Jur:Next Urteil: Die Kleider des Strafgefangenen
Der nachfolgende Beitrag stammt aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next und behandelt einen examensrelevanten Beschluss des BVerfG bzgl. der Unterbringung eines unter Videoüberwachung stehenden, vollständig entkleideten Strafgefangenen im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.
Beschluss des BVerfG vom 18. März 2015 Az.: – 2 BvR 1111/13 –
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Unterbringung eines Strafgefangenen in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung unter vollständiger Entkleidung.
Leitsatz: „Im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung des Art. 1 Abs. 1 GG auf den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die hieraus resultierende besondere Wertigkeit dieses Schutzgutes berührt die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit permanenter Videoüberwachung bei vollständiger Entkleidung die durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Intimsphäre des Betroffenen.“
I. Zum Sachverhalt
Der Beschwerdeführer (B) war in der Abteilung für psychisch auffällige in der Justizvollzugsanstalt Kassel untergebracht, wo eine Zahnarztsprechstunde vorgesehen war. Nachdem diese Behandlung nicht durchgeführt werden konnte, begann der Gefangene gegen seine Haftraumtür zu schlagen und zu treten. Daraufhin wurde dieser in einen besonders gesicherten videoüberwachten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände verbracht und dort zum Ausschluss von Selbstverletzungen vollständig entkleidet. Der Haftraum war zwar dauerhaft beheizt, jedoch erhielt der B erst am folgenden Tag eine Hose und eine Decke aus schnell reißendem Material. Dies wurde von der JVA unter Verweis auf § 88 I, III iVm. Abs. 2 Nr. 1 StVollzG damit begründet, dass anfangs zu befürchten gewesen sei, dass er diese verwenden könne, um eine Überschwemmung des Haftraums durch Verstopfen der Toilette zu erzielen. Nach Beschreiten des Rechtsweges vor dem LG Kassel („Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ nach § 109 I StVollzG)[1] und vor dem OLG Frankfurt („Rechtsbeschwerde“ nach § 116 I StVollzG)[2], die die Maßnahmen der JVA unbeanstandet ließen erhob B frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Er sah sich durch die JVA einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, was das LG im Urteil und das OLG zudem in der unzulässigen Ablehnung der Verfahrensrüge verkannt hätten.
II. Problemaufriss
Die Zulässigkeit der VfB richtet sich nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 I Nr. 8 a BVerfGG. Beschwerdegegenstand ist einerseits die vollständig entkleidete Unterbringung als Akt der Exekutive sowie die darauf bezogenen bestätigenden Urteile der Gerichte als Akte der Judikative. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass B durch die Maßnahmen der JVA, aber auch durch die Urteile in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 GG selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist, womit er auch beschwerdebefugt ist. Zwar sind die Maßnahmen der JVA bereits vollstreckt und der B ist zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden, jedoch wirken die bestätigenden Urteile immer noch belastend. Zudem stellt das BVerfG klar, dass auch das Rechtsschutz-interesse nicht entfallen ist: „[…] wenn gewichtige Grundrechtsverletzungen in Frage stehen, besteht das Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung fort.“[3] Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass zudem alle sonstigen Mittel, die dem Beschwerdeführer zur Korrektur der Verletzung zur Verfügung stehen, ergriffen werden müssen. Die nach § 116 Abs. I StVollzG erhobene Verfahrensrüge, mit der die Verletzung der Amtsaufklärungspflicht gerügt wird, ist wie der Grds. der Subsidiarität nur dann ausgeschöpft, wenn der Beschwerdeführer angibt, auf welchem Weg die Strafvollstreckungskammer die erstrebte Aufklärung hätte versuchen müssen. Nach Sinn und Zweck dieses Grundsatzes ist aber dann kein ausdrückliches Vorbringen zu bestimmten Rügepunkten zu verlangen, wenn sich bereits aus dem angegriffenen Beschluss selbst tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, den zur Entscheidung unterbreiteten Fall unter ganz bestimmten Gesichtspunkten zu würdigen.[4] Vor diesem Hintergrund hatte B einen durchgreifenden Verfahrensmangel gerügt und so mit seiner Rechtsbeschwerde alles ihm Zumutbare zur gerichtlichen Korrektur unternommen. Form und Frist gemäß §§ 23 I, 93 I S. 1 BVerfGG waren, da er sich zumindest auch gegen das letzte Urteil des OLG wendete, gewahrt. Die VfB ist somit insgesamt zulässig.
Begründet ist die VfB gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG, wenn der Akt öffentlicher Gewalt in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist in den folgenden Fällen begründet: die Rechtsgrundlage ist verfassungswidrig; der Einfluss der Grundrechte wurde ganz oder grds. verkannt; die Rechtsanwendung ist grob oder offensichtlich willkürlich oder die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung wurden überschritten.
