LG Köln: Verkehrsunfall – Zum Mitverschulden eines Motorradfahrers wegen Nichttragens von Schutzkleidung
Verkehrsrecht im Examen
Das Verkehrsrecht ist vor allem für das 2. Staatsexamen schon allein aufgrund der Fallzahl in der Praxis ein absoluter Dauerbrenner. Zudem lassen sich hier ideal materiell-rechtliche Probleme mit prozessualen Klassikern (z.B. Widerklage und Drittwiderklage gegen Versicherung) und Fragen des Beweisrechts (Anscheinsbeweise, Beweislastfragen, Beweiswürdigung von Zeugenaussagen etc.) verbinden. Neue Fälle und Entwicklungen im Verkehrsrecht sollten daher von Referendaren besonders aufmerksam beobachtet werden.
Aktuelles Urteil des LG Köln
Ein aktuelles Urteil des LG Köln eignet sich dabei gut für eine Klausur im 2. Staatsexamen. Das LG Köln entschied hier, dass das Nichttragen einer ausreichenden Schutzkleidung regelmäßig dazu führt, dass sich der geschädigte Motorradfahrer ein anspruchsminderndes Mitverschulden allein aus diesem Umstand entgegenhalten lassen muss (LG Köln, 15.05.2013 – 18 O 148/08; im Anschluss an OLG Brandenburg, 23.07.2009 – 12 U 29/09; entgegen OLG Nürnberg, 09.04.2013 – 3 U 1897/12). Dies gilt jedoch nicht, wenn sich die fehlende Schutzkleidung nicht kausal auf die von dem Motorradfahrer bei einem Verkehrsunfall erlittenen Verletzungen ausgewirkt hat.
Sachverhalt
Dem Fall lag (vereinfacht) folgender Sachverhalt zugrunde: Der Motorradfahrer M fuhr auf einer innerstädtischen Straße, als ihm der Pkw-Fahrer P bei einem Wendemanöver aus einer Parktasche der gegenüberliegenden Fahrbahnseite die Vorfahrt nahm. Der Pkw stieß mit dem vorderen Stoßfänger gegen den linken Außenknöchel bzw. das Sprunggelenk des M, der dadurch eine Sprunggelenksfraktur mit Weichteilschaden zweiten Grades erlitt. M trug zum Unfallzeitpunkt keine Motorradstiefel und keine Schutzkleidung, sondern eine Jeanshose mit normalen, halbhohen Schuhstiefeln.
Kernproblem: Mitverschulden
Knackpunkt der Entscheidung war, ob die Ansprüche des M (Schadensersatz und Schmerzensgeld, §§ 7 Abs. 1, 11 Satz 2 StVG, 253 BGB) nach § 254 Abs. 2 BGB wegen Mitverschuldens zu kürzen waren. Alle anderen rechtlichen Gesichtspunkte waren unstreitig. In der Klausur wären Ansprüche nach §§ 7, 18 StVG und (jedenfalls im 1. Staatsexamen zusätzlich auch) § 823 I und II BGB ausführlich zu erörtern.
Hinsichtlich der Haftung nach dem StVG war es wichtig zu erkennen, dass das Nichttragen der Schutzkleidung nicht unter dem Gesichtspunkt der Haftungsverteilung nach § 17 StVG zu diskutieren ist, sondern dass es um die Frage der Schadensminderungspflicht i.R.v. § 9 StVG i.V.m. § 254 Abs. 2 BGB geht. § 17 StVG ist gegenüber § 254 Abs. 1 BGB lex specialis, wenn es um die Frage der Anspruchskürzung wegen eines Mitverschuldens bei der Entstehung des Schadens geht. Bei der Frage eines Mitverschuldens hinsichtlich des Schadensumfangs greift hingegen § 254 Abs. 2 BGB i.V.m. § 9 StVG, da § 17 StVG insoweit keine vorrangige Regelung enthält. Vorliegend geht es um die zweite Konstellation: Das Tragen oder Nichttragen von Schutzkleidung hat hier nicht mit der Unfallverursachung zu tun, sondern hat allenfalls die Verletzung als Unfallfolge beeinflusst.
Lösung des LG Köln
Das LG Köln verneint im vorliegenden Fall im Ergebnis eine Kürzung wegen Mitverschuldens. Hierzu geht es argumentativ überzeugend in zwei Schritten vor:
1. Grundsatz: Nichttragen von Schutzkleidung als Mitverschulden zu berücksichtigen
Eine gesetzliche Pflicht zum Tragen von Schutzkleidung gibt es nicht. Nach § 21a II StVO besteht für Motorradfahrer lediglich eine Helmpflicht. Nach dieser Norm muss einen Helm tragen, „wer Krafträder oder offene drei- oder mehrrädrige Kraftfahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h führt sowie auf oder in ihnen mitfährt.“ Zum Teil wird hieraus in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung im Umkehrschluss gefolgert, dass das Nichttragen von Schutzkleidung und Motorradstiefeln auch nicht im Rahmen des Mitverschuldens berücksichtigt werden dürfe. Hiergegen wendet sich zu Recht das LG Köln:
„Grundsätzlich gilt für den Einwand des Mitverschuldens, dass sich im Straßenverkehr für die Verkehrsteilnehmer die einzuhaltenden Schutzvorschriften nicht ausschließlich anhand der vom Gesetzgeber positiv formulierten Vorschriften ergeben. Vielmehr bemisst sich die einzuhaltende Sorgfaltspflicht der Straßenverkehrsteilnehmer an denjenigen Sorgfaltsanforderungen, die ein verständiger und ordentlicher Mensch zur Vermeidung eines Schadenseintritts generell anzuwenden pflegt. In diese Fragestellung ist im Wesentlichen entscheidend, ob ein sogenanntes Selbstverschulden gegeben ist, den erkannten Gefahren durch geeignete Schutzmaßnahmen zu begegnen. Für den Bereich der Teilnahme am Straßenverkehr ist mithin nicht lediglich die Frage nach der gesetzlich normierten Helmpflicht (§ 21a StVO) entscheidend. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass – wie die eingereichten Empfehlungen verschiedener Fachverbände unstrittig belegen – bei der Fahrt mit einem Motorrad eine angemessene Schutzkleidung bei jeder Fahrt zu fordern ist. Nach dem – auch dem Kläger zu unterstellenden Wissensstand – verringert das Tragen einer angemessenen Motorradschutzkleidung in Form von Stiefeln und Schutzkleidung die Verletzungsgefahren und -folgen eines Sturzes oder Unfalls in erheblicher Weise, wobei nicht verkannt wird, dass sämtliche Verletzungserscheinungen naturgemäß nicht zu vermeiden sind. Gleichwohl führt das Nichttragen einer ausreichenden Schutzkleidung regelmäßig dazu, dass sich der geschädigte Motorradfahrer ein anspruchsminderndes Mitverschulden allein aus diesem Umstand entgegenhalten lassen muss (vgl. OLG Brandenburg, Urteil vom 23.07.2009 – 12 U 29/09 [Rn. 18]; OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.02.2006 – 1 U 137/05 [Rn. 27] – jeweils nach juris).
Nach einer Gegenansicht folgt aus dem fehlenden Schutz durch Tragen geeigneter Schuhe während der Motorradfahrt nicht generell ein minderndes Mitverschulden, weil es mangels ausdrücklicher gesetzlicher Normierung kein allgemeines Verkehrsbewusstsein gäbe (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.04.2013 – 3 U 1897/12 [Rn. 20 ff.] – nach juris). Soweit nach dieser Ansicht ein allgemeines Verkehrsbewusstsein aufgrund diverser Unsicherheiten über den einzuhaltenden Mindestschutz verneint wurde, vermag sich das Gericht dieser Einschätzung nicht anzuschließen. Denn die eingereichten Unterlagen verschiedener Verkehrs- und Motorradeinrichtungen im vorliegenden Rechtsstreit über die Empfehlung zu den Mindestanforderungen der Schutzkleidung belegen gerade dieses vom OLG Nürnberg verneinte Verkehrsbewusstsein. Die mit Schriftsätzen vom 12.06.2008 bzw. 17.11.2008 von der Beklagten zur Akte gereichten Stellungnahmen des „ADAC“, „VIS Bayern“ und „ifz“ benennen für die einzuhaltende Schutzkleidung allesamt Stiefel als angemessen, wobei insbesondere die Broschüre der „ifz“ die einzuhaltenden Anforderungen an die Stiefel hinreichend konkretisiert. Soweit das OLG Nürnberg in seiner Entscheidung indessen auf die Vielfalt von erhältlichen Modellen und Ausführungen und damit einhergehender Unsicherheiten abstellt, vermag dieses nicht zu überzeugen. Nachdem auch nach den Ausführungen des OLG Nürnberg jedenfalls die gesetzlichen Vorschriften nach § 21a Abs. 2 StVO hinsichtlich der Schutzhelme uneingeschränkt einzuhalten sind, muss diesem daher entgegengehalten werden, dass die gesetzliche Vorschrift ebenfalls nur „geeignete Schutzhelme“ vorschreibt und auch in diesem Bereich eine Vielzahl von Modellen und Ausführungen angeboten werden. Gleichwohl hat sich diesbezüglich trotz der abstrakten Gesetzesfassung ein ausreichendes Verkehrsbewusstsein an die einzuhaltenden Mindestanforderungen der Schutzhelme herausgebildet.“
2. Ausnahme: Fehlende Schutzkleidung nicht ursächlich für Schadensausmaß
Für den vorliegenden Fall war jedoch nach Ansicht des LG Köln nachgewiesen, dass die Verletzungen des M („Sprunggelenksfraktur mit Weichteilschaden zweiten Grades“) nicht ausgeblieben bzw. weniger stark gewesen wären, wenn er Motorradstiefel getragen hätte.
Auch dieser zweite Prüfungspunkt eignet sich hervorragend für eine Examensklausur im Assessorexamen, denn hier könnte man Probleme zur Beweiswürdigung, insbesondere von Gutachten einbauen. Im Fall war ein gerichtliches Sachverständigengutachten seitens des P mithilfe eines Privatgutachtens angegriffen worden. Das LG Köln würdigt dementsprechend ausführlich die Ausführungen des Sachverständigen:
„Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stand zu vollen Überzeugung des Gerichts (§ 286 ZPO) fest, dass die eingetretenen Verletzungen nicht durch das Tragen spezieller Schutzkleidung oder -stiefel hätte vermieden werden können. Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen des interdisziplinären Gutachtens konnte anhand der eigens durchgeführten Testreihe eine Schutzwirkung von Motorradstiefeln nur bei einer unterhalb der konkret beim Unfall entstandenen Kollisionsgeschwindigkeit nachgewiesen werden. Die schriftlichen Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Ing. C2, Dipl.-Ing. N2 und Prof. Dr. med. F bestätigen unter Darstellung der gesamten technischen Details, die in sich nachvollziehbar in der Anhörung der Sachverständigen N2 und F im Einzelnen im Termin vom 04.10.2011 erläutert wurden, dass die beim Unfall auf das Bein des Klägers einwirkende Kraft deutlich oberhalb derjenigen Krafteinwirkung lag, in welcher in den Versuchsreihen eine Schutzwirkung von Motorradstiefeln nachgewiesen werden konnte. […]
Die Überzeugungsbildung des Gerichts kann auch durch die von der Beklagten zur Akte gereichten Privatgutachten von Prof. Dr. C3 nicht entkräftet werden. Soweit die privatgutachterlichen Stellungnahmen überwiegend die Feststellungen des gerichtlichen Gutachtens in Frage stellen und dieses mit den Unterschieden zwischen den tatsächlichen Begebenheiten und den klinischen Versuchsbedingungen erklärt, vermag dieses nicht zu überzeugen. Denn naturgemäß kann in klinischen Versuchsreihen der tatsächliche Unfall nicht bis in das kleinste Detail nachgestellt werden, wie sich bereits aus den einleitenden Ausführungen des ersten Gutachtens über den Versuchsaufbau erkennen lässt. Insofern sind auch die weitergehenden medizinischen Aussagen des gerichtlichen Sachverständigen F nachvollziehbar und überzeugend, dass für die sachverständige Begutachtung nicht unbedingt auf die gleichartigen Verletzungserscheinungen abzustellen ist, sondern es auf die festgestellten weitgehend entsprechenden Verletzungen an den verwendeten Schweinebeinen ankommen musste. Diese Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen vermögen insbesondere vor dem Hintergrund zu überzeugen, dass bei der Versuchsreihe nicht auf menschliche Beine zurückgegriffen werden konnte, sondern auf anatomisch weitgehend vergleichbare Schweinebeine abgestellt werden musste. Zudem waren auch bei diesen noch altersbedingte Unterschiede in Form einer beim Kläger bereits verknöcherten Wachstumsfuge zu berücksichtigen. Vor diesen Ausführungen wurden die Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen zur Überzeugungsbildung des Gerichts nicht erschüttert.
Soweit die Beklagte den weitergehenden Einwand erhob, dass die Ergebnisse des Gerichtsgutachtens nicht verwertbar seien, weil nicht das geeignete Material in Form von Motorradstiefeln mindestens mittlerer Art und Güte verwendet worden sei, vermochte das Gericht auch dieser Einschätzung nicht zu folgen. Dabei kann sich das Gericht vollständig auf die Ausführungen des TÜV-Gutachtens des Sachverständigen B beziehen und sich den dortigen Ausführungen gänzlich anschließen. Der Sachverständige B beschreibt in seinem Gutachten in nachvollziehbarer Weise, dass es mit Ausnahme für professionelle Fahrer keine verbindlichen Normen über den einzuhaltenden Standard von Schutzschuhen für Motorradfahrer gibt. Unter kritischer Einbeziehung der für den professionellen Einsatz gültigen Norm EN 13634 unterteilt der Sachverständige sechs verschiedene Kategorien von ungenügender bis sehr hohe Art und Güte. Dabei klassifiziert er Schuhe mittlerer Art und Güte mit den Kriterien eines Schuhs aus verstärkten Materialien mit einem hohen Schaft und ordnet die im Rahmen der Versuchsreihe verwendeten Stiefel dieser Stufe zu. Diesen nachvollziehbaren Ausführungen, denen die Parteien nicht weiter entgegengetreten sind, vermag sich das Gericht nach kritischer Würdigung mithin vollständig anzuschließen. Weitergehend kann das Gericht sich angesichts des vorstehenden Beweisergebnisses auch der Auffassung der Beklagten nicht anschließen, dass die Qualitätsstandards der Schutzkleidung mit der Qualität oder Leistungsstärke des gefahrenen Motorrads einhergingen und ggf. zu erhöhten Anforderungen gelangen müssten. Nachdem außerhalb des professionellen Einsatzes keine verbindlichen Normen existieren und das Tragen von Schutzkleidung von dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein abhängig ist, sind über das mittlere Maß hinausgehende Anforderungen keinesfalls zu stellen. Dieses ergibt sich im Übrigen auch aus dem Umstand, dass sich der konkrete Unfall bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von ca. 40 km/h im innerstädtischen Verkehr ereignet hat, und diese auch von deutlich leistungsschwächeren Motorrädern erreicht werden konnte und mithin von der tatsächlichen Leistungsstärke und Art des Motorrads nicht abhängig waren.“
Hallo Herr Pöters,
prüft man im 2. Staatsexamen den § 823 BGB etwa nicht mehr? LG
Also in einer Urteilsklausur würde man § 823 eher nicht prüfen, wenn § 7 StVG schon durchgeht…
Genau. Danke für den Tipp, am Freitag fangen die Klausuren zum 2. Examen an, vielleicht freue ich mich ja noch, dieses Urteil gelesen zu haben 😉