BGH: Herausforderungsfälle – Polizeiliche Verfolgungsfahrt
Eine kürzlich ergangene Entscheidung des BGH (Urteil vom 31.01.2012 – VI ZR 43/11) hat sich u.a. mit der Frage beschäftigt, ob der Halter eines Fahrzeugs, das von der Polizei verfolgt wird und durch Rammen durch ein Polizeifahrzeug zum Stehen gebracht wird, für den entstandenen Sachschaden an den Polizeifahrzeugen aufkommen muss. Rechtlich bewegt man sich hier im Bereich des Deliktsrechts bzw. der in diesem Zusammenhang diskutierten sog. Herausforderungsfälle.
Sachverhalt (vereinfacht)
A fährt in seinem Pkw, dessen Halter er ist, und wird von der Polizei angehalten. Da er aus verschiedenen Gründen keine Interesse an einer Kontrolle hat, gibt er unvermittelt Gas, um sich der Maßnahme zu entziehen. Dabei wird eine Beamtin leicht verletzt. Die Polizei nimmt sogleich die Verfolgung auf und es entwickelt sich eine regelrechte Verfolgungsjagd über die Autobahn mit Geschwindigkeiten zwischen 150 bis 200 km/h. Dabei versucht A durch schnelles Wechseln der Fahrstreifen und durch Befahren des Standstreifens seine Verfolger abzuhängen.
Da die Polizei keine andere Möglichkeit sieht, A zum Anhalten zu bewegen, beschließt sie, den Verkehr auf der Autobahn durch eigene Fahrzeuge einige Kilometer vor A zu verlangsamen und dann ein Straßensperre bestehend aus mehreren Polizeifahrzeugen einzurichten. Zusätzlich soll ein großer Lkw den Standstreifen befahren. A nähert sich der Straßensperre, bremst ab und entschließt sich, zwischen den beiden mittleren Polizeifahrzeugen hindurchzufahren. Im gleichen Moment rammt ihn ein Polizeiwagen von hinten und schiebt ihn zwischen den beiden Fahrzeugen hindurch, die leicht beschädigt werden. Dann kommt ein weiteres Polizeifahrzeug von der Seite und drückt A an die Leitplanke, sodass dieser letztendlich zum Stehen kommt.
Es ist ein erheblicher Sachschaden an insgesamt vier Polizeiwagen in Höhe von 17.271,84 Euro entstanden. Das Land L verlangt von A Schadensersatz. A beruft sich darauf, dass er nicht damit habe rechnen können, dass die Polizei „so hart durchgreift“ und ihre Fahrzeuge als „Rammböcke“ einsetzt. Den Ausgang der Verfolgungsjagd habe er jedenfalls nicht gewollt.
Kann das Land L von A Schadensersatz verlangen?
Die Rechtsprechung des BGH zu den Herausforderungsfällen im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB
Das Gericht umreißt zunächst lehrbuchhaft die Grundsätze für eine deliktische Haftung, wenn der Schädiger die Situation provoziert hat, die letztendlich in den Schaden mündet.
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kann jemand, der durch vorwerfbares Tun einen anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist. Eine auf solcher Grundlage beruhende deliktische Haftung ist insbesondere in Fällen bejaht worden, in denen sich jemand pflichtwidrig der (vorläufigen) Festnahme oder der Feststellung seiner Personalien durch Polizeibeamte oder andere dazu befugte Personen durch die Flucht zu entziehen versucht und diesen Personen dadurch Anlass gegeben hat, ihn zu verfolgen, wobei sie dann infolge der durch die Verfolgung gesteigerten Gefahrenlage einen Schaden erlitten haben. […]
Voraussetzung für eine deliktische Haftung ist in solchen Fällen stets, dass der in Anspruch genommene Fliehende seinen Verfolger in vorwerfbarer Weise zu der selbstgefährdenden Reaktion herausgefordert hat. Dabei muss sich das Verschulden insbesondere auch auf die Verletzung eines der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter erstrecken, d.h. der Fliehende muss sich bewusst gewesen sein oder zumindest fahrlässig nicht erkannt und bei der Einrichtung seines Verhaltens pflichtwidrig nicht berücksichtigt haben, dass sein Verfolger oder durch diesen ein unbeteiligter Dritter infolge der durch die Verfolgung gesteigerten Gefahr einen Schaden erleiden könnte.
Verwirklichung dergesteigerten Gefahrenlage durch rammende Polizeifahrzeuge
Nicht nur in einer Klausur drängt sich hinsichtlich des Verhaltens der Polizeibeamten die Frage auf, ob die rigorose Vorgehensweise der Polizeibeamten noch zugerechnet werden kann. Hier könnte man argumentieren, dass es allein in der Entscheidungsgewalt der Polizeibeamten lag, ihre Fahrzeuge zur Ergreifung des A zu beschädigen, und sie auch auf andere Weise den A hätten stoppen können. Der BGH sieht jedoch die Gefahrenlage, die der A unstreitig nach ständiger Rechtsprechung herbeigeführt hat – die Verfolgung durch Polizeibeamten ist ein klassischer Fall – auch dann als verwirklicht, wenn die Polizisten ihre Fahrzeuge auf die geschilderte Weise einsetzten. Ausgangspunkt hierfür ist eine Abwägungsentscheidung anhand der konkreten Situation.