Das Urteil des OLG Frankfurt könnte zunächst die Reichweite der Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG[APR]) verkannt haben. Der Schutzbereich der Menschenwürde (Art. 1 I GG) umfasst als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte den sozialen Wert – und Achtungsanspruch, der dem Mensch aufgrund seiner Subjektqualität zukommt.[5] Gerade auch im Strafvollzug müssen die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins dem Gefangenen erhalten bleiben. Aus dieser Prägung des APR durch Art. 2 I iVm Art. 1 I GG ergibt sich der Bereich einer geschützten Intimsphäre des Betroffenen. Dieser war durch die vollständig entkleidete Unterbringung in einem Haftraum mit permanenter Videoüberwachung der ständigen Beobachtung durch die Vollzugsbediensteten ausgesetzt, womit ein Eingriff in die Intimsphäre vorliegt.[6] An dieser Stelle verweist das BVerfG zudem auf die Wertungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind. Dieser hatte auch bei Vorliegen einer ernsthaften Gefahr der Selbstverletzung oder Selbsttötung festgestellt, dass der Gefangene durch die Entziehung der Kleidung bei gleichzeitiger Videoüberwachung einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist.[7]
Der Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 GG) umfasst die menschliche Gesundheit im biologosch-physiologischen Sinne.[8] Der Gefangene musste die Nacht ohne Kleidung und Bettwäsche verbringen und war so zumindest einer Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens durch „Frieren“ ausgesetzt. Angaben bezüglich der Temperatur oder dessen regelmäßigen Kontrolle fehlten in den Aussagen der JVA und der Urteile, sodass bereits aufgrund diesen Umstands eine Unterkühlung nicht auszuschließen und ein Eingriff in Art. 2 II S. 1 GG vorliegt.[9]
Weiterhin könnte ein Eingriff in das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) durch das Verkennen der Zulässigkeit der Verfahrensrüge vor dem OLG vorliegen. Aufgrund der gegebenen Rechtswegmöglichkeiten ist konsequenterweise nicht jede Verkennung von Grundrechten bzw. der Zulässigkeit von Klagen ein Eingriff in Art. 19 IV GG. Das Grundrecht ist jedoch dann berührt, wenn ins Auge springende Grundrechtsverletzungen im Haftvollzug von den Gerichten in der Folge ohne ausreichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden.[10] Die JVA hatte hier vorgetragen, dass die Darlegungen des Gefangenen nicht den Tatsachen entsprächen, das LG dem offenbar ohne Weiteres Glauben geschenkt und schließlich das OLG die dies betreffende Verfahrensrüge ohne weitere Prüfung wegen formeller Mängel abgelehnt (§ 118 Abs. 2 Satz 2 StVollzG), sodass auch ein Eingriff in Art. 19 IV GG vorliegt.
Die Rechtfertigung der Eingriffe erfordert eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage und deren verfassungsgemäße Anwendung. Ermächtigungsgrundlage für die Bestätigung des rechtmäßigen Handelns der JVA in den Urteilen war § 88 I, III iVm. II Nr. 1 StVollzG. Zur Verfassungsmäßigkeit der Norm bezieht das BVerfG keine Stellung. In einer Klausur sollte aber zumindest klargestellt werden, dass „der Entzug oder die Vorhaltung von Gegenständen“ (§ 88 II Nr. 1 StVollzG) als schwerwiegender Eingriff in das APR nur durch gleichwertige Verfassungsgüter („Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen“) gerechtfertigt sein kann. Dem Rahmen möglicher verfassungskonformer Auslegung genügt es nur dann, wenn es eng begrenzte Anwendungsräume gibt und die Maßnahme systematisch ultima ratio ist. Der Eingriff durch das Urteil in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bzw. Art. 2 II S. 1 GG wäre dann gerechtfertigt, wenn in der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen der „Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen“ (§ 88 I StVollzG) oder der „Gefahr erheblicher Störung der Anstaltsordnung“ (§ 88 III StVollzG) der Reichweite der Grundrechte genüge getan worden wäre. Die Wegnahme einzelner Kleidungsstücke kann in diesem Zusammen-hang insbesondere bei Suizidgefahr zwar gerechtfertigt sein. Der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit erfordert bezüglich dieses legitimen Ziels jedoch einen angemessen Ausgleich zur Erheblichkeit des Eingriffs. So konnte dem Gefangenen als milderes Mittel Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt werden, um ihn nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzuges zu degradieren. Dieses war auch gleich geeignet, da die auf das bloße Trommeln an die Zellentür gestützte Annahme der Selbstgefährdung nicht trägt. Im Hinblick auf die zusätzliche Möglichkeit der Videoüberwachung, durch die auch ein etwaiges Verstopfen der Toilette unmittelbar hätte verhindert werden können, war die Maßnahme damit bereits nicht erforderlich. Somit das stellt das Urteils des LG bloße Ordnungsbelange über den die Würde berührenden Intimbereich des Betroffenen und verkennt die Tragweite von Art. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bzw. Art. 2 II S. 1 GG. Bezüglich des Eingriffs in Art. 19 IV GG ist festzustellen, dass die bloße Darstellung des LG der (strittigen) ausreichenden Beheizung des Haftraums nicht ausreichend ist. Sie verkennt, dass bei „einer kumulativen Anordnung einzelner Sicherungsmaßnahmen die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert zu begründen ist.“[11] Die daran anschließende automatische Ablehnung der Verfahrensrüge wegen formeller Mängel vor dem OLG stellt eine unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des effektiven Rechtsschutzes dar.
