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Schlagwortarchiv für: Meinungsfreiheit

Marie-Lou Merhi

Ein Lied macht Schlagzeilen:  „L’amour toujours“

Aktuelles, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Uncategorized, Verschiedenes

Kann das Abspielen des Liedes „L’amour toujours“ verboten werden? Dieser Frage, die sich besonders für die mündliche Prüfung und das schriftliche Examen eignet, geht die Gastautorin Marie-Lou Merhi in diesem Beitrag nach. Marie-Lou studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist dort studentische Hilfskraft am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit.

Fast jeder hat es mitbekommen: Das Lied „L’amour toujours“des italienischen DJs und Musikproduzenten Gigi D’Agostino ist wieder in aller Munde. Doch nicht etwa, weil es mit über 440 Millionen Streams auf Spotify zu den bekannteren Liedern des Musikproduzenten gehört, sondern vielmehr, weil der Refrain des Songs mit der ausländerfeindlichen Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“versehen und öffentlichkeitswirksam gegrölt wurde. So zuletzt geschehen am Pfingstwochenende auf der deutschen Insel Sylt. Inzwischen ist das Video, das die dortigen Vorgänge festhält, in den sozialen Netzwerken und Medien viral gegangen und hat unter anderem eine Diskussion über ein Verbot des Liedes angefacht, um präventiv das Singen der ausländerfeindlichen Parole zu verhindern. Zu den Verfechtern eines solchen Verbots zählen beispielsweise die Veranstalter des Münchener Oktoberfestes (vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/wiesn-oktoberfest-l-amour-toujours-100.html, letzter Abruf am 4.6.2024). Anderer Ansicht hingegen ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die sich gegen ein solches Verbot auf Volksfesten wendet. Unter anderem führt sie an, es könne weder der Song noch dessen Produzent Gigi D’Agostino etwas dafür, dass das Lied für das Singen fremdenfeindlicher Parolen missbraucht werde. (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sylt-skandal-claudia-roth-gegen-verbot-von-l-amour-toujours-19751607.html, letzter Abruf am 4.6.2024).

Es stellt sich die Frage, ob die für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden bereits das Abspielen des Liedes untersagen können, um dessen Missbrauch für ausländerfeindliche Parolen zu unterbinden. Diese Frage bietet sich als Klausurgegenstand gerade zu an. Ihre Antwort knüpft an einen Klassiker des Polizeirechts an: Das Institut des sogenannten Zweckveranlassers. Zweckveranlasser ist, wer eine Gefahr nur mittelbar verursacht hat, das heißt zurechenbar eine Ursache dafür gesetzt hat, dass andere unmittelbar die Gefahrenschwelle überschreiten (Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 80; BeckOK PolG NRW, OBG § 17 Rn. 10). Seinen Ursprung hat das Rechtsinstitut des Zweckveranlassers in einem Fall, in dem eine ähnliche belanglose Schnulze die zentrale Rolle spielt: Dem Borkumlied-Fall (Preußisches OVG, 14.5.1925 – III. A. 68/24, ProVGE 80, 176-195).

Im Jahr 1925 untersagte die Ordnungsbehörde der Kurkapelle im Nordseebad Borkum das Abspielen der traditionellen Melodie eines Marsches, um präventiv das Singen des antisemitischen „Borkumlieds“ zu unterbinden. Das preußische OVG entschied, dass die Polizei nicht gegen die Kapelle vorgehen dürfe, denn sie sei für die Störung durch das Singen des antisemitischen Liedes nicht verantwortlich. Bis heute entfachen in der Literatur Diskussionen darüber, ob die damalige Entscheidung richtig war (siehe dazu Eberl, Jus 1985, 257; Doerfert, JA 2003,  385, 389).

Auch 100 Jahre später ist die Erläuterung dieses Falls immer noch in fast jedem Lehrbuch zum Polizeirecht zu finden (bspw. Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 8; Schenke, Polizeirecht, § 4 Rn. 318; Möstl/Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen) und gilt als einer der Klassiker des Rechtsgebiets. Die aktuelle Debatte wird die juristische Relevanz des Falls wohl weiter steigern und bietet insbesondere für Examenskandidaten Anlass, die damit verbundene Rechtsfigur des Zweckveranlassers zu wiederholen.

Vor diesem Hintergrund soll dieser Beitrag erörtern, unter welchen Voraussetzungen ein Verbot des Abspielens des Liedes „L’amour toujours“ durch die Ordnungsbehörden materiell rechtmäßig wäre. Die Darstellung erfolgt anhand der geltenden Rechtsgrundlagen des Landes Nordrhein-Westfalens.

I. Taugliche Ermächtigungsgrundlage

Als Teil der Eingriffsverwaltung unterliegt das Polizei- und Ordnungsrecht dem strikten Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 III GG), sodass ein entsprechendes Verbot einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage bedarf. Soweit keine Spezialbefugnisse und keine Standardbefugnisse einschlägig sind, ist auf die ordnungsbehördliche Generalklausel nach § 14 I OBG NRW abzustellen. Gleichwohl kann je nach Fallgestaltung auch auf die polizeiliche Generalklausel nach § 8 I PolG NRW abzustellen sein.

II. Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung

Es müsste eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegen. Als unbestimmte Rechtsbegriffe sind die Begriffe der Gefahr, der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auslegungsbedürftig und voll auslegungsfähig. Eine Gefahr liegt bei einem Lebenssachverhalt vor, der bei ungehindertem Ablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an den polizei- bzw. ordnungsrechtlichen Schutzgütern führen wird. (Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 61). Das Singen der Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ müsste somit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die öffentliche Sicherheit oder Ordnung schädigen.

1. Die öffentliche Sicherheit

Die öffentliche Sicherheit umfasst den „Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen.“ (BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315, 352).

a. Verstoß gegen § 130 I StGB

Die Kundgabe der Parole könnte eine Verletzung der objektiven Rechtsordnung darstellen. Von dieser sind alle materiellen Gesetze erfasst (Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 53).

Konkret in Betracht kommt ein Verstoß gegen § 130 I StGB, der die Volksverhetzung unter Strafe stellt.

aa. Auswirkung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG auf die Prüfung

Entscheidende Bedeutung hat bei der Frage der Strafbarkeit, ob derartige Parolen unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG fallen. Eine Meinung ist jedes Werturteil, gleichgültig, auf welchen Gegenstand es sich bezieht und welchen Inhalt es hat. Unerheblich ist ob sie öffentlich oder private Angelegenheiten betrifft, vernünftig oder unvernünftig, wertvoll oder wertlos ist (Kingreen/Poscher, § 13 Rn. 650). Die Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ ist als wertende Stellungnahme und damit als Meinung zu qualifizieren. Die Meinungsfreiheit findet gem. Art. 5 II GG ihre Grenzen in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, zu denen auch § 130 I StGB zu zählen ist. Aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der Meinungsfreiheit sind die allgemeinen Gesetze in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung ihrerseits wiederum einschränkend auszulegen (sog. Wechselwirkungslehre). Im Falle der Mehrdeutigkeit einer Äußerung ist bei der Gesetzesanwendung die dem sich Äußernden günstigere Deutung zugrunde zu legen (BVerfG, Beschl. v. 7.11.2008 – 1 BvQ 43/08, BeckRS 2008, 40863 Rn. 21 zum Motto „gegen einseitige Vergangenheitsbewältigung! Gedenkt der deutschen Opfer!“; BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010 – 1 BvR 369, 370, 371/04, BeckRS 2010, 47951 zu „Aktion Ausländerrückführung – Für ein lebenswertes deutsches Augsburg“ ; BVerwG, Urt. v. 25.6.2008 – 6 C 21/07, NJW 2009, 98 „Gedenken an Rudolf Hess“).

bb. Verstoß gegen § 130 I Nr. 1 StGB

Die Parole könnte den Straftatbestand des § 130 I Nr. 1 StGB erfüllen. Dafür müsste ein Aufstacheln zum Hass gegen Teile der Bevölkerung gegeben sein oder ein Auffordern zur Gewalt- oder Willkürmaßnahmen. Ein Aufstacheln zum Hass ist gegeben, wenn eine verstärkte, auf die Gefühle des Aufgestachelten gerichtete, über eine bloße Ablehnung oder Verachtung hinausgehende Form des Anreizens zu einer emotional gesteigerten feindseligen Haltung vorliegt(OLG Brandenburg, Urt. v. 28.11.2001, NJW 2002, 1440, 1441; OVG Brandenburg, Beschl. v. 13.9.2002 – 4 B 228/02, LKV 2003, 102, 103). Ein Auffordern zu Gewalt und Willkürmaßnahmen liegt demgegenüber vor, wenn der Erklärende auf die Empfänger mit dem Ziel einzuwirken versucht, in ihnen den Entschluss hervorzurufen, derartige Maßnahmen gegen einen Teil der Bevölkerung zu ergreifen (BGH, 14.3.1984 – 3 StR 36/84, BGHSt 32, 310; Schönke/Schröder, § 130, Rn. 5b).

Durch die Aussage „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ kommt eine ausländerfeindliche Grundrichtung zum Ausdruck, die der für die freiheitliche demokratische Grundordnung grundlegenden Erwartung einer Toleranz der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern widerspricht (so auch das BVerfG, Beschl. v. 7.4.2001 – 1 BvQ 17/01, NJW 2001, 2072, 2073, zu dem Motto der Kundgebung „Herren im eigenen Land statt Knechte der Fremde“). Allerdings sind ausländerfeindliche Äußerungen im StGB nicht schon als solche strafbewehrt (BVerfG, Beschl. v. 7.4.2001 – 1 BvQ 17/01, NJW 2001, 2072, 2073). Im Hinblick darauf, dass die Äußerung dem Grundsatz nach unter die Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG fällt, ist die für den Äußernden günstigste Deutung zugrunde zu legen (dazu siehe oben Gliederungspunkt II.1.a.aa.).

Der Aufruf richtet sich pauschal an alle in Deutschland wohnhaften Ausländer und verlangt, dass sie ohne Ausnahme das Land verlassen, wobei Anknüpfungspunkt der Forderung allein die fremde Nationalität ist. Die Aussage kann somit so verstanden werden, dass Ausländern das Leben in der Gemeinschaft innerhalb Deutschlands abgesprochen werden soll (OLG Hamm, Urt. v. 2.11.1995 – 4 Ss 491/94, NStZ 1995, 136, 137 zu der Parole „Ausländer raus“).

In Abhängigkeit des streitgegenständlichen Kontextes, kann sie aber auch so verstanden werden, dass sie auf politische Ablehnung der bisherigen Migrationspolitik gerichtet ist und sich insoweit „nur“ auf die gegenwärtige Politik gegenüber Ausländern bezieht (VG Gelsenkirchen, Urt. v. 18.5.2010 – 14 K 5459/08, BeckRS 2010, 49994 zu der Parole „Deutschland den Deutschen“). Weiterhin ist eine Deutung in dem Sinne möglich, dass die Interessen des deutschen Staatsvolks denen der Ausländer vorangestellt werden sollen oder das lediglich Ängste und Vorbehalte der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht werden. (AG Rathenow, Beschl. v. 13.4.2006 – 2 Ds 496 Js 37539/05 (301/05), NStZ-RR 2007, 341, 342 zu der Parole „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“). Es ist somit nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, ob die Parole bereits ein strafbewehrtes Aufstacheln gegen Teile der Bevölkerung oder gar eine Aufforderung zu Gewalt und Willkürmaßnahmen darstellt, oder als politische Meinungskundgabe anzusehen ist (siehe dazu OLG Brandenburg, Urt. v. 28.11.2001, NJW 2002, 1440, 1441: Das Gericht bejaht eine Strafbarkeit der Parole „Ausländer raus“ nach § 130 I Nr. 1 StGB unter anderen unter Berücksichtigung der Umstände, dass es in dem Ort bereits zu allgemein bekannten gewalttätigen Ausschreitungen gegen Ausländer gekommen war und zusätzlich die Parole „Sieg Heil“ gerufen wurde und ein Auftreten in Bomberjacken und Springerstiefeln erfolgte). Entscheidend ist, dass unter den gegebenen Umständen aus der Sicht eines objektiven Durchschnittsbeobachters die Aussage nur dahin gedeutet werden kann, dass gegen Ausländer nicht nur Vorbehalte oder Ablehnung, sondern eine aggressive Missachtung und Feindschaft erzeugt oder gesteigert werden sollte. (OLG Brandenburg, Urt. v. 28.11.2001 – 1 Ss 52/01).

cc. Verstoß gegen § 130 I Nr. 2 StGB

Ähnliches gilt auch für die Verwirklichung des Tatbestands nach § 130 I Nr. 2 StGB. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde macht erforderlich, dass der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abgesprochen und sie als unterwertiges Wesen behandelt wird. Der Angriff muss sich gegen den die menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit, nicht lediglich gegen Persönlichkeitsrechte richten (BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010 – 1 BvR 369/04, JuS 2011, 88, 89; BVerfG, Beschl. 6.9.2000 – 1 BvR 1056/95, NJW 2001, 61, 63).

Auch insoweit muss die Mehrdeutigkeit einer Parole Beachtung finden, um zu einer über den reinen Wortlaut hinausgehenden Deutung zu gelangen, die im Kontext mit den konkreten Begleitumständen auf einen Menschenwürdeverstoß schließen lässt (BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010 – 1 BvR 369/04, NJW 2010, 2193 zu einem Plakat mit der Aufschrift: „Ausländerrückführung – Für ein lebenswertes deutsches Augsburg“).

Ausgehend davon, dass für die Annahme eines Verstoßes gegen die Menschenwürde eine besonders sorgfältige Prüfung erforderlich ist, darf aus „der Pauschalität einer verbalen Attacke nicht ohne Weiteres auf ein Verächtlichmachen geschlossen werden, dass den Betreffenden ihre Anerkennung als Person abspricht.“ (BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010 – 1 BvR 369/04, NJW 2010, 2193).  Ohne das Hinzutreten konkreter Begleitumstände ist somit unter Zugrundelegung der für den Äußernden günstigere Deutung die Aussage „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde, der in Deutschland wohnhaften Ausländer zu sehen (dazu ausführlich AG Rathenlow, Beschl. v. 13.4.2006 – 2 Ds 496 Js 37539/05 (301/05), NStZ-RR 2007, 341, 342).

b. Zwischenergebnis

Ob ein Verstoß gegen § 130 I StGB vorliegt kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern hängt von den konkreten Einzelfallumständen ab. Für das gefahrenabwehrrechtliche Einschreiten ist ein Verstoß auch nicht erforderlich, es muss lediglich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen § 130 I StGB (und damit gegen die öffentliche Sicherheit) bevorstehen. Entscheidend ist somit, ob nach allen zu erwartenden Begleitumständen aus Sicht eines objektiven Durchschnittsbeobachters eine Verwirklichung des § 130 I StGB naheliegt (siehe auch OVG Münster, Beschl. v. 22.6.1994 – 5 B 193/94, NJW 1994, 2909, 2910).

2. Öffentliche Ordnung

Fraglich ist, ob  die Parole für den Fall, dass die Schwelle der hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Strafbarkeit noch nicht erreicht ist, gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Diese umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird. (BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315, 352). Gemeint sind Sozialnormen, die außerhalb eines Gesetzestatbestands liegen (Fencher, Jus 2003, 734; Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 55). Auch bei Prüfung der öffentlichen Ordnung ist die besondere Gewährleistung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG zu berücksichtigen und damit eine restriktive Auslegung geboten. Ist eine geäußerte Meinung nicht strafbar, ist nur unter besonderen äußeren Umständen (beispielsweise aggressives oder einschüchterndes Verhalten) eine konkrete Gefahr für die öffentliche Ordnung anzunehmen. Durch die enge Fassung der Straftatbestände hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, im Übrigen grundsätzlich keinen Vorrang des Rechtsgüterschutzes gegenüber Meinungsäußerungen anzuerkennen (vgl. BVerfG, 7.4.2001 – 1 BvQ 17/01, BeckRS 2001, 30173985; BVerfG, Beschl. v. 24.3.2001 – 1 BvQ 13/01, NJW 2001, 2069) zu dem Begriff der „öffentlichen Ordnung“ bei § 15 VersG; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 18.5.2010 – 14 K 5459/08, BeckRS 2010, 49994). Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung ist somit regelmäßig bei Verneinung der Strafbarkeit der Äußerung abzulehnen.

3. Zwischenergebnis

Bei der Frage, ob der Straftatbestand des § 130 I StGB verwirklicht ist, kommt es somit in einer Klausursituation auf den konkreten Sachverhalt an. Dieser ist vollumfänglich auszuschöpfen – entscheidend ist dann einen überzeugende Argumentation, die auf alle angeführten Begleitumstände eingeht! Insbesondere sollte der Klausurbearbeiter im Hinterkopf behalten, dass das BVerfG die Meinungsfreiheit als für die freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes schlechthin konstituierend ansieht (BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257, 258) und nicht vorschnell einen Verstoß gegen § 130 I  StGB annehmen: Bei mehrdeutigen Äußerungen ist bei der Anwendung des Gesetzes, die dem sich Äußernden günstigste Deutung zugrunde zu legen!

III. Ordnungsgemäßer Adressat

Der Abspielende des Liedes müsste tauglicher Adressat des ordnungsbehördlichen Verbot sein. Das richtet sich nach §§ 17 bis 19 OBG NRW. Für das Verhalten von Personen regelt § 17 I OBG NRW die Verantwortlichkeit; demnach ist der richtige Adressat der ordnungsbehördlichen Maßnahme, derjenige der eine Gefahr verursacht.

1. Begriff  des „Verursachens“

Es kommt somit entscheidend darauf an, wie „verursachen“ im Sinne des § 17 I OBG zu verstehen ist. Dies ist durch Auslegung zu ermitteln.

a. Ausgangspunkt: Conditio-sine-qua-non-Formel als notwendige aber nicht hinreichende Bedingung

Im Sinne einer systematischen Auslegung erscheint es naheliegend auf die im Zivil- und Strafrecht bekannte conditio-sine-qua-non-Formel abzustellen. Demnach ist ein Verhalten dann ursächlich, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der konkrete Erfolg (hier: die Gefahr) entfiele (Dölling/Duttge/Rössner/Heinrich, Gesamtes Strafrecht, § 13 Rn. 19). Allerdings würde durch diese Formel der Adressatenkreis für ordnungsbehördliche bzw. polizeiliche Maßnahmen zu weit gefasst; es könnte gegen jede Person die in irgendeiner Weise kausal für die Gefahr wäre, eine ordnungsbehördliche bzw. polizeiliche Maßnahme und damit zumindest ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG erfolgen. Zudem wäre bei lebensnaher Betrachtung, die durch diese Theorie unüberschaubare Adressatenkette kaum zu ermitteln, was zu Rechtsunsicherheit führen könnte und wohl auch würde. Somit ist die Kausalität zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Adressatenstellung (Gusy/Eichenhofer, Polzei- und Ordnungsrecht, § 5 Rn. 334; Schenke, Polizeirecht, § 4 Rn. 313; Pietsch/Sommerfeld, JA 2022, 840, 842). Es bedarf weitere Einschränkungen, um dem Handelnden die Gefahr zurechnen zu können.

b. Einschränkung durch die Rechtswidrigkeitslehre

Als Einschränkung der Kausalität wird teilweise angeführt, ein „Verursachen“ könne nur dann vorliegen, wenn eine Person rechtliche Handlungs- oder Unterlassungspflichten verletze, das heißt rechtswidrig handele (Möstl/Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht NRW, § 4 Rn. 6). Handele die Person dagegen im Einklang mit der Rechtsordnung könne gegen sie keine Maßnahme gerichtet werden (sog. Rechtswidrigkeitslehre).

Die Abspielenden des Liedes handeln im Einklang mit der geltenden Rechtsordnung. Lediglich die Reaktion des Publikums führt gegebenenfalls zu einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Nach dieser Auffassung wären die Abspielenden des Liedes somit keine tauglichen Adressaten.

Diese Lehre lässt allerdings außer Acht, dass auch eine Person, die sich rechtmäßig verhält durch ihr Verhalten faktisch eine Gefahr verursachen kann. Eine effektive Gefahrenabwehr gebietet es, auch gegen rechtmäßiges Verhalten einschreiten zu können, welches eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung herbeiführt (Pietsch/Sommerfeld, JA 2022, 840, 845). Die Rechtswidrigkeitslehre ist somit abzulehnen.

c. Lehre der unmittelbaren Verursachung

Nach ganz herrschender Meinung hat derjenige eine Gefahr verursacht, der durch sein Verhalten selbst die konkrete Gefahr unmittelbar herbeigeführt und damit in eigener Person die Gefahrenschwelle überschritten hat (sog. Lehre der unmittelbaren Verursachung s. Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 79; BVerwG, Beschl. v. 12.4.2006 – 7 B 30.06, BeckRS 2006, 23702 Rn. 4). Derjenige, der das Lied abspielt,  verursacht dadurch nicht unmittelbar eine Gefahr. Eine solche kommt unter Umständen nur mittelbar aufgrund der Reaktion des Publikums durch das Singen ausländerfeindlicher Parolen in Betracht. Demnach würde ein ordnungsbehördliches Verbot des Abspielens des Liedes ausscheiden.

d. Modifikation der Unmittelbarkeitslehre durch die Rechtsfigur des Zweckveranlassers

Allerdings ist die Unmittelbarkeitslehre durch die Rechtsfigur des Zweckveranlassers modifiziert worden (Beaucamp/Seifert, JA 2007, 577, 577). Demnach ist nach der gebotenen wertenden Betrachtung und, um die Effektivität der Gefahrenabwehr zu gewährleisten, auch derjenige Veranlasser,  der eine Gefahr nur mittelbar verursacht, sofern eine natürliche Einheit zwischen dem Handeln und der Gefahr besteht (BVerwG, Beschl. v. 12.4.2006 – 7  B 30.06, BeckRS 2006, 23072 Rn. 4).

e. Haftungsbegründung des Zweckveranlassers

Die besondere Verantwortungsnähe des Zweckveranlassers wird unterschiedlich begründet. Nach der subjektiven Theorie ist nur derjenige Zweckveranlasser, der beabsichtigt oder zumindest in Kauf nimmt, eine Sachlage hervorzurufen, die mit einer Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung einhergeht (Schenke, Polizeirecht, § 4 Rn. 316; BeckOK/Barczak, Polizei- und Ordnungsrecht NRW, OBG § 17 Rn. 12). Demnach käme es für ein Verbot des Abspielens des Liedes „L’amour toujours“ auf die Intention des Abspielenden an. Dieser müsste durch sein Verhalten das Singen fremdenfeindlicher Parolen verursachen wollen oder diese zumindest billigend in Kauf nehmen.

Demgegenüber stellt die objektive Theorie darauf ab, ob das Verhalten der Person bei objektiver Betrachtung typischerweise eine Gefahr zur Folge hat (Schenke, Polizeirecht, § 4 Rn. 316). Entscheidend wäre somit, ob das Abspielen des Songs „L’amour toujours“ typischerweise zu dem Singen strafbarer ausländerfeindlicher Parolen führt. Dies kann zumindest nicht pauschal angenommen werden. Zwar mögen sich die Fälle häufen, bei denen es zu derartigen Vorfällen kommt (siehe https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/lamour-toujours-sylt-lka-niedersachsen-faelle-100.html). Doch erscheint es fernliegend, dass das Abspielen des Liedes generell typischerweise zu ebendieser Folge führt. Entscheidend sind somit erneut die konkreten Umstände des Einzelfalls, unter anderem die Art der Veranstaltung und das zu erwartende Publikum. Sind bei bestimmten Veranstaltungen bereits in der Vergangenheit ausländerfeindliche Parolen geäußert worden oder handelt es sich um nationalistische oder rechtsextreme Zusammenkünfte liegt eine entsprechende Prognose zumindest nahe.

Merkposten: Sollten die beiden Theorien zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, ist an dieser Stelle ein Streitentscheid erforderlich! Gegen die subjektive Theorie spricht, dass es einer aufwendigen Motiverforschung des Handelnden bedürfte, die ein schnelles Handeln verhindern würde. Zudem ist das Polizei- und Ordnungsrecht auf die Beseitigung objektiv gegebener Störungs- und Gefahrenlagen ausgerichtet, wohingegen die Sanktion einer inneren Einstellung Aufgabe des Strafrechts ist (Beaucamp/Seifert, JA 2007, 577, 578; Pietsch/Sommerfeld, JA 2022, 840, 844; Ebert, JuS 1985, 257, 262). Vorzugswürdig erscheint es somit, im Polizei- und Ordnungsrecht, das auch allgemein nicht vom Verschuldensprinzip ausgeht, der objektiven Theorie zu folgen.

2. Zwischenergebnis

Ob der Abspielende des Liedes als Zweckveranlasser Adressat eines ordnungsbehördlichen Verbots sein kann hängt somit vom konkreten Einzelfall ab. Der Klausurbearbeiter muss gegebenenfalls nach Ablehnung der subjektiven Theorie eingehend dazu Stellung nehmen, ob das Abspielen des Liedes nach objektiver Betrachtung typischerweise zu dem Singen ausländischer Parolen führt. Je nach dem zu welchem Ergebnis man kommt wäre das ordnungsbehördliche Verbot materiell rechtmäßig oder nicht.

III. Ergebnis

Insgesamt zeigt sich, dass an ein ordnungsbehördliches Verbot des Abspielens des Liedes „L’amour toujours“ hohe Hürden gestellt sind und die materielle Rechtmäßigkeit eines solchen Verbots vom konkreten Einzelfall abhängt. Bejaht man die materielle Rechtmäßigkeit des ordnungsbehördlichen Verbots, ist zudem zu beachten, dass § 14 I OBG NRW den Ordnungsbehörden auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen einräumt. Die Behörde müsste die Grenzen des Ermessens einhalten. Ermessensgrenze könnte vorliegend die Kunstfreiheit nach Art. 5 III 1 Var. 1 GG des Abspielenden sein. Dieser bringt mit dem Abspielen des Liedes dieses dem Publikum gegenüber zur Geltung und verbreitet es, sodass er eine unentbehrliche Mittelfunktion zwischen Künstler und Publikum wahrnimmt und sich damit auf die Kunstfreiheit berufen kann (dazu: BVerfG, Beschl. v. 3.11.2000 – 1 BvR 581/00, NJW 2001, 596 in Bezug auf das Abspielen des Liedes „Deutschland muss sterben“). Der Schwerpunkt der Klausur könnte folglich auch im Verfassungsrecht liegen und lediglich die Einkleidung des Falls im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht!

07.06.2024/15 Kommentare/von Marie-Lou Merhi
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Marie-Lou Merhi https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Marie-Lou Merhi2024-06-07 08:00:002024-06-08 11:02:45Ein Lied macht Schlagzeilen:  „L’amour toujours“
Dr. Lena Bleckmann

Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook

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Dass die in sozialen  Medien mögliche Anonymität einige Nutzer zuweilen verleitet, unter ihrem Deckmantel Hass und Hetze zu verbreiten, dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Insbesondere Politiker sehen sich solchen Hasskommentaren besonders häufig ausgesetzt. Einzelne wissen sich jedoch zu wehren: Renate Künast, MdB und Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen, verlangte, nachdem ihr gegenüber auf Facebook Dinge geäußert wurden, die man ihr wohl kaum ins Gesicht gesagt hätte, von dem Unternehmen die Auskunft über die Bestandsdaten der jeweiligen Nutzer – zum Zwecke der Rechtsverfolgung wollte sie die Identität der Nutzer herausfinden.
Das Verfahren hat bereits erhebliche mediale Aufmerksamkeit erlangt. Zu mehreren Entscheidungen der Berliner Gerichte tritt nun ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2021, Az. 1 BvR 1073/20. Die wichtigsten Eckpunkte der Entscheidung des BVerfG sollen im Folgenden überblicksweise dargestellt werden.


I. Was bisher geschah
Im Instanzenzug war Künast nur teilweise erfolgreich – so gestattete das LG Berlin (Beschl. v. 21.1.2020 – 27 AR 17/19) die Auskunft über die Bestandsdaten der Nutzer in sechs Fällen, das KG Berlin (Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20) später für weitere sechs Kommentare. Im Übrigen sahen die Gerichte die Schwelle zur strafbaren Beleidigung nicht überschritten. Voraussetzung für einen Auskunftsanspruch über die Daten nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a.F., der hier noch einschlägig war, ist jedoch eine Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte, die von § 10a Abs. 1 des Telemediengesetzes oder § 1 Abs. 3 des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der damaligen Fassung erfasst werden, begehrt wird. Rechtswidrig i.d.S. sind insbesondere Äußerungen, die tatbestandlich eine Straftat gegen die persönliche Ehre nach §§ 185 ff. StGB darstellen.
Hinweis: Zur Wiederholung der Prüfung der §§ 185 ff. StGB siehe hier unseren Beitrag zu dem Thema.
Hinsichtlich von Äußerungen wie „Pädophilen-Trulla“, „Die ist Geisteskrank“, „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“ oder „Gehirn Amputiert“ führte das KG Berlin jedoch aus:
„Der Senat verkennt dabei keineswegs, dass es sich insoweit gleichfalls um erheblich ehrenrührige Bezeichnungen und Herabsetzungen der Ast. handelt. Unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben ist allerdings festzustellen, dass die Schwelle zum Straftatbestand der Beleidigung gem. § 185 StGB nicht überschritten wird. Denn es liegt kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung (Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik) vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Ast. erreicht auch nicht ein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des konkret zu berücksichtigenden Kontexts – anders als die zu Ziff. I. zu beurteilenden Äußerungen lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Ast. erscheinen (…)“  (KG Berlin, Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20)
Insbesondere aufgrund eines Bezugs zu dem Ausgangspost bejahte das KG für einzelne Äußerungen einen Sachbezug und stützte darauf die Ansicht, die Grenze der Beleidigung sei, da der Kommentar damit nicht ausschließlich der Diffamierung diene, nicht überschritten. In dem Ausgangspost wurde eine Äußerung Künasts aus einer Bundestagsdebatte derart verkürzt wiedergegeben, dass für den Leser der Eindruck entstehen konnte, Künast billige pädophile Praktiken.


 II. Die Entscheidung des BVerfG im Überblick
Künast zog schließlich vor das Bundesverfassungsgericht – und dort bekam sie nun Recht. Das BVerfG sieht die Beschwerdeführerin in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Wie immer befasst sich das BVerfG nur mit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Dieses müssen die Fachgerichte bei der Entscheidung hinreichend berücksichtigen. Zentrale Frage ist daher: Haben die Fachgerichte das Allgemeine Persönlichkeitsrecht so interpretationsleitend berücksichtigt, dass sein „wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“  (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 27).
In Fällen wie dem hier in Rede stehenden bewegt man sich im Spannungsbereich zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Aufhänger für die Grundrechtsprüfung musste vorliegend insbesondere § 185 StGB sein. Ist dessen Tatbestand erfüllt, liegt eine rechtswidrige Äußerung i.S.d. § 1 Abs. 3 NetzDG in der damaligen Fassung vor, ebenso wie eine Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB sowie die Verletzung des APR als absolut geschütztes Recht, was einen Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 BGB analog eröffnet.
Für die Prüfung, ob denn eine strafbare Beleidigung nach § 185 StGB vorliegt, haben die Gerichte nun schrittweise vorzugehen. Zunächst muss der Inhalt der Äußerungen erfasst und bei Interpretationsspielraum gedeutet werden. Zur Erinnerung: Schon auf dieser ersten Stufe ist die Meinungsfreiheit des sich Äußernden zu berücksichtigen, bei mehreren möglichen Auslegungsmethoden ist meinungsfreundliche Auslegungsvariante zugrunde zu legen (vgl. auch Kahl/Ohlendorf, JuS 2008, 682, 684)
Ist der Sinngehalt der Äußerung ermittelt, erfordert die Feststellung einer Beleidigung i.S.d. § 185 StGB weiterhin grundsätzlich eine Abwägung von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht. Der strafrechtliche Schutz der persönlichen Ehre darf nicht zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG führen, zugleich muss ein hinreichender Schutz des Persönlichkeitsrechts gleichwohl gewährleistet sein. Mit den Worten des BVerfG:
„Die Belange der Meinungsfreiheit finden demgegenüber vor allem in § 193 StGB Ausdruck, der bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine Verurteilung wegen ehrverletzender Äußerungen ausschließt und – vermittelt über  § 823 Absatz 2 BGB – auch im Zivilrecht zur Anwendung kommt. Diese Vorschriften tragen dem Umstand Rechnung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Nach  Artikel 2 Absatz 1 GG wird es durch die verfassungsmäßige Ordnung einschließlich der Rechte anderer beschränkt. Zu diesen Rechten gehört auch die Freiheit der Meinungsäußerung aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. Auch diese ist nicht vorbehaltlos garantiert. Sie findet nach Artikel 5 Absatz 2 GG ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen und in dem Recht der persönlichen Ehre (…)“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 26, Nachweise im Zitat ausgelassen).
Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter kann allerdings im Einzelfall entbehrlich sein – dies insbesondere dann, wenn ein Fall von Schmähkritik vorliegt. Schmähkritik liegt vor, „wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 29).
Einen solchen Fall von Schmähkritik hatte das KG Berlin nun abgelehnt, der Sachbezug insbesondere der Äußerung „Pädophilen-Trulla“ wurde ausdrücklich betont (a.a.O.). Hier kann die Prüfung nun allerdings nicht stehen bleiben. Denn: Dass eine Äußerung keine Schmähkritik darstellt, heißt noch nicht, dass es sich auch nicht um eine strafbare Beleidigung handelt. Das BVerfG moniert in der aktuellen Entscheidung aber nun eine solche Gleichsetzung von Beleidigung und Schmähkritik:
„Es mag die im Ausgangsverfahren vertretene Auffassung der Beschwerdeführerin gewesen sein, dass es sich bei der Äußerung um Schmähkritik handele. Dies dispensiert aber das Fachgericht nicht davon, bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen. Vorliegend hat sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetzt, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin. Bereits dieser – praktisch vollständige – Abwägungsausfall muss zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen.“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 45 f.)
Das Kammergericht hätte mithin nach der Ablehnung einer Schmähkritik noch eine weitere Abwägung der betroffenen Rechtsgüter – Meinungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht – vornehmen müssen. Schon die Tatsache, dass dies nicht erfüllt ist, stellt nach Ansicht des BVerfG eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin dar und führt daher zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde. Welche Punkte in die vorzunehmende Abwägung mit einzubeziehen sind, ist im Beschluss des BVerfG unter den Randnummern 30 ff. nachzulesen.


III. Was aus der Entscheidung mitzunehmen ist
Was Klausur- und Examenskandidaten aus der Entscheidung mitnehmen sollten, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Schmähkritik und strafrechtlich relevante Beleidigung sind keine Synonyme. Die Ablehnung des Vorliegens von Schmähkritik befreit nicht von der Notwendigkeit einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Die Entscheidung enthält damit wenig grundlegend Neues. Sie sollte aber allemal als Anlass genommen werden, die Grundsätze der Meinungsfreiheit, des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Verhältnisses zueinander zu wiederholen. Da strafrechtliche Erwägungen in Klausuren hier oft den Aufhänger bieten, sollten auch die §§ 185 ff. StGB in ihrer Relevanz nicht unterschätzt werden.

03.02.2022/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-02-03 14:33:112022-08-03 08:36:07Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: Erhöhung des Rundfunkbeitrags nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde

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Vergangene Woche hat das Bundesverfassungsgericht seine lange erwartete Entscheidung zur Erhöhung des Rundfunkbeitrags veröffentlicht. Der Beitrag steigt rückwirkend ab dem 20.7.2021 (dem Tag des Beschlusses) um 86 Cent an. Dies ist das Ergebnis einer von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten angestrengten Verfassungsbeschwerde, nachdem die geplante Erhöhung zum 1.1.2021 ausgeblieben war.
 
Worum geht es?
Seit 2013 werden die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unter anderem durch den Rundfunkbeitrag finanziert, der bis zur genannten Entscheidung des BVerfG 17,50€ pro Haushalt betrug. Das Verfahren zur Festsetzung sowie die Höhe des Rundfunkbeitrages sind im Medienstaatsvertrag festgelegt. Zum 1. Januar 2021 sollte der Beitrag um 86 Cent erhöht werden, was im Ersten Medienänderungsstaatsvertrags vorgesehen ist. 15 der 16 deutschen Bundesländer stimmten dieser Erhöhung bis Ende 2020 zu, lediglich das Land Sachsen-Anhalt verweigerte die Zustimmung. Dies verhinderte das Inkrafttreten des Vertrages und damit die Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sahen sich hierdurch in ihrer Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verletzt und erhoben Verfassungsbeschwerde, der das BVerfG nun stattgab.
 
Das Wichtigste im Überblick
Im Rundfunk existiert derzeit ein Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Anbietern, wobei die letzteren weniger strengen Anforderungen unterliegen als die erstgenannten. Nach den Ausführungen des BVerfG kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine besondere Rolle zu:

„Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt im Rahmen der dualen Rundfunkordnung, das heißt im Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem und privatwirtschaftlichem Rundfunk, die Erfüllung des klassischen Funktionsauftrags der Rundfunkberichterstattung zu. Er hat die Aufgabe, als Gegengewicht zu den privaten Rundfunkanbietern ein Leistungsangebot hervorzubringen, das einer anderen Entscheidungsrationalität als der der ökonomischen Anreize folgt und damit eigene Möglichkeiten der Programmgestaltung eröffnet. Er hat so zu inhaltlicher Vielfalt beizutragen, wie sie allein über den freien Markt nicht gewährleistet werden kann“ (BVerfG, Beschl. v. 20.7.2021, 1 BvR 2756/20 u.a., Rn. 78).

Diese Bedeutung sieht das BVerfG durch die modernen Formen der Kommunikation, insbesondere das Internet, nicht geschmälert, sondern gestärkt. Es weist auf die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Fakten und Meinung sowie Unsicherheiten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Quellen im Internet hin. Hierdurch wachse die Bedeutung der Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks „durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken, vielmehr ein vielfaltsicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden“ (Rn. 81 der Entscheidung).
Zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit gehört die Sicherung der Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, insbesondere auch einer bedarfsgerechten Finanzierung. Das BVerfG leitet daher aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG einen grundrechtlichen Finanzierungsanspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten her, dessen Erfüllung der „Ländergesamtheit als föderaler Verantwortungsgemeinschaft“ obliegt (Rn. 75 der Entscheidung).  

Zur Erinnerung: In einer Klausur müsste man sich mit der Grundrechtsfähigkeit der Rundfunkanstalten auseinandersetzen. Bei den Anstalten handelt es sich um juristische Personen des öffentlichen Rechts. Für juristische Personen gelten die Grundrechte nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG, soweit sie dem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Dem Wesen nach sind Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht anwendbar. Es gilt das Konfusionsargument – wer grundrechtsgebunden ist, kann nicht zugleich grundrechtsverpflichtet sein. Hiervon gibt es wohlgemerkt Ausnahmen, insbesondere die sog. Ausnahmetrias von Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten. Letztere können sich auf die Rundfunkfreiheit berufen. Zu verorten ist das Problem bei der Beschwerdefähigkeit oder (bei materieller Fallfrage) beim persönlichen Schutzbereich.

Die Konstruktion dieser föderalen Verantwortungsgemeinschaft ist der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen geschuldet: Diejenige für die Rundfunkfinanzierung liegt bei den Ländern. Da der öffentlich-rechtliche Rundfunk aber deutschlandweit organisiert ist, ist auch eine länderübergreifende Regelung der Finanzierung geboten. (Rn. 68 der Entscheidung)
Die erforderliche Koordinierung kann in derartigen Fällen durch den Abschluss eines intraföderalen Staatsvertrages, d.h. eines Vertrages zwischen den Bundesländern erfolgen. Der Staatsvertrag ersetzt in einem solchen Fall nicht das Landesrecht, verpflichtet die Länder als Vertragsparteien aber dazu, die entsprechenden Regelungen in Landesrecht überzuleiten (vgl. insgesamt Bortnikov, JuS 2017, 27). Dies erfolgt durch den Erlass von Zustimmungsgesetzen auf Landesebene. Vertragsparteien des Medienstaatsvertrags sind alle 16 Bundesländer. Seine Änderung bedarf wiederum der Zustimmung aller. Das BVerfG macht in seiner Entscheidung darauf aufmerksam, dass diese Art der Regelung durch Staatsvertrag mit Erfordernis der Einstimmigkeit nicht der einzige Weg ist, die Rundfunkfinanzierung zu organisieren (s. Rn. 99 der Entscheidung) – da es aber die aktuell gewählte ist, bleibt es bei dem Zustimmungserfordernis aller Länder und der genannten Verantwortungsgemeinschaft für die Gewährleistung der ausreichenden Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Die Verfassungsbeschwerden richten sich nun gegen die unterlassene Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt. Hier tritt ein weiteres, in einer Klausur nicht zu vernachlässigendes Problem auf: Kann ein Unterlassen Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein? Das BVerfG bejaht dies mit ausführlicher Begründung.

„Ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (vgl. §§ 92, 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Voraussetzung ist hierfür, dass sich eine entsprechende Handlungspflicht aus dem Grundgesetz herleiten lässt (vgl. BVerfGE 6, 257 <264>; 23, 242 <249>; 56, 54 <70 f.>; 129, 124 <176>; 139, 321 <346 Rn. 82>). Eine solche Handlungspflicht ergibt sich hier aus der Rundfunkfreiheit im gegenwärtigen System auch für jedes einzelne Land. Für die funktionsgerechte Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als Ausprägung der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG besteht eine staatliche Gewährleistungspflicht (vgl. BVerfGE 90, 60 <91>; 119, 181 <224>), mit der ein grundrechtlicher Finanzierungsanspruch der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten korrespondiert.“ (Rn. 66 der Entscheidung)

Betont wird weiterhin, dass die gemeinschaftliche Verantwortung der Länder nichts an der Handlungspflicht des einzelnen Landes ändere. Ob diese Handlungspflicht und mit ihr die Gewährleistung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nun durch die Verweigerung der Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt verletzt wurde, hängt davon ab, ob die Zustimmung berechtigterweise verweigert wurde. Um dies zu beantworten ist ein Blick auf das Verfahren der Festsetzung des Rundfunkbeitrags erforderlich.
Dieses ist von der allgemeinen Rundfunkgesetzgebung strikt getrennt. Hierdurch soll einer Einflussnahme auf das Programm der Rundfunkanstalten vorgebeugt werden. Dessen Gestaltung obliegt den Rundfunkanstalten im Rahmen ihrer Programmfreiheit (Rn. 85 ff. der Entscheidung). Prozessual ist dieser Trennungsgrundsatz durch ein dreistufiges Verfahren abgesichert: Zunächst melden die Rundfunkanstalten Finanzbedarf an (1. Stufe). Dieser wird durch die Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) überprüft (2. Stufe). Der Beitragsvorschlag, den die KEF im Anschluss an ihre Prüfung macht, ist sodann Grundlage für die Entscheidung der Länder (3. Stufe), die im Staatsvertrag festgehalten wird. Nach der Empfehlung der KEF sollte der Rundfunkbeitrag ab Januar 2021 um 86 Cent erhöht werden.
An die Empfehlung der KEF sind die Länder nicht schlechterdings gebunden. Gemeinsam und mit guten Gründen können sie hiervon abweichen (vgl. Rn. 97 der Entscheidung). Diese Abweichungsmöglichkeit ist schon aufgrund des Demokratieprinzips geboten, ihre Grenzen dürfen im Lichte des Grundrechtsschutzes, den das beschrieben Verfahren gewährleisten soll, jedoch nicht zu weit gezogen werden.

„Der fachlich ermittelte Finanzbedarf muss dabei zwar die Grundlage für die Festsetzung der Beitragshöhe sein. Die Möglichkeit gehaltvoller politischer Verantwortungsübernahme setzt indessen die oben beschriebene Befugnis der Abweichung vom Vorschlag der KEF voraus. Bei der Bestimmung der Reichweite dieser Abweichungsbefugnis muss dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG) Rechnung getragen werden, ohne dass der prozedurale Grundrechtsschutz leerlaufen darf (vgl. BVerfGE 119, 181 <225 f.>). Erforderlich bleibt daher im gegenwärtigen System, der Bedarfsfeststellung durch die KEF maßgebliches Gewicht beizumessen, das über eine bloße Entscheidungshilfe hinausreicht.“ (Rn. 100 der Entscheidung)

Eine deutliche Absage erteilt das BVerfG jedoch Alleingängen der Länder. Im gegenwärtigen System genüge es nicht, wenn ein einzelnes Land die Erhöhung des Rundfunkbeitrags ablehne (Rn. 101 der Entscheidung). Will ein Land von der Empfehlung der KEF abweichen, sei es die Sache dieses Landes, das Einvernehmen aller Länder herbeizuführen (Rn. 108 der Entscheidung). Schon die Verweigerung der Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt an sich stellt demnach eine Verletzung des Gewährleistungsgehalts des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG dar. Darüber hinaus fehle es auch an einer tragfähigen Begründung für die geforderte Abweichung von der KEF-Empfehlung (Rn. 110 der Entscheidung). Hierauf kommt es indes nicht mehr entscheidend an – selbst wenn ein hinreichender Abweichungsgrund bestanden hätte, wäre das Einvernehmen aller Länder herbeizuführen gewesen.
Die Verfassungsbeschwerde der Rundfunkanstalten ist damit begründet – durch die infolge der fehlenden Zustimmung ausgeblieben Erhöhung des Rundfunkbeitrags wurde ihr grundrechtlicher Finanzierungsanspruch nicht erfüllt und ihre Rundfunkfreiheit verletzt. Hier bleibt das BVerfG jedoch nicht stehen: Auf Grundlage des § 35 BVerfGG nimmt es zur Vermeidung weiterer Beeinträchtigungen des Rundfunkfreiheit eine vorläufige Regelung vor und setzt die Regelung des Art. 1 des Ersten Medienänderungsstaatsvertrags, der die Beitragserhöhung vorsieht, übergangsweise in Kraft. Von einer rückwirkenden Änderung ab dem 1.1.2021 sah es ab, die Erhöhung gilt ab dem 20.7.2021, dem Tag der Entscheidung.
 
Ausblick
Die Entscheidung hat große mediale Aufmerksamkeit erfahren und wird kurz- oder langfristig sicherlich ihren Weg in Klausuren und mündliche Prüfungen finden. Neben klassischen Problemen wie dem der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts sowie dem Unterlassen als Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Prüfung auch mit anspruchsvolleren Fragen wie der Herleitung des Finanzierungsanspruchs aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und dem Umgang mit dem Konstrukt des Staatsvertrags verbunden. Die vorläufige Regelung nach § 35 BVerfGG kann insbesondere in mündlichen Prüfungen angesprochen werden. In der Prüfung dürfte es hilfreich – wenn natürlich auch nicht unverzichtbar – sein, das Argumentationsmuster des BVerfG zu kennen, um auf dieser Grundlage zu einer eigenen Lösung zu gelangen.

 

09.08.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-08-09 08:00:492021-08-09 08:00:49BVerfG: Erhöhung des Rundfunkbeitrags nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde
Gastautor

BVerfG: Zur Strafbarkeit wegen Beleidigung durch „FCK BFE“ und ähnliche Abkürzungen

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Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Martha Wendt veröffentlichen zu können. Die Autorin studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und der Sciences Po Paris. Zurzeit absolviert sie ein LL.M.-Studium an der Universität Cambridge.
 
In einer aktuellen Entscheidung (Beschl. v. 20.12.2020 – Az.: 1 BvR 842/19) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) per Beschluss eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich der Beschwerdeführer gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung (§ 185 StGB) aufgrund des Zurschaustellens eines Pullovers mit dem Schriftzug „FCK BFE“ gewendet hatte. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 (Beschl. v. 26.2.2015 – Az.: 1 BvR 1036/14) hatte das BVerfG – auch per Beschluss – einer ähnlichen Verfassungsbeschwerde, die sich gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung aufgrund des Tragens eines Ansteckers mit der Buchstabenkombination „FCK CPS“ als „offensichtlich begründet“ stattgegeben. Ähnlich entschied es 2016 und 2017 in zwei Entscheidungen zur Abkürzung „A.C.A.B“ (Beschl. v. 17.5.2016 – Az.: 1 BvR 257/14; Beschl. v. 16.1.2017 – Az.: 1 BvR 1593/16). Eine weitere Verfassungsbeschwerde, die sich gegen eine Verurteilung wegen Beleidigung aufgrund eines A.C.A.B.-Aufdrucks richtete, nahm das Gericht 2017 hingegen wiederum nicht zur Entscheidung an (Beschl. v. 13.6.2017 – Az.: 1 BvR 2832/15). Es stellt sich somit die Frage, worauf sich die unterschiedliche Bewertung dieser Fälle gründet, die das BVerfG als „erheblich anders“ einstuft (BVerfG, Beschl. v. 20.12.2020, Rz. 10 – FCK BFE). Diese Fragestellung ist sowohl für Examenskandidaten als auch für Studierende der unteren Semester von hoher Prüfungsrelevanz.
 
I. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer, der nach Feststellungen des Amtsgerichts Göttingen der „linken Szene“ angehörte, hatte in der Vergangenheit bereits verschiedene Auseinandersetzungen mit der örtlichen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, kurz BFE. Im Oktober 2017 demonstrierten er und andere Teilnehmer unter dem Motto „Kein Platz für Neonazis in Göttingen“ aus Anlass eines Strafverfahrens gegen einen Angehörigen der rechtsextremen Szene. Dabei trug er „gut sichtbar“ einen Pullover mit der Aufschrift „FCK BFE“. Beamte der BFE forderten den Beschwerdeführer mehrfach unter Verweis auf eine mögliche Strafbarkeit auf, die Aufschrift zu bedecken. Nachdem der Beschwerdeführer nicht reagierte, ordnete ein Beamter die Beschlagnahme des Pullovers an und forderte den Beschwerdeführer auf, den Pullover auszuziehen. Als dieser der Aufforderung nachkam, stellte sich heraus, dass der Beschwerdeführer unter dem Pullover ein T-Shirt mit identischem Aufdruck trug, was vom Beschwerdeführer spöttisch kommentiert wurde. Der Beschwerdeführer wurde später aufgrund dieses Vorfalls vom AG Göttingen wegen Beleidigung verurteilt. Die Sprungrevision blieb erfolglos. Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer, dass sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht hinreichend gewürdigt worden sei.
 
II. Verfassungsrecht vs. Strafrecht
Thematisch behandelt der Fall sowohl verfassungsrechtliche als auch strafrechtliche Fragen. Er könnte also in einer Prüfungssituation sowohl aus strafrechtlicher Sicht gestellt werden („Prüfen Sie die Strafbarkeit von A nach dem StGB“) als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht („Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg“). Die Perspektive ist eine andere, beide Prüfungen kommen aber letztlich zum selben Schluss. Für den Prüfling ist allen voran entscheidend, die Erkenntnisse aus dem Beschluss des Verfassungsgerichts auf die Prüfung übertragen zu können. Hierbei soll die folgende Erläuterung eine Hilfestellung bieten, wobei hier der strafrechtliche Aufbau als Ausgangspunkt gewählt wird. Auf eine Besonderheit bei der verfassungsrechtlichen Prüfung soll jedoch zum Schluss kurz hingewiesen werden.
 
III. Prüfung der Strafbarkeit wegen Beleidigung
1. Tathandlung
Die Beleidigung setzt als erstes Tatbestandsmerkmal die Kundgabe der eigenen Miss- oder Nichtachtung voraus. In der zugrundeliegenden Entscheidung gingen die Gerichte einhellig davon aus, dass die Abkürzung „FCK BFE“ als „Fuck Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ zu verstehen sei. Diese Auslegung liegt auf einer Linie mit früheren Entscheidungen zur Abkürzung „FCK CPS“, bei welcher die Gerichte außerdem hervorgehoben hatten, dass die Abkürzung „mittlerweile einem großen Personenkreis bekannt sei“. Das Wort Fuck bringe auch keine bloße Kritik zum Ausdruck, sondern werde „als Schmäh- oder Schimpfwort verwendet, das eine verächtliche Geringschätzung der so titulierten Person unmittelbar ausdrücke“ (BVerfG, Beschl. v. 20.12.2020, Rz. 3 – FCK BFE). Bei der Abkürzung A.C.A.B. wurde die Bedeutung in früheren Entscheidungen teilweise noch ausführlicher diskutiert. Letztendlich lehnten die Gerichte aber Deutungen als fernliegend ab, wonach A.C.A.B. für „Acht Cola, Acht Bier“, „Autonome Chaoten argumentieren besser” (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.6.2008 – 1 Ss 329/08) oder „All CATS are BEAUTIFUL“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.6.2017, Rz. 4 – A.C.A.B.) stehen sollte.
 
2. Tatobjekt und -erfolg
Im nächste Prüfungsschritt zeigt sich nun der Dreh- und Angelpunkt des Falles: Es geht um die Frage, gegen wen die mögliche Beleidigung gerichtet ist. Hier wird prinzipiell zwischen drei möglichen Konstellationen unterschieden: Beleidigung von Einzelpersonen, von Personengesamtheiten oder Einzelpersonen unter Kollektivbezeichnung (dazu Geppert, NStZ 2013, 553 (556 ff.)). Die Gerichte mussten sich hier folglich damit auseinandersetzen, an wen sich das „FCK BFE“ richten sollte. Dabei stellten sie zunächst fest, dass dem Beschwerdeführer bewusst gewesen sei, dass sich Beamte der örtlichen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit sowie andere mit der Bedeutung des Kürzels vertraute Polizeibeamte vor Ort befinden würden. Der Beschwerdeführer hatte nichtsdestotrotz argumentiert, dass seine Äußerung nicht auf die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Göttingen oder deren Beamte gerichtet gewesen wäre, sondern allgemein auf solche Einheiten bezogen gewesen sei. Dies überzeugte die Gerichte jedoch angesichts der Umstände des Falles nicht. Insbesondere die „gerade die BFE Göttingen betreffende Vorgeschichte“ und das Verhalten bei und nach der Anordnung, den Pullover auszuziehen, sprächen gegen die Argumentation des Beschwerdeführers. In der Feststellung, dass die Aussage an eine spezielle örtliche Einheit der Polizei gerichtet sei, unterscheidet sich der Fall nun beispielsweise von dem Fall des (anlasslosen) Tragens eines „FCK CPS“ Ansteckers in der Öffentlichkeit. In der Entscheidung aus dem Jahr 2015 hatte das BVerfG zunächst erklärt, dass eine auf ein Kollektiv bezogene Aussage unter Umständen auch ein Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein kann. Schränkte dies jedoch zugleich ein:

Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht.
(BVerfG, Beschl. v. 26.2.2015, Rz. 17 – FCK CPS; ebenso BVerfG, Beschl. v. 17.5.2016, Rz. 16 – A.C.A.B.)

Eine allgemeine politische Stellungnahme zur Institution der Polizei und ihrer gesellschaftlichen Funktion ist daher durch die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.12.2020, Rz. 10 – FCK BFE). Unzulässig ist es nach Ansicht des Gerichts ebenfalls, eine auf Angehörige einer Gruppe im Allgemeinen bezogene Aussage als auf eine hinreichend überschaubare Personengruppe bezogen zu behandeln, weil diese eine Teilgruppe der Gruppe bildet (BVerfG, Beschl. v. 26.2.2015, Rz. 17 – FCK CPS). Entscheidend ist nach der Überzeugung des Gerichts eine personalisierende Zuordnung (BVerfG, Beschl. v. 26.2.2015, Rz. 18 – FCK CPS). Ebenso hatte das Gericht auch bereits in der A.C.A.B.-Entscheidung aus 2016 entschieden (BVerfG, Beschl. v. 17.5.2016, Rz. 17 – A.C.A.B.). Es ist also zunächst einmal für die Prüfung unerheblich, welche Abkürzung hier verwendet wird: Wie schon die unterschiedliche Bewertung in den „A.C.A.B.“‑Entscheidungen zeigt, können die Ausdrücke „A.C.A.B.“, „FCK CPS“ und „FCK BFE“ alle je nach Situation entweder straffreie Meinungsäußerungen sein oder strafbare Beleidigungen. Hier kommt es maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls an. Für die Strafbarkeit entscheidend ist, ob ein individueller Bezug einer solchen Aussage zu einer bestimmten Einheit oder einzelnen Beamten hergestellt wird (ebenso Geppert, NStZ 2013, 553 (558 f.)). Der bloße Aufenthalt im öffentlichen Raum beispielsweise beim Spazierengehen, bei dem es zu einem zufälligen Zusammentreffen mit Polizeibeamten kommt, reicht hierfür nicht aus. Anders kann der Fall aber liegen, wenn die despektierliche Aussage bewusst auf Veranstaltungen zur Schau gestellt wird, in denen mit einem Zusammentreffen mit der Polizeieinheit gerechnet wird – wie im aktuellen Fall – oder sich der Äußernde bewusst in die Nähe der Polizei begibt, um diese mit seiner Parole zu konfrontieren (BVerfG, Beschl. v. 17.5.2016, Rz. 17 – A.C.A.B.) oder mit dem Finger auf bestimmte Beamte deutet (OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.6.2008 – Az.: 1 Ss 329/08). Der Grad ist hier zuweilen sehr schmal. Denn nicht ausreichen soll nach Ansicht des BVerfG in der A.C.A.B.-Entscheidung von 2016 wiederum die bloße Tatsache, dass dem Beschwerdeführer bewusst war, dass Einsatzkräfte der Polizei anwesend sein würden, wenn dieser sich nicht bewusst in die Nähe der Einsatzkräfte begeben habe (BVerfG, Beschl. v. 17.5.2016, Rz. 17 – A.C.A.B.). Hier gilt es in der Prüfung also genau mit dem Sachverhalt zu arbeiten. Aus der bisherigen Rechtsprechung lassen sich aber immerhin einige Faktoren herausarbeiten, die für die personalisierende Zuordnung von Relevanz sein können. So können etwa vorangegangene Auseinandersetzungen mit der Polizei (wobei hier aber einschränkend sowohl ein zeitlicher als auch ein örtlicher bzw. sachlicher Zusammenhang gefordert werden sollte), die (mehrfache) Weigerung, die Äußerung nach Aufforderung zu verdecken, der Anlass oder die Art, wie die Aussage kundgegeben wird, bei der Beurteilung eine Rolle spielen. Denkbar wäre auch, dass etwa die Sichtbarkeit und Größe einer verschriftlichten Äußerung (Plakat, Anstecker, Aufdruck etc.) eine Rolle spielen. Unter Umständen ergibt sich die Personalisierung auch erst aus der Kombination verschiedener Faktoren.
Nicht ganz eindeutig ist, ob sich die aktuelle Entscheidung lediglich auf die Beleidigung einzelner Mitglieder des Kollektivs BFE bezieht oder auch auf eine Beleidigung der BFE Göttingen als Personengesamtheit. Im Lichte der früheren Entscheidungen betrachtet, deutet die Formulierung eher auf die Annahme einer Beleidigung einzelner Mitglieder des Kollektivs hin. Denkbar wäre hier aber beides (auch kumulativ, vgl. LG Mannheim, Urt. v. 17.4.1996 – Az.: (10) 5 Ns 16/94).
Für die Beleidigungsfähigkeit einer Personengesamtheit wird allgemein vorausgesetzt, dass diese einen einheitlichen Willen bilden kann und eine rechtlich anerkannte Funktion in der Gesellschaft erfüllt. Sie muss eine eigene Verbandsehre haben. Das wird etwa für die Bundeswehr angenommen, scheitert aber bei „der“ Polizei daran, dass diese keinen einheitlichen Willen bilden kann (vgl. BayObLG, Urt. v. 30.6.1989 – Az.: RReg. 3 St 66/89; ebenso Geppert, NStZ 2013, 553 (557)). Für eine bestimmte Polizeieinheit gilt das aber nicht (vgl. LG Mannheim, Urt. v. 17.4.1996 – Az.: (10) 5 Ns 16/94) und so kann auch davon ausgegangen werden, dass die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Göttingen zur einheitlichen Willensbildung durchaus fähig ist. Hier könnte man folglich davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer aufgrund früherer Auseinandersetzungen mit der BFE Göttingen diese als Einheit ablehnt und damit in ihrer Verbandsehre angreifen wollte. In diesem Fall ist die Abgrenzung der einzelnen Einheit Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine beleidigungsfähige Personenmehrheit vorliegt.
Ebenso gut könnte man auch argumentieren, dass der Beschwerdeführer die einzelnen am Polizeieinsatz vor Ort beteiligten Beamten, die zur BFE gehören, beleidigen wollte. In diesem Fall ist die Eingrenzung jedenfalls im Rahmen der oben erörterten Prüfung der personalisierenden Zuordnung nach der vom BVerfG postulierten „je-desto“-Prüfung relevant. In beiden Fällen kommt man zur Beleidigungsfähigkeit des Adressaten.
 
3. Subjektiver Tatbestand und Rechtfertigung
Nach Ansicht des Tatgerichts handelte der Beschwerdeführer auch vorsätzlich. Bei der Prüfung von Ehrdelikten mit einem Bezug zur Meinungsfreiheit sollte man schließlich immer an den besonderen Rechtfertigungsgrund nach § 193 StGB denken. Die Rechtfertigung scheidet aber bei reiner Diffamierung oder Schmähkritik aus. Das Tatsachengericht sah hier in diesem Sinne „keinerlei sachbezogenen Beitrag im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung“ und schloss daher eine Rechtfertigung aus.
Somit kommt man insgesamt im aktuellen „FCK BFE“-Fall zu einer Strafbarkeit wegen Beleidigung.
 
IV. Exkurs zur verfassungsrechtlichen Prüfung
Verfassungsrechtlich soll an dieser Stelle nur auf eine Besonderheit beim Prüfungsmaßstab des BVerfG bei derartigen Konstellationen noch einmal gesondert eingegangen und hingewiesen werden. Prinzipiell gilt, dass ein Rechtsträger sich nur noch durch Erhebung einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG gegen ein Urteil zur Wehr setzen kann, wenn der ordentliche Rechtsweg erschöpft ist.  Allerdings handelt es sich hierbei um einen außerordentlichen Rechtsbehelf, mit dem lediglich die spezifische Verletzung von Grundrechten gerügt werden kann. „Das BVerfG ist kein Superrevisionsgericht“ – ein Satz, der wohl jedem Juristen in Fleisch und Blut übergeht. Das heißt, es findet grundsätzlich keine Prüfung der Auslegung und Anwendung von einfachem Recht statt, sondern es wird lediglich geprüft, ob ein Gericht die Reichweite eines Grundrechtes prinzipiell verkannt hat. Bei den Kommunikationsgrundrechten nach Art. 5 (vor allem der Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit) gilt es nach der Rechtsprechung des BVerfG allerdings eine Besonderheit zu beachten. Hier prüft das BVerfG auch, ob die Gerichte die Meinungsäußerung richtig ausgelegt haben. So verstoße

die Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind.
(st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.1976 – Az.: 1 BvR 460/72)

Das bedeutet bezogen auf die aktuelle Problematik des Beleidigungsadressaten:

[…] insoweit ist, wenn der sprachliche Zusammenhang und die außertextlichen Begleitumstände des konkreten Einzelfalls eine Deutung zulassen, welche die inkriminierte Äußerung als eine vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckte allgemeine oder anlassbezogene Kritik an dem Kollektiv selbst ohne erkennbar ehrverletzenden Bezug zu einzelnen individualisierbaren Angehörigen des Kollektivs erscheinen lassen, dieser grundrechtsschonenden, bereits die objektive Tatbestandsmäßigkeit der Beleidigung entfallen lassenden Deutungsvariante grundsätzlich und regelmäßig der Vorzug zu geben.
(OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.7.2012 – Az.: 1 (8) Ss 64/12 – AK 40/12)

Die Meinungsfreiheit kann im Rahmen der Prüfung einer Strafbarkeit nach § 185 StGB folglich an zwei Stellen relevant werden: Zunächst und vorrangig bei der Auslegung des Tatbestands. Und zum anderen im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung nach § 193 StGB.
 
IV. Fazit
Der aktuelle Beschluss des BVerfG zu „FCK BFE“ reiht sich in eine Folge kontinuierlicher Entscheidungen ein. Es handelt sich um einen „Klassiker“, bei dem der Prüfling jedoch besonders genau auf die Details des Sachverhalts achten sollte. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung die personalisierende Zuordnung. Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung überrascht es folglich keineswegs, dass die auf den ersten Blick ähnlich wirkenden Sachverhaltskonstellationen zum „FCK CPS“-Anstecker und zum „FCK BFE“-Pullover hier unterschiedlich bewertet wurden.

04.02.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-02-04 09:00:382021-02-04 09:00:38BVerfG: Zur Strafbarkeit wegen Beleidigung durch „FCK BFE“ und ähnliche Abkürzungen
Dr. Maike Flink

BVerfG: „Kuttenverbot“ für Rocker verfassungsgemäß

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 9.7.2020 (Az. 1 BvR 2067/17, 1 BvR 424/19, 1 BvR 4423/18) die Verfassungsbeschwerden mehrerer lokaler Teilgruppierungen sowie einzelner Mitglieder verschiedener Motorradclubs (MC Gremium, Hells Angels und Bandidos) gegen das aus § 9 Abs. 3 VereinsG folgende „Kuttenverbot“ und die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG abgewiesen (vgl. unseren Bericht zur Erhebung der Verfassungsbeschwerden: Vereinsrecht: Verschärfung des Kennzeichenverbotes).
 
I. Sachverhalt
Der Gesetzgeber hatte mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (VereinsG) vom 10.3.2017 den § 9 Abs. 3 VereinsG ins das Vereinsgesetz eingefügt und die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG verändert. § 9 Abs. 1 VereinsG regelte schon bislang ein Verbot öffentlich, in einer Versammlung oder medial die Kennzeichen eines verbotenen Vereins zu verwenden. Der neu gefasste § 9 Abs. 3 VereinsG erstreckt dieses in § 9 Abs. 1 VereinsG enthaltene Verbot nunmehr auch auf Kennzeichen, die in „im Wesentlichen gleicher Form“ von nicht verbotenen Teilorganisationen oder von selbstständigen Vereinen verwendet werden. Die Norm lautet:

„Absatz 1 gilt entsprechend für Kennzeichen eines verbotenen Vereins, die in im Wesentlichen gleicher Form von anderen nicht verbotenen Teilorganisationen oder von selbständigen Vereinen verwendet werden. Ein Kennzeichen eines verbotenen Vereins wird insbesondere dann in im Wesentlichen gleicher Form verwendet, wenn bei ähnlichem äußerem Gesamterscheinungsbild das Kennzeichen des verbotenen Vereins oder Teile desselben mit einer anderen Orts- oder Regionalbezeichnung versehen wird.“

Zuwiderhandlungen gegen dieses Verbot stellt § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG unter Strafe: Möglich sind eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe.
Die Beschwerdeführer richteten sich gegen die geänderten Normen: Ihre Mitglieder tragen typische Symbole wie den „Death Head“ der Hells Angels oder den „Fat Mexican“ der Bandidos als einheitlich genutztes Vereinslogo auf ihren „Kutten“ und haben dieses Logo nicht selten auch auf dem Körper tätowiert. Allerdings seien die Teilorganisationen, denen sie angehören – was insbesondere einzelne Ortsverbände betrifft –, nicht verboten, sodass das Kennzeichenverbot sich für sie als nachträglich ausgesprochene „Sippenhaft“ darstelle. Durch die Neuregelung sei das Kennzeichenverbot eben nicht mehr – wie bislang – streng akzessorisch zum Vereinsverbot, sondern erstrecke sich auch auf von dem Verbot nicht Betroffene. Dadurch sehen sich die Beschwerdeführer unter anderem in ihrem Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), in ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG) und ihrer Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) verletzt.
 
II. Die Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführer jedoch abgelehnt. Dabei hat das Gericht bewusst offen gelassen, ob die vereinsrechtlichen Kennzeichenverbote vorrangig an der Versammlungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG oder an der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG zu messen sind, da die Eingriffe in diese Grundrechte ohnehin gerechtfertigt seien. Dennoch ließ das Gericht eine Tendenz erkennen, vorrangig Art. 9 Abs. 1 GG heranzuziehen, wozu es ausführt:

„Es spricht viel dafür, die Kennzeichenverbote in erster Linie an Art. 9 GG zu messen (vgl. BVerfGE 28, 295 <310>; 149, 160 <192 Rn. 98; 200 f. Rn. 113 f.>). Das gilt jedenfalls für die Rechte von Vereinigungen selbst und von deren Mitgliedern. Daneben kann die Verwendung von Kennzeichen durch nicht organisierte Einzelpersonen – wie bei § 86a StGB – auch als Ausdruck einer Meinung an Art. 5 Abs. 1 GG zu messen sein (vgl. BVerfGE 93, 266 <289>), doch knüpft die Verbotsnorm weiter an das Verbot einer Vereinigung an, deren Symbole aus der Öffentlichkeit verbannt werden sollen (vgl. BTDrucks 14/7386 [neu], S. 49; BTDrucks 18/9758, S. 7).“

 
1.Verletzung von Art. 9 Abs. 1 GG
 Auf dieser Grundlage hat sich das Gericht zunächst mit einer möglichen Verletzung der Vereinigungsfreiheit auseinander gesetzt.
 
a) Eingriff in den Schutzbereich
Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Eine Vereinigung ist dabei ein freiwilliger Zusammenschluss mehrerer Personen, der auf eine gewisse Dauer angelegt ist und über eine gewisse organisatorische Festigkeit sowie eine gemeinsame Willensbildung verfügt und zu einem gemeinsamen Zweck erfolgt. Geschützt ist sowohl für die Mitglieder als auch für die Vereinigung selbst das Recht auf Entstehen und Bestehen in der gemeinsamen Form, aber auch die Mitgliederwerbung und die Selbstdarstellung sowie das Namensrecht. Die öffentliche Verwendung der Vereinskennzeichen stellt in diesem Zusammenhang einen Beitrag zur Erhaltung der Vereinigung dar, dient aber auch der Mitgliederwerbung und der Selbstdarstellung.

„Für die Identität der hier beteiligten Motorrad-Vereinigungen ist das öffentliche Verwenden der Kennzeichen auf ihren „Kutten“ sogar von grundlegender Bedeutung. Die für die jeweilige Dachorganisation stehenden „Top-Rocker“ und „Central Patches“ sind aus ihrer Sicht wie der Name der Vereinigung (vgl. BVerfGE 30, 227 <241 f.>) Ausdruck des Zusammenhalts und der gemeinsamen Identität; sie werden seit Jahrzehnten weitgehend unverändert genutzt, haben einen hohen Wiedererkennungseffekt und dienen auch der Anwerbung neuer sowie der Anbindung aktueller Mitglieder (dazu u.a. Bock, JZ 2016, S. 158 ff.).“

Durch die Neuregelung des § 9 Abs. 3 VereinsG sowie des § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG wird die Verwendung des Vereinskennzeichens verboten bzw. die Zuwiderhandlung gegen dieses Verbot unter Strafe gestellt, sodass sie als zwangsläufige Folge eines Vereinsverbots zu einer gezielten Verkürzung der Vereinigungsfreiheit führt. Sie stellt mithin einen Eingriff dar.
 
b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Dieser Eingriff ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts allerdings gerechtfertigt, da er insgesamt keine unverhältnismäßige Einschränkung der Vereinigungsfreiheit bedeutet:
Zunächst verfolgt der Gesetzgeber mit dem Kennzeichnungsverbot ein legitimes Ziel: Er möchte abstrakte Gefahren abwehren, die mit dem Kennzeichen verbunden sind und das Vereinsverbot tatsächlich durchsetzen. Daher ist auch nur die Verwendung solcher Kennzeichen verboten, die „in im Wesentlichen gleicher Form“ verwendet werden, bei denen also erkennbar ist, dass sich die Träger des Kennzeichens eindeutig mit der verbotenen Vereinigung identifizieren, die dieses Kennzeichen in ähnlicher Form ebenfalls verwendet. Entscheidend ist ein ähnliches äußeres Gesamterscheinungsbild. Davon ist – wie § 9 Abs. 3 S. 2 VereinsG klarstellt ­– beispielsweise auszugehen, wenn die nicht verbotene Vereinigung das Kennzeichen der verbotenen Vereinigung lediglich mit einer abweichenden Ortsbezeichnung weiter verwendet.
Darüber hinaus ist das Kennzeichenverbot zur Erreichung dieser Ziele auch geeignet, wie das Gericht ausführt:

„Wären die Kennzeichen der im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 GG verbotenen Vereinigung mit einer abweichenden Ortsbezeichnung weiter präsent, liefe der Versuch, organisierte Aktivitäten zu unterbinden, die der Rechtsordnung fundamental zuwiderlaufen, weitgehend leer. Der Gesetzgeber darf insoweit davon ausgehen, dass eine Schwestervereinigung, die sich wie der verbotene Verein nach außen präsentiert, gleichermaßen für die strafbaren Aktivitäten oder verfassungswidrigen Bestrebungen des verbotenen Vereins steht (BTDrucks 18/9758, S. 8). Die hier angegriffenen Regelungen fördern jedenfalls den Zweck, die Kennzeichen verbotener Vereine effektiv aus der Öffentlichkeit zu verbannen.“

Das Kennzeichenverbot ist auch erforderlich, um die verfolgten Ziele zu erreichen. Insofern steht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, wobei nicht erkennbar ist, dass er diese mit seiner Einschätzung, dass weniger einschneidende, ebenso effektive Mittel nicht ersichtlich sind, überschritten hat. 
Das Kennzeichenverbot ist auch angemessen, die eintretenden Nachteile stehen nicht außer Verhältnis zu den erstrebten Vorteilen. Zwar stellt das Verbot für die Beschwerdeführer einen schweren Eingriff in ihre Vereinigungsfreiheit dar. Denn gerade das öffentliche Tragen der Vereinskennzeichen als Teil ihrer Selbstdarstellung ist für sie besonders wichtig, um ihre Zugehörigkeit zur Vereinigung zu verdeutlichen. Die besondere Bedeutung des Vereinskennzeichens zeigt sich bereits dadurch, dass die betroffenen Vereinigungen regelmäßig detailliert regeln, wer unter welchen Voraussetzungen ihre Kennzeichen in der Öffentlichkeit verwenden darf. Verschärft wird die Schwere des Verbots zudem dadurch, dass die Verwendung der Kennzeichen in der Öffentlichkeit, in einer Versammlung sowie ihre mediale Verbreitung nunmehr nach § 20 Abs. 1 S. 2 VereinsG strafbewehrt ist. Demgegenüber muss jedoch ebenfalls berücksichtigt werden, dass eben nicht jedwede Verwendung des Kennzeichens untersagt ist, sondern die private Verwendung weiterhin zulässig bleibt. Außerdem wird nur die Verwendung „in wesentlich gleicher Form“ verboten, sodass das Kennzeichenverbot nur dann eingreift, wenn das äußere Gesamterscheinungsbild dem Kennzeichen der verbotenen Vereinigung insgesamt erkennbar ähnelt. Zwar wirkt die Strafbewehrung des Verbots eingriffserhöhend, allerdings handelt es sich allein um ein Vergehen, das mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe belegt wird, wobei das Gericht nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 VereinsG unter Umständen sogar ganz von einer Bestrafung absehen kann. Demgegenüber verfolgt der Gesetzgeber gewichtige Interessen:

„Insbesondere ist das Kennzeichenverbot untrennbar mit einem Vereinsverbot verknüpft, das als Instrument präventiven Verfassungsschutzes auf den Schutz von Rechtsgütern hervorgehobener Bedeutung zielt (vgl. BVerfGE 149, 160 <196 Rn. 104>). Nur in Art. 9 Abs. 2 GG ausdrücklich genannte Gründe – der eine Vereinigung prägende, also organisierte Verstoß gegen Strafgesetze (a.a.O., Rn. 106), die kämpferisch-aggressive Ausrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung (a.a.O., Rn. 108) und die Ausrichtung auf Gewalt in den internationalen Beziehungen oder vergleichbare völkerrechtswidrige Handlungen und damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung (a.a.O., Rn. 112) – rechtfertigen ein Verbot. Nur unter dieser Voraussetzung kann die Verwendung von Kennzeichen verboten werden, da dieses Verbot dem Vereinsverbot materiell folgt. Damit tragen die Rechtsgüter, zu deren Schutz eine Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG ausdrücklich verboten werden kann, auch das Verbot ihre Kennzeichen, öffentlich, in einer Versammlung oder medial verbreitet zu verwenden.“

Vor diesem Hintergrund ist der Eingriff in Art. 9 Abs. 1 GG gerechtfertigt.
 
2. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG
 Diese Erwägungen überträgt das Gericht auch auf die Prüfung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var 1 GG: Auch ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist gerechtfertigt: Die angegriffenen Normen sind allgemeine Gesetze i.S.v. Art. 5 Abs. 2 S. 1 GG, da sie die in Art. 9 Abs. 2 GG benannten Rechtsgüter schützen und nicht an den konkreten Inhalt des Kennzeichens, sondern allein an das formale Verbot der Vereinigung anknüpfen. Zudem kann dem Bedeutungsgehalt des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG bei der Auslegung und Anwendung von § 9 Abs. 3 VereinsG sowie § 20 Abs. 1 Nr. 5 VereinsG ohne Weiteres Rechnung getragen werden, sodass auch kein Verstoß gegen die Wechselwirkungslehre vorliegt.
 
3. Verletzung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG
Letztlich lehnt das Gericht auch eine Verletzung der Eigentumsfreiheit des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ab. Zwar erkennt das Bundesverfassungsgericht an, dass die Kennzeichen, die auf den „Kutten“ der Vereinsmitglieder angebracht sind, ebenso wir die „Kutten“ selbst in den Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG fallen und sie damit durch das Verbot, diese in der Öffentlichkeit zu verwenden, in der Nutzung ihrer Eigentumsposition eingeschränkt werden. Diese Beeinträchtigungen seien jedoch gerechtfertigt, wie das Gericht knapp ausführt:

„Die angegriffenen Normen bewirken keine Enteignung (vgl. BVerfGE 20, 351 <359>), sondern eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Verwendungsverbote sind insofern Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums und aus den für die Einschränkungen der Art. 9 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 GG geltenden Gründen verhältnismäßig.“

Damit scheidet auch eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG aus.
 
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass, sich erneut mit der in Klausuren immer wieder beliebten Meinungsfreiheit sowie der Eigentumsfreiheit auseinanderzusetzen, sondern sollte auch als Anknüpfungspunkt genutzt werden, um sich vertieft mit dem in der Prüfungsvorbereitung häufig stiefmütterlich behandelten Art. 9 Abs. 1 GG zu beschäftigen. Denn wie die Entscheidung zeigt, kann das Grundrecht nicht allein im Hinblick auf ein vollständiges Vereinsverbot, sondern auch für damit zusammenhängende Maßnahmen erhebliche Bedeutung gewinnen. Die dargestellte Entscheidung hat der Thematik erneut Aktualität verliehen, wodurch auch in Prüfungen jederzeit erwartet werden muss, dass sie aufgegriffen wird.
 
 

24.08.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-08-24 08:40:122020-08-24 08:40:12BVerfG: „Kuttenverbot“ für Rocker verfassungsgemäß
Gastautor

Aktuelles zur Meinungsfreiheit und „Hass im Netz“

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Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Alina Marko veröffentlichen zu können. Alina Marko ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Informations- und Datenrecht der Universität Bonn (Prof. Dr. Louisa Specht-Riemenschneider).
Das Thema „Hass im Netz“ ist regelmäßig Teil aktuellen Tagesgeschehens. Zuletzt hat das Bundeskabinett Maßnahmen beschlossen, nach denen fragwürdige Äußerungen nicht lediglich zu löschen, sondern auch an die Strafverfolgungsbehörden zu melden sind. Ein Gesetzentwurf zur Umsetzung dieses Maßnahmenpaketes wurde bereits auf den Weg gebracht (BR-Drs. 87/20). Dabei kommt kontinuierlich die Frage auf, welche Äußerungen noch von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit umfasst sind bzw., ob Eingriffe in sie gerechtfertigt werden können. Im September letzten Jahres löste der Beschluss des LG Berlin, der die Bezeichnung einer Bundespolitikerin als – unter anderem – „Stück Scheiße“ oder „Geisteskranke“ nicht als strafbare Beleidigung wertete (LG Berlin, Beschluss vom 09.09.2019 – 27 AR 17/19, MMR 2019, 754 ff.), eine breite Fach- und Mediendiskussion aus. In dem Verfahren wollte die Politikerin erreichen, dass Facebook personenbezogene Daten von 22 Nutzern herausgeben darf, um wiederrum im nächsten Schritt zivilrechtlich gegen diese Nutzer vorgehen zu können. Im Januar dieses Jahres half das Landgericht ihrer Beschwerde zwar teilweise ab – sechs von 22 geprüften Kommentaren wurden nun doch als Beleidigung bewertet –, die Entscheidung ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Über die 16 Fälle, in denen der Beschwerde nicht abgeholfen wurde, wird nun das Kammergericht als Beschwerdeinstanz zu befinden haben. Es zeigt sich, wie umstritten die Einordnung des noch vom Schutzumfang der Meinungsfreiheit Umfassten ist und, dass die Betrachtung dieses Problemfeldes großer Sorgfalt bedarf. Die Meinungsfreiheit hat einen besonders hohen Stellenwert in der Gesellschaft, da ihr neben Individualschutz eine objektiv-rechtliche Leitbildfunktion in der Demokratie zukommt. Der Schutzumfang der Meinungsfreiheit sollte Examenskandidaten nicht nur in der Grundrechtsprüfung im öffentlichen Recht bekannt sein. Von Bedeutung ist er ebenfalls sowohl im Rahmen von Beleidigungsdelikten im Strafrecht, als auch etwa bei Schadensersatz-, Unterlassungs-, Widerrufs-, Berichtigungs- und Ersatzansprüchen im Zivilrecht.
I. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 1. Fall GG hat „jeder“ das Recht, seine Meinung frei zu äußern, sodass persönlich natürliche Personen sowie – bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 3 GG – auch juristische Personen und Personenvereinigungen vom Schutzbereich umfasst sind. Organträger in ihrer amtlichen Eigenschaft können sich allerdings nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. In Fällen staatlicher Informationsarbeit können sie beispielsweise auf ihre verfassungsunmittelbare Aufgabe zur Staatsleitung zurückgreifen.
Sachlich geschützt wird sowohl positiv die Äußerung der Meinung als auch negativ das Recht, seine Meinung nicht zu äußern, wobei Meinungen durch ein Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung oder sonstigen sozialen Kommunikation sind. Aufgrund ihrer Subjektabhängigkeit gibt es keine wahren oder unwahren Meinungen. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Äußerung rational, emotional, begründet oder grundlos ist und, ob sie von anderen als wertvoll eingeschätzt wird. Meinungen sind Ausdruck individueller Anschauung. Auch polemische oder verletzende Formulierungen sind zunächst nicht dem Schutzbereich des Grundrechts entzogen (vgl. z. B.  BVerfG, Beschluss v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92 u. 1 BvR 221/92, NJW 1995, 3303 – „Soldaten sind Mörder“). Liegt ein meinungsbildender Charakter vor, wird auch die kommerziellen Zwecken dienende Wirtschaftswerbung geschützt (z. B. Schock- oder Imagewerbung, vgl. BVerfG, Urt. v. 12. 12. 2000 – 1 BvR 1762/95 u. 1787/95, NJW 2001, 591). Wer auf Internetplattformen eigene Meinungen verbreitet, muss sich diese, aber auch Kommentare Dritter zurechnen lassen.
Von Meinungsäußerungen abzugrenzen sind Tatsachenbehauptungen. Im Gegensatz zu Werturteilen sind diese wahr oder falsch und damit dem Beweis zugänglich. Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit sind Tatsachenbehauptungen insoweit erfasst, als dass sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind. Sogar unrichtige Tatsachenbehauptungen werden geschützt, wenn diese unbewusst oder fahrlässig erfolgen. Wurde eine unwahre Tatsache allerdings bewusst geäußert oder ist sie erwiesenermaßen unwahr, unterfällt sie – da die nichts zur verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung beitragen kann – nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit.
II. Eingriff
Ein Eingriff liegt grundsätzlich in jeder Anordnung der öffentlichen Gewalt, die die Meinungsäußerung oder -verbreitung verbietet, behindert, sanktioniert, unmöglich macht oder faktisch unterbindet (moderner Eingriffsbegriff). Hervorzuheben ist, dass Eingriffe durch zivilrechtliche Verurteilungen zur Unterlassung einer Aussage, zur Zahlung von Schmerzensgeld oder auch durch strafrechtliche Verurteilungen wegen Beleidigungen erfolgen können.
III. Rechtfertigung
Die Rechtfertigung orientiert sich grundsätzlich an dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG (sog. Schrankentrias). Dabei sind die Schranken nicht grenzenlos, sondern ihrerseits sog. Schranken-Schranken unterworfen. Bei der Prüfung der Meinungsfreiheit gilt für die Schranken-Schranken speziell die Wechselwirkungslehre, die letztlich als „Frühform“ der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu verstehen ist. Legitime Beschränkungsziele stellt insbesondere der in der Schrankentrias erwähnte Jungend- und Ehrschutz dar, darüber hinaus aber auch jedes andere öffentliche Interesse, das verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist.
1. Allgemeine Gesetze
Der Begriff der allgemeinen Gesetze ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sie für eine Vielzahl von Fällen gelten. Welche Anforderungen an sie zu stellen sind, ist seit Weimarer Zeiten umstritten. Nach der Abwägungslehre ist ein Gesetz allgemein, wenn das von ihm geschützte Rechtsgut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit. Die Sonderrechtslehre erkennt Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsäußerung als solche oder gegen eine bestimmte Meinung richten, als allgemeine Gesetze an. Problematisch am ersten Ansatz ist, dass konkrete Äußerungsinhalte in die Abwägung einfließen könnten; am zweiten Ansatz, dass extrem radikale Meinungsäußerungen nie verboten werden könnten. Diesen Gefahren wirkt das Bundesverfassungsgericht mit der Kombinationslehre entgegen und bestimmt allgemeine Gesetze als solche, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern die dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen.
2. Jugendschutz
Die Einschränkungsmöglichkeiten des Jugend- und Ehrschutzes erweisen sich nur als klarstellend und müssen deshalb ebenfalls die Anforderungen der allgemeinen Gesetze erfüllen.
Hinsichtlich der Einstufung von Äußerungen als „jugendgefährdend“ und dem Thema „Hass im Netz“ entschied das Bundesverfassungsgerichts zuletzt, dass es nicht genügt, Äußerungen im Internet pauschal als „jugendgefährdend“ zu werten (BVerfG, Beschluss v. 27.8.2019 – 1 BvR 811/17, NJW 2019, 3567). Obwohl auf einer Internetpräsenz drastische und schwer tolerierbare Meinungsäußerungen zur Flüchtlingspolitik abgegeben wurden, sei eine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit der Bedeutung der beanstandeten Äußerungen erforderlich. Fachgerichten obliegt es, Auslegungskriterien zugrunde zu legen, die der Bedeutung der Jugendschutzmaßnahmen für Internetangebote im Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen. Die hier in Rede stehende, angegriffene Entscheidung des AG Berlin-Tiergarten (AG Berlin-Tiergarten (Urt. v. 10.10.2016 – [327 OWi] 3034 Js – OWi 3211/16[187/16]) genügte diesen Anforderungen jedenfalls nicht, indem in ihr pauschal festgestellt wurde, dass eine Jugendgefährdung aus grob vereinfachten Darstellungen, Slogans und Kommentaren folge, die geeignet seien, ein überzogen simplifiziertes Weltbild zu fördern und zur undifferenzierten Ablehnung ganzer Bevölkerungsgruppen und aggressiver Feindseligkeit gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten beizutragen.
3. Ehrschutz
Das Recht der persönlichen Ehre findet seine verfassungsrechtliche Verankerung im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und wird einfachgesetzlich durch zivil- und strafrechtliche Vorschriften konkretisiert. Der sachliche Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst das Recht auf Selbstentfaltung und Selbstdarstellung. Herabsetzende Äußerungen, die geeignet sind, den Betroffenen in ein schlechtes Licht zu rücken oder seine Persönlichkeitsentfaltung in sonstiger Weise erheblich zu beeinträchtigen, greifen in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ein. Persönlichkeitsrechtsverletzungen können im Zusammenhang mit Satire sowie dem häufig verwendeten Begriff der „Schmähkritik“, einem Thema das durch das „Schmähgedicht“ von Jan Böhmermann befeuert wurde, entstehen. Bei der Deutung einer Meinungsäußerung als Schmähkritik ist allerdings große Sorgfalt geboten. Sogar überzogene und ausfällige Kritik ist nicht als Schmähkritik zu beurteilen, sofern sie anlassbezogen ist. Geht es aber nicht mehr um die Auseinandersetzung in einer Sache, sondern um die bloße Diffamierung einer Person, handelt es sich um Schmähkritik, bei der der Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts überwiegt. Vertretbar ist auch die Beurteilung, dass Schmähkritik gar nicht erst in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt, weil sie nicht der Auseinandersetzung in der Sache dient und es deshalb auch gar nicht erst einer Abwägung bedarf. Hinsichtlich Jan Böhmermanns „Schmähgedicht“, in dem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beispielsweise als „Ziegenficker“ bezeichnet wurde, untersagte das LG Hamburg die weitere Verbreitung von Teilen des Gedichts (LG Hamburg, Urt. v. 10.02.2017 – 324 O 402/16, BeckRS 2017, 101443). Die vom Beklagten vorgetragene Absicht zur Präsentation des Gedichtes, nämlich im Rahmen seiner Satiresendung „N. M. R.“ einen satirischen Diskurs über die tatsächlichen Grenzen des Ehrenschutzes in Deutschland zu gestalten, führe nicht zur Zulässigkeit der fraglichen Passagen. Das „Gedicht“ bleibe auch ohne die untersagten Passagen als kritische Auseinandersetzung mit dem Kläger verständlich. Während Böhmermann gegen diese zivilrechtliche Entscheidung Verfassungsbeschwerde einlegte, unterblieb eine Strafverfolgung, da die zuständige Staatsanwaltschaft jedenfalls keinen Vorsatz erkennen konnte. Im Fall der Satire ist die Prüfung des Vorsatzes insbesondere problematisch, weil der Täter annehmen könnte, der andere werde die Äußerung ebenfalls nur als Scherz verstehen (kritisch zum Fall Böhmermann z. B. Fahl, NStZ 2016, 313 (317)).
4. Verfassungsimmanente Schranken
Wird Art. 5 GG zweckentfremdet, können auch andere Normen des Grundgesetzes die Meinungsäußerungsfreiheit limitieren. Mit § 130 Abs. 4 StGB, der die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellt, sich damit gegen eine konkrete Überzeugung richtet und daher kein allgemeines Gesetz darstellt, billigte das Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts ausnahmsweise Sonderstrafrecht (BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47 – „Wunsiedel“).
IV. Schlussfolgerung
Das Bundesverfassungsgericht lässt eine unachtsame Auseinandersetzung mit der Meinungsfreiheit von Fachgerichten nicht zu. Auszulegen ist eine Äußerung nicht Wort für Wort, sondern im Gesamtkontext. Herabsetzungen können bei isolierter Betrachtung vergleichbar erscheinen, aufgrund des Gesamtzusammenhangs aber unterschiedlich zu bewerten sein. Allerdings setzt eine zulässige Meinungsäußerung stets die Auseinandersetzung in der Sache voraus. Wie auf Grundlage dieser Maßstäbe z. B. die Feststellung des LG Berlin, der in Bezug auf einen anderen Post abgegebene Kommentar „Schlampe“ sei nicht eine von der Äußerung im kommentierten Post losgelöste, primär auf eine Diffamierung der Person gerichtete Äußerung, ist daher zu hinterfragen.
 

23.03.2020/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2020-03-23 09:00:192020-03-23 09:00:19Aktuelles zur Meinungsfreiheit und „Hass im Netz“
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 1: Verfassungsrecht

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Beschl. v. 23.7.2019 – 1 BvR 2433/17): Fälschliche Einordnung prozessualer Äußerung als Schmähkritik verletzt Meinungsfreiheit
Das BVerfG hat kürzlich die Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik erneut konkretisiert. Dabei hat das Gericht herausgestellt, dass bei der Qualifizierung einer Aussage als Schmähkritik strenge Maßstäbe anzulegen sind. Erforderlich ist, dass die Äußerung tatsächlich auf die bloße Herabsetzung und Diffamierung einer anderen Person gerichtet ist, ohne sich inhaltlich mit der Sache auseinander zu setzen. Besonders hervorgehoben hat das BVerfG, dass auch Anlass und Kontext der Äußerung Berücksichtigung finden müssen um zu ermitteln, ob sie tatsächlich jedes sachlichen Bezugs entbehrt und auf eine persönliche Diffamierung gerichtet ist oder vielmehr ein Anlass für die jeweilige Aussage ausgemacht werden kann. So kann der Vergleich der Verhandlungsführung einer Richterin mit „einschlägigen Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“ oder einem „mittelalterlichen Hexenprozess“ nicht von vornherein als Schmähkritik eingeordnet werden. Das BVerfG formuliert dazu:

„Die Äußerungen entbehren […] nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen auch nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Die Äußerungen lassen nicht ohne weiteres den Schluss zu, der Beschwerdeführer habe der Richterin eine nationalsozialistische oder „mittelalterliche“ Gesinnung unterstellen wollen. Historische Vergleiche mit nationalsozialistischer Praxis begründen für sich besehen nicht die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.“

Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 18.7.2019 – 1 BvL 1/18, 1 BvR 1595/18, 1 BvL 4/18) zur Verfassungskonformität der Mietpreisbremse
Ein großes mediales Echo hat auch die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungskonformität der Mietpreisbremse hervorgerufen. So stellte das Gericht fest:

„Die Regulierung der Miethöhe bei Mietbeginn durch § 556d Abs. 1 BGB verstößt in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren weder gegen die Garantie des Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen die Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG noch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.“

Schwerpunktmäßig hat das BVerfG sich in seinem Beschluss mit der Vereinbarkeit des § 556d Abs. 1 BGB mit Art. 14 Abs. 1 GG beschäftigt: Ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ist jedoch abzulehnen, da die Regelung eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Sie verfolgt das legitime Ziel, „durch die Begrenzung der Miethöhe bei Wiedervermietung der direkten oder indirekten Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken“. Indem sie Preisspitzen auf angespannten Wohnungsmärkten abschwächt, kann sie den Zugang einkommensschwacher Mieter zu Wohnraum schaffen und ist damit geeignet, den verfolgten Zweck zu erreichen, ohne dass vergleichbar wirksame, mildere Mittel zur Verfügung stehen. Letztlich ist die Regelung nach Ansicht des Gerichts auch angemessen, denn der Gesetzgeber hat die Belange von Mietern und Vermietern in einen sachgerechten Ausgleich gebracht. Den Interessen der Mieter kommt dabei besonderes Gewicht zu:

„Die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung geht auf der anderen Seite umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht […]. Das trifft auf die Miethöhenregulierung in besonderem Maße zu. Eine Wohnung hat für den Einzelnen und dessen Familie eine hohe Bedeutung […].“

Demgegenüber entsteht keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung seitens der Betroffenen Vermieter, denn auch eine nachträgliche Verschlechterung der Nutzungsmöglichkeiten bestehender Eigentumspositionen kann zulässig sein. So führt das Gericht aus:

„Auf dem sozialpolitisch umstrittenen Gebiet des Mietrechts müssen Vermieterinnen und Vermieter […] mit häufigen Gesetzesänderungen rechnen und können nicht auf den Fortbestand einer ihnen günstigen Rechtslage vertrauen […]. Ihr Vertrauen, mit der Wohnung höchstmögliche Mieteinkünfte erzielen zu können, wird durch die Eigentumsgarantie nicht geschützt, weil ein solches Interesse seinerseits vom grundrechtlich geschützten Eigentum nicht umfasst ist.“

Eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Interessen der betroffenen Vermieter ist zudem abzulehnen, da die ortsübliche Vergleichsmiete dem Vermieter einen am örtlichen Markt orientierten Mietzins sichert und damit die Wirtschaftlichkeit der Vermietung erhalten bleibt.
 
BVerfG (Beschl. v. 9.7.2019 – 1 BvR 1257/19) zur Strafbarkeit des faktischen Leiters einer nicht angemeldeten Versammlung
Das BVerfG hatte die Vereinbarkeit der Strafnorm des § 26 Nr. 2 VersG mit Art. 8 Abs. 1 GG zu beurteilen. § 26 Nr. 2 VersG bestimmt: „Wer als Veranstalter oder Leiter eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung (§ 14) durchführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ An der Verfassungskonformität der Norm bestehen dabei grundsätzlich keine Zweifel. Dies gilt nach der Ansicht des Gerichts auch, sofern sie dahingehend ausgelegt wird, dass auch der bloß faktische Versammlungsleiter einer nicht angemeldeten Veranstaltung als tauglicher Täter eingeordnet wird:

 „Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken.“

Es bestehen auch keine Bedenken, dass dies zu einer Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Veranstaltung führen könnte, denn es ist nur derjenige als Versammlungsleiter einzuordnen, der den Ablauf der Versammlung, ihre Unterbrechungen und ihre Schließung bestimmt. 
Vgl. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 2.7.2019 – 1 BvR 385/16) zur Verfassungskonformität eines Vereinsverbots
Das BVerfG hat sich mit der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Vereinsverbots am Maßstab von Art. 9 Abs. 2 GG beschäftigt. Gem. Art. 9 Abs. 2 GG ist ein Vereinsverbot dabei gerechtfertigt, wenn sich die jeweilige Vereinigung gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, also insbesondere, wenn sie schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen aktiv propagiert und fördert. Dabei gilt:

„Der Verbotstatbestand kann auch dann erfüllt sein, wenn die Vereinigung sich durch die Förderung Dritter gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet; Dazu gehört die finanzielle Unterstützung terroristischer Handlungen und Organisationen, wenn diese objektiv geeignet ist, den Gedanken der Völkerverständigung schwerwiegend, ernst und nachhaltig zu beeinträchtigen, und die Vereinigung dies weiß und zumindest billigt.“

30.09.2019/0 Kommentare/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-09-30 10:08:312019-09-30 10:08:31Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 2 und 3/2019) – Teil 1: Verfassungsrecht
Dr. Maike Flink

BVerfG: Konkretisierungen der Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik

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Das BVerfG hat kürzlich in einer Entscheidung vom 14.6.2019 (1 BvR 2433/17) erneut zu den Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik Stellung genommen und damit die bisherigen Maßstäbe konkretisiert. In den letzten Jahren war die Reichweite des Schutzes der Meinungsfreiheit im Hinblick auf sog. Schmähkritik immer wieder Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen, die regelmäßig ein großes Medienecho nach sich zogen. Vor diesem Hintergrund bedarf auch die in diesem Zusammenhang neueste Entscheidung – gerade mit Blick auf künftige Examensklausuren und die mündliche Prüfung – einer eingehenden Auseinandersetzung.
 
I. Sachverhalt
Was war passiert? Der Beschwerdeführer war Kläger eines Zivilprozesses beim Amtsgericht. Im Laufe des Prozesses ersuchte er das Gericht um die Ablehnung der mit dem Verfahren betrauten Richterin wegen Befangenheit. Diese ergab sich seiner Ansicht nach aus einer einseitigen Vernehmung eines Zeugen zu seinen Lasten, bei der die Richterin dem Zeugen die erwünschten Antworten nahezu in den Mund gelegt habe. Sein Gesuch begründete der Beschwerdeführer auch in zwei Schriftsätzen, in denen es wörtlich unter anderem hieß:

„Die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhandlungsführung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen, erinnert stark an einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten.“

Zudem führte er aus:

„Die gesamte Verhandlungsführung der Richterin erinnerte eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als an ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren.“

Daraufhin wurde er durch das Amtsgericht gem. § 185 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Berufung des Beschwerdeführers wurde durch das Landgericht ebenso verworfen wie die im Anschluss eingelegte Revision durch Oberlandesgericht. Die Gerichte stützen dies im Wesentlichen darauf, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers zwar Werturteile seien, die dem Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG unterfielen. Allerdings handele es sich um Schmähkritik, sodass die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers gegenüber dem Ehrschutz der Betroffenen zwingend zurücktreten müsse. Daraufhin erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung seiner Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG.
 
II. Rechtliche Würdigung
Fraglich ist daher, ob der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen tatsächlich in seiner Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG verletzt ist.
 
1. Schutzbereich
Zunächst müssten die Äußerungen des Beschwerdeführers in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG fallen. Geschützt werden Meinung, d.h. Werturteile, die geprägt sind durch ein Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens. Von einer Meinung zu unterscheiden sind bloße Tatsachenbehauptungen, also solche Äußerungen, die einem Wahrheitsbeweis zugänglich sind. Sie sind grundsätzlich nicht geschützt, es sei denn, sie sind ausnahmsweise untrennbar mit einer Wertung verbunden oder Voraussetzung für eine Meinung. Ist eine Äußerung als Meinung einzuordnen, so kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob diese in polemischer Weise kundgetan oder eine verletzende Formulierung gewählt wird. Auch Schmähkritik unterfällt dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Im vorliegenden Fall war die Äußerung des Beschwerdeführers als wertende Stellungnahme anzusehen: Er wollte keine historische Aussage treffen, dass es sich tatsächlich um ein „Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“ oder einen „mittelalterlichen Hexenprozess“ handele. Vielmehr zielte die gewählte Formulierung allein darauf ab, Missstände, die seiner Ansicht nach in der Verhandlungsführung bestanden, im Wege eines Vergleichs aufzuzeigen. Es handelt sich mithin um eine Meinung, der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG ist eröffnet.
 
2. Eingriff
Durch die strafrechtliche Verurteilung auf Grundlage von § 185 StGB wird die Ausübung einer grundrechtlich geschützten Freiheit des Beschwerdeführers sanktioniert. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG liegt mithin ebenfalls vor.
 
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Möglicherweise könnte dieser Eingriff jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG wird nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet seine Schranken gem. Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen. Ein allgemeines Gesetz ist nach dem durch das BVerfG angewandten Kombinationsansatz nur ein Gesetz, das sich nicht gegen die grundrechtliche Betätigung als solche, d.h. insbesondere nicht inhaltlich gegen eine bestimmte Meinung richtet und dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG schützenswerten Rechtsguts dient. Grundlage der strafrechtlichen Verurteilung ist § 185 StGB. Dieser stellt die Beleidigung unter Strafe und richtet sich damit nicht inhaltlich gegen eine bestimmte Meinung, sondern allgemein gegen beleidigende Äußerungen. Dies dient dem Ehrschutz des Betroffenen, der seinerseits durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgesichert ist und damit ein schlichtweg schützenswertes Rechtsgut darstellt. Es handelt sich mithin bei § 185 StGB um ein allgemeines Gesetz.
Erforderlich ist jedoch darüber hinaus, dass eine Gewichtung der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit des Äußernden und der persönlichen Ehre des durch die Äußerung Betroffenen vorgenommen wird. Dabei kommt der Meinungsfreiheit ein besonderes Gewicht zu, sofern es um Äußerungen geht, die Maßnahmen der öffentlichen Gewalt betreffen. Es gehört nämlich zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, die öffentliche Gewalt ohne Furcht vor Sanktionen auch scharf kritisieren zu können. Insofern führt das Gericht aus:

„Die Meinungsfreiheit erlaubt es insbesondere nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.“

Allerdings bilden insofern Formalbeleidigungen und Schmähkritik einen Sonderfall: Ist eine Äußerung einer der genannten Kategorien zuzuordnen, so ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht erforderlich, vielmehr tritt die Meinungsfreiheit in einem solchen Fall stets zurück. Dies stellt indes eine sehr einschneidende Folge dar, sodass strenge Anforderungen an die Annahme von Formalbeleidigungen und Schmähkritik zu stellen sind. Schmähkritik ist nur bei einer Äußerung anzunehmen, die auf die bloße Herabsetzung und Diffamierung einer anderen Person gerichtet ist, ohne sich inhaltlich mit der Sache auseinanderzusetzen. Erforderlich ist daher insbesondere, dass Anlass und Kontext der Äußerung berücksichtigt werden. Die Äußerungen des Beschwerdeführers sind vor diesem Hintergrund nicht als Schmähkritik einzuordnen. Denn der Beschwerdeführer hat mit seinen Vergleichen nicht die Richterin persönlich diffamieren und herabwürdigen wollen. Vielmehr war allein ihre Verhandlungsführung Anlass für die getätigten Aussagen. Das BVerfG formuliert dazu:

„Die Äußerungen entbehren […] nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen auch nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Die Äußerungen lassen nicht ohne weiteres den Schluss zu, der Beschwerdeführer habe der Richterin eine nationalsozialistische oder „mittelalterliche“ Gesinnung unterstellen wollen. Historische Vergleiche mit nationalsozialistischer Praxis begründen für sich besehen nicht die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.“

Insbesondere könne es nicht darauf ankommen, dass die Formulierungen für die Verteidigung der Rechtsansichten des Beschwerdeführers nicht erforderlich gewesen sei, da der Beschwerdeführer nicht darauf beschränkt sein dürfe, seine Meinung nur im Rahmen des Erforderlichen zu äußern. Damit handelt es sich bei der Äußerung des Beschwerdeführers nicht um Schmähkritik. Die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers tritt nicht bereits aus diesem Grund hinter die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zurück. Vielmehr bedarf es einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Interessen. Geht diese zugunsten des Beschwerdeführers aus, so ist der Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, es läge eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vor. Umgekehrt gilt: Der Eingriff wäre gerechtfertigt, wenn die Abwägung ein Überwiegen der Interessen der Betroffenen ergibt. In diesem Fall wäre der Beschwerdeführer nicht in seiner Meinungsfreiheit verletzt.
 
III. Ausblick 
Das Gericht hatte sich allein mit der Frage zu befassen, ob es sich bei den Äußerungen des Beschwerdeführers um Schmähkritik handelte und schon aus diesem Grund seine Meinungsfreiheit hinter den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen zurücktreten muss. Die Klausurbearbeitung darf indes an dieser Stelle nicht stehen bleiben: Zwar bildet die Herausarbeitung der Voraussetzungen der Schmähkritik einen Schwerpunkt, der umfassend erörtert werden muss. Zwingend daran anschließen muss sich aber – sofern das Vorliegen von Schmähkritik zutreffend abgelehnt wurde – eine umfangreiche Abwägung der Meinungsfreiheit und der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Die Entscheidung sollte daher Anlass geben, neben den Anforderungen an die Annahme von Schmähkritik auch die klassische Fallkonstellation der Kollision von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht zu wiederholen, da diese stets beliebter Stoff sowohl für Zwischenprüfungs- als auch für Examensklausuren ist.

21.08.2019/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-08-21 09:33:352019-08-21 09:33:35BVerfG: Konkretisierungen der Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik
Dr. Maike Flink

BVerfG: Keine Ausstrahlung von NPD-Wahlwerbespot

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Das Bundesverfassungsgericht hat am 27.4.2019  (Az. 1 BvQ 36/19) einen Antrag der NPD auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Partei hatte unter Berufung auf ihre Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG begehrt, das ZDF zur Ausstrahlung ihres für die Europawahl entworfenen Wahlwerbespots zu verpflichten. Die Entscheidung des Gerichts ist dabei gleich unter mehreren Gesichtspunkten von hoher Examensrelevanz: Wegen ihrer enormen Aktualität bietet sie sich hervorragend als Anknüpfungspunkt verfassungsrechtlicher Fragen in einer mündlichen Prüfung an, zudem gibt sie zugleich Gelegenheit sich noch einmal umfassend mit den Voraussetzungen der – in der Examensvorbereitung häufig zu Unrecht vernachlässigten – einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG und der in Prüfungen beliebten Meinungsfreiheit auseinanderzusetzen.
 
I. Sachverhalt
Die NPD hatte bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ZDF einen Wahlwerbespot für die Europawahl eingereicht, deren Ausstrahlung das ZDF jedoch ablehnte. Der Werbespot zeigt dabei zu Beginn einen dunklen Hintergrund, auf dem Blutspritzer herunterlaufen. Zu hören ist das Laden einer Waffe und schließlich ein Schuss. Im Anschluss werden in zunehmender Geschwindigkeit Tatorte und Namen von Opfern von Gewalt- und Tötungsdelikten eingeblendet. Diese Darstellung ist mit dem gesprochenen Text hinterlegt: „Seit der willkürlichen Grenzöffnung 2015 und der seither unkontrollierten Massenzuwanderung werden Deutsche fast täglich zu Opfern ausländischer Messermänner. Migration tötet!“. Die Aussage „Migration tötet!“ wird nachfolgend in großer roter Schrift eingeblendet, gefolgt von dem gesprochenen Text „Jetzt gilt es zu handeln, um Schutzzonen für unsere Sicherheit zu schaffen“. Im Anschluss wird durch den Parteivorsitzenden der NPD mitgeteilt, dass die Sicherheit in Deutschland in Gefahr sei. Um dem entgegenzuwirken wolle man Schutzzonen, d.h. Orte, an denen Deutsche sich sicher fühlen, schaffen. Dies wird bebildert mit Menschen, die auf Straßen patrouillieren und rote Schutzwesten tragen, auf denen ein „Z“ und der Schriftzug „Wir schaffen Schutzzonen“ zu sehen sind. Gegen die Ablehnung der Ausstrahlung dieses Werbespots durch das ZDF stellte die NPD einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) vor dem Verwaltungsgericht. Der Antrag wurde indes sowohl durch das Verwaltungsgericht, als auch durch das Oberverwaltungsgericht abgelehnt, da durch den Wahlwerbespot der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllt werde. Daraufhin stellte die NPD beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG, der darauf gerichtet war, das ZDF zur Ausstrahlung des Wahlwerbespots zu verpflichten.
 
II. Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht trifft eine vorläufige Regelung eines Zustandes im Wege der einstweiligen Anordnung „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“ (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Maßgebliches Kriterium sind insofern die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits in der Hauptsache, d.h. einer durch den Antragsteller erhobenen Verfassungsbeschwerde (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Dabei beschränkt sich die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG darauf, ob eine solche Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814).
 
1. Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
Erfolg hat eine in der Hauptsache erhobene Verfassungsbeschwerde indes nur, soweit sie zulässig und begründet ist. Anhaltspunkte für eine von vornherein bestehende Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde sah das Bundesverfassungsgericht nicht gegeben, sodass es sich mit der Frage einer offensichtlichen Unbegründetheit beschäftigte. In Betracht kam dabei eine Verletzung der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG durch die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts, die den Antrag der NPD auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO abgelehnt hatten. Eine Verletzung der Meinungsfreiheit könnte sich daraus ergeben, dass die Verwaltungsgerichte der in diesem Rahmen zu beachtenden Wechselwirkungslehre nicht ausreichend Rechnung getragen haben. Diese beeinflusst neben der Auslegung und Anwendung des meinungsbeschränkenden Gesetzes (§ 130 Abs. 1 Nr. 2) in einem vorgelagerten Schritt – auch die Erfassung und Würdigung der Äußerung selbst, denn bereits auf der Deutungsebene fallen Vorentscheidungen hinsichtlich der Zulässigkeit von Äußerungen (BVerfG v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/19 u.a., NJW 1995, 3303, 3305). Ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG liegt demnach nicht nur dann vor, wenn das einschränkende Gesetz nicht im Sinne dieser Vorschrift ausgelegt und angewendet wurde, sondern auch dann, wenn bereits bei der Auslegung der Äußerung selbst die Bedeutung der Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet worden ist. Letzteres ist der Fall, wenn die Äußerung den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die für den Beschwerdeführer ungünstigste Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (BVerfG v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/19 u.a., NJW 1995, 3303, 3305).
 
2. Die Erwägungen des Gerichts im Einzelnen
Eine Verletzung der Meinungsfreiheit sah das Bundesverfassungsgericht indes als offensichtlich ausgeschlossen an. Dies ergebe sich daraus, dass die Verwaltungsgerichte die Wertungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bei ihren Entscheidungen ausreichend berücksichtigt haben, indem sie die Aussage des Wahlwerbespots im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt und diese vor diesem Hintergrund zutreffend als den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllende Äußerung eingeordnet haben. Wörtlich führt das BVerfG aus:

„Es ist nicht erkennbar, dass die Verwaltungsgerichte in ihren Entscheidungen den Schutzgehalt der Meinungsfreiheit der Antragstellerin aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt hätten. Vielmehr haben sie sich mit dem Aussagegehalt des Wahlwerbespots unter Berücksichtigung der hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen ausreichend befasst und den Sinn der darin getätigten Äußerungen nachvollziehbar dahingehend eingeordnet, dass er den Tatbestand einer Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt. Das Oberverwaltungsgericht hat sich auch mit den anderen, von der Antragstellerin vorgebrachten Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt und diese mit nachvollziehbarer Begründung als fernliegend ausgeschlossen. Diese Beurteilung hält sich auch unter Berücksichtigung der insoweit geltenden strengen Anforderungen im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.“

So hatte insbesondere das Oberverwaltungsgericht (Beschl. v. 26.4.2019, Az. 2 B 10639/19) sich eingehend mit möglichen Deutungen des Wahlwerbespots beschäftigt. Dabei erwog das Gericht, dass die Botschaft des Wahlwerbespots sich aufgrund der Einblendung einzelner Opfernamen und Tatorte allein auf die jeweiligen Täter des Einzelfalls beschränken und gerade keine pauschale Aussage über alle in Deutschland lebenden Ausländer treffen könnte. Indes lehnte es ein solches Verständnis in Anbetracht der Art der Darstellung ab: Durch die zunehmende Geschwindigkeit der Einblendungen werde der Eindruck vermittelt, dass die Begehung von Gewalt- und Tötungsdelikten durch Ausländer sich gerade nicht auf Einzelfälle beschränke, sondern vielmehr signifikant zugenommen habe. Dieser Eindruck werde zudem durch die an die Einblendung angeschlossene Aussage „Migration tötet!“ untermauert. Diese werde durch einen unvoreingenommenen, verständigen Dritten durch den Zusammenhang mit dem Begriff „Messermänner“ regelmäßig als „Migranten töten“ verstanden. Gerade durch die Zusammenschau von Text, Bilddarstellungen und den dramaturgischen Aufbau werden sämtliche Ausländer als Straftäter und Gefährdung für die Sicherheit der deutschen Bevölkerung dargestellt. Auch die Aussage, dass es der Einrichtung von Schutzzonen für Deutsche bedürfe, damit diese sich wieder sicher fühlen können, stehe einer Deutung dahingehend, dass allein auf einzelne Gewalt- und Tötungsdelikte durch Migranten verwiesen und diese nicht pauschal als Straftäter dargestellt werden sollen, entgegen. So stellte das OVG ausdrücklich fest:

„Durch diese Aussagen wird auch i.S. des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Menschenwürde der betroffenen Ausländer angegriffen, indem ihnen derart als Bevölkerungsgruppe pauschal sozial unerträgliche Verhaltensweisen und Eigenschaften zugeschrieben werden.“

Vor dem Hintergrund dieser detaillierten Auseinandersetzung des Oberverwaltungsgerichts mit dem Inhalt des Wahlwerbespots und der begründeten Ablehnung anderer Deutungsmöglichkeiten sah das Bundesverfassungsgericht die sich aus der Wechselwirkungslehre ergebenden Anforderungen als gewahrt und damit eine Verletzung der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 BVerfG als offensichtlich ausgeschlossen an. Eine in der Hauptsache erhobene  Verfassungsbeschwerde bliebe damit ohne Erfolg, sodass das Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG ablehnte.
 
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass sich mit den Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG auseinander zu setzen, sondern dient auch der Konkretisierung der Anforderungen der Wechselwirkungslehre im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Besonders herausgestellt wird dabei das Erfordernis der Auslegung bereits der in Rede stehenden Äußerung im Lichte der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1. Die Entscheidung enthält indes über § 32 BVerfGG und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hinaus zahlreiche weitere Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Examensprüfung: So stellt sie mit Blick auf die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einen Bezug zum vorläufigen Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren und insbesondere den Voraussetzungen des § 123 VwGO her. Zugleich kann die Entscheidung zum Anlass genommen werden, den Anspruch politischer Parteien auf Ausstrahlung eines Wahlwerbespots (§ 5 Abs. 1 PartG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG) zum Gegenstand einer Prüfung zu machen. Sowohl die Meinungsfreiheit, aber auf der vorläufige Rechtsschutz gem. § 123 VwGO und die Gleichbehandlung politischer Parteien sind Prüfungsklassiker und werden nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sicherlich erneut Eingang in künftige Examensprüfungen finden.
 
Hinweis: Die NPD hatte zu einem späteren Zeitpunkt einen veränderten Wahlwerbespot beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) eingereicht. Dieser hatte auch die Ausstrahlung dieses veränderten Werbespots abgelehnt, da auch er den Tatbestand der Volksverhetzung erfülle. Diese Auffassung bestätigten sowohl das Verwaltungsgericht Berlin als auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit dem Argument, dass der Wahlwerbespot jedenfalls vor dem Hintergrund des politischen Konzepts der NPD nicht anders verstanden werden könne. Die NPD stellte daraufhin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht, das diesem stattgab (Beschl. v. 15.5.2019 , Az. 1 BvQ 43/19), da ein volksverhetzender Inhalt sich jedenfalls nicht unmittelbar aus dem  Wahlwerbespot ergebe. Auch könne das politische Konzept der NPD oder ihr Wahlprogramm nicht zur Auslegung des Wahlwerbespots herangezogen werden, maßgeblich für dessen rechtliche Berurteilung sei vielmehr allein der Werbespot selbst (s. Pressemitteilung Nr. 36/2019 des Bundesverfassungsgerichts vom 15.5.2019).

20.05.2019/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2019-05-20 10:00:302019-05-20 10:00:30BVerfG: Keine Ausstrahlung von NPD-Wahlwerbespot
Gastautor

§ 90a StGB: Klausurklassiker im Bereich der Grundrechte

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Felix Bleckmann veröffentlichen zu können. Der Autor hat an der Universität zu Köln studiert und ist dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Staatsrecht.
Für das Posten einer „zerschnittenen“ Deutschlandfahne, bei der der goldene Teil (bis auf einen sichtbaren Rest) abgetrennt war, hat das AG Tiergarten einen Angeklagten mit Urteil vom 31.07.2018 zu einer Geldstrafe von 2.500 € verurteilt.[1] Dieses Urteil bietet Anlass, sich mit der klausur- und examensrelevanten Materie des Verhältnisses von Grundrechten und dem Schutz staatlicher Symbole auseinander zu setzten. Der Beitrag zeigt, wie das wichtige Grundlagenwissen zur Meinungs- und Kunstfreiheit in einer Klausur mit speziellen Tatbeständen wie dem des § 90a StGB verknüpft werden kann und worauf hierbei besonders zu achten ist.
I. § 90a StGB
Der auch im aktuellen Fall einschlägige § 90a StGB ist die wichtigste strafrechtliche Bestimmung zum Schutz staatlicher Symbole.[2] Schutzgegenstand der Norm ist der Bestand der Bundesrepublik, ihrer Länder und Symbole gegen öffentliche Herabsetzung.[3] Nach Abs. 1 wird das Beschimpfen und böswillige verächtlich Machen der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder oder ihrer verfassungsmäßigen Ordnung (Nr. 1) und die Verunglimpfung der Farben, der Flagge oder der Hymne der Bundesrepublik (Nr. 2) in der Öffentlichkeit, in einer Versammlung oder durch das Verbreiten von Schriften mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bestraft. Das selbe Strafmaß sieht Abs. 2 für die Entfernung, Zerstörung, Beschädigung, Unbrauchbar- oder Unkenntlichmachung einer öffentlich gezeigten Flagge der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder oder eines von Behörden öffentlich angebrachten Hoheitszeichens vor.
II. Verfassungsrechtliche Grenzen
Je nach Fallgestaltung steht dieser strafrechtliche Schutz staatlicher Symbole in einem Spannungsverhältnis zu den Grundrechten der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). Das Bundeverfassungsgericht hat sich bereits mit verschiedenen Judikaten zu § 90a StGB auseinandergesetzt: So waren etwa die satirische Verfremdung des Deutschlandlieds,[4] die Darstellung des Urinierens auf eine Bundesflagge in einer Collage, die Verwendung des aus der Weimarer Zeit überlieferten Kampfbegriffs „schwarz-rot-senf“[5] oder die Bezeichnung des „BRD-Systems“ als „verkommen“[6] Gegenstand von Entscheidungen der Karlsruher Richter. In der Gesamtbetrachtung ergeben sich aus diesen Entscheidungen einige Besonderheiten, die bei einer Prüfung zu beachten sind.
1. Verfassungsprozessuale Besonderheiten
Die staatsrechtlichen Fallgestaltungen zu § 90a StGB sind prozessual regelmäßig in eine Urteilsverfassungsbeschwerde eingekleidet. Hier sind einige Besonderheiten hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes zu beachten. Abweichend von der sonst üblichen Prüfung der „Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“[7] dehnt das Bundesverfassungsgericht betreffend Art. 5 Abs. 3 S.GG[8] und der Meinungsfreiheit[9] den Prüfungsumfang weit aus.
2. Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG)
Die Meinungsfreiheit schützt von den Elementen der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägte Äußerungen, im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung, unabhängig von Wert, Richtigkeit oder Vernünftigkeit.[10] Die davon abzugrenzenden, dem Beweis zugänglichen Tatsachenbehauptungen sind vom Schutzbereich nur erfasst, soweit sie Grundlage der Meinungsbildung sind.[11] Äußerungen, die den Tatbestand des § 90a StGB verwirklichen, sind häufig zugleich Meinungsäußerungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Zu beachten ist, dass es auf Schutzbereichsebene irrelevant ist, ob diese gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind, oder ob es sich um eine Form von Schmähkritik handelt. Das Bundeverfassungsgericht sieht auch Äußerungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen als vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst an, unabhängig von der Realisierbarkeit im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung.[12] Dies ist bei den Fällen des § 90a StGB von besonderer Bedeutung. Selbiges gilt für Schmähkritik, die ebenfalls dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt.[13]
Die Meinungsfreiheit wird begrenzt durch die Schranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG). Hierunter ist nach der „Kombinationsformel“ des Bundesverfassungsgerichts jede Norm zu fassen, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen richtet, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf bestimmte Meinungen, zu schützenden Rechtsguts dient.[14] § 90a StGB ist nach ständiger Rechtsprechung ein solches allgemeines Gesetz und somit eine den Gesetzesvorbehalt ausfüllenden Schrankenregelung.[15]
Bei der Prüfung der Schranken-Schranken sind die Besonderheiten der Wechselwirkungslehre zu beachten.[16] Die Gerichte haben bei Auslegung und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften die Bedeutung der Meinungsfreiheit zu beachten.[17] Hierzu gehört insbesondere eine Erfassung des Sinns der umstrittenen Äußerung und die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus Sicht eines „unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums“. Bei den Staatsschutznormen wie § 90a StGB ist hier besonders sorgfältig zwischen zulässiger Polemik einerseits und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung andererseits zu differenzieren.[18] Das Bundesverfassungsgericht überträgt die Maßstäbe seiner Schmähkritik-Rechtsprechung auf die Staatsschutzdelikte.[19] Bei der Bejahung von Schmähung  ist an dieser Stelle Zurückhaltung geboten:[20] Nicht einmal das offenkundige Anknüpfen an die Mostrich-Rhetorik der Weimarer Zeit in Verbindung mit den Aussagen „Heil dem deutschen Reich“ und „wird dereinst unser Volk und Reich in neuem Glanz erstehen“ waren nach Ansicht des Gerichts hierfür ausreichend.[21]
Die zahlreichen ablehnenden Judikate zu Verurteilungen nach § 90a StGB dürfen aber nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, dass der Meinungsfreiheit ein grundsätzlicher Vorrang zukomme. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gilt es genau zu prüfen: handelt es sich um „eine böswillige Verächtlichmachung, die über eine – Systemkritik einschließende – Polemik hinausgeht“[22] und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs eine Verurteilung nach § 90a StGB zu rechtfertigen vermag?
3. Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG)
Die für den sachlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit zentrale Bestimmung des Kunstbegriffs nimmt das Bundesverfassungsgericht anhand von drei kumulativ anwendbaren Kunstbegriffen vor: formal, materiell und offen.[23] Ausgehend von dem sich daraus ergebenden weiten Schutzbereich der Kunstfreiheit ergibt sich das Konfliktpotential der von § 90a StGB erfassten Verhaltensweisen.
Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit sind anders als Eingriffe in die Meinungsfreiheit nur auf Grundlage kollidierenden Verfassungsrechts möglich. Dies ist bei den Schutzgütern des § 90a StGB nicht unproblematisch und in der Klausur ist an dieser Stelle eine umfassende Argumentation gefragt. Die Bundesflagge betreffend ist zunächst ein Anknüpfen an Art. 22 Abs. 2 GG geboten. Da sich dessen normative Aussage allerdings auf die Festlegung der Bundesfarben beschränkt, ist er nur Ausgangspunkt der Argumentation und enthält alleine keine unmittelbare oder ausschließliche Begründung für strafrechtlichen Schutz der Bundesflagge.[24] Das Bundesverfassungsgericht sieht eine über den unmittelbaren Inhalt der Norm hinausgehende Bedeutung in der Form, dass mit dem dort vorausgesetzten Recht des Staates, sich zur Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen, der Zweck einhergehe, an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren.[25] Das Grundgesetz nehme diese Wirkung der Flagge nicht lediglich in Kauf, vielmehr sei die Bundesrepublik als freiheitlicher Staat auf die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten angewiesen. Die in Art. 22 Abs. 2 GG enthaltenen Staatsfarben ständen für diese Werte und für die freiheitlich demokratische Grundordnung. Aus dieser Bedeutung ergebe sich das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut. Diene die Flagge als wichtiges Integrationsmittel, so könne ihre Verunglimpfung die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen.[26]
Anknüpfend an diese Argumentation räumt das Bundverfassungsgericht auch dem Schutz der Hymne Verfassungsrang ein, da diese ebenso wie die Bundesflagge Symbol der Bundesrepublik sei.[27] Problematisch ist, dass die Hymne im Gegensatz zur Flagge nicht im Grundgesetz erwähnt ist. Vor dem Hintergrund der oben genannten Argumente und des wenig ergiebigen Wortlauts des Art. 22 Abs. 2 GG erscheint eine Verschiedenbehandlung nicht geboten, sodass auch in Fällen der Hymne oder anderer von § 90a StGB geschützter Symbole eine verfassungsimmanente Begrenzung der Kunstfreiheit zu bejahen ist.[28]
Das Bundesverfassungsgericht setzt hohe Hürden für die verfassungsrechtliche Angemessenheit von mit § 90a StGB verbundenen Eingriffen in die Kunstfreiheit.[29] Im Lichte des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG dürfe der Symbolschutz nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und Ablehnung führen.[30] Aus diesem Grund spricht eine Vermutung für den Vorrang der Kunstfreiheit und der Unzulässigkeit einer strafrechtlichen Verurteilung, solange die Kunst bei kunstspezifischer Betrachtung noch als (wenn auch überzogene) Kritik gedeutet werden kann.[31]
4. Verhältnis von Kunst und Meinungsfreiheit
Sind Kunst- und Meinungsfreiheit einschlägig, stellt sich die Frage der Spezialität. Dieses Verhältnis ist nicht unumstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kunstfreiheit im Mephisto-Beschluss als „lex specialis“ gegenüber der Meinungsfreiheit eingestuft.[32] Teile des Schrifttums kritisieren die Widersprüchlichkeit der Ausführungen des Gerichts an dieser Stelle und lehnen eine Spezialität ab, mit der Folge, dass die Grundrechte nebeneinander zur Anwendung kommen.[33] Beide Ansichten sind vertretbar, nicht zu empfehlen ist die Lösung über einen Erst-Recht-Schluss, da hier die unterschiedlichen Anforderungen an die Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt werden.[34]
III. Ausblick
Die Berliner Entscheidung zeigt die Aktualität des „Klausurklassikers“, der dem Klausursteller vielfältigen Gestaltungsspielraum eröffnet und sich eignet klassische grundrechtliche Problemstellung in Kombination mit bereichspezifischem Wissen abzuprüfen. Vor dem Hintergrund der hohen verfassungsrechtlichen Hürden erscheint es sehr fraglich, ob die Entscheidung des AG-Tiergarten – die Anwältin des Verurteilten hat die Einlegung von Rechtsmittel angekündigt[35] –  Bestand haben wird.
 
Fußnoten:
[1] AG Berlin-Tiergarten, Urt. v. 31. 07. 2018 – 229 DS 111/17. Siehe dazu auch taz, Deutschland unten ohne , 31.07.2018 (https://www.taz.de/Strafe-fuer-Flaggen-Kuerzung/!5520585/). Das Urteil ist bisher nicht veröffentlicht.
[2] Vgl. Burkiczak, JR , 2005, 50 (51); als weiteres Delikt kommt noch § 124 OWiG in Betracht, bei dem die selben verfassungsrechtlichen Erwägungen zu Grunde zu legen sind.
[3] Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage (2018), § 90a, Rdnr. 1.
[4] BVerfGE 81, 298.
[5] BVerfG, NJW , 2009, 908.
[6] BVerfG, NJW , 2012, 1273.
[7] Zum Prüfungsmaßstab Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, S. 310 ff.
[8] Wittreck, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage (2013), Art. 5 III, Rdnr. 67.
[9] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[10] BVerfGE 124, 300 (320).
[11] Epping, Grundrechte, 2017, Rdnrn. 214 f.; nicht erfasst sind erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen.
[12] BVerfGE 124, 300 (320 f.).
[13] BVerfGE 82, 272 (281); Grabenwarter, Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. 1, Rdnr. 61 (a.A. vertretbar).
[14] BVerfGE 7, 198 (209 f.).
[15] St. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht BVerfG, NJW , 2009, 908 (909); BVerfG, NJW , 2012, 1273 (1274); zum Begriff der allgemeinen Gesetze Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 241 ff.
[16] Siehe zur Wechselwirkungslehre Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 249 ff.
[17] So. st. Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198 (208 f.).
[18] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[19] Hufen, JuS , 2009, 951 (951).
[20] Vgl. Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage (2013), Art. 5 I, II, Rdnr. 179.
[21] Peisner, NJW , 2009, 897 (898) und Hufen, JuS , 2009, 951 (951).
[22] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[23] Siehe dazu Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 274 ff.
[24] BVerfGE 81, 278 (293).
[25] BVerfGE 81, 278 (293).
[26] BVerfGE 81, 278 (293 f.).
[27] BVerfGE 81, 298 (308).
[28] So auch m.w.N. Burkiczak, JR , 2005, 50 (51); ablehnend Gusy, JZ , 1990, 640 (641).
[29] Burkiczak, JR , 2005, 50 (51).
[30] BVerfGE 81, 278 (294).
[31] Wittreck (o. Fußn. 8), Rdnr. 59.
[32] BVerfGE 30, 173 (191 f.); daran anknüpfend Epping (o. Fußn. 11), Rdnr. 266; Wittreck (o. Fußn. 8), Rdnr. 76.
[33] So insbesondere Sachs, Verfassungsrecht II Grundrechte, 2017, S. 414.
[34] So zutreffend Kobor, JuS , 2006, 593 (596).
[35] taz, Schwaz-rot-gelbe Umgangsformen , 01.08.2018 (https://www.taz.de/!5520652/).

21.08.2018/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2018-08-21 09:43:222018-08-21 09:43:22§ 90a StGB: Klausurklassiker im Bereich der Grundrechte
Redaktion

BVerfG: Verdachtsberichterstattung vs. Pressefreiheit

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Fabian Toros veröffentlichen zu können. Der Autor hat als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung Rechtswissenschaften an der Universität Bonn studiert. Er promoviert an der Universität Regensburg zu einer regulierungsrechtlichen Fragestellung.
 
Verdachtsberichterstattungen sind in der schnelllebigen Informationsgesellschaft von heute alltäglich. Auch die Printmedien berichten aufgrund des hochfrequenten und auf Aktualität drängenden Umfeldes immer häufiger auf Basis von Verdachtsmomenten. Dies macht eine differenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich.
A. Sachverhalt
(vgl. BVerfG, PM Nr. 45/2018 vom 07.06.2018, abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-045.html, zuletzt 20.07.2018, 10:56 Uhr)
Die Verfassungsbeschwerde wurde von einer Wochenzeitung angestrengt, die über interne Vorgänge und Verdachtsmomente in einer Landesbank berichtet hatte. Im Mittelpunkt stand der Verdacht der Weitergabe von internen Informationen an Journalisten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Informationen auf eine geheime „Spitzelaktion“ unter Beteiligung der Wochenzeitung zurückzuführen sind, die im Endeffekt zu einer Entlassung des Vorstandsmitgliedes auf Basis der Falschbezichtigung geführt haben. Nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens wurde die Beschwerdeführerin zu einer Richtigstellung verurteilt. Konkret wurde auferlegt eine Nachtragserklärung zu verfassen. Dabei sollte nicht nur ein Teil des alten Berichtes wiedergegeben, sondern auch in der Überschrift auf die Korrektur hingewiesen und schlussendlich von der bisherigen Berichterstattung Abstand genommen werden. Ist die zulässige Verfassungsbeschwerde der Wochenzeitung begründet?
B. Entscheidung
Im Fokus der Entscheidung steht die Reichweite der Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG im Hinblick auf die vorliegende Konstellation der Verdachtsberichterstattung.
I. Abgrenzung zwischen Meinungs- und Pressefreiheit
Zunächst sind die Schutzbereiche von Meinungs- und Pressefreiheit voneinander abzugrenzen. Durch die Pressefreiheit wird das Recht geschützt, das Pressemedium nach eigenen Vorstellungen zu gestalten (vgl. BVerfGE 95, 28, 35 f.). Das Grundrecht existiert in einer positiven und negativen Ausprägung. Es steht also frei, eine Berichterstattung vorzunehmen oder über etwas nicht zu berichten. Erfasst sind nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch Investigativjournalismus und Verdachtsberichterstattung in den Grenzen der rechtlichen Zulässigkeit (hierzu grundlegend BVerfGE 7, 198, 208; BVerfGE 12, 113, 115).
Die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schützt den konkreten Inhalt der jeweiligen Berichterstattung. Auch dieses Grundrecht existiert in einer positiven und negativen Ausgestaltung. Von der negativen Ausgestaltung ist insbesondere auch die Möglichkeit erfasst, eine fremde Meinung nicht als eigene Ansicht darzustellen und sich hiervon zu distanzieren (vgl. BVerfGE 95, 173, 182).
II. Schranken
Die Grundrechte sind nicht vorbehaltlos gewährt, sondern werden durch Art. 5 Abs. 2 GG eingeschränkt. Sie stehen unter dem Vorbehalt allgemeiner Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre (vgl. zum Streit über die Abgrenzung des Begriffes der „allgemeinen Gesetze“ ausführlich Kühling in BeckOK Informations- und Medienrecht, Gersdorf/Paal, 20. Edition, Rn. 104 ff.).
Für den konkreten Fall wurden durch das OLG insbesondere § 1004 BGB iVm § 823 I, II BGB und § 186 StGB angeführt. Das Bundesverfassungsgericht stellt eindeutig klar, dass es sich selbst nicht als eine Superrevisionsinstanz versteht, sondern dass lediglich die Anwendung spezifischen Verfassungsrechts untersucht:

„Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften ist Sache der Zivilgerichte. Sie kann vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob dabei die Ausstrahlungswirkung des von der Entscheidung berührten Grundrechts hinreichend beachtet worden ist“ (BVerfG, Beschluss vom 02.05.2018 – 1 BvR 666/17, Rn. 18, abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/05/rk20180502_1bvr066617.html, zuletzt am 20.07.2018, 10:58 Uhr).

Grundsätzlich gestattet das Bundesverfassungsgericht die Konstruktion eines „äußerungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruches“ aus §§ 823, 1004 BGB,

„der selbstständig neben dem an andere Voraussetzungen gebundenen Gegendarstellungsrecht steht und eingreift, wenn eine ursprünglich rechtmäßige Meldung über eine Straftat sich aufgrund späterer gerichtlicher Erkenntnisse in einem anderen Licht dargestellt und die durch die Meldung hervorgerufene Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts andauert (vgl. BGHZ 57, 325)“ (BVerfG, Beschluss vom 02.05.2018 – 1 BvR 666/17, Rn. 19).

Differenzierung zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Verdachtsberichterstattung
Nach Ansicht des Gerichts ist klar zwischen rechtmäßiger Verdachtsberichterstattung und einer Berichterstattung zu differenzieren die von Beginn an rechtswidrig gewesen ist.
Bei der rechtmäßigen Berichterstattung

„ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die ursprüngliche Berichterstattung verfassungsrechtlich von der Pressefreiheit gedeckt war und die Presseorgane diese grundsätzlich als abgeschlossen betrachten durften.“ (BVerfG, Beschluss vom 02.05.2018 – 1 BvR 666/17, Rn. 20).

Es gäbe darüber hinaus keine generelle kontinuierliche Überprüfungspflicht einer bereits erfolgten Verdachtsberichterstattung. Darüber hinaus dürfe aufgrund der Wichtigkeit der Pressefreiheit für die freiheitlich demokratische Grundordnung eine Beschränkung nur in Ausnahmefällen gestattet sein. Eine Klarstellung müsse diesen gestuften Anforderungen gerecht werden (BVerfG, Beschluss vom 02.05.2018 – 1 BvR 666/17, Rn. 21). Es müssten insbesondere die negative Presse- und Meinungsfreiheit beachtet werden. Das Gericht hat diese Kriterien nicht als beachtet angesehen und deswegen der Verfassungsbeschwerde im Ergebnis stattgegeben.
C. Stellungnahme und Ausblick
Das Urteil ist für die Entwicklung der Pressefreiheit von herausragender Bedeutung. Wird nach ordnungsgemäßer Recherche über einen Verdacht berichtet, so muss diese Berichterstattung nur in Ausnahmefällen im Anschluss korrigiert werden.
„Eilmeldungen“ und Verdachtsberichterstattungen bestimmen immer mehr den Nachrichtenalltag. Auch wenn dies in der hochfrequenten und immer aktuelleren Welt der Informationsgesellschaft gefordert wird, so ist dennoch anzuraten, Qualitätsjournalismus mit ausführlicher Recherche zu betreiben. Es muss sichergestellt werden, dass die Rechtmäßigkeitsanforderungen beachtet werden, um von der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts profitieren zu können.
In Zukunft wird es wohl weitere Urteile in dieser Gemengelange geben. Demnach sollte man sich in der Examensvorbereitung intensiv mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur medialen Berichterstattung auseinandersetzen.

25.07.2018/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2018-07-25 10:00:122018-07-25 10:00:12BVerfG: Verdachtsberichterstattung vs. Pressefreiheit
Gastautor

BVerfG: Überlassung einer Stadthalle für NPD-Wahlkampfveranstaltung

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Fabian Toros veröffentlichen zu können. Der Autor hat als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung Rechtswissenschaften an der Universität Bonn studiert. Er promoviert aktuell an der Universität Regensburg zu einer regulierungsrechtlichen Fragestellung.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Rahmen eines Beschlusses vom 24.3.2018 (1 BvQ 18/18) mit dem Examensklassiker der Überlassung einer Stadthalle für eine NPD-Wahlkampfveranstaltung in der interessanten prozessualen Einkleidung der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG beschäftigt. Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Entscheidung im NPD-Parteiverbotsverfahren ist der Umgang des Bundesverfassungsgerichtes mit der NPD weiterhin zu beobachten (vgl. zum Parteiverbotsverfahren https://www.juraexamen.info/bverfg-kein-npd-verbot/).
 
Sachverhalt
Der NPD wurde – trotz einer durch ein Verwaltungsgericht erlassenen einstweiligen Anordnung – der Zutritt zur Stadthalle zur Durchführung eine Wahlkampfveranstaltung untersagt. Als Gründe für die Untersagung wurden von der Kommune der fehlende Nachweis eines Versicherungsschutzes und eines Sanitätsdienstes angeführt. Eine gegen die einstweilige Anordnung gerichtete Beschwerde der Kommune wurde vor dem Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen. Das zuständige Verwaltungsgericht drohte ein Zwangsgeld bei Zuwiderhandlung an und setzte dieses schließlich auch fest. Darüber hinaus wurde die Festsetzung eines erneuten Zwangsgeldes bei abermaliger Zuwiderhandlung angedroht. Auch diese Frist verstrich ohne eine Überlassung der Stadthalle.
Die NPD stellte beim Bundesverfassungsgericht daraufhin einen Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG aufgrund der Verletzung der Rechte aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG.
 
Zulässigkeit
Bei der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG handelt es sich um die umfassende Möglichkeit zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Bundesverfassungsgericht. Eine Beschränkung dahingehend, dass die einstweilige Anordnung nur für spezifische Hauptsacheverfahren beantragt werden kann, lässt sich aus dem BVerfGG nicht ermitteln. Vielmehr ist eine Beantragung grundsätzlich für jedes Hauptsacheverfahren zulässig und kann mangels entgegenstehender Regelung in § 32 BVerfGG von jedem Antragsberechtigten des Hauptsacheverfahrens gestellt werden.
Es darf jedoch keine evidente Unzulässigkeit des Hauptsachverfahrens gegeben sein und es darf auch nicht zu einer Vorwegnahme des Hauptsachverfahrens kommen. Hiervon besteht eine Ausnahme, wenn die Entscheidung der Hauptsache zu spät kommen würde und der Antragsteller nicht auf andere Weise ausreichenden Rechtsschutz erlangen kann und es in der Folge zu einem nicht zu rechtfertigenden, schwerwiegenden Schaden für den Antragsteller kommen würde (vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Graßhof, 52. EL September 2017, § 32 BVerfGG Rn. 41-53).
Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes für Verfassungsbeschwerden ist dies insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz vereiteln würde (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, BVerfGE 111, 147).
Darüber hinaus ist der Antrag form- und fristgerecht einzureichen und es muss ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen.
Diese Kriterien wurden vom Bundesverfassungsgericht als gegeben angesehen und die Zulässigkeit als unproblematisch angenommen.
 
Begründetheit
Die Prüfung der Begründetheit fällt in der Praxis bei Entscheidungen über einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG eher knapp aus. Dies liegt insbesondere daran, dass keine summarische Prüfung stattfindet.
Insgesamt lassen sich für die Entscheidungsfindung folgende Grundregeln aufstellen:
Dem Antrag wird stattgegeben, wenn eine offensichtliche Begründetheit anzunehmen ist.
Er wird hingegen abgelehnt, wenn eine offensichtliche Unbegründetheit gegeben ist.
Klassischerweise ist in den Fallgestaltungen im Examen eine dritte Variante gegeben. Bei einer fehlenden Offensichtlichkeit ist eine Nachteilsabwägung vorzunehmen.
Im konkreten Fall wurde dem Antrag der NPD aufgrund der offensichtlichen Begründetheit der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache stattgegeben. Hierbei führt das BVerfG aus, dass die NPD

„zur Durchführung einer Versammlung eine vollziehbare verwaltungsgerichtliche Entscheidung erwirkt [hat], mit der die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zur Überlassung ihrer Stadthalle verpflichtet wurde.“ (BVerfG, Beschl. v. 24.3.2018 – 1 BvQ 18/18)

Im Übrigen seien etwaige Einwendungen der Kommune gegen die unterinstanzlichen Entscheidungen zu spät vorgebracht worden oder unerheblich.

„Es ist absehbar, dass dies in einem Hauptsacheverfahren als Verletzung von Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, 19 Abs. 4 GG zu beurteilen wäre. Zugleich würde durch ein Abwarten die Durchführung der Versammlung und damit die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit des Antragstellers endgültig vereitelt.“ (BVerfG, Beschl. v. 24.3.2018 – 1 BvQ 18/18)

 
Ausblick
Auch wenn sich das BVerfG im Parteiverbotsverfahren im Hinblick auf die Ausrichtung der NPD und ihr Verhältnis zur Verfassung klar positioniert hat, ist es nicht zu einem Parteiverbot gekommen. Die Partei ist wie jede andere Partei auch zu behandeln. Eine etwaige Untersagung der Nutzung von kommunalen Einrichtungen für Wahlkampfzwecke durch Parteien muss dementsprechend weiterhin den bekannten Begründungsanforderungen genügen.
Die Kommune hat die einstweilige Anordnung des BVerfG ebenfalls ignoriert. Daraufhin hat das Gericht die Kommunalaufsicht und das Innenministerium des Bundeslandes informiert und zu Ergreifung von Maßnahmen aufgefordert.

03.05.2018/3 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2018-05-03 10:00:302018-05-03 10:00:30BVerfG: Überlassung einer Stadthalle für NPD-Wahlkampfveranstaltung
Lukas Knappe

BVerfG: „Durchgeknallte Staatsanwältin“ – Zur Einordnung einer Meinungsäußerung als Formalbeleidigung sowie Schmähkritik

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das BVerfG hat in einem Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni zur Reichweite der Meinungsfreiheit Stellung bezogen und die Anforderungen an die Einordnung einer Meinungsäußerung als Formalbeleidigung sowie Schmähkritik präzisiert (1 BvR 2646/15). Der Kammerbeschluss ist in der vergangenen Woche veröffentlicht wurden und bietet eine gute Möglichkeit, das Grundrecht der Meinungsfreiheit sowie dessen Grenzen zu wiederholen. Das BVerfG stellt in dem Beschluss insbesondere heraus, dass der Begriff der Schmähkritik angesichts der Wertigkeit der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit eng auszulegen sei und auch lediglich auf Ausnahmefälle beschränkt sei.

Sachverhalt

Die dem Kammerbeschluss zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die strafrechtliche Verurteilung eines Rechtsanwalts wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB. Der Beschwerdeführer hatte in einem medial sehr präsenten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren den ersten Vorsitzenden eines gemeinnützigen Vereins anwaltlich vertreten, der beschuldigt wurde, Spendengelder zu veruntreuen.  Im Rahmen einer nicht öffentlichen Sitzung erließ das zuständige Amtsgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten. Da der Beschwerdeführer der Ansicht war, sein Mandant werde zu Unrecht verfolgt, griff der die Staatsanwältin im Laufe der Sitzung verbal an und verließ zugleich die Sitzung noch vor ihrer offiziellen Schließung. Am Abend desselben Tages führte er ein Telefongespräch mit einem Journalisten und bezeichnete im Laufe dieses Telefonats in seiner Wut die zuständige Staatsanwältin als

„dahergelaufene Staatsanwältin“, „durchgeknallte Staatsanwältin“, „widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“, „geisteskranke Staatsanwältin“.

In dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil verurteilte das Landgericht den nicht vorbestraften Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 120 €. Die Äußerungen seien ehrverletzend gewesen. Durch sie wären der Staatsanwältin nicht nur in übertriebener Weise negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben worden, sondern der Rechtsanwalt habe auch ihren personalen Geltungswert abgesprochen. Eine Rechtfertigung nach § 193 StGB komme nicht in Betracht. Die Äußerungen seien hinsichtlich Anlass, Kontext und Zweckrichtung nicht mehr in dem „Kampf um das Recht“ zu verorten, sondern vielmehr Ausdruck einer persönlichen Fehde gegen die Staatsanwältin. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass die Aussagen sich nicht auf konkrete Handlungen der Staatsanwältin beziehen würde, sondern diese insgesamt als Person in den Vordergrund stellen. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer auch gar keinen Anlass gehabt, sich gegenüber Journalisten über die Staatsanwältin in einer derartigen Form zu beschweren, da dieser ihn lediglich um objektive Informationen zu dem „Spendenskandal“ aus der Sicht des Mandanten des Beschwerdeführers gebeten habe. Dieses Urteil wurde schließlich revisionsrechtlich bestätigt.

Rechtliche Würdigung

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG fallen unter den unter den Schutz der in Art 5 Abs. 1 S. 1 GG grundrechtlich gewährleisteten Meinungsfreiheit nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen, sondern gerade auch pointiert, polemisch bzw. überspitzt vorgetragene Kritik. Die Meinungsfreiheit finde allerdings insbesondere ihre Grenze in herabsetzenden Äußerungen, die als Formalbeleidigungen oder Schmähungen zu qualifizieren sind. In einem derartigen Fall ist dann ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht mehr erforderlich.

2. Für die gerichtliche Einordnung einer Meinungsäußerung als Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik gelten nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch strenge Maßstäbe: Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik eng zu verstehen und auf Ausnahmefälle beschränkt. Schmähkritik liegt nicht schon bei einer polemisch bzw. ausfällig vorgetragenen Kritik vor, sondern kann erst angenommen werden, wenn die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Es handelt sich also um Fälle, in denen die Person als solche herabgewürdigt wird, ihr also der personale bzw. soziale Geltungsanspruch abgesprochen wird. In diesem Zusammenhang ist jedoch zudem zu berücksichtigen, dass Schmähkritik bzw. Formalbeleidigungen bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur in absoluten Ausnahmefällen vorliegen.

3. Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Maßgaben kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass das Landgericht im konkreten Fall die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt hat:

Zwar sind die in Rede stehenden Äußerungen ausfallend scharf und beeinträchtigen die Ehre der Betroffenen. Die angegriffenen Entscheidungen legen aber nicht in einer den besonderen Anforderungen für die Annahme einer Schmähung entsprechenden Weise dar, dass ihr ehrbeeinträchtigender Gehalt von vornherein außerhalb jedes in einer Sachauseinandersetzung wurzelnden Verwendungskontextes stand. Der Beschwerdeführer reagierte auf einen Anruf von einem mit dem Verfahrensstand vertrauten Journalisten, der ihn in seiner Eigenschaft als Strafverteidiger zu dem Ermittlungsverfahren gegen seinen Mandanten und dessen Inhaftierung befragte. In diesem Kontext ist es jedenfalls möglich, dass sich die inkriminierten Äußerungen auf das dienstliche Verhalten der Staatsanwältin vor allem mit Blick auf die Beantragung des Haftbefehls bezogen. Für die Annahme einer Schmähkritik reicht es unter diesen Umständen nicht, wenn das Landgericht nur darauf abstellt, dass die Äußerungen dabei nicht relativiert oder auf ganz bestimmte einzelne Handlungen der betreffenden Staatsanwältin Bezug nahmen. Es hätte insoweit in Auseinandersetzung mit der Situation näherer Darlegungen bedurft, dass sich die Äußerungen von dem Ermittlungsverfahren völlig gelöst hatten oder der Verfahrensbezug nur als mutwillig gesuchter Anlass oder Vorwand genutzt wurde, um die Staatsanwältin als solche zu diffamieren.

4. Die Gerichte hätten den Beschwerdeführer dementsprechend nicht wegen Beleidigung verurteilen dürfen, ohne eine Abwägung zwischen seiner Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Staatsanwältin vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund sei nicht auszuschließen, dass die Gerichte im Zuge einer Abwägung zu einer anderen Entscheidung gekommen wären. Allerdings lässt das BVerfG noch eine Hintertür offen: So hebt es hervor, dass auch Rechtsanwälte grundsätzlich nicht dazu berechtigt seien, aus Verärgerung über Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, eine Staatsanwältin bzw. einen Staatsanwalt diese gegenüber der Presse zu beschimpfen. Insoweit müsse sich im Rahmen der Abwägung grundsätzlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen durchsetzen. Wie hier die Abwägung allerdings im konkreten Fall ausfälle, obliege jedoch der Würdigung der Fachgerichte.

 

12.08.2016/1 Kommentar/von Lukas Knappe
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Lukas Knappe https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Lukas Knappe2016-08-12 09:33:522016-08-12 09:33:52BVerfG: „Durchgeknallte Staatsanwältin“ – Zur Einordnung einer Meinungsäußerung als Formalbeleidigung sowie Schmähkritik
Tom Stiebert

BVerfG: Meinungsfreiheit schützt auch emotional zugespitzte Äußerungen

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer aktuellen Entscheidung vom 29.4.2016 (1 BvR 2844/13) der Frage gewidmet, wie weit der Schutz der von Art. 5 GG geschützten Meinungsfreiheit reicht. Die Frage der Reichweite des Schutzbereichs dieses Grundrechts und die Möglichkeit der Rechtfertigung sind vom zweiten Semester an bis zu den Examensklausuren von immens höher Bedeutung und sollte daher wiederholt werden.
I. Sachverhalt
Der Sachverhalt knüpft an den Freispruch eines bekannten ehemaligen Wettermoderators (hier: der Kläger) in einem Verfahren wegen Vergewaltigung im Jahr 2011 an. Im Zuge dessen kam es zu Äußerungen des vermeintlichen Opfers der Vergewaltigung (hier: die Beschwerdeführerin).

Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich der Strafverteidiger und der für das Zivilverfahren mandatierte Rechtsanwalt des Klägers in Fernsehsendungen über die Beschwerdeführerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien in einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift ein dreiseitiges Interview mit dem Kläger unter der Überschrift „Mich erpresst niemand mehr“,

Über die Beschwerdeführerin äußerte er hierin zudem:

Ich weiß, ich habe mich mies benommen. Ich habe Menschen verarscht. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber das, was die Nebenklägerin mit mir gemacht hat, als sie sich den Vorwurf der Vergewaltigung ausdachte – das ist keine Verarsche. Das ist kriminell. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. (…) Ich habe keinen Sprung in der Schüssel. Viel interessanter wäre doch zu erfahren, was psychologisch in der Frau vorging, die mich einer Tat beschuldigt, die ich nicht begangen habe.

Daraufhin reagierte die Beschwerdeführerin mit einem Interview in einer Illustrierten, das eine Woche nach oben genanntem Interview erschien. Hierin äußerte sie sich sowohl unter Bezug auf die vermeintliche Tat als auch mit Bezug zum Kläger als vermeintlichen Täter:

Das Gericht unterstellt mir mit diesem Freispruch, dass ich so dumm und so niederträchtig sein könne, eine solche Vergewaltigungsgeschichte zu erfinden (…). Wer mich und ihn kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass ich mir diesen Wahnsinn nicht ausgedacht habe. Ich bin keine rachsüchtige Lügnerin.

(…) Fast unerträglich aber war für mich, die Aussagen der [vom Kläger] bezahlten Gutachter in der Presse lesen zu müssen. Diese Herren erklären vor Gericht, die Tat könne sich nicht so abgespielt haben, wie es die Nebenklägerin, also ich, behauptet – und man selbst sitzt zu Hause, liest das und weiß ganz genau: ES WAR ABER SO! (…)

Zu den Aktivitäten des Klägers im Internet:

Ja, das kann er. Andere beschimpfen und bloßstellen (…) In seinen Augen hat er in der besagten Nacht ja nichts falsch gemacht. Er hat nur die Machtverhältnisse wieder so hergestellt, wie sie seiner Meinung nach richtig sind.

Der im Strafprozess freigesprochene Kläger begehrte nun von der Beschwerdeführerin Unterlassung der dargelegten Äußerungen. Eine entsprechende Klage vor dem LG war erfolgreich; die hiergegen durch die Beschwerdeführerin eingelegten Rechtsmittel blieben erfolglos.

II. Lösung des BVerfG

Das BVerfG hatte hier nun zu prüfen, ob bei der Gewährung des Unterlassungsanspruchs § 1004 BGB durch die Gerichte eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (hier von Art. 5 GG) vorgelegen hat, weil die Bedeutung dieses Grundrechts bei der Prüfung nicht hinreichend beachtet wurde. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht hier bejaht.

a) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst auch Tatsachenbehauptungen. Diese sind aus Sicht des BVerfG Voraussetzung der Bildung von Meinungen und daher auch vom grundrechtlichen Schutz erfasst. Dies scheidet nur dann aus, wenn ein Meinungsbezug vollständig fehlt. Zudem entfällt ein Schutz bei einer unwahren Tatsache, da diese gerade kein schützenswertes Gut darstellen. Hier ist die Unwahrheit – trotz des Freispruchs des Klägers – aber nicht erwiesen. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Insofern war der Schutzbereich eröffnet.
b) Hierin wurde auch eingegriffen, indem die Verbreitung untersagt wurde.
c) Der Eingriff ist auch nicht gerechtfertigt.
Eine Schranke liegt in Gestalt des § 1004 BGB zwar vor:

Die Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen. Zivilrechtliche Grundlage zur Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Wege eines Unterlassungsanspruches ist hier § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit § 823 BGB.

Deren Anwendung ist hier aber nicht verhältnismäßig.

Die sich gegenüberstehenden Positionen sind in Ansehung der konkreten Umstände des Einzelfalles in ein Verhältnis zu bringen, das ihnen jeweils angemessen Rechnung trägt.

Das Bundesverfassungsgericht nimmt hier eine sehr übersichtliche und strukturierte Verhältnismäßigkeitsprüfung vor die nachfolgend dargestellt wird:
Zunächst wird der Inhalt Äußerung problematisiert. Eine die öffentlichen Interessen betreffende Äußerung ist dabei stärker zu schützen:

Von Bedeutung ist […], ob die Äußerung lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen betrifft oder ob von der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <294>). Allerdings beschränkt sich die Meinungsfreiheit nicht allein auf die Gewährleistung eines geistigen Meinungskampfs in öffentlichen Angelegenheiten […]. Die Meinungsfreiheit ist als individuelles Freiheitsrecht folglich auch um ihrer Privatnützigkeit willen gewährleistet und umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen.

Zudem betont dass BVerfG, dass die Maßstäbe an die Prüfung der Angemessenheit dann andere sind, wenn die Äußerung durch vorherige Verlautbarungen faktisch „provoziert“ wurde:

Zu berücksichtigen ist weiter, dass grundsätzlich auch die überspitzte Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung unterliegt (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>). Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 24, 278 <286>). Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>).

Diese Abwägungsgesichtspunkte wurden aus Sicht des BVerfG vom LG und OLG verkannt. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass die Gerichte die Meinungsäußerung auf die Verlautbarung einer rein sachlichen Darstellung des Geschehens beschränkt werden soll. Diese Einschränkung ist aus Sicht des BVerfG gerade nicht geboten. Auch emotionale Faktoren sind zu beachten:

Indem die Gerichte aber davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf die Wiedergabe der wesentlichen Fakten und eine sachliche Darstellung des behaupteten Geschehens zu beschränken habe, verkennen sie die durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Diese Auffassung übersieht auch das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und auch Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. Zudem haben die Gerichte in die erforderliche Abwägung nicht den Druck eingestellt, der auf der Beschwerdeführerin lastete und sie dazu brachte, das Ergebnis des weithin von der Öffentlichkeit begleiteten Prozesses kommunikativ verarbeiten zu wollen.

Dies gilt erst Recht im Hinblick auf die vorhergehende Äußerung des Klägers:

Das Oberlandesgericht geht insoweit zwar zutreffend davon aus, dass der Beschwerdeführerin ein „Recht auf Gegenschlag“ zusteht. Die Gerichte verkennen aber, dass sie dabei nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt ist, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.

Aus diesem Grund liegt eine Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit vor. Die Bedeutung der Grundrechte wurde hier verkannt.
III. Examensrelevanz
Die Bedeutung der Konstellation für das Examen ist offensichtlich: Die Meinungsfreiheit ist ein häufig und gern geprüftes Grundrecht, dass sich ob seiner praktischen Relevanz und ob seiner ausdifferenzierten Inhalte sehr gut für eine Klausur eignet.
Am Beschluss des BVerfG lässt sich zudem die Systematik der Prüfung sehr gut nachvollziehen. Zum einen wird deutlich, dass das BVerfG allein eine Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch das Urteil prüft (ob also beim Urteil zentrale Wertungen verkannt wurden) zum anderen zeigt das Gericht hier auch sehr gut, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung – trotzdem sie häufig als „schwammig“ empfunden wird – an harte Kriterien und Tatsachen anzuknüpfen hat. Gerade dies bringt in der Klausur hohe Punktzahlen.
 

02.05.2016/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-05-02 13:00:142016-05-02 13:00:14BVerfG: Meinungsfreiheit schützt auch emotional zugespitzte Äußerungen
Tom Stiebert

Jura und Jan Böhmermann: Von Schmähkritik zur Richtlinienkompetenz

Aktuelles, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Strafrecht, Strafrecht AT, Strafrecht BT

Aktuell wird man unweigerlich medial von der Diskussion über eine Strafbarkeit Jan Böhmermanns bzgl. seines Erdogan-Gedichts verfolgt. Mittlerweile hat dies auch zu diplomatischen Verwerfungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei geführt.
Juristisch ist der Fall recht spannend und für eine schwierige mündliche Prüfung geeignet, da er in einem unbekannten Terrain (§ 104 ff. StGB) spielt und bei der Argumentation juristisches Fingerspitzengefühl gefragt ist.
Dabei stellt sich zum einen die Frage, ob überhaupt eine Strafbarkeit gegeben ist, Stichwort Schmähkritik (entsprechend dem Titel des Gedichts) vs. Satire, und zum anderen unter welchen Voraussetzungen eine Verfolgung der – unterstellten – Straftat möglich ist.
Entscheidend ist der komplette Inhalt des Beitrags. Eine Darstellung findet sich hier.
I. Strafbarkeit nach § 103 StGB
1. Grundrechtlicher Schutz
Hierzu müsste eine Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes erfolgt sein. Der Begriff der Beleidigung ist hierbei so wie bei § 185 StGB auszulegen. Der Begriff des Staatsoberhauptes gleicht dem des § 102 StGB. Entscheidend ist damit, ob eine Repräsentation des Staates durch die Person vorliegt.
Ferner müsste aber eine Beleidigung vorgelegen haben. Dies erfordert die Kundgabe der Nicht- oder Missachtung. Zu beachten sind dabei sämtliche Umstände des Einzelfalles. Dabei wird offensichtlich, dass die Strafbarkeit der Beleidigung stets auch einen Eingriff in die grundsätzlich geschützte Meinungs- und Pressefreiheit bzw. Kunstfreiheit darstellt. Die Grenzen zwischen Meinungs- und Pressefreiheit bzw. Kunstfreiheit sind hier fließend, handelt es sich bei der Satire doch um eine Hybridform, die Aspekte aller drei geschützten Rechte enthält.
Grundsätzlich handelt es sich bei Satire um eine Meinungsäußerung (ausführlich hierzu NJW 1995, 809). Durch die freie Gestaltung der kritisierten Titel tritt aber (zumindest nach dem offenen Kunstbegriff) auch der künstlerische Aspekt hinzu. Kerninhalt der Satire ist das Arbeiten mit Übertreibungen oder Verfremdungen. Dieses Kriterium beinhaltet aber gleichwohl die Voraussetzung, dass eine inhaltliche Aussage damit verbunden sein muss, die durch die gewählte Darstellungsform nur verzerrt wird. Es ist damit zu ermitteln, welche Aussage mit dem Mittel der Satire dargestellt wird. Ist die Satire hingegen allein als Provokation anzusehen, dann ist sie nicht mehr von den genannten Grundrechten gedeckt, denn es wird keine Meinung mehr kundgetan, sodass der Schutzbereich nicht eröffnet wäre. Es handelt sich dann insofern nur um Scheinsatire. Ungeachtet dessen verbietet sich eine zu strenge Betrachtung. Vielmehr muss jede noch mögliche Deutung als wahrscheinlich angesehen werden, ansonsten würden die Grundrechte zu wenig beachtet.
Bejaht man also allein eine Provokation in Form der Schmähkritik, so greift bereits der grundrechtliche Schutz nicht. Dies dürfte hier aber abzulehnen sein. Aus einem einfachen Grund: Das Gedicht selbst – der Titel ist ja schon eindeutig – ist natürlich losgelöst vom Kontext als Schmähkritik anzusehen. Der Kontext und die Begleitumstände dürfen aber bei der Prüfung nicht außen vorgelassen werden. Der Beitrag wurde hier mit einer langen Vorrede, die gerade die Grenze von Schmähkritik und Satire anlässlich des extra3-Songs problematisierte – angekündigt. Bewusst sollte auf die – aus Sicht aller – übertriebene Reaktion des türkischen Präsidenten hingewiesen werden. Der Aussagegehalt der Äußerung kann daher jedenfalls lauten: Die Reaktion war übertrieben, es geht noch viel schlimmer. DAS hier wäre wirklich schlimm.
Ein solcher Aussagegehalt deckt sich auch mit dem Inhalt der Sendung, die eben genau die Vorkommnisse zu extra3 problematisierte. Damit ist jedenfalls eine Deutung als Satire denkbar. Der Finger wird hier bewusst in die Wunde gelegt und die – aus Sicht des Autors – übertriebene Reaktion Erdogans problematisiert. Der Schutz des Grundgesetzes greift daher.
Die Abwägung fällt hier zugunsten der Meinungs- und Pressefreiheit aus.
2. Ausnahme Schmähkritik
Eine Abwägung würde dort zu Lasten der Satire ausfallen, wenn diese als Schmähkritik anzusehen wäre, wenn also nicht die satirische Äußerung im Vordergrund stünde.
Eine Eingruppierung als Schmähkritik verbietet sich hier aber. Das BVerfG legt dazu dar (Beschluss v. 26.6.1990):

Eine herabsetzende Äußerung nimmt vielmehr erst dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person bestehen

Dies ist hier – auch aufgrund des Kontextes – nicht gegeben. Es sollte sich bewusst und überspitzt und pointiert mit dem dargelegten Sachverhalt auseinandergesetzt werden. Die Äußerung beruht daher auf einem sachlichen Grund und ist zulässig.
 
II. Strafbarkeitsvoraussetzung des § 104a StGB
Besondere Beachtung verdient zudem der § 104a StGB. Bei juris findet sich zu dieser Norm eine einzige Fundstelle. Die Bedeutung ist daher offenkundig gering. Gerade aus diesem Grund eignet er sich für eine freie Argumentation in der mündlichen Prüfung, die auch öffentlich-rechtliche Erwägungen berücksichtigt.
Es muss ein „Strafverlangen der ausländischen Regierung“ vorliegen und „die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt“ haben.
Gerade letztere Voraussetzung ist problematisch und führt zu politischen Verwerfungen, stellt sich doch die Frage, wie weit die Bundesregierung hier dem türkischen Präsidenten entgegenkommen darf und sollte.
1. Zuständigkeit
Fraglich ist zunächst, wer überhaupt für die Erteilung der Ermächtigung zuständig ist. Dies dürfte – so die Kommentarliteratur – aufgrund der Ressortzuständigkeit der Bundesminister des Auswärtigen sein (Art. 65 S. 2 GG). Fraglich ist aber, ob die Bundeskanzlerin bei Vorliegen eines Dissens aufgrund ihrer Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG) vorrangig entscheiden darf. Dies dürfte wohl zu verneinen sein. Die Richtlinienkompetenz ist bereits qua ihres Wortlauts auf das Innenverhältnis zum Minister beschränkt, sodass eine Weisung der Kanzlerin ergehen dürfte. Nach außen könnte der zuständige Minister aber weiterhin wirksam tätig werden, müsste aber natürlich die Entlassung aus dem Ministeramt als Konsequenz fürchten.
2. Abwägungsgründe
Fraglich ist zuletzt, welche Erwägungen bei der Erteilung der Ermächtigung anzustellen sind. Zunächst ergibt sich aus der Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), dass die Ermächtigung dann nicht erteilt werden darf, wenn eine Strafbarkeit nach der Überzeugung des zuständigen Ministers sicher ausscheidet. Auch die mögliche Gefährdung der Beziehungen zur Türkei könne dann nicht beachtet werden.
Schwerer zu beantworten ist – mangels Literatur hierzu – die Frage, ob bei einer möglichen Strafbarkeit dennoch die Ermächtigung untersagt werden kann. Dies dürfte wohl im Einzelfall zulässig sein. Die Norm des § 104a StGB stellt auch auf den Schutz diplomatischer Beziehungen ab. Aus diesem Grund ist im Einzelfall zum Schutz eine Verweigerung möglich.
Primär dient der Vorbehalt der Ermächtigung aber dazu, die Einmischung ausländischer Staaten in das deutsche Strafrecht zu verhindern. Der deutsche Staat möchte stets das Letztentscheidungsrecht bzgl. seiner Rechtsordnung haben.
III. Fazit
Spannende juristische Fragen stellen sich zweifelsohne. Eine einfache Beantwortung ist – gerade ob der komplizierten Abwägung – nicht möglich. Dennoch sollte ein sorgfältiges Judiz nicht durch die mediale Keule ersetzt werden.

11.04.2016/15 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-04-11 15:55:052016-04-11 15:55:05Jura und Jan Böhmermann: Von Schmähkritik zur Richtlinienkompetenz
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG: „FCK CPS“ zwischen Meinungsäußerung und Beleidigung

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Das BVerfG hat mit Beschluss vom 26. Februar 2015 – 1 BvR 1036/14 entschieden, dass das Tragen eines Ansteckers mit der Aufschrift „FCK CPS“ eine von Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Meinungsäußerung darstellen kann und eine hierauf beruhene Verurteilung wegen Beleidigung daher verfassungswidrig ist.

Die Beschwerdeführerin wurde von einer Polizeistreife in ihrem Wohnort angetroffen, als sie einen Anstecker trug, der mit der Buchstabenkombination „FCK CPS“ beschriftet war. Sie war auf Aufforderung nicht bereit, ihn abzunehmen. Einige Wochen zuvor war es zu einem ähnlichen Vorfall gekommen, bei dem die Beschwerdeführerin ein T-Shirt mit der genannten Buchstabenfolge getragen hatte und anlässlich dessen die kontrollierenden Polizeibeamten geäußert hatten, das Tragen dieses Schriftzugs stelle eine Beleidigung dar, die in Zukunft nicht mehr toleriert werde. Die Beschwerdeführerin wurde anschließend wegen Beleidigung verurteilt.

I. Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
In der Klausur sollte vor Prüfung der Grundrechtsverletzung der Maßstab der folgenden Prüfung festgelegt werden. Bei Urteilsverfassungsbeschwerden erwartet der Korrektor den Hinweis darauf, dass das BVerfG nicht das einfache Recht prüft, sondern allein dessen verfassungskonforme Anwendung, mithin die Verletzung verfassungsspezifischen Rechts; es ist keine Superrevisionsinstanz.
Zunächst müsste der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG eröffnet sein. Das BVerfG wiederholt formelhaft die Definition des Leitbegriffes „Meinung“:

Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet. Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen (BVerfGE 93, 266 <289>). Sie genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird (BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>).

Der Aufdruck „FCK CPS“ kann nicht als inhaltsleer eingeordnet werden, sondern ist bei verständiger Deutung als „Fuck Cops“ zu verstehen. Hierdurch wird eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck gebracht, weswegen es sich um eine Meinungsäußerung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG handelt. In der Klausur sollte hier von der Formalbeleidigung abgegrenzt werden.
II. Eingriff
Durch das strafrechtliche Urteil und die hiermit verbundene Sanktionierung der Ausübung grundrechtlich geschützten Verhaltens wird der Schutzbereich verkürzt, weswegen ein Eingriff vorliegt.
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
1. Einschränkungsmöglichkeit
Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit steht unter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG. Hier kommt als Einschränkungsmöglichkeit § 185 StGB als allgemeines Gesetz in Betracht.
2. Verfassungskonformität des § 185 StGB
§ 185 StGB richtet sich nicht gegen eine bestimmte Meinung und schützt als schlechthin schützenswertes Rechtsgut die persönliche Ehre. Es handelt sich mithin um ein allgemeines Gesetz nach der Kombinationslehre des BVerfG.
3. Verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall
§ 185 StGB müsste nun auch im konkreten Fall durch die Fachgerichte verfassungskonform angewendet worden sein. Das BVerfG betont an dieser Stelle die Wichtigkeit der Meinungsfreiheit, die in der Wechselwirkungslehre zum Ausdruck kommt:

Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen dabei jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 124, 300 <324>; stRspr).

Hier dient der Eingriff durch das strafrechtliche Urteil dem Schutz des Persönlichkeitsrechtes der betroffenen Polizisten. Fraglich ist jedoch, inwieweit diese überhaupt in ihrer persönlichen Ehre durch die allgemeine Aussage „Fuck Cops“ betroffen sind. Es geht um die Frage der Kollektivbeleidigung. Das BVerfG verlangt folgendes Abwägungsvorgehen:

Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht.

Kurzum: Bei unüberschaubar großen Gruppen, liegt eher keine Betroffenheit vor. Es bedarf einer personalisierenden Zuordnung. Eine solche läge beispielsweise vor, wenn bei einer Verkehrskontrolle absichtlich der Anstecker mit „FCK CPS“ angelegt würde, da dessen Aussage sich dann auf den kontrollierenden Wachtmeister bezöge. Anders jedoch – so das BVerfG – soweit allein ein bloßer Aufenthalt im öffentlichen Raum vorliegt, bei dem zufällig Polizisten angetroffen werden. Hier liegt mit „FCK CPS“ eine allgemein kritische Aussage vor, die nicht einzelne Polizisten diffamieren soll, sondern auf Unzulänglichkeiten bzw. die Ablehnung der Polizei insgesamt aufmerksam machen soll.
IV. Examensrelevanz
Ein Fall, der so in einer grundrechtlich geprägten Ö-Klausur laufen kann. Aber auch in einer strafrechtlichen Prüfung von § 185 StGB können grundrechtliche Wertungen zu berücksichtigen sein, so dass sogar in einer Strafrechtsklausur mit dem Fall zu rechnen ist. Dann liegt der Schwerpunkt noch deutlicher auf der Frage nach der Strafbarkeit einer „Kollektivbeleidigung“ an sich.

28.04.2015/1 Kommentar/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2015-04-28 13:45:042015-04-28 13:45:04BVerfG: „FCK CPS“ zwischen Meinungsäußerung und Beleidigung
Redaktion

OLG Saarbrücken: Allgemeines Persönlichkeitsrecht bei Amtsträgern

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Entscheidungsname: Amtsträger in Nöten
Fundstelle: Saarländisches Oberlandesgericht, NJW-RR 2014, 675-680
Problemaufriss
Die Entscheidung des OLG gibt Anlass in das allgemeine Persönlichkeitsrecht einzutauchen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht nicht selten zwischen dem Öffentlichen und dem Zivilrecht und damit zwischen der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Daher sollte man sich zunächst vor Augen führen, woher das allgemeine Persönlichkeitsrecht stammt und was es schützen will. Über das Scharnier der Drittwirkung von Grundrechen wirkt es ebenso im Zivilrecht und führt oft zu Streitigkeiten zwischen Privaten, die sich durch einen anderen Privaten in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt sehen. Danach sollte man klar eingrenzen, was gefordert wird. Zentral sind Unterlassungs- und Widerrufsansprüche sowie Geldentschädigungsansprüche. Geldentschädigungsansprüche werfen außerdem dogmatische Fragen auf. Ausnahmsweise erkennt die Rechtsprechung auf der Schadenseite eine Genugtuungsfunktion an, die eine Erweiterung des allgemeinen Schadensersatzrechts der §§ 249ff. BGB darstellen. Insbesondere aufgrund der Schnittstelle zwischen dem Öffentlichen und dem Zivilrecht sowie der hohen Praxisrelevanz ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht höchst prüfungsrelevant. Die Entscheidung sollte Anlass sein, sich mit den Strukturen des Instituts auseinanderzusetzen und die aktuelle Rechtsprechung zu verfolgen. Dabei geht das Gericht vor allem auf die „Sonderrolle“ eines Amtsträgers ein und problematisiert die Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Nachfolgend behandelt es die „klassische“ Frage, wo die Grenze zwischen Meinungskundgabe und Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verläuft.
Sachverhalt
Der Kläger ist Landrat und gehört der SPD an. Der Kläger trat auf einer Gegenveranstaltung zu einer Veranstaltung auf, die der rechten Szene zuzuordnen ist. Hintergrund war eine vom Zeugen W. angemeldete Kundgebung des Nationalen Widerstands Z.“ in H. am 2.3.2013, an der auch der Beklagte und dessen Verlobte, die Zeugin R., teilnahmen. Anwesend waren auch Gegendemonstranten und Polizeibeamte. Gegen Ende der Veranstaltung wurde die erste Strophe des „Liedes der Deutschen“ abgespielt. Der Kläger untersagte das in seiner Funktion als Kreispolizeibehörde. Versammlungsteilnehmer hielten die Untersagung für unzulässig, und es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, an der sich auch der Beklagte, die Zeugin R. und der Zeuge W. beteiligten. Die Zeugin R. trat vor den Kläger und machte mit ihrem Smartphone Aufnahmen. Er wehrte das ab; ob er dabei die Hand der Zeugin quetschte und ihr Handy beschädigte, ist streitig. Jedenfalls wurde er von der Zeugin ins Gesicht geschlagen, worauf er nach dem Vorbringen des Beklagten mit einem Faustschlag ins Gesicht reagiert haben soll. Polizeibeamte griffen ein, die Zeugin ging zu Boden. Sie wurde bewusstlos, erlitt Verletzungen und wurde notärztlich behandelt.
Der Beklagte – der nach eigenen Angaben den angeblichen Faustschlag selbst nicht gesehen hatte – berichtete im Internet über das Geschehen. Auf der Internetseite der NPD N.-O. veröffentlichte er einen Artikel unter dem Titel „SPD Landrat schlägt NPD Aktivistin R. R. nieder“. Darin hieß es: „[…] Der örtliche SPD-Landrat hat demnach sich augenscheinlich von der Nationalhymne, die Bestandteil des Liedes der Deutschen ist, ‚provoziert‘ gefühlt und schlug R. R. (NPD, Mitglied des NPD-Parteivorstandes) nieder.
Es war kurz vor dem geplanten Ende der dritten Kundgebung im Rahmen der „Fahrt der Erinnerung“ des Nationalen Widerstands Z. […]. Zum Abschluss sollte […] die Nationalhymne gespielt werden. [Das] war für den SPD-Apparatschik C. L. eine […] unvorstellbare Provokation.[…]
Im Rahmen einer Schlichtung durch NPD-Parteivorstandsmitglied R. R., versuchte Landrat L. zunächst, der vierfachen Mutter das Funktelefon gewaltsam zu entreißen, weil er vermutete, dass sie das Gespräch damit aufgezeichnet habe