Wesentlicher Gradmesser für eine Herausforderung zur Verfolgung mit der Überbürdung des gesteigerten Verletzungsrisikos auf den Fliehenden ist insbesondere die angemessene Mittel-Zweck-Relation, nach der die Risiken der Verfolgung und der Beendigung der Flucht nicht außer Verhältnis zu dem Ziel der Ergreifung des Fliehenden stehen dürfen, weil ansonsten die Schädigung nicht mehr in den Schutzbereich der Haftungsnorm fällt. Der Versicherungsnehmer […] hat sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts einer Verkehrskontrolle entzogen, dabei eine Polizeibeamtin verletzt und sich danach über viele Kilometer hinweg mit den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen mit hoher Geschwindigkeit eine Verfolgungsjagd mit mehrfachem Fahrstreifenwechsel unter Mitbenutzung des Standstreifens geliefert. Da von diesem rücksichtslosen Verhalten eine erhebliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer ausging, stand die Entscheidung, die Flucht durch eine Kollision mit dem Fluchtfahrzeug auf die erfolgte Art zu beenden, nicht außer Verhältnis zu dem Ziel der Beendigung der Flucht und der Ergreifung des Fliehenden.
[…]Die subjektive Seite der Haftung, d.h. der Vorwurf, eine Rechtsgutsverletzung seines Verfolgers schuldhaft herbeigeführt zu haben, setzt voraus, dass der Fliehende damit rechnen musste, verfolgt zu werden, und dass er auch voraussehen konnte, seine Verfolger könnten dabei möglicherweise zu Schaden kommen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wusste der Versicherungsnehmer […], dass er verfolgt wird, und musste auch damit rechnen, dass für seine Verfolger und ihre Fahrzeuge bei seiner Fahrweise nicht nur ein gesteigertes Risiko bestand, während der Verfolgungsfahrt einen Schaden zu erleiden, sondern auch bei einer Beendigung der Flucht durch eine bewusst herbeigeführte Kollision mit dem Fluchtfahrzeug. Bei einer Verfolgungsjagd, wie sie im Streitfall stattgefunden hat, ist es nicht fernliegend, dass die Polizeibeamten erforderlichenfalls auch Schäden an den Polizeifahrzeugen in Kauf nehmen, um den Flüchtenden zu stoppen und Schlimmeres zu verhindern.
Schaden „bei dem Betrieb“ nach § 7 Abs. 1 StVG verwirklicht
Neben § 823 Abs. 1 BGB sollte der Bearbeiter stets auch an die verschuldensunabhängige Haftungsnorm des § 7 Abs. 1 StVG (Haftung des F-Halters) denken, die parallel zur Anwendung kommt. Fraglich war hier, ob der gesamt Vorgang noch unter dem Merkmal „bei dem Betrieb [eines Kfz]“ zu subsumieren ist. Immerhin ließe sich einwenden, die Verfolgungsjagd und alle weiteren Umstände seien dermaßen fernab von dem „üblichen“ Geschehen im Straßenverkehr, dass es sich nicht mehr um die Realisierung der einem Kfz innewohnenden Betriebsgefahr handelte. Der BGH ist anderer Ansicht und bejaht einen weiten Anwendungsbereich dieses Merkmal, denn
[…] die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeuges erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will d-her alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraft-fahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen werten-den Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist. Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist.
So geschehen im vorligenden Fall. Überlegenswert ist dann auch, ob es sich bei der Entscheidung der Polizeibeamten, den A zu rammen, um ein „unabwendbares Ereignis“ im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG handelte.
Im Streitfall ist ein Polizeifahrzeug auf einer Bundesautobahn auf das Fluchtfahrzeug aufgefahren und hat es zwischen den davor fahrenden Polizei-fahrzeugen hindurchgeschoben, wonach ein anderes Polizeifahrzeug das Fluchtfahrzeug gegen die Leitplanke gedrängt und damit die Flucht beendet hat. Dass dies „bei dem Betrieb“ der beteiligten Kraftfahrzeuge im fließenden Verkehr auf einer Bundesautobahn erfolgte, begegnet nach den vorstehenden Grundsätzen ebenso wenig Bedenken wie bei einem „normalen“ Auffahrunfall. Die Tatsache, dass das Auffahren im Streitfall vorsätzlich erfolgte, um das Fluchtfahrzeug zu stoppen, hat lediglich Bedeutung für die Frage, ob der Unfall für einen der Unfallbeteiligten ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG war.
[…]Die Frage der rechtlichen Unabwendbarkeit in Verfolgungsfällen ist unter dem Gesichtspunkt des Herausforderns vergleichbar zu beantworten wie die Frage einer Haftung nach § 823 BGB. Wer sich der polizeilichen Festnahme durch Flucht unter Verwendung eines Kraftfahrzeuges entzieht, haftet für einen bei der Verfolgung eintretenden Sachschaden an den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen, wenn dieser Schaden auf der gesteigerten Gefahrenlage beruht und die Risiken der Verfolgung nicht außer Verhältnis zu deren Zweck standen.
Fazit
Verfolgungsjagden, Straßensperren, rammende Polizeifahrzeuge in der höchstrichterlichen Rechtsprechung – das ist Stoff für Klausuren, vor allem, wenn es um aktuelle Probleme aus dem Deliktsrecht geht. Gerade Ersatzansprüche im Straßenverkehr sind ein Dauerbrenner und laufen regelmäßig in den Examensterminen. Es lohnt sich daher, die sog. Herausforderungsfälle noch einmal durchzugehen.
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