III. Bedeutung für das Studium
Das BVerfG setzt seine Argumentation zu der Behandlung von Strafgefangenen in konkretisierender Weise fort.[12] Diese ist in Bezug auf die Wahrung des APR und des effektiven Rechtsschutzes überaus linear, klar und somit essentielles Basiswissen für jeden im Examen. Abgesehen davon gilt es den immer wiederkehrenden vermischenden Strukturen in den Entscheidungen des BVerfG zu trotzen und eine saubere Prüfung nach den einzelnen Grundrechten und den angegriffenen öffentlichen Akten durchzuführen. Besonders auffällig wird in dieser Entscheidung dabei auch, wie unklar oft die Grenze zu einer Superrevisionsentscheidung verläuft. So darf das BVerfG nur die spezifische Verletzung von Verfassungsrecht in den angeführten Urteilen rügen. Diese Grenze verwischt im vorliegenden Beschluss immer wieder, wenn der von den Vorgerichten bereits ermittelte Sachverhalt in Frage gestellt, anders ausgelegt, oder gar ein Eingriff aufgrund des Fehlens anderslautender Sachverhaltsermittlungen (bspw. zu Art. 2 II GG) einfach angenommen wird. Diese Ungenauigkeiten des BVerfG sind übrigens daher in einer Examensklausur absolut verboten.
[1] Beschl. des LG Kassel v. 12.06.2012 – 3 StVK 12/11.
[2] Beschl. des OLG Frankfurt am Main v. 26.02.2013 – 3 Ws 695/12 (StVollz).
[3] 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, 2699 (2700).
[4] Vertiefend dazu: BVerfG, Beschl. v. 18.06.2008 – 2 BvR 1119/07 -, juris, Rn. 16.
[5] Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 6.
[6] Vgl. Rn. 30.
[7] Verstößt insofern gegen Art. 3 der EMRK, vgl. EGMR, Hellig v. Germany, Urt. v. 07.07.2011 – 20999/05 -, § 56 f.
[8] Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 II, Rn. 83.
[9] So das BVerfG durchaus vage in Rn. 43.
[10] Vgl.Rn.39.
[11] Rn. 36.
[12] Vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 15.07. 2010 – 2 BvR 1023/08.
Meine, dass zumindest die Gefahr bestand, dass der Gefangene leicht reissbare Kleidung stets sofort wieder zerrissen hätte.
Allein eine Leibesvisitation etwa griffe ebenfalls in den Intimbereich ein.
Eingriffe in den Intimbereich könnten umso eher zulässig sein, umso mehr dennoch grds. eine personenbeschränkte Restintimtiät gewahrt ist.
Das könnte aber bei entkleidetenen videoüberwachtem Aufenthalt in einer Einzelzelle noch gegeben sein, solange dies nicht einem größeren personenkreis zugänglich gemacht ist.
Der gesamte Strafvollzug, wie überhaupt staatliche Zwangsmaßnahmen, gerät ständig mal mehr, mal weniger in Konflikt mit der Menschenwürde.
Wann man hier beim BVerfG die Grenze als überschritten ansehen möchte, scheint aus dem besprochenen Urteil nicht klar deutlich hervorzugehen.
Wenn man beispielsweise im Maßregelvollzug mit durch Druck erzeugtem Einverständnis zur Beruhigung oder allgemein medikamentös behandelt, scheint die unter dem Gesichtspunkt eines menschenwürdigen Persönlichkeitskernes kaum weniger problematisch, als eine Nacht nackt in einer videoüberwachten Einzelzelle.
Von Seiten des BVerfG sind hier allerdings keinerlei Regungen erkennbar, dies beanstanden zu wollen.