BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (4. Quartal/2012)
Anhand der betreffenden Leitsätze oder Pressemitteilungen wird in diesem Beitrag eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vorbereitung auf die Klausuren im 1. und 2. Staatsexamen sowie die jeweiligen mündlichen Prüfungen dargestellt.
BVerfG v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07:
1. Gesetze mit unechter Rückwirkung sind unter Beachtung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich zulässig. Rückwirkende Änderungen des Steuerrechts für einen noch laufenden Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum sind als Fälle unechter Rückwirkung nicht grundsätzlich unzulässig, stehen den Fällen echter Rückwirkung allerdings nahe und unterliegen daher besonderen Anforderungen unter den Gesichtspunkten von Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit.
2. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 zur Einfügung des § 8 Nr. 5 in das Gewerbesteuergesetz, erst recht aber der Beschluss des Deutschen Bundestages hierzu vom 14. Dezember 2001, haben das Vertrauen in den zukünftigen Bestand der bisherigen Rechtslage zur gewerbesteuerlichen Freistellung von Erträgen im Sinne des § 8b Abs. 1 Körperschaftssteuergesetz aus Streubesitzbeteiligungen zerstört.
BVerfG v. 06.11.2012 – BvL 51/06:
Mit diesem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die gesetzliche Regelung für die Erhebung einer Rückmeldegebühr in Höhe von 100 DM in § 2 Abs. 8 Satz 2 des Berliner Hochschulgesetzes alter Fassung mit Art.2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 104a ff. GG sowie mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und damit nichtig ist.
BVerfG vom 08.11.2012 – 1 BvR 22/12 (Pressemitteilung, siehe hier) :
Auch im Eilrechtsschutzverfahren muss sich die verwaltungsgerichtliche Prüfung, ob die Dauerobservation eines aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Mannes rechtmäßig ist, auf hinreichend aktuelle Tatsachengrundlagen zur Einschätzung seiner Gefährlichkeit stützen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden und den Fall daher an das Verwaltungsgericht Freiburg zurückverwiesen. Nicht beanstandet hat die 1. Kammer des Ersten Senats, dass die Verwaltungsgerichte die polizeirechtliche Generalklausel im Eilrechtsschutzverfahren noch als ausreichende Rechtsgrundlage für die Dauerobservation des Beschwerdeführers angesehen haben. Die Generalklausel kann den Behörden ermöglichen, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren. Das Schließen etwaiger Regelungslücken liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers.
BVerfG vom 12.12.2012 – 2 BvR 1750/12:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Befangenheitsantrags im Zusammenhang mit Äußerungen eines Zivilrichters während des Verhandlungstermins.
BVerfG vom 18.12.2012 – 1 BvL 8/11 und 1 BvL 22/11 (Pressemitteilung, siehe hier):
Das Selbsttitulierungsrecht zu Gunsten der Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg – Girozentrale – und der Landessparkasse zu Oldenburg verstößt gegen den Gleichheitssatz. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss auf Richtervorlagen des Oberlandesgerichts und des Amtsgerichts Oldenburg hin entschieden. Die entsprechenden Regelungen des niedersächsischen Landesrechts sind mit dem Grundgesetz unvereinbar und dürfen daher nur noch im Rahmen einer Übergangsregelung weiter angewendet werden.
BVerfG vom 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 (Pressemitteilung, siehe hier):
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Rechtsschutz gegen versammlungsrechtliche Maßnahmen bekräftigt. Bereits im Eilverfahren müssen die Verwaltungsgerichte eine vollständige – und nicht nur summarische – Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durchführen. Sofern dies im Einzelfall aus Zeitgründen nicht möglich ist, haben sie jedenfalls eine sorgfältige und hinreichend begründete Folgenabwägung vorzunehmen. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hielten diesen Maßstäben nicht stand.
BVerfG vom 23.01.2013 – 2 BvR 1645/10:
Mit diesem Beschluss, über den wir bereits in einem Artikel vom 18.02.2013 berichteten (siehe hier), hat das Bundesverfassungsgericht drei gegen das geltende Waffenrecht erhobene Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, in denen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) durch gesetzgeberisches Unterlassen geltend machten. Das Waffengesetz erlaube tödliche Schusswaffen für den Schießsport bzw. schränke deren Gebrauch nicht ausreichend ein, womit der Gesetzgeber gegen seine grundgesetzliche Schutzpflicht vor Gefahren missbräuchlicher Verwendung von Schusswaffen verstoße.
BVerfG vom 19.02.2012 – 1 BvL 1/11:
1. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verleiht dem Kind ein Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, die Adoption des angenommenen Kindes eines eingetragenen Lebenspartners durch den anderen Lebenspartner (Sukzessivadoption) zu ermöglichen, lässt sich daraus nicht ableiten.
2. Zwei Personen gleichen Geschlechts, die gesetzlich als Elternteile eines Kindes anerkannt sind, sind auch im verfassungsrechtlichen Sinne Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG).
3. Eine Person, die bislang weder in einer biologischen noch in einer einfachrechtlichen Elternbeziehung zu einem Kind steht, ist grundsätzlich nicht allein deshalb nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Elternteil im verfassungsrechtlichen Sinne, weil sie in sozial-familiärer Beziehung mit dem Kind lebt.
4. Leben eingetragene Lebenspartner mit dem leiblichen oder angenommenen Kind eines Lebenspartners in sozial-familiärer Gemeinschaft, bilden sie mit diesem eine durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie im Sinne des Grundgesetzes.
5. Bei der rechtlichen Ausgestaltung der Familie ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht ohne Weiteres verpflichtet, denjenigen, die tatsächlich soziale Elternfunktion wahrnehmen, allein deswegen eine Adoptionsmöglichkeit zu schaffen.
6. Indem § 9 Abs. 7 des Lebenspartnerschaftsgesetzes die Möglichkeit der Annahme eines adoptierten Kindes des eingetragenen Lebenspartners durch den anderen Lebenspartner (Sukzessivadoption) verwehrt, wohingegen die Möglichkeit der Annahme eines adoptierten Kindes des Ehepartners und die Möglichkeit der Annahme eines leiblichen Kindes des eingetragenen Lebenspartners (Stiefkindadoption) eröffnet sind, werden sowohl die betroffenen Kinder als auch die betroffenen Lebenspartner in ihrem Recht auf Gleichbehandlung verletzt (Art. 3 Abs. 1 GG).
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