Anfechtung (Inhaltsirrtum), Unterschreiben einer ungelesenen Urkunde
Wir freuen uns über einen Gastbeitrag von Roy Dörnhöfer. Der Autor hat in Bayern beide Staatsexamina abgelegt und war dann in den neuen Bundesländern als Richter am Landgericht tätig. Er war unter anderem im Rahmen einer Abordnung für mehrere Jahre in einem Zivilsenat beim Oberlandesgericht beschäftigt. Weitere Übungsfälle zum BGB AT können unter Amazon.de zum Download auf den Computer erworben werden.
Die ungelesen unterschriebene Urkunde – viele Studenten dürften davon schon im Laufe ihres Studiums gehört haben. Gilt der Grundsatz der Unanfechtbarkeit auch dann, wenn der Erklärende vor dem ungelesenen Unterschreiben seinen Brief richtig diktiert, ein Dritter diesen aber falsch geschrieben hat? Dazu stellt sich die Frage, ob der Erklärungsempfänger neben einem Schadensersatz aus § 122 I BGB einen solchen aus culpa in contrahendo gegen den Anfechtenden geltend machen kann oder ob dies im Wege der Konkurrenz ausgeschlossen ist. Die beiden Probleme sollen in einem Übungsfall erläutert werden.
Sachverhalt
Der vielbeschäftigte Unternehmer A lässt sich jeden Morgen von seiner Sekretärin S eine Unterschriftenmappe vorlegen, in der von ihm diktierte Briefe enthalten sind, die er dann unterzeichnet. Eines Tages legt ihm die Sekretärin wieder die Mappe vor, in der sich ein Schreiben befindet, das A am Tag zuvor diktiert und die S danach am Computer schriftlich niedergelegt hat. In seinem Diktat hatte der A das Angebot des B zum Verkauf eines Gemäldes X für 200 € abgelehnt. Aus Versehen schrieb die S in dem Antwortbrief aber, dass A das Gemälde X kaufen wolle. A unterschrieb sodann alle Briefe in der Mappe, ohne einen einzigen gelesen zu haben. Einige Tage später ruft B bei A an und dankt ihm für den Kauf des Gemäldes X, das er bald übersenden wolle. A erläutert entsetzt dem B sie Sachlage und erklärt die Anfechtung infolge Irrtums. B hätte zwischenzeitlich das Gemälde, welches einen tatsächlichen Marktwert von 180 € hat, an einen Dritten für 250 € verkaufen können, der sich jedoch mittlerweile anderweitig eingedeckt hat. Falls er den Kaufpreis nicht verlangen könne, will B wenigstens 70 € Schadensersatz von A.
Kann B Zahlung von 200 € für das Gemälde verlangen? Steht ihm etwa ein Schadensersatz in Höhe von 70 € zu?
Lösung
1) Der B könnte einen Anspruch auf Zahlung von 200 € haben, wenn ein Kaufvertrag zwischen ihm und dem A zustandegekommen wäre, § 433 II BGB.
Das würde zwei korrespondierende Willenserklärungen voraussetzen, §§ 145, 147 BGB (Angebot und Annahme).
a) Angebot des B:
Das schriftliche Angebot des B an den A, einen Kaufvertrag über das Gemälde abzuschließen, liegt unproblematisch vor.
b) Annahme des A:
In seinem Antwortschreiben hat der A dieses Angebot ausdrücklich angenommen, so dass ein Kaufvertrag zustandegekommen ist. Der anderslautende Geschäftswille des A ist insoweit zunächst unbeachtlich, da die konstitutiven Merkmale einer wirksamen Willenserklärung vorliegen und der B vom objektiven Empfängerhorizont aus betrachtet die Erklärung des A als Annahme seines Angebots verstehen durfte, §§ 133, 157 BGB.
c) Anfechtung:
Der Vertrag könnte aber von Anfang an (ex tunc) nichtig sein, falls der A eine wirksame Anfechtung erklärt hat, § 142 I BGB.
aa) Anfechtungsgrund:
Dem A könnte hier der Anfechtungsgrund des Inhaltsirrtums gem. § 119 I 1. Alt. BGB zustehen. Dann müssten Wille und Erklärung bei Abgabe der Willenserklärung auseinandergefallen sein.
Dies ist vorliegend problematisch, da der A ja wusste, dass er in der Unterschriftenmappe Briefe unterzeichnete, die sodann zu rechtsgeschäftlichen Erklärungen wurden. Er irrte sich lediglich über den Inhalt des Schreibens an den B, da er es nicht gelesen hatte.
Nach herrschender Meinung kommt eine Anfechtung in den Fällen nicht in Frage, in denen der Erklärende eine ungelesene Urkunde in dem Bewusstsein unterschreibt, eine rechtsgeschäftliche Erklärung abzugeben, ohne sich von deren Inhalt eine Vorstellung zu machen (OLG Hamm NJW 2001, 1142).
Andererseits ist in der Rechtsprechung aber anerkannt, dass derjenige, der ein Schriftstück ungelesen unterschrieben hatte, dann anfechten kann, wenn er sich von dessen Inhalt eine bestimmte, allerdings unrichtige Vorstellung gemacht hat (BGH NJW 95, 190). Als eine Irrung in diesem Sinne ist nach herrschender Meinung auch der Fall anzusehen, wenn der Erklärende eine von ihm diktierte und dann von einem Dritten unrichtig geschriebene Urkunde in Unkenntnis des Fehlers ungelesen unterzeichnet (Flume, Allg. Teil des BGB, 2. Band, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl., 1992, S. 454). Denn die S wird nach dem Willen des A gerade nicht als Vertreter, sondern als sein “Werkzeug” bei Vorbereitung seiner eigenen Erklärung tätig, so dass sie nicht Erklärende ist und es nicht auf ihren Irrtum ankommt gem. § 166 I BGB.
Hier hat der A das Angebot in seinem Diktat abgelehnt, die S aber versehentlich eine Annahme niedergeschrieben. Bei Unterzeichnung des ungelesenen Schriftstücks ist der A davon ausgegangen, dass er das Angebot ablehne. Er wusste also, dass er eine rechtsgeschäftliche Erklärung abgab, aber nicht, was er damit sagte. Dies stellt einen beachtlichen Inhaltsirrtum dar.
Wäre dem A sein Fehler bewusst gewesen, hätte er die Erklärung nicht abgegeben, so dass sein Irrtum ursächlich war für die Abgabe der Willenserklärung. Auch war der Irrtum objektiv erheblich für die Abgabe der Willenserklärung.
Insofern steht ihm der Anfechtungsgrund des Inhaltsirrtums zu.
Anmerkung: Da der Fall, dass der Erklärende eine richtig diktierte und falsch geschriebene Urkunde im Irrtum über deren Inhalt ungelesen unterschreibt, einem Fehler in der Erklärungshandlung durch Verschreiben etc. ähnlich ist, könnte man auch von einem Erklärungsirrtum iSd. § 119 I 2. Alt. BGB ausgehen, vgl. Plate, Das gesamte examensrelevante Zivilrecht, 4. Aufl., 2008, 355. Nach anderer Ansicht liegt ein Inhaltsirrtum vor, vgl. Leipold, BGB I Einführung und AT, 3. Aufl., 2007, § 18 R. 15. Letztlich spielt das aber keine Rolle, da die Folgen für den Inhalts- und Erklärungsirrtum dieselben sind.
bb) Anfechtungserklärung, § 143 I BGB:
Der A hat ausdrücklich dem B gegenüber (§ 143 II BGB) die Anfechtung erklärt und auch seinen Irrtum dargelegt.
cc) Anfechtungsfrist, § 121 I BGB:
Noch im Telefonat mit dem B hat der A die Anfechtung erklärt, also unverzüglich und ohne schuldhaftes Zögern.
d) Folge:
Infolge der wirksamen Anfechtung ist der Kaufvertrag rückwirkend weggefallen, so dass B keinen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 200 € hat.
2) Der B könnte nunmehr aber einen Anspruch auf Schadensersatz haben, § 122 I BGB.
a) Der Kaufvertrag wurde wirksam von A angefochten, weshalb dieser dem B den Vertrauensschaden ersetzen muss, d.h., er muss die Nachteile ersetzen, die dem B dadurch entstanden sind, dass er auf die Gültigkeit des Vertrags vertraut hat (negatives Interesse).
Hier hätte der B das Gemälde an den Dritten zu 250 € verkaufen können, wenn er nichts von dem Vertrag mit A gehört hätte. Da das Gemälde einen tatsächlichen Marktwert von 180 € hat, liegt der Schaden des B bei 70 €. Die Nachteile durch das Nichtzustandekommen eines möglichen anderen Geschäfts sind in diesem Rahmen auch umfasst (BGH NJW 84, 1950).
Allerdings ist der Schadensersatz durch das Erfüllungsinteresse nach oben begrenzt (RG 170, 284), d.h., der A darf nicht schlechter stehen, als er bei Erfüllung des Vertrages stünde. Es muss also gefragt werden, wie der B stehen würde, wenn der Vertrag mit A wirksam erfüllt worden wäre. Bei Bestand des Vertrags mit A hätte der B einen Gewinn von 20 € gemacht (200 € Kaufpreis minus 180 € Marktwert). Dies stellt somit die Obergrenze des Schadens für B dar.
b) Folge:
Der B kann Schadensersatz in Höhe von 20 € verlangen.
3) Ein Schadensersatzanspruch auf das negative Interesse in Höhe von 70 € könnte sich aber aus culpa in contrahendo ergeben, §§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB.
a) Anwendbarkeit:
Fraglich ist zunächst, ob ein Anspruch aus culpa in contrahendo überhaupt neben dem (oben bejahten) Schadensersatz aus § 122 I BGB anwendbar ist.
Man könnte der Auffassung sein, § 122 I BGB treffe eine abschliessende Regelung darüber, wie im Falle der erfolgreichen Anfechtung ein Schaden beim Anfechtungsgegner ausgeglichen werden soll. Nach einer Mindermeinung sei § 122 I BGB zwar keine Sonderregelung zur cic, beziehe sich aber auf deren typische Anwendungsfälle, die nur bei Fehlen einer gesetzlichen Regelung über das Rechtsinstitut der cic gelöst werden könnten. Der Gesetzgeber habe durch eine Wertentscheidung auch die Fälle des schuldhaften Handelns des Erklärenden von § 122 I BGB umfassen wollen, so dass es schon an einer Regelungslücke fehle, die für die Anwendbarkeit der cic erforderlich sei (Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 51).
Dagegen richtet sich aber die herrschende Meinung (Jauernig, BGB, 12. Aufl., 2007, § 122 Rn. 5; Palandt-Ellenberger, BGB, 70. Aufl., 2011, § 122 Rn. 6), der hier gefolgt werden soll. Der Schadensersatz aus culpa in contrahendo schützt den Anspruchsinhaber vor Vermögensschäden, während das Anfechtungsrecht die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit gewährleisten soll. Die verschiedenen Schutzgüter können somit schon nicht zu einer Exklusivität führen. Desweiteren wird für einen Anspruch aus § 122 I BGB kein Verschulden vorausgesetzt, wohl aber für einen Anspruch aus cic, so dass die Voraussetzungen für letzteren strenger sind und damit auch eine entsprechende Haftung rechtfertigen. Die Grundsätze der cic sind deshalb vorliegend anwendbar.
b) Schuldverhältnis:
Die Parteien haben hier Vertragsverhandlungen mit dem Ziel aufgenommen, einen Vertrag abzuschließen, so dass ein weit fortgeschrittener Kontakt vorliegt, der ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis darstellt, § 311 II Nr. 1 BGB.
c) Pflichtverletzung:
Eine Pflichtverletzung gem. § 241 II BGB kann darin gesehen werden, dass der A die Anfechtbarkeit des Vertrags verursacht hat, obwohl er gehalten war, die Unwirksamkeit zu verhindern.
d) Vertretenmüssen:
Im Rahmen des Vertretenmüssens kommt Vorsatz oder Fahrlässigkeit in Betracht, § 276 I 1 BGB.
Hier hat der A die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet, da er den Wortlaut seines Schreibens vor Absendung unschwer hätte überprüfen können, also handelte er fahrlässig, § 276 II BGB.
Im Übrigen wird ein Verschulden gem. § 280 I 2 BGB aufgrund der Pflichtverletzung vermutet.
e) Folge:
Der A ist im zum Schadensersatz verpflichtet und muss dem B den Vertrauensschaden ersetzen, § 249 I BGB. Der B muss also so gestellt werden, als hätte er von dem Vertrag mit A nichts gehört. Dabei gilt die Besonderheit, dass der Umfang nicht durch das Erfüllungsinteresse nach oben begrenzt ist, wie das der Fall bei dem Schadensersatzanspruch nach § 122 I BGB wäre (BGH NJW-RR 90, 230).
Dann wird nach der Rechtsprechung konsequenterweise auch der entgangene Gewinn iSd. § 252 S. 1 BGB vom Anspruch umfasst: Hätte der Geschädigte ohne das schuldhafte Verhalten des Gegners einen Vertrag mit einem anderen geschlossen, gehört zum negativen Interesse auch der aus diesem Vertrag entgangene Gewinn (BGH NJW 88, 2236).
Im vorliegenden Fall hätte der B in dem Geschäft mit dem Dritten einen Gewinn von 70 € gemacht (250 € Kaufpreis minus 180 € Marktwert). Diesen Betrag muss der A nun ersetzen, § 252 S. 1 BGB.
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