoch aus, wenn mehrere identische elektronische Exemplare eines Vertrages erstellt werden, und jeder Vertragspartner die Ausführung für den anderen Teil signiert.
Es ist nicht notwendig, dass beide Vertragsparteien die elektronische Form verwenden. Es ist möglich, dass eine Partei das Vertragsdokument elektronisch signiert, und der andere Teil ein identisches physisches Exemplar in der Schriftform nach § 126 Abs. 1 BGB unterschreibt.
4. Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr
Für die Verwendung der elektronischen Form ist kein Einverständnis des anderen Teils erforderlich. Dem Empfänger einer Willenserklärung kann die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr jedoch nicht aufgezwungen werden. Er ist grundsätzlich auch nicht verpflichtet, Vorrichtungen bereitzustellen, die für den Empfang von elektronischen Willenserklärungen notwendig sind. Hat der Empfänger keinerlei Vorrichtungen dafür, kann ihm die Willenserklärung auch nicht nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zugehen. Die fehlenden Vorkehrungen gehen also grundsätzlich zulasten des Erklärenden.
In der Praxis wird die elektronische Form deshalb regelmäßig nur verwendet, wenn die Beteiligten sich ausdrücklich oder durch ihren bisherigen Geschäftsverkehr konkludent darauf geeinigt haben.
IV. Examensrelevante Schriftformerfordernisse

  • 409 Abs. 1 S. 2 BGB – Abtretungsanzeige
  • 492 Abs. 1 – Verbraucherdarlehensvertrag (QES -)
  • 568 Abs. 1 BGB – Kündigung eines Mietvertrages
  • 623 BGB – Kündigung eines Arbeitsvertrages (QES -)
  • 766 S. 1 BGB – Bürgschaftsvertrag (QES -)
  • § 14 Abs. 4, 15 TzBfG – Befristung eines Arbeitsvertrages; umstritten, ob eine elektronische Unterschrift zulässig ist
11.01.2022/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-01-11 08:43:042022-06-07 06:27:22Schriftformerfordernisse in Klausur und Praxis
Dr. Yannick Peisker

Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 2: Der Nacherfüllungsanspruch

Aktuelles, Examensvorbereitung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht

Jurastudenten und auch Praktiker werden die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegengenommen haben – mit dem Beginn des Jahres 2022 stehen größere Änderung im allseits prüfungs- und praxisrelevanten Kaufrecht an. Juraexamen.info gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen, die aufgrund der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 im Kaufrecht der §§ 433 ff. BGB erfolgen. Hierzu veröffentlichen wir eine Reihe von Beiträgen – in diesem zweiten Teil der Reihe steht der Nacherfüllungsanspruch des Käufers im Fokus.
I. Anforderungen der Richtlinie (EU) 2019/771 an die Nacherfüllung
Genuin unionsrechtliche Vorgaben und Anforderungen an die Nacherfüllung in Gestalt der Nachbesserung oder Nachlieferung trifft die Richtlinie (EU) 2019/771 in Art. 14.
Art. 14 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2019/771 beschreibt die Art und Weise der Erfüllung von Nachbesserung und Nachlieferung. Dies habe unentgeltlich (lit. a); innerhalb einer angemessenen Frist ab dem Zeitpunkt, zu dem der Verbraucher den Verkäufer über die Vertragswidrigkeit unterrichtet hat (lit. b) und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher zu erfolgen, wobei die Art der Waren sowie der Zweck, für den der Verbraucher die Waren benötigt, zu berücksichtigen sind (lit. c).
Abs. 2 regelt nunmehr die Frage, wie mit der mangelbehafteten Ware zu verfahren ist. Sofern die Vertragswidrigkeit durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung beseitigt wird, stellt der Verbraucher die Ware dem Verkäufer zur Verfügung. Der Verkäufer muss diese ersetzten Waren auf seine Kosten zurücknehmen.
Abs. 3 betrifft die Problematik der Nacherfüllung bei eingebauten Waren. Erfordert die Nachbesserung deren Entfernung, umfasst die Nacherfüllungspflicht nunmehr ausdrücklich die Entfernung der mangelbehafteten Ware sowie Montage oder Installierung nach Nachbesserung oder Nachlieferung, oder aber auch eine entsprechende Kostenübernahme.
Zuletzt regelt Abs. 4, dass der Verbraucher für eine normale Verwendung der ersetzten Waren für die Zeit vor der Ersetzung nicht zu zahlen braucht.
Um diese in der Richtlinie (EU) 2019/771 getroffenen Anforderungen in nationales Recht umzusetzen, hat der Gesetzgeber einige Anpassungen des § 439 BGB vorgenommen.
II. Die Umsetzung in deutschen Recht
Textliche Änderungen hat der Gesetzgeber durch Gesetz v. 25.6.2021 (BGBl. I S. 2133) durch Anpassung des Abs. 3 S. 1, durch Streichung des Abs. 3 S. 2, durch Einfügen eines neuen Abs. 5 und die Verschiebung des bisherigen Abs. 5 in Abs. 6 verbunden mit der Einführung eines neuen Abs. 6 S. 2 vorgenommen. Nachfolgend sollen die einzelnen Änderungen untersucht und ihre Auswirkung auf die bisher geltende Rechtslage beurteilt werden.
1. Aufwendungen für den Aus- und Einbau, § 439 Abs. 3 BGB nF.
439 Abs. 3 BGB betrifft die klassischen Einbaufälle, in denen der Käufer die gekaufte Sache in eine andere Sache eingebaut, oder an eine andere Sache angebracht hat. Abs. 3 S. 1 verpflichtet in diesem Fällen, sofern der Einbau oder die Anbringung der Art der gekauften Sache und ihrem Verwendungszweck entspricht, den Verkäufer dazu, die erforderlichen Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften Sache und den Einbau oder das Anbringen der mangelhaften Sache zu tragen.
Wichtig ist: Diese Pflicht wird durch die Neuregelung des Abs. 3 im Grundsatz nicht angerührt.
Lediglich der Ausnahmetatbestand ist betroffen. So verwies § 439 Abs. 3 S. 2 BGB aF. auf § 442 Abs. 1, wobei es für die Kenntnis des Käufers auf den Zeitpunkt des Einbaus/Anbringens ankam. Dies hatte nach früherer Rechtslage zur Folge, dass der Anspruch des Käufers auf Aufwendungsersatz nach Abs. 3 S. 1 in den Fällen ausgeschlossen war, in denen er bereits bei Einbau oder Anbringen der gekauften Sache Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von ihrer Mangelhaftigkeit besaß. Mit dieser Vorschrift setzte der nationale Gesetzgeber seinerseits (überschießend, also nicht nur für Verbraucher, sondern für alle Käufe geltend) die Rechtsprechung des EuGH um, nach der ein Ersatz von Aus- und Einbaukosten nur bei Gutgläubigkeit des Verbrauchers bestehen könne (BT-Drs. 19/27424, 26).
Dieser Ausnahmetatbestand des S. 2 fällt nunmehr weg.
Stattdessen wurde Abs. 3 S. 1 dergestalt angepasst, dass ein Aufwendungsersatzanspruch nur besteht, wenn die Sache eingebaut oder angebracht wurde „bevor der Mangel offenbar wurde“. Was genau unter dieser Begrifflichkeit zu verstehen ist, bleibt ungeklärt. Die Richtlinie (EU) 2019/771 selbst verhält sich hierzu nicht, ebenso wenig die nationalen Regelungen.
Vertreten lässt sich sowohl eine objektive Sichtweise, sodass es auf die Erkenntnismöglichkeit eines Durchschnittskäufers ankomme (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067), jedoch scheint auch eine Betrachtungsweise aus Sicht des Käufers nicht ausgeschlossen.
Darüber hinaus ist fraglich, ob die positive Kenntnis entscheidend und erforderlich ist, oder ob bereits grob oder einfach fahrlässige Unkenntnis ausreichend ist. Mit Blick auf die EuGH Entscheidung zur Richtlinie (EG) 1999/44, der die Gutgläubigkeit des Käufers forderte (EuGH, Urt. v. 16.6.2011 – C-65/09, C-87/09, NJW 2011, 2269) und die frühere Umsetzung in nationales Recht durch Verweis auf § 442 BGB, ist davon auszugehen, dass auch vorliegend bereits grob fahrlässige Unkenntnis schädlich ist. Sofern der nationale Gesetzgeber eine anderweitige Regelung hätte treffen wollen, hätte er dies in der Gesetzesbegründung wohl deutlicher hervorgehoben.
Rechtlich bringt die Änderung des § 439 Abs. 3 BGB nach hier vertretener Auffassung daher keine Änderungen, das letzte Wort ist hier jedoch juristisch noch nicht gesprochen.
In dem Zusammenhang soll kursorisch erwähnt werden, dass die bisherige Regelung des § 475 Abs. 4 BGB aF. ersatzlos gestrichen wurde. Der dortige S. 2 sah die Möglichkeit des Verkäufers vor, den Aufwendungsersatz nach Abs. 3 S. 1 auf einen angemessenen Betrag zu beschränken, sofern die andere Art der Nacherfüllung wegen der Höhe der Aufwendungen nach § 439 Abs. 2 oder Abs. 3 S. 1 BGB unverhältnismäßig ist. Diese Vorschrift galt aufgrund ihrer Verortung in § 475 BGB ausschließlich für den Kauf einer Ware eines Verbrauchers von einem Unternehmer. Diese Schlechterstellung des Verbrauchers im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufes gegenüber anderen Käufern wird nunmehr aufgehoben. Eine Beschränkung auf einen angemessenen Betrag ist daher nicht mehr möglich.
2.Verweigerung der Nacherfüllung, § 439 Abs. 4 BGB nF.
§ 439 Abs. 4 BGB selbst bleibt unverändert. An dieser Stelle soll jedoch erneut auf den ersatzlosen Wegfall des § 475 Abs. 4 BGB aF. hingewiesen werden. Nach alter Rechtslage stand dem Unternehmer als Verkäufer, wenn die eine Art der Nacherfüllung nach § 275 Abs. 1 BGB ausgeschlossen war oder der Unternehmer sie nach § 275 Abs. 2 oder 3 BGB oder § 439 Abs. 4 S. 1 BGB verweigern konnte, in Bezug auf die andere Art der Nacherfüllung nicht der Einwand des § 439 Abs. 4 S. 1 BGB zu. Es bestand daher nur ein relatives Verweigerungsrecht des Verkäufers (BeckOK BGB/Faust, 60. Ed. Stand 1.11.2021, § 475 Rn. 33 ff.).
Mit der Abschaffung dieser Regelung kann sich der Verkäufer daher auch im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs auf eine Totalverweigerung berufen (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2069).
3. Pflicht des Käufers, dem Verkäufer die Sache zur Verfügung zu stellen, § 439 Abs. 5 BGB nF.
§ 439 Abs. 5 BGB regelt nunmehr ausdrücklich die Pflicht des Käufers, dem Verkäufer die Sache zum Zwecke der Nacherfüllung zur Verfügung zu stellen.
Dies stellt im Grundsatz eine Kodifikation bisher geltender Rechtsprechungsgrundsätze dar. Denn nach bisheriger Judikatur des BGH liegt kein taugliches Nacherfüllungsverlangen vor, solange der Käufer dem Verkäufer keine Gelegenheit biete, die Ware zu begutachten und sie ihm hierfür nicht am Erfüllungsort der Nacherfüllung zur Verfügung stelle (BGH, Urt. v. 19.7.2017 – VIII ZR 278/16, NJW 2017, 2758 Rn. 21). Nach bisher geltender Rechtslage handelt es sich bei der Überlassung der mangelbehafteten Kaufsache an den Verkäufer um eine Obliegenheit des Käufers. Ohne ein taugliches Nacherfüllungsverlangen liegt keine ordnungsgemäße Fristsetzung innerhalb der §§ 281, 323 BGB vor, sodass die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Rücktritts, Schadensersatz und Minderung regelmäßig ausgeschlossen ist (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067).
Wohingegen einige Autoren die nunmehr ausdrückliche Kodifikation weiterhin als Obliegenheit einordnen wollen (so wohl Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067), spricht vieles dafür, nunmehr von einer erzwingbaren rechtlichen Pflicht auszugehen.
So wird in der Begründung zum Gesetzentwurf wie folgt formuliert:

„Mit § 439 Absatz 5 BGBE wird dies nunmehr gesetzlich geregelt. Systematik und Wortlaut der unionsrechtlichen Vorgabe deuten indes darauf hin, dass es sich nicht bloß um eine Obliegenheit des Käufers handelt, sondern um eine erzwingbare Pflicht.“

Eine rechtliche Pflicht genießt gegenüber einer Obliegenheit den Vorteil, dass sie vom Verkäufer (Schuldner) dem Käufer (Gläubiger) des Nacherfüllungsanspruches als Einrede gemäß § 273 BGB entgegengehalten werden kann – bereits dieser ist somit nicht durchsetzbar (Wilke, VuR 2021, 283, 289). Darüber hinaus ist ein Nacherfüllungsverlangen zur Geltendmachung der Rechte aus § 437 BGB insbesondere im Verbrauchsgüterkauf nicht immer notwendig (siehe § 475d BGB). Diese Rechte aus § 437 BGB, insbesondere § 323 und § 281 BGB, setzen jedoch einen fälligen und einredefreien Anspruch voraus, welcher im Falle der Einordnung als Pflicht – und damit nicht als Obliegenheit – aufgrund von § 273 BGB gerade nicht besteht. Dies zeigt die rechtliche Schwäche einer Einordnung als Obliegenheit auf.
4. Erfüllungsort der Nacherfüllung
Zum Erfüllungsort selbst verhält sich die Richtlinie (EU) 2019/771 oder auch das BGB nicht. Es ist daher davon auszugehen, dass auch in Zukunft die bisherige Rechtsprechung des BGH Geltung entfacht (nachzulesen in BGH, Urt. v. 19.7.2017 – VIII ZR 278/16, NJW 2017, 2758 Rn. 21 ff.). Danach gilt auch im Kaufrecht grundsätzlich die allgemeine Vorschrift des § 269 BGB. Bei einem Verbrauchsgüterkauf kommt es somit entscheidend darauf an, ob die Nacherfüllung mit solchen Unannehmlichkeiten verbunden ist, dass der Erfüllungsort ausnahmsweise am Wohnsitz des Verbrauchers liegt. Das Abstellen auf die mit der Nacherfüllung verbundenen Unannehmlichkeiten in diesem Rahmen findet in Art. 14 Abs. 1 lit. d Richtlinie (EU) 2019/771 erneut eine brauchbare Stütze im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des § 269 BGB.
5. Rücknahmepflicht des Verkäufers, § 439 Abs. 6 S. 2 BGB nF.
Korrespondierend zur Überlassungspflicht des Käufers regelt § 439 Abs. 6 S. 2 BGB nF. die Pflicht des Verkäufers, die ersetzte Sache zurückzunehmen. Dieser S. 2 steht in Zusammenhang mit Abs. 6 S. 1. Es handelt sich hierbei um den § 439 Abs. 5 BGB aF. Nach dieser Norm kann der Verkäufer Rückgewähr der mangelhaften Sache nach Maßgabe der §§ 346 bis 348 BGB verlangen, sofern er zum Zwecke der Nacherfüllung eine mangelfreie Sache liefert.
Abs. 6 S. 2 betrifft damit die Konstellation, dass der Verkäufer eine neue Sache im Wege der Nachlieferung bereitstellt, er aber die alte Sache nicht zurücknimmt. Aus der Praxis dürfte dies insbesondere bei großen Versandhändlern der Fall sein, die den mit der Rücknahme einer defekten Sache verbundenen Aufwand nicht tragen wollen.
Bereits ohne ausdrückliche Normierung der Pflicht des Verkäufers, die ersetzte Sache zurückzunehmen, war jedoch nach alter Rechtslage anerkannt, dass die Rücknahmepflicht einer mangelhaften Sache Kehrseite der aus § 433 Abs. 2 BGB folgenden Abnahmeverpflichtung des Käufers darstellt (OLG Köln, Urt. v. 21.12.2005 – 11 U 46/05, NJW-RR 2006, 677; BeckOK BGB/Faust, 60 Ed. Stand 1.11.2021, § 439 Rn. 28). Nichtsdestotrotz tendierte der BGH bisher dazu, eine entsprechende Rücknahmeverpflichtung des Verkäufers nur bei einem berechtigten oder besonderen Interesse des Käufers anzunehmen (BGH, Urt. v. 9.3.1983 – VIII ZR 11/82, NJW 1983, 1479, 1480). Diese Position hat sich jedenfalls mit der ausdrücklichen Kodifizierung der Rücknahmeverpflichtung des Verkäufers erledigt.
6. Summa: Kaum rechtliche Änderungen
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die rechtliche Beurteilung des Nacherfüllungsanspruches sich auch nach dem 1.1.2022 größtenteils nicht ändern wird. Für das Examen bedarf es hier daher nur kaum einer inhaltlichen Auffrischung.
Neu sein dürfte die Einordnung der Überlassung der Kaufsache an den Verkäufer bei ihrer Mangelhaftigkeit als rechtliche Pflicht des Käufers sein, mit den oben dargestellten Folgen in Bezug auf die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Frage des tauglichen Nacherfüllungsverlangens. Hier lohnt es sich, auch in der Klausur präzise zu arbeiten und den Unterschied zwischen Obliegenheit und rechtlicher Pflicht herauszuarbeiten.
Zur Rechtssicherheit trägt die Kodifikation der Verkäuferpflicht zur Rücknahme der mangelhaften Kaufsache bei Neulieferung bei, hier kommt es nun nicht mehr auf das Vorliegen eines berechtigten Käuferinteresses an.
Rechtsunsicherheit wird durch die Richtlinie (EU) 2019/771 und die mit ihr verbundenen Änderungen im nationalen Recht lediglich im Rahmen der klassischen Einbaufälle geschaffen. So bedarf es in Zukunft der gerichtlichen Klärung, wann der Mangel „offenbar“ wird. Einer Problematisierung bedarf es hier daher in jedem Falle auch in der Prüfungssituation.

03.01.2022/0 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-01-03 09:00:112022-01-03 09:00:11Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 2: Der Nacherfüllungsanspruch
Dr. Lena Bleckmann

Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 1: Der Sachmangelbegriff des § 434 BGB

Aktuelles, Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Kaufrecht, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Zivilrecht

Jurastudenten und auch Praktiker werden die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegengenommen haben – mit dem Beginn des Jahres 2022 stehen größere Änderung im allseits prüfungs- und praxisrelevanten Kaufrecht an. Juraexamen.info gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen, die aufgrund der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 im Kaufrecht der §§ 433 ff. BGB erfolgen. Hierzu veröffentlichen wir eine Reihe von Beiträgen – in diesem ersten Teil der Reihe steht neben allgemeinen Informationen zur Richtlinie der neue Sachmangelbegriff im Fokus.
I. Warum eine Kaufrechtsreform?
Doch zunächst einige Hintergrundinformationen zum Grund für die doch recht umfangreichen Änderungen im BGB. Man mag sich fragen, was den deutschen Gesetzgeber dazu veranlasst hat, grundlegende Fragen das Kaufrechts neu zu regeln. Wie so oft steckt hierhinter eine Umsetzungsverpflichtung aus dem Europarecht (Art. 288 Abs. 3 AEUV).
Die Richtlinie (EU) 2019/771 hat es sich ausweislich ihres Art. 1 zum Ziel gesetzt, „zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen und gleichzeitig für ein hohes Verbraucherschutzniveau zu sorgen, indem gemeinsame Vorschriften über bestimmte Anforderungen an Kaufverträge zwischen Verkäufern und Verbrauchern festgelegt werden, insbesondere Vorschriften über die Vertragsmäßigkeit der Waren, die Abhilfen im Falle einer Vertragswidrigkeit, die Modalitäten für die Inanspruchnahme dieser Abhilfen sowie über gewerbliche Garantien.“
Die Mitgliedsstaaten wurden zur Umsetzung der Richtlinie bis zum 1. Juli 2021 verpflichtet, ab dem 1. Januar 2022 sollen die neuen Regelungen gelten (Art. 26 Richtlinie (EU) 2019/771). Der deutsche Gesetzgeber hat die Umsetzungsfrist mit dem Erlass des Gesetzes zur Regelung des Verkaufs von Sachen mit digitalen Elementen und anderer Aspekte des Kaufvertrags v. 25. Juni 2021 (BGBl. 2021, I, S. 2133) haarscharf eingehalten. Viel Spielraum bei der Umsetzung der Richtlinie blieb ihm nicht – anders als noch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, die im Zuge der Schuldrechtsreform 2002 umgesetzt wurde, ist die aktuelle Warenkaufrichtlinie vollharmonisierend. Dies geht aus Art. 4 der Richtlinie hervor: „Sofern in dieser Richtlinie nichts anderes bestimmt ist, dürfen die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht keine von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichenden Vorschriften aufrechterhalten oder einführen; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Vorschriften zur Gewährleistung eines anderen Verbraucherschutzniveaus.“ Die Mitgliedsstaaten dürfen das von der Richtlinie vorgegebene Schutzniveau mithin nicht nur nicht unter- sondern ebenso nicht überschreiten – die Vorgaben sollen im gesamten europäischen Binnenmarkt gleichermaßen gelten.
Die zentralen Begrifflichkeiten werden in Art. 2 der Richtlinie (EU) 2019/771 definiert, ihr Anwendungsbereich ist mit Kaufverträgen zwischen einem Verbraucher und einem Verkäufer (Art. 3 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2019/771) grundsätzlich weit gefasst, wobei die Einschränkungen der Abs. 3-7 zu berücksichtigen sind.
II. Anforderungen der Richtlinie (EU) 2019/771 an die Vertragsmäßigkeit von Waren
Nun zum Sachmangel. Ein Sachmangel liegt nach allgemeinem Verständnis vor, wenn die Ist-Beschaffenheit der Kaufsache von der Soll-Beschaffenheit abweicht. Ganz maßgeblich ist daher, welche Anforderungen an die Soll-Beschaffenheit der Kaufsache zu stellen sind bzw. wie diese zu bestimmen ist. Hierzu machen die Art. 5 ff. der Richtlinie (EU) 2019/771 nähere Vorgaben. Nach Art. 5 Richtlinie (EU) 2019/771 liefert der Verkäufer dem Verbraucher Waren, die – soweit anwendbar – die Voraussetzungen der Art. 6, 7 und 8 der Richtlinie erfüllen. Ausweislich der Überschrift des Artikels ist dies als Definition dessen zu verstehen, was die Vertragsgemäßheit von Waren voraussetzt. Art. 6 Richtlinie (EU) 2019/771 bezieht sich auf subjektive Anforderungen an die Vertragsgemäßheit von Waren, Art. 7 Richtlinie (EU) 2019/771 demgegenüber auf objektive Anforderungen, sowie schließlich Art. 8 Richtlinie (EU) 2019/771 auf die Vertragswidrigkeit der Waren aufgrund unsachgemäßer Montage oder Installation. Da Art. 5 Richtlinie (EU) 2019/771 die Voraussetzungen der Art. 6, 7 und 8 kumulativ als Anforderungen nennt, ist eine Ware nur dann als vertragsgemäß anzusehen, wenn die Vorgaben aller drei Artikel erfüllt sind, soweit nicht Ausnahmen greifen.
III. Die Umsetzung im deutschen Recht
So hat auch der deutsche Gesetzgeber die Anforderungen der Richtlinie verstanden. Aus diesem Grund nennt § 434 Abs. 1 BGB in der ab dem 1. Januar 2022 geltenden Fassung drei kumulative Voraussetzungen für die Freiheit der Kaufsache von Sachmängeln: „Die Sache ist frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang den subjektiven Anforderungen, den objektiven Anforderungen und den Montageanforderungen dieser Vorschrift entspricht.“
Zu betonen ist auch hier wieder das Wörtchen „und“ – dass die genannten Anforderungen alternativ erfüllt sind, genügt für die Sachmangelfreiheit nicht, sie müssen vielmehr kumulativ vorliegen. Wohlgemerkt gilt dieser neue Mangelbegriff nicht nur für Verträge zwischen Verbrauchern und Unternehmern, sondern für das Kaufrecht im Allgemeinen. In den Absätzen 2, 3 und 4 des § 434 BGB n.F. präzisiert das Gesetz, wann eine Sache den subjektiven, objektiven sowie Montageanforderungen entspricht. Hierauf wird näher einzugehen sein.
Zunächst jedoch ein Vergleich mit dem (noch) geltenden Recht. Bislang geht der strukturiert arbeitende Klausurkandidat auf der Suche nach einem Sachmangel in mehreren Schritten vor: Ausgehend vom subjektiven Fehlerbegriff prüft er, ob eine Beschaffenheitsvereinbarung vorliegt. Ist das der Fall, ist allein diese ausschlaggebend. Die Anforderungen an das Vorliegen einer Beschaffenheitsvereinbarung sind jedoch nicht zu niedrig anzusetzen: Erforderlich ist mindestens eine konkludente Einigung, wobei nicht bereits die übliche Beschaffenheit als konkludent vereinbart gilt (BeckOK BGB/Faust, § 434 Rn. 41). Die übliche Beschaffenheit als objektives Kriterium ist vielmehr erst später in der Prüfung unter § 434 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB zu berücksichtigen. Vorher noch ist bei Fehlen einer Beschaffenheitsvereinbarung zu fragen, ob sich die Kaufsache gem. § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet. Man arbeitete sich mithin vom subjektiven Fehlerbegriff, von der spezifischen Parteivereinbarung nach § 434 Abs. 1 S. 1 BGB, über die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung erst hin zu objektiven Anhaltspunkten nach § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB. Weiterhin konnte sich die Mangelhaftigkeit aus abweichenden Werbeangaben (§ 434 Abs. 1 S. 3 BGB), aus Montagefehlern (§ 434 Abs. 2 BGB) oder aber aus Aliud- oder Mankolieferungen (§ 434 Abs. 3 BGB) ergeben.
Ist all das bislang Gelernte nun hinfällig, wenn subjektive und objektive sowie Montageanforderungen kumulativ erfüllt sein müssen? Ganz so ist es wohl nicht.
1. Zu den subjektiven Anforderungen
Zum einen findet sich auch im neuen § 434 BGB viel Bekanntes wieder. So entspricht eine Sache nach § 434 Abs. 2 S. 1 BGB n.F. den subjektiven Anforderungen, wenn sie (1) die vereinbarte Beschaffenheit hat, (2) sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet und (3) mit dem vereinbarten Zubehör und den vereinbarten Anleitungen, einschließlich Montage- und Installationsanleitungen, übergeben wird – vieles ist insoweit bereits aus dem bisherigen § 434 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1 sowie Abs. 2 S. 2 BGB geläufig.
Über die vorausgesetzte Verwendung müssen sich die Parteien einigen – Art. 6 lit. b Richtlinie (EU) 2019/771 setzt insoweit die Zustimmung des Verkäufers voraus, die Vollharmonisierung verbietet hier jedenfalls im Anwendungsbereich der Richtlinie eine zugunsten des Verbrauchers günstigere Interpretation, die eine übereinstimmend unterstellte Verwendung genügen lässt (vgl. Wilke, VuR 2021, 283).
Ob die fehlende Montageanleitung bislang unter § 434 Abs. 2 S. 2 BGB fiel, war umstritten (hierfür BeckOK BGB/Faust, § 434 Rn. 102 m.W.N.; für die Anwendung des § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Palandt/Weidenkaff, § 434 Rn. 48), in der neuen Fassung der Norm ist die Zuordnung nunmehr eindeutig. Damit das Fehlen von Zubehör und Montageanleitung einen Sachmangel im subjektiven Sinne darstellen kann, ist erforderlich, dass ihr Vorhandensein vereinbart wurde – insoweit ergibt sich keine Änderung in der Rechtslage, auch nach dem bisherigen § 434 BGB hätte ein solches Fehlen vereinbarter Lieferbestandteile einen Sachmangel begründet (Lorenz, NJW 2021, 2065 (2066)).
§ 434 Abs. 2 S. 2 n.F. präzisiert weiter, dass zu der Beschaffenheit nach S. 1 Nr. 1 auch die Art, Menge, Qualität, Funktionalität, Kompatibilität, Interoperabilität und sonstige Merkmale der Sache, für die die Parteien Anforderungen vereinbart haben, gehört. Die Begriffe der Funktionalität, Kompatibilität und Interoperabilität sind in Art. 2 Nr. 8, 9 und 10 Richtlinie (EU) 2019/771 definiert.
Dass die Art der Sache Merkmal der Beschaffenheit ist, könnte ein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachmangels bei Aliud-Lieferungen sein. Andererseits regelt § 434 Abs. 5 BGB n.F. ausdrücklich, dass die Lieferung einer anderen Sache als die vertraglich geschuldete einem Sachmangel gleichsteht. Anwendungsfälle, in denen die Art der Sache nicht der Vereinbarung entspricht, zugleich aber nicht bereits ein Aliud geliefert wird, sind jedenfalls auf den ersten Blick nicht ersichtlich (ähnlich Wilke, VuR 2021, 283 (285)). Die Rechtsprechung wird hier zeigen müssen, ob sich die Regelungsbereiche des § 434 Abs. 5 n.F. und § 434 Abs. 2 S. 2 Var. 1 BGB n.F. tatsächlich vollständig decken. Sollte dem so sein, wäre § 434 Abs. 5 n.F. überflüssig – dass das Aliud als Sachmangel gilt, ist dann unerheblich, wenn die Abweichung in der Art der Sache bereits ein Sachmangel ist.
Die Aufnahme des Merkmals der Menge in § 434 Abs. 2 S. 2 Var. 2 BGB n.F. könnte bislang bestehende Fragen hinsichtlich der Zuviel-Lieferung klären – oder aber weitere aufwerfen. Während § 434 Abs. 3 BGB in der aktuellen Fassung dem Wortlaut nach nur die zu geringe Menge umfasst, ist § 434 Abs. 1 S. 2 Var. 2 BGB n.F. insoweit offener formuliert. Da das Äquivalenzinteresse durch eine Zuviellieferung allerdings nicht beeinträchtigt wird, kann durchaus bezweifelt werden, ob eine solche trotz der nun möglichen Subsumtion unter den Wortlaut erfasst sein soll (Wilke, VuR 2021, 283 (285)). Gegen eine Einbeziehung auch der Zuviellieferung spricht auch die Gesetzesbegründung zu § 434 Abs. 5 BGB n.F.: Der deutsche Gesetzgeber bezieht sich hier ausdrücklich nur auf zu geringe Liefermengen (BT-Drucks. 19/27424, S. 25). Ob dies dem Verständnis des europäischen Richtliniengebers entspricht, ist damit natürlich nicht gesagt.
Die Aufzählung der Beschaffenheitsmerkmale ist nicht abschließend, wie der Zusatz „oder sonstige Merkmale“ zeigt. Die Parteien können also weitere Merkmale als Bestandteile der Beschaffenheit vereinbaren.
2. Zu den objektiven Anforderungen
Die objektiven Anforderungen an die Kaufsache stellt § 434 Abs. 3 n.F. auf. Hierzu gehört, dass die Kaufsache (1) sich für die gewöhnliche Verwendung eignet, (2) eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen derselben Art üblich ist und die der Käufer erwarten kann unter Berücksichtigung a) der Art der Sache und b) der öffentlichen Äußerungen, die von dem
Verkäufer oder einem anderen Glied der Vertragskette oder in deren Auftrag, insbesondere in der Werbung oder auf dem Etikett, abgegeben wurden, sowie (3) der Beschaffenheit einer Probe oder eines Musters entspricht, die oder das der Verkäufer dem Käufer vor Vertragsschluss zur Verfügung gestellt hat, und (4) mit dem Zubehör einschließlich der Verpackung, der Montage- oder Installationsanleitung sowie anderen Anleitungen übergeben wird, deren Erhalt der Käufer erwarten kann.
Die erstgenannten Punkte sind weitgehend aus § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, S. 3 BGB a.F. bekannt. Dass die Sache einer zur Verfügung gestellten Probe oder einem Muster entsprechen muss, ist als ausdrückliche Regelung neu, inhaltlich dürfte dies indes kaum eine Erweiterung des Mangelbegriffs bedeuten. Bislang ging man insoweit von einer konkludenten Beschaffenheitsvereinbarung aus (Wilke, VuR 2021, 283 (284)). Ebenfalls nicht neu ist, dass das Fehlen zu erwartenden Zubehörs oder zu erwartender Verpackung oder Montage- oder Installationsanleitungen oder anderen Anleitungen zu einem Mangel führt (bislang über § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB, vgl. Wilke, VuR 2021, 283 (284), zu vereinbarten Bestandteilen der Lieferung siehe bereits oben 1.).
In S. 2 werden wiederum, wie schon für die subjektiven Anforderungen, Merkmale aufgeführt, die zur Beschaffenheit – diesmal der üblichen Beschaffenheit – gehören. Überwiegend kann hier auf die Ausführungen unter 1. verwiesen werden. Zu den objektiven Merkmalen der Beschaffenheit zählt allerdings insbesondere auch die Haltbarkeit der Sache. „Haltbarkeit“ ist dabei die Fähigkeit der Sache, ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung zu behalten, Art. 2 Nr. 13 Richtlinie (EU) 2019/771. In Erwgr. 32 der Richtlinie (EU) 2019/771 heißt es hierzu:

„Damit Waren vertragsgemäß sind, sollten sie eine Haltbarkeit haben, die für Waren derselben Art üblich ist und die der Verbraucher in Anbetracht der Art der spezifischen Waren, einschließlich der möglichen Notwendigkeit einer vernünftigen Wartung der Waren, wie etwa der regelmäßigen Inspektion oder des Austausches von Filtern in einem Auto, und unter Berücksichtigung öffentlicher Erklärungen, die von dem Verkäufer oder im Auftrag des Verkäufers oder einer anderen Person in vorhergehenden Gliedern der Vertragskette abgegeben wurden, vernünftigerweise erwarten kann. Bei der Beurteilung sollten auch alle anderen maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden, wie beispielsweise der Preis der Ware und die Intensität oder Häufigkeit der Verwendung seitens des Verbrauchers“

Mithin geht es insbesondere darum, welche berechtigten Erwartungen der Käufer an die Haltbarkeit einer Sache haben darf, wobei Preis sowie übliche Nutzung der Sache zu berücksichtigen sind. Hingegen begründet § 434 Abs. 3 S. 2 BGB n.F. keine Haltbarkeitsgarantie, wie die Gesetzesbegründung ausdrücklich klarstellt:

„Daraus folgt, dass der Verkäufer dafür einzustehen hat, dass die Sache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs die Fähigkeit hat, ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung zu behalten. § 434 Absatz 3 BGB-E begründet hingegen keine gesetzliche Haltbarkeitsgarantie. Der Verkäufer haftet nach § 434 Absatz 3 BGB-E nicht dafür, dass die Sache tatsächlich ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung behält.“ (BT-Drucks. 19/27424, S. 24)

Insgesamt sind die nun geregelten, objektiven Anforderungen für sich genommen nicht neu. Die genannten Merkmale waren auch nach bisheriger Rechtslage bereits zu berücksichtigen, soweit es auf die objektive Beschaffenheit der Kaufsache ankam. Neu ist allerdings das Rangverhältnis der objektiven Beschaffenheitsmerkmale zu den subjektiven Anforderungen an die Kaufsache – hierzu sogleich unter 3.
3. Zu den Montageanforderungen
Schnell abgehandelt werden können die Montageanforderungen, die in § 434 Abs. 4 BGB n.F. geregelt sind. Die dortige Umsetzung des Art. 8 Richtlinie (EU) 2019/771 entspricht dem Regelungsgehalt nach dem bisherigen § 434 Abs. 2 BGB (vgl. BT-Drucks. 19/27424, S. 25; Lorenz, NJW 2021, 2065 (2066)).
4. Zur Gleichrangigkeit der objektiven und subjektiven Anforderungen
So steht nun fest, was unter den in § 434 Abs. 1 BGB n.F. genannten Anforderungskategorien zu verstehen ist. Zeit, sich mit der dort angeordneten und für das deutsche Recht neuen Gleichrangigkeit dieser Anforderungen auseinanderzusetzen.
Wenn Mangelfreiheit nur dann vorliegt, wenn die Kaufsache den subjektiven und objektiven Anforderungen entspricht, kann sie dann wegen objektiver Mängel vertragswidrig sein, obwohl die Parteien sich zuvor über diese verständigt hatten? Das ginge zu weit. In einem solchen Fall könnte etwa ein gebrauchtes Auto, das stärkere Abnutzungen aufweist, als es bei Fahrzeugen desselben Alters üblicherweise zu erwarten ist, kaum noch verkauft werden. Das entspricht nicht dem Sinn und Zweck der Neuregelungen. Einem solchen Ergebnis beugt § 434 Abs. 3 S. 1 BGB n.F. vor: Dort heißt es „Soweit nicht wirksam etwas anderes vereinbart wurde, entspricht die Sache den objektiven Anforderungen, wenn sie (…)“. Die Parteien können die Bedeutung der objektiven Anforderungen mithin durch eine negative Beschaffenheitsvereinbarung zurücktreten lassen. Soweit es sich nicht um einen Verbrauchsgüterkauf handelt, kann eine solche auch konkludent abgeschlossen werden, was bei Kenntnis und Billigung der Abweichungen von der objektiven Beschaffenheit durch den Käufer regelmäßig der Fall sein dürfte.
Nicht so allerdings im Verbrauchsgüterkaufrecht. Der negativen Beschaffenheitsvereinbarung sind insoweit durch § 476 Abs. 1 S. 2 BGB n.F. Grenzen gesetzt. Dort heißt es:

„Von den Anforderungen nach § BGB § 434 Absatz BGB § 434 Absatz 3 oder § BGB § 475b Absatz BGB § 475B Absatz 4 kann vor Mitteilung eines Mangels an den Unternehmer durch Vertrag abgewichen werden, wenn 1.) der Verbraucher vor der Abgabe seiner Vertragserklärung eigens davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass ein bestimmtes Merkmal der Ware von den objektiven Anforderungen abweicht, und 2.) die Abweichung im Sinne der Nummer 1 im Vertrag ausdrücklich und gesondert vereinbart wurde.“

Soweit die objektiven Anforderungen (siehe oben 2.) nicht eingehalten sind, muss der kaufende Verbraucher eigens, dürfte heißen mittels individueller Information (Lorenz, NJW 2021, 2065 (2073)), und vor Abgabe seiner Vertragserklärung, sei es nun Angebot oder Annahme, hierüber informiert werden. Selbst die Zustimmung zum Abschluss eines Vertrages nach entsprechender Information genügt jedoch nicht für die Annahme einer negativen Beschaffenheitsvereinbarung, vielmehr muss zusätzlich (siehe Wortlaut „und“ in § 476 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB n.F.) ausdrücklich und gesondert vereinbart werden, dass die Abweichung von der objektiven Beschaffenheit keine Mangelhaftigkeit der Kaufsache bedeutet.
Sind diese Anforderungen beim Verbrauchsgüterkauf nicht eingehalten, ist die Abweichung von den objektiven Anforderungen nicht i.S.d. § 434 Abs. 3 S. 1 BGB n.F. wirksam vereinbart worden und kann daher einen Sachmangel begründen. Nun mag man denken, die praktischen Auswirkungen könnten nicht allzu groß sein – kennt der Käufer den Mangel oder kennt er ihn grob fahrlässig nicht und hat der Verkäufer ihn weder arglistig verschwiegen noch eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen, sind doch seine Rechte wegen des Mangels nach Maßgabe des durch die Reform unberührten § 442 BGB ausgeschlossen. Auf diesem Wege sollen die Grenzen des § 476 Abs. 1 S. 2 BGB n.F. jedoch nicht ausgehebelt werden können (vgl. Lorenz, NJW 2021, 2065 (2068)). Die Anwendung des § 442 BGB ist im Verbrauchsgüterkaufrecht nach § 475 Abs. 3 S. 2 BGB n.F. ausgeschlossen. Soll mithin eine nicht den objektiven Anforderungen nach § 434 Abs. 3 BGB n.F. entsprechende Sache im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufs verkauft werden, kann der Ausschluss der Mängelgewährleistung wegen dieser Abweichung von den objektiven Anforderungen nur erreicht werden, indem der Verbraucher eigens und vor Abgabe seiner Vertragserklärung unterrichtet wird und die Abweichung ausdrücklich und gesondert vereinbart wird.
III. Summa
Damit kommt diese erste Betrachtung des „neuen Kaufrechts“ zu einem Ende. Die Änderungen hinsichtlich des Sachmangelbegriffs sind im Wortlaut durchaus umfangreich, wie schon die im Vergleich zur bisherigen Fassung des § 434 BGB erheblich gewachsene Länge der Norm zeigt. Die inhaltlichen Auswirkungen sind letztlich jedoch nicht so gravierend, wie es die erste Lektüre insbesondere des § 434 Abs. 1 S. 1 BGB n.F. befürchten lassen mag. Mit einer sauberen und gewissenhaften Arbeit anhand des Gesetzestextes dürften sich hier schon viele Probleme lösen lassen. Aufmerksamkeit ist indes insbesondere im Verbrauchsgüterkaufrecht geboten. Hier dürfte die Gleichrangigkeit von subjektiven und objektiven Anforderungen für die Mangelfreiheit aufgrund der erschwerten Möglichkeit negativer Beschaffenheitsvereinbarungen größere Bedeutung erlangen.

21.12.2021/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-12-21 08:00:252021-12-21 08:00:25Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 1: Der Sachmangelbegriff des § 434 BGB
Gastautor

Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Über die Vorlagepflicht der nationalen Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV habe ich hier schon vor einigen Monaten berichtet anlässlich der Entscheidung des BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005): Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
 
I. Nun gibt es neue Impulse vom EuGH. Generalanwalt Bobek setzt sich mit den bisherigen Maßstäben ausführlich auseinander und schlägt ein Umdenken der insb. im Urteil in der Rs. CIFLIT (v. 6.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335) niedergelegten Maßstäbe vor (Schlussanträge v. 14.4.2021 – C-561/19, EU:C:2021:291). Weniger, dafür bessere Vorlagen. Nehme man die bisherigen Maßstäbe ernst, dann droht die Überlastung der Gerichte. Er begründet seine Ansicht in seiner ihm sehr eigenen, sehr narrativen Weise, mit der er sich gerade auch an Studenten wendet:
 

„Anders als die nationalen letztinstanzlichen Gerichte werden Studierende des Europarechts für das Urteil CILFIT u. a. vermutlich immer eher Sympathie gehabt haben. Im Lauf der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden die Herzen vieler Europarechtsstudenten wahrscheinlich mit einem plötzlichen Anflug von Freude und Erleichterung geklopft haben, wenn sie „Urteil CILFIT“, „Ausnahmen von der Vorlagepflicht“ und „Diskussion“ auf ihrem Prüfungs- oder Übungsblatt gelesen haben. Die Frage nach der Durchführbarkeit der nach dem Urteil CILFIT geltenden Ausnahmen von der Verpflichtung, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einzureichen, insbesondere der Ausnahme in Bezug auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels des nationalen letztinstanzlichen Gerichts, ist nämlich vielleicht nicht die anspruchsvollste Erörterungsaufgabe. Müssen diese Gerichte wirklich (alle) gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des Unionsrechts miteinander vergleichen? Wie sollen sie, praktisch betrachtet, bestimmen, ob die Frage für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof gleichermaßen offenkundig ist?

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Ausnahmen von dieser Pflicht und vor allem ihre Durchsetzung sind seit Jahren, bildlich gesprochen, schlafende Hunde des Unionsrechts. Wir wissen alle, dass sie da sind. Wir können alle über sie diskutieren oder gar akademische Aufsätze über sie schreiben. Im echten Leben aber weckt man sie am besten nicht. Pragmatisch (oder zynisch) gesagt, funktioniert das gesamte Vorabentscheidungssystem, weil niemand das Urteil CILFIT wirklich anwendet, jedenfalls nicht wörtlich. Oft ist es besser, sich einen Hund vorzustellen, als es mit dem lebenden Tier zu tun zu haben.

Aus einer Reihe von Gründen, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen werde, trage ich dem Gerichtshof den Vorschlag vor, dass es an der Zeit ist, die Rechtssache CILFIT zu überprüfen. Mein Vorschlag hierfür ist eher einfach und geht dahin, die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie die von ihr geltenden Ausnahmen so anzupassen, dass sie den Anforderungen des gegenwärtigen unionsrechtlichen Gerichtssystems entsprechen und dann realistisch angewendet (sowie möglicherweise zu gegebener Zeit durchgesetzt) werden können.

Der vorgeschlagene Anpassungsvorgang erfordert jedoch einen erheblichen Paradigmenwechsel. Die Grundgedanken und Ausrichtung der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen sollten sich wegbewegen vom Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall, der in Form eines subjektiven gerichtlichen Zweifel bestehen und festgestellt werden muss, hin zu einem objektiveren Gebot der Gewährleistung einer in der gesamten Union einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Mit anderen Worten sollte die Vorlagepflicht nicht in erster Linie auf die richtigen Antworten, sondern vielmehr auf die Ermittlung der richtigen Fragen ausgerichtet sein.“

 
II. Neugierig geworden? Einfach lesen. Es lohnt sich wirklich (und man erfährt auch noch was über den braven Soldat Schwjk). Und wer dann noch Lust und Energie hat, das Thema zu vertiefen, dann kann man sich auch mit dem Gegenteil beschäftigen: Wann nicht vorgelegt werden kann, selbst wenn man wollte. Auch Bobek betont: Vorgelegt werden kann nur, was entscheidungserheblich ist (nicht anders als bei der konkreten Normenkontrolle nachkonstitutionellen Rechts durch das BVerfG nach Art. 100 GG, s. hierzu BVerfG v. 28.1.1092, BVerfGE 85, 191). Hierbei ist anerkannt „dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; vgl. u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis C-80/08, EU:C:2011:550 Rn. 30 und die dort angeführte Rspr.). Es gilt eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit von zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen. Daher kann der Gerichtshof eine Entscheidung nur in begrenzten Fällen ablehnen, insbesondere dann, wenn die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht erfüllt sind oder wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung der betreffenden Unionsregelung in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht oder wenn die Fragen hypothetischer Natur sind (Generalanwalt Bobek, Schlussantrag v. 13.1.2021 – C-645/19, EU:C:2021:5 Rn. 33). Die Frage ist unzulässig, „wenn das Problem hypothetischer Natur ist“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; in diesem Sinne u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08, EU:C:2011:550 Rn. 31 und die dort angeführte Rspr.). Denn der Gerichtshof sieht die ihm durch Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe im Kern darin, „[…] zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben“ (wiederum EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105).
 
Manche Gerichte haben offensichtlich Freude an der Vorlage, zu der sie gar nicht verpflichtet sind. So gibt es z.B. ein Gericht mit acht Vorlagen desselben Richters innerhalb von etwas mehr als 20 Monaten (Vorlagebeschluss vom 27.3.2019 – 6 K 1016/15.Wi, entschieden durch den Gerichtshof am 9.7.2020 – Rs. C‑272/19; Vorlagebeschluss v. 27.6.2019 – 6 K 565/17, entschieden durch den Gerichtshof am 12.5.2021 – C-505/19; Vorlagebeschluss vom 13.5.2020 – 6 K 805/19.WI, anhängig Rs. C-215/20; Vorlagebeschluss vom 15.5.2020 – 6 K 806/19.WI, anhängig als Rs C-222/20; Vorlagebeschluss vom 17.12.2020 – 23 K 1360/20.WI.PV, anhängig als Rs. C-34/21; Vorlagebeschluss vom 30.7.2021 – 6 K 421/21.WI, anhängig als Rs. C-481/21; Vorlagebeschluss vom 31.8.2021 – 6 K 226/21.WI, anhängig als Rs. C-552/21; Vorlagebeschluss vom 1.10.2021 – 6 K 788/20.WI; vor einigen Jahren schon Vorlagebeschluss vom 27.2.2009 – 6 K 1045/08.WI, entschieden EuGH v. 9.11.2010 Rs. C-93/09). Sie betreffen alle – wie die anderen Vorlagen – auch diesmal den Datenschutz. Dieses Rechtsgebiet ist wohl das „Steckenpferd“ des Richters, zu dem er in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche engagierte, durchaus kluge und auch rechtspolitisch ausgerichtete Beiträge veröffentlicht hat. Dabei kommentiert er auch seine eigenen Vorlagen, in denen er das gewünschte Ergebnis der Prüfung des Gerichtshofs vorwegnimmt (s. ZD-Aktuell 2021, 05470), oder im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs das Ergebnis, von dem er dann ggf. auch deutlich macht, wo er anders denkt (ZD 2021, 426).
 
III. Das mag man auch rechtspolitisch bewerten. Ich habe schon vor mehr als 15 Jahren geschrieben, ohne dass sich meine Meinung geändert hätte: Nicht alles muss nach Luxemburg (Thüsing, BB Editorial, Heft 35/2005). Die deutschen Gerichte bleiben vorlagefreudig und das ist gut so, weil es in den meisten Fällen der größeren Rechtssicherheit dient. Nicht alle diese Vorlagen verfolgen freilich dieses Ziel (s. auch Thüsing, BB-Editorial, Heft 25/2007). Zuweilen spielen die Instanzgerichte über Bande und versuchen, ihre Rechtsprechung, die das BAG nicht überzeugt, über den Umweg des EuGH zu erzwingen (s. hierfür exemplarisch die Vorlage im Verfahren Schultz-Hoff Rs. C-350/06 durch das LAG Düsseldorf v. 21.8.2006). So etwas hat einen faden Beigeschmack, insbesondere wenn die europarechtlichen Anknüpfungspunkte gering sind und die erhoffte Antwort nur richtig sein könnte, wenn nicht nur Deutschland, sondern sehr viele andere Länder auch irren würden. Allgemein gilt: respice finem! Wer vorlegt, muss sorgsam die Folgen berechnen, die seine Vorlage haben könnte.

18.11.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-18 08:27:472021-11-18 08:27:47Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor
Gastautor

Neues zum Dieselskandal: Rücktritt vom Kaufvertrag ohne Fristsetzung?

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Alexandra Ritter veröffentlichen zu können. Die Autorin studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit am Lehrstuhl von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) tätig.
Mit Urteil vom 29.9.2021 (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris) hat der BGH entschieden, dass Käufer eines vom Dieselskandal betroffenen Pkw nicht ohne Fristsetzung vom Kaufvertrag zurücktreten können. Dem Verkäufer müsse grundsätzlich Gelegenheit zur Nachbesserung gegeben werden. Der vom BGH entschiedene Fall ist wie gemacht für eine Klausur in Studium und Examen. Er bietet damit Anlass, sich anhand der aktuellen Problematik mit dem prüfungsrelevanten Thema des Rücktritts auseinanderzusetzen.
I. Der Sachverhalt
Vereinfacht dargestellt ging es in dem dem Urteil zugrunde liegenden Fall um Folgendes: Der Kläger (K) kaufte vom beklagten Autohändler (V) im Februar 2015 einen Škoda, dessen Motor von der Volkswagen AG hergestellt war. Der Motor ist mit einer Software versehen, die erkennt, ob sich das Fahrzeug im Normalbetrieb oder auf einem Prüfstand zur Messung der maßgeblichen Werte für eine Typgenehmigung befindet. In dem Fahrmodus, der für den Fall des Durchlaufens des Prüfstands programmiert ist, kommt es im Vergleich zum regulären Fahrbetrieb zu einer erhöhten Abgasrückführung und damit zu einer Verringerung des Stickoxidausstoßes. Dieser Umstand wurde im Herbst 2015 öffentlich bekannt gemacht.
Für die fehlerhafte Software wurde ein Update entwickelt, das die Fehler beseitigt. Dieses Update wurde von der zuständigen britischen Vehicle Certification Agency freigeben mit der Bestätigung, dass es zur Fehlerbehebung geeignet sei.
Der Kläger ließ das Software-Update nicht aufspielen, weil er befürchtete, dass dieses mit negativen Folgen für das Fahrzeug verbunden sei. Mit Schreiben vom 4. Oktober 2017 erklärte K gegenüber V den Rücktritt vom Kaufvertrag. V verweigerte die Rücknahme des Fahrzeugs und verwies K auf das zur Verfügung stehende Software-Update.
Hat K einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises?
II. Gutachterliche Lösung
K könnte gegen V einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus §§ 437 Nr. 2 Alt. 1, 346 I BGB haben.
1. Kaufvertrag
K und V haben im Februar 2015 einen Kaufvertrag i.S.v. § 433 BGB über den Škoda geschlossen.
2. Mangel bei Gefahrübergang
Damit K die Mängelgewährleistungsrechte der §§ 437 ff. BGB geltend machen kann, müsste die Kaufsache bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen sein.
a) Mangel
Mangels Beschaffenheitsvereinbarung gem. § 434 I 1 BGB und vorausgesetzter besonderer Verwendung gem. § 434 I 2 Nr. 1 BGB, kommt ein Sachmangel gem. § 434 I 2 Nr. 2 BGB in Betracht.
Danach hat die Sache einen Mangel, wenn sie sich nicht für die gewöhnliche Verwendung eignet und nicht eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann. Die unzulässige Abschalteinrichtung birgt die Gefahr einer Betriebsuntersagung gem. § 5 I FZV und führt so zu einer herabgesetzten Eignung des Fahrzeugs zur gewöhnlichen Verwendung (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 20). Zudem ist eine solche Abschalteinrichtung bei Sachen der gleichen Art nicht üblich und der Käufer kann erwarten, dass der Wagen keine Abschalteinrichtung einprogrammiert hat. Somit liegt ein Sachmangel i.S.v. § 434 I 2 Nr. 2 BGB vor.
b) Gefahrübergang
Der Mangel müsste schon bei Gefahrübergang vorgelegen haben. Gem. § 446 S. 1 BGB geht die Gefahr mit Übergabe der Kaufsache auf den Käufer über. Die Abschalteinrichtung wurde schon vom Motorhersteller eingerichtet, sodass der Mangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlag.
c) Zwischenergebnis
Der Anwendungsbereich für die Mängelgewährleistungsrechte gem. §§ 437 ff. BGB ist eröffnet
3. Weitere Rücktrittsvoraussetzungen
Gem. § 437 Nr. 2 Alt. 1 BGB kann K nach den §§ 440, 323, 326 V BGB vom Kaufvertrag zurückgetreten. Dazu müsste K den Rücktritt gem. § 349 BGB erklärt und gem. § 323 I BGB eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt haben.
a) Erklärung
Die Rücktrittserklärung gem. § 349 BGB ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Mit Schreiben vom 4.10.2017 hat K gegenüber V seinen Willen vom Vertrag zurückzutreten zum Ausdruck gebracht. Diese Erklärung ist V auch zugegangen (§ 130 I BGB). Eine Rücktrittserklärung des K liegt vor.
b) Frist
Gem. § 323 I BGB müsste K dem V zunächst eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt haben. Hier hat K dem V jedoch den Rücktritt erklärt, ohne ihm zuvor die Gelegenheit zur Nacherfüllung zu gewähren. Eine Fristsetzung liegt damit nicht vor.
Die Fristsetzung könnte jedoch entbehrlich sein.
aa) § 323 II Nr. 3 BGB
(1) Zunächst kommt eine Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB wegen etwaigen arglistigen Verhaltens in Betracht. Gem. § 323 II Nr. 3 BGB ist die Fristsetzung entbehrlich, wenn im Falle einer nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen.
„Ein die sofortige Rückabwicklung des Kaufvertrags rechtfertigendes überwiegendes Käuferinteresse ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn der Verkäufer dem Käufer einen ihm bekannten Mangel bei Abschluss des Kaufvertrags arglistig verschwiegen hat […]. In diesen Fällen ist in aller Regel ein den Verkäuferbelangen vorgehendes Interesse des Käufers anzuerkennen, von einer weiteren Zusammenarbeit mit dem Verkäufer Abstand zu nehmen, um sich vor möglichen weiteren Täuschungsversuchen zu schützen […]. Denn durch das arglistige Verschweigen eines Mangels entfällt auf Seiten des Käufers regelmäßig die zur Nacherfüllung erforderliche Vertrauensgrundlage, während der Verkäufer die Möglichkeit zur nachträglichen Mangelbeseitigung in der Regel nicht verdient, wenn er den ihm bekannten Mangel vor Vertragsschluss hätte beseitigen können und damit im Vorfeld der vertraglichen Beziehungen bereits die Chance hatte, eine Rückabwicklung des später geschlossenen Vertrags zu vermeiden […].“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021– VIII ZR 111/20, juris Rn. 24)
V hatte als Händler im Zeitpunkt der Einigung zwischen V und K keine Kenntnis von der Mangelhaftigkeit des Wagens und diesen somit auch nicht arglistig verschwiegen.
Allerdings hatte der Hersteller des Wagens, die Volkswagen AG, Kenntnis von der Mangelhaftigkeit.
„Zwar kann die Vertrauensgrundlage zwischen einem Käufer und einem Verkäufer unter Umständen auch dann gestört sein, wenn der Verkäufer sich bei Vertragsabschluss ordnungsgemäß verhalten hat, jedoch der Hersteller des Fahrzeugs dieses mit einer ihm bekannten und verschwiegenen unzulässigen Abschalteinrichtung in den Verkehr gebracht hat und der Verkäufer nun allein eine Nachbesserung in Form eines von diesem Hersteller entwickelten Software-Updates anbietet. Dabei kommt es darauf an, ob spätestens bei Erklärung des Rücktritts […] die Vertrauensgrundlage zwischen den Parteien so gestört war, dass eine Nacherfüllung (vgl. § 323 Abs. 1 BGB), also eine Nachbesserung oder eine Ersatzlieferung, für den Käufer unter Einbeziehung des Herstellers nicht zumutbar war. Ob dies der Fall ist, hängt jedoch von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, die der Tatrichter nicht schematisch, sondern in sorgfältiger Abwägung zu würdigen hat.“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 27)
Solche Anhaltspunkte dafür, dass K die Nacherfüllung unter Einbeziehung des V nicht zumutbar war, lassen sich dem Sachverhalt nicht entnehmen.
V könnte sich allenfalls die Kenntnis von der Mangelhaftigkeit und ein arglistiges Vorgehen des Herstellers nach § 278 BGB, 166 BGB analog zurechnen lassen müssen.
Dazu müsste die Volkswagen AG als Herstellerin Erfüllungsgehilfin des V i.S.v. § 278 BGB gewesen sein. Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird (BeckOK BGB/Lorenz, 59. Ed. Stand: 1.8.2021, § 278 Rn. 11). Die Volkswagen AG könnte bei der dem V gem. § 433 I BGB obliegenden Verbindlichkeit, dem K ein mangelfreies Fahrzeug zu übereignen, tätig geworden sein. Dagegen spricht aber, dass ein Hersteller bei der Herstellung künftiger Kaufsachen eigene Aufgaben erfüllt und nicht solche des späteren Händlerverkäufers. Eine Stellung der Volkswagen AG als Erfüllungsgehilfin des V ist somit abzulehnen.
Damit muss sich V etwaiges arglistiges Verhalten der Herstellerin nicht zurechnen lassen. Eine Entbehrlichkeit der Frist lässt sich aus der Kenntnis der Mangelhaftigkeit der Herstellerin somit nicht begründen.
(2) Eine Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB könnte aus dem Umstand herrühren, dass die Installation des Software-Updates zu anderen Mängeln am Wagen führen könnte. Ob das Software-Update solche Konsequenzen hat, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Es genügt nach Auffassung des BGH hier auch nicht, dass solche sich anschließenden Mängel nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen sind (BGH, Urteil v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 33 ff.).

– die Ausführungen des BGH beziehen sich hier auch auf Fehler der Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht. Für die Ausführungen im Gutachten kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Entbehrlichkeitsgrund nach § 323 II Nr. 2 BGB eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall fordert. Ein nicht hinreichend belegter Verdacht einer Vertragspartei, wie in diesem Fall, genügt nicht, um die Entbehrlichkeit zu begründen (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 38).

Hilfsweise sei an dieser Stelle die Interessenabwägung bei angenommener Unzumutbarkeit der Nacherfüllung durch Nachbesserung für K aufgezeigt.
„Selbst wenn die Nacherfüllung für den Kläger unzumutbar wäre, träte damit das Interesse der Beklagten an einer vom Gesetzgeber durch das Instrument der Nacherfüllung grundsätzlich eingeräumten „zweiten Andienung“ nicht automatisch zurück. Denn der Beklagten war das Vorhandensein der unzulässigen Abschalteinrichtung vor oder bei Vertragsschluss nicht bekannt. Sie hatte daher nicht die Möglichkeit, diesen Mangel frühzeitig zu beseitigen. Gerade diesem Umstand kommt aber nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung entscheidendes Gewicht für ein Zurücktreten der Belange des täuschenden Verkäufers im Rahmen der Interessenabwägung nach § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB zu […]-. Der Beklagten ist eine Berufung auf eine „zweite Andienung“ auch nicht per se deswegen zu versagen, weil ihr eine mögliche Arglist des Herstellers zuzurechnen wäre. Denn eine Zurechnung eines solchen Herstellerverhaltens gemäß § 278 BGB, § 166 BGB analog scheidet aus […].“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 37)

Die Fristsetzung war auch unter Berücksichtigung der Behauptung des K entbehrlich gem. § 323 II Nr. 3 BGB.
bb) § 440 BGB
Die Fristsetzung könnte entbehrlich sein gem. § 440 BGB. Hiernach bedarf es einer Fristsetzung zur Nacherfüllung nicht, wenn dem Käufer die ihm zustehende Art der Nacherfüllung unzumutbar ist. Eine solche Unzumutbarkeit lässt sich aus den geschilderten Umständen – wie dargestellt – aber gerade nicht begründen. Die Frist ist somit auch nicht gem. § 440 BGB entbehrlich.
cc) § 326 V BGB
Zuletzt könnte die Fristsetzung entbehrlich sein gem. § 326 V BGB. Dazu müssten beide Arten der Nacherfüllung unmöglich i.S.v. § 275 I – III BGB sein.
„Vorliegend steht nicht fest, ob eine mangelfreie Nachlieferung des ursprünglichen Modells zum Zeitpunkt des Rücktritts noch möglich war oder nicht. Auch hat das Berufungsgericht nicht festgestellt, ob eine Nachbesserung durch das Software-Update oder gegebenenfalls durch andere Methoden (etwa „Hardware-Lösung“) unmöglich war […].“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 42)

– Auch hier sind unzureichende Erhebungen des Berufungsgerichts Grundlage der Bewertung durch den BGH. In der Klausur kann es dieser Stelle zu einer Inzidentprüfung der Unmöglichkeit der Nacherfüllung kommen. Dann ist deutlich darzustellen, dass der Bezugspunkt für die Unmöglichkeit i.S.v. § 275 BGB nicht der ursprüngliche Erfüllungsanspruch, sondern der Nacherfüllungsanspruch gem. § 439 I BGB ist.

dd) Zwischenergebnis
Die Setzung einer Frist zur Nacherfüllung war nicht entbehrlich. K ist somit nicht wirksam vom Kaufvertrag zurückgetreten.
– Hilfsgutachten –
5. Kein Ausschluss
Bei der Annahme einer Entbehrlichkeit der Fristsetzung wäre schließlich noch zu prüfen, ob der Rücktritt durch K ausgeschlossen ist. In Betracht kommt ein Ausschluss des Rücktritts gem. § 323 V 2 BGB. Demnach kann der Gläubiger bei nicht vertragsgemäßer Leistungserbringung durch den Schuldner nicht vom Vertrag zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist. Dies
„erfordert eine umfassende Interessenabwägung auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls […]. Bei behebbaren Mängeln ist von einer Geringfügigkeit und damit von einer Unerheblichkeit in der Regel auszugehen, wenn die Kosten der Mangelbeseitigung im Verhältnis zum Kaufpreis geringfügig sind, was jedenfalls regelmäßig nicht mehr anzunehmen ist, wenn der Mangelbeseitigungsaufwand einen Betrag von fünf Prozent des Kaufpreises übersteigt […]. Bei unbehebbaren Mängeln ist regelmäßig auf das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung abzustellen […].“ (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 44).
Für die Annahme einer Geringfügigkeit könnte sprechen, dass das Software-Update ohne größere Schwierigkeiten und mit geringen Zeitaufwand durchführbar ist.
„Jedoch steht derzeit nicht fest, dass das Software-Update zu einer ordnungsgemäßen Nachbesserung führt, also nicht mit dem Auftreten von (nicht zu vernachlässigenden) Folgemängeln verbunden wäre. Eine Nachbesserung im Sinne von § 439 Abs. 1 BGB setzt eine vollständige, nachhaltige und fachgerechte Behebung des vorhandenen Mangels voraus […] und liegt nicht vor, wenn zwar der ursprüngliche Mangel beseitigt, hierdurch aber Folgemängel hervorgerufen werden. Ob dies der Fall ist, ist mangels rechtsfehlerfreier Feststellungen des Berufungsgerichts offen. Damit kann nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon ausgegangen werden, dass sich die unzulässige Abschalteinrichtung mit geringem Kostenaufwand folgenlos in dem vorbeschriebenen Sinne beseitigen ließe.“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 47)
Im Ergebnis kann die Unerheblichkeit der Pflichtverletzung nicht angenommen werden. Der Ausschluss gem. § 323 V 2 BGB ist somit nicht einschlägig.
– Ende des Hilfsgutachtens –
6. Ergebnis
K hat gegen V keinen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus §§ 437 Nr. 2 At. 1, 346 I BGB.
III. Fazit
Auch wenn viele Bewertungen des BGH bezüglich der Entbehrlichkeit der Frist auf den Umstand zurückzuführen sind, dass bestimmte Umstände auf Tatsachenebene von den Vorinstanzen nicht hinreichend erforscht wurden, lassen sich einige Ausführungen finden, die im Gutachten hilfreich sein können.
Zum einen macht der Fall deutlich, dass zwischen den am Sachverhalt beteiligten genau zu unterscheiden ist. Das Verhalten und die Kenntnis des Herstellers/Lieferanten von der Mangelhaftigkeit der Kaufsache, kann dem Händlerverkäufer nach Auffassung des BGH nicht zugerechnet werden.
Zum anderen ist festzuhalten, dass für die Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB eine umfassende Abwägung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Für die Klausur bedeutet dies insbesondere die Informationen des Sachverhalts hierzu fruchtbar zu machen und einen eher strengen Maßstab anzulegen. Dabei darf die Bedeutung des Rechts des Schuldners zur zweiten Andienung nicht übersehen werden. Da es hier auf eine Wertung im Einzelfall ankommt, ist das Ergebnis bei sorgfältiger Verwertung der Informationen des Sachverhalts und Gewichtung der Argumente eher nebensächlich. Hier gilt es, das Ergebnis klausurtaktisch zu wählen und ggf. weitere Probleme des Sachverhalts im Hilfsgutachten zu besprechen.

04.11.2021/3 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-04 08:22:272021-11-04 08:22:27Neues zum Dieselskandal: Rücktritt vom Kaufvertrag ohne Fristsetzung?
Dr. Lena Bleckmann

BGH zum Widerrufsrecht beim Werkvertrag sowie zur Abgrenzung von Kauf- und Werklieferungsverträgen

Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Werkvertragsrecht, Zivilrecht

Vergangene Woche hat der BGH in einer Entscheidung zu Treppenliften grundlegende Fragen im Bereich des Verbraucherwiderrufsrechts geklärt. Die Entscheidung liefert darüber hinaus wertvolle Erkenntnisse zur Abgrenzung von Kaufverträgen, Werkverträgen und Werklieferungsverträgen.  An Klausur- und Examensrelevanz dürfte eine solche Entscheidung kaum zu übertreffen sein.
I. Der Sachverhalt
Der Sachverhalt ist schnell erzählt. A vertreibt sog. Kurventreppenlifte – es handelt sich um Vorrichtungen, die an Treppenaufgängen befestigt werden, um insbesondere Personen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind, den Treppenauf- und –abstieg zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Die Schienen werden hierbei individuell an im jeweiligen Treppenhaus zu befahrende Kurven angepasst. A weist Verbraucher in Bezug auf diese Kurventreppenlifte darauf hin, dass im Rahmen des jeweiligen Vertrags, abgesehen von einem bestimmten Modell, kein gesetzliches Widerrufsrecht bestehe. Hiergegen wendet sich die Verbraucherzentrale V. Sie ist der Ansicht, dass sehr wohl ein gesetzliches Widerrufsrecht besteht und nimmt die A  auf Unterlassung in Anspruch.

Anm.: Hierbei mag es sich um eine für eine Zivilrechtsklausur eher ungewöhnliche Konstellation handeln. Bearbeiter müssten sich mit der Anspruchsberechtigung der Verbraucherzentralen nach § 8 Abs. 3 Nr. 4 i.V.m. § 4 UKlaG auseinandersetzen. Dass dies gefordert wird, ist nicht ausgeschlossen, aber selten. Der Fall lässt sich jedoch ohne größere Probleme abwandeln, indem man eine tatsächliche Bestellung eines solchen Kurventreppenlifts durch einen Verbraucher mit anschließender Ausübung eines möglichen Widerrufsrechts konstruiert. Die eher unübliche Einkleidung sollte mithin nicht dazu verleiten, die Klausurrelevanz der Entscheidung zu verkennen.

II. Widerrufsrechte und Informationspflichten
Eine kurze Wiederholung der Fragen rund um das Widerrufsrecht im Verbraucherschutzrecht: Die verbraucherschützenden Vorschriften der §§ 312 ff. BGB sind nach § 312 Abs. 1 BGB auf Verbraucherverträge anwendbar, die eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben. Was Verbraucherverträge sind, definiert § 310 Abs. 3 BGB: Es handelt sich um Verträge zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer. Die übrigen Absätze des § 312 BGB enthalten sodann Einschränkungen des Anwendungsbereichs, die vorliegend aber keine weitere Beachtung finden sollen.
Möchte der Verbraucher nach Abschluss eines Vertrags i.S.d. § 312 Abs. 1 BGB von diesem Abstand nehmen, kann ihm dies aufgrund eines Widerrufsrechts möglich sein. § 312g Abs. 1 BGB sieht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge vor. In der Klausur ist an dieser Stelle daher eine saubere Subsumtion unter die Begriffe des außerhalb des Geschäftsräume geschlossenen Vertrags nach § 312b BGB bzw. des Fernabsatzvertrags nach § 312c BGB erforderlich. Für den konkreten Fall würde der Sachverhalt dann nähere Angaben enthalten, welche die Zuordnung zu dem einen oder anderen Begriff ermöglichen. Liegt ein Fernabsatzvertrag oder außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag vor, greift grundsätzlich  § 312g Abs. 1 BGB i.V.m. § 355 BGB: Wird der Widerruf fristgerecht unter Wahrung der Anforderungen des § 355 Abs. 1 BGB erklärt, sind die Parteien an ihre auf Abschluss des Vertrags gerichteten Willenserklärungen nicht mehr gebunden. Der Unternehmer ist nach § 312d Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB verpflichtet, den Verbraucher über die Bedingungen, die Fristen und das Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts zu informieren. Das alles gilt jedoch nicht, wenn das Bestehen eines Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2, 3 BGB ausgeschlossen ist.
III. Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB
Zurück zum Fall: Die Verbraucherzentrale V stützt sich für den geltend gemachten Unterlassungsanspruch (§ 8 Abs. 1 UWG, § 3 Abs. 1 UWG, § 3a UWG) auf die Informationspflicht des Unternehmers bei bestehenden Widerrufsrechten nach § 312d Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB. Sofern im Falle der Bestellung eines Kurventreppenlifts ein Widerrufsrecht bestünde, würde der Hinweis von Seiten der A, dass ein solches gerade nicht besteht, wettbewerbswidriges Verhalten darstellen (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350). Zentrale Frage ist mithin, ob denn ein solches Widerrufsrecht bestünde, wenn es mit einem Verbraucher zum Abschluss eines Vertrags über Anfertigung und Einbau eines Kurventreppenlifts durch die A käme.
Die Vorinstanz hat das noch abgelehnt: Das OLG Köln sah die Voraussetzungen des Ausschlusses nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB als erfüllt an (OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350, 351 f). Nach dieser Norm besteht ein Widerrufsrecht nicht bei Verträgen zur Lieferung von Waren, die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind. Dass die Laufschienen für Kurventreppenlifte individuell angefertigt werden und an die konkreten Gegebenheiten vor Ort angepasst werden, wird nicht bezweifelt. Der Problempunkt ist ein anderer: Bei dem Vertrag, der bei Bestellung eines Kurventreppenlifts abgeschlossen wird, müsste es sich um einen Vertrag zur Lieferung von Waren i.S.d. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB handeln. Der Begriff geht auf Art. 16 lit. c Richtlinie 2011/83/EU zurück, der den Ausschluss des Widerrufsrecht vorsieht, wenn „Waren geliefert werden“.  Nun existieren im deutschen Zivilrecht mehrere Vertragstypen, die eine Lieferung von Waren umfassen: Sowohl ein Kaufvertrag nach § 433 BGB, als auch ein Werklieferungsvertrag nach § 650 BGB und ein Werkvertrag nach § 631 BGB kann Waren (es handelt sich hierbei ausschließlich um bewegliche Gegenstände, siehe § 241a Abs. 1 BGB) zum Gegenstand haben. Nicht alle dieser Vertragstypen fallen jedoch nach Ansicht des BGH unter den Begriff des Vertrags zur Lieferung von Waren, den § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB verwendet. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2018 hinsichtlich des Einbaus eines Senkrechtslifts äußerte sich der BGH dahingehend, dass § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB Kaufverträge und Werklieferungsverträge, in aller Regel aber nicht Werkverträge umfasse.

 „Dem Wortlaut nach umfasst § 312 g II 1 Nr. 1 BGB Verträge, die auf die Lieferung von Waren gerichtet sind. Damit werden nach dem allgemeinen Sprachgebrach Kaufverträge (§ 433 BGB) und Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge, § 651 BGB) erfasst.

 Dies entspricht der Verbraucherrechte-RL, deren Umsetzung unter anderem § 312g BGB dient. Nach Art. 2 Nr. 5 Verbraucherrechte-RL ist ein „Kaufvertrag“ jeder Vertrag, durch den der Unternehmer das Eigentum an Waren an den Verbraucher überträgt oder deren Übertragung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt, einschließlich von Verträgen, die sowohl Waren als auch Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Damit werden von dieser Definition Kauf- und Werklieferungsverträge umfasst, und zwar auch dann, wenn sich der Unternehmer gegenüber dem Verbraucher zur Montage der zu liefernden Waren verpflichtet hat. Eine entsprechende Regelung enthalten §§ 474 I 2, 434 II 1, 433, 651 S. 1 BGB.

 In Abgrenzung zum „Kaufvertrag“ ist dagegen ein „Dienstleistungsvertrag“ jeder Vertrag, der kein Kaufvertrag ist und nach dem der Unternehmer eine Dienstleistung für den Verbraucher erbringt oder deren Erbringung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt, Art. 2 Nr. 6 Verbraucherrechte-RL. Nach dieser Definition sind Werkverträge (§ 631 BGB) jedenfalls regelmäßig nicht als auf die Lieferung von Waren gerichtete Verträge einzustufen. Ob Werkverträge im Sinne des deutschen Rechts in Ausnahmefällen als Verträge über die Lieferung von Waren iSd § 312g II 1 Nr. 1 BGB einzustufen sind, braucht nicht entschieden zu werden.

 (BGH, Urt. v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380, 3381)

Zur Begründung führte der BGH auch ein systematisches Argument an: Zum Schutz der Unternehmer, die Werkverträge erbringen, sei ein Ausschluss des Widerrufsrechts nicht in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB geregelt, sondern vielmehr in § 357 Abs. 3 S. 1 BGB.
Somit ist eine Abgrenzung der drei Vertragstypen notwendig. Grundsätzlich gilt: Der Verkäufer schuldet nach § 433 Abs. 1 S. 1 BGB allein Übergabe und Übereignung einer Sache, während ein Werklieferungsvertrag nach § 650 S. 1 BGB auf die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender Sachen gerichtet ist. Der Unternehmer des Werkvertrags ist nach § 631 BGB zur Herstellung des versprochenen Werks verpflichtet. Für eine Zuordnung zu einem dieser Vertragstypen muss der Vertragsschwerpunkt betrachtet werden: „Liegt der Schwerpunkt des Vertrags auf der mit dem Warenumsatz verbundenen Übertragung von Eigentum und Besitz, liegt ein Kauf- oder Werklieferungsvertrag vor. Liegt der Schwerpunkt des Vertrags dagegen nicht auf dem Warenumsatz, sondern schuldet der Unternehmer die Herstellung eines funktionstauglichen Werks, ist ein Werkvertrag anzunehmen“ (BGH, Urt. v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380, 3381).
Die Vorinstanz ist auf Basis dieser Rechtsprechung zu dem Ergebnis gelangt, es handle sich um einen Werklieferungsvertrag. Die Lieferung des Treppenlifts stehe im Vordergrund, die Montage könne durch jede Fachfirma mit geringem Aufwand erfolgen (OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350, 352). Der BGH ist anderer Ansicht. In der Pressemitteilung heißt es:

„Im Streitfall liegt der Schwerpunkt des angestrebten Vertrags nicht auf der mit dem Warenumsatz verbundenen Übertragung von Eigentum und Besitz am zu liefernden Treppenlift, sondern auf der Herstellung eines funktionstauglichen Werks, das zu einem wesentlichen Teil in der Anfertigung einer passenden Laufschiene und ihrer Einpassung in das Treppenhaus des Kunden besteht. Auch der hierfür, an den individuellen Anforderungen des Bestellers ausgerichtete, erforderliche Aufwand spricht daher für das Vorliegen eines Werkvertrags. Bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts, der durch eine individuell erstellte Laufschiene auf die Wohnverhältnisse des Kunden zugeschnitten wird, steht für den Kunden nicht die Übereignung, sondern der Einbau eines Treppenlifts als funktionsfähige Einheit im Vordergrund, für dessen Verwirklichung die Lieferung der Einzelteile einen zwar notwendigen, aber untergeordneten Zwischenschritt darstellt.“

(BGH, Pressemitteilung Nr. 191/2021 v. 20.10.2021)

Demnach handelt es sich bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts regelmäßig um einen Werkvertrag, auf den der Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht anwendbar ist. Der Hinweis der A, ein gesetzliches Widerrufsrecht bestehe nicht, ist daher unrichtig und wettbewerbswidrig. Der von V  geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 312d Abs. 1 S. 1, § 312g Abs. 1 BGB und Art. 246a § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB besteht.
IV. Ausblick
Der BGH knüpft mit dieser Entscheidung an seine viel diskutierte Rechtsprechung aus dem Jahr 2018 an und bleibt dabei, dass sich der Ausschluss des Widerrufsrechts in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB i.d.R. nicht auf Werkverträge bezieht. Das macht im konkreten Fall jeweils eine Zuordnung zum Vertragstyp des Kauf-, Werklieferungs- oder Werkvertrags erforderlich. Von Studenten und Examenskandidaten ist in vergleichbaren Fällen eine genau Auswertung des Sachverhalts zu fordern. Die Ausführung der Vorinstanz zeigen hier, dass auch abweichende Ergebnisse durchaus vertretbar hergeleitet werden können. Entscheidend ist – wie so oft – eine fundierte Argumentation.

25.10.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-10-25 08:00:182021-10-25 08:00:18BGH zum Widerrufsrecht beim Werkvertrag sowie zur Abgrenzung von Kauf- und Werklieferungsverträgen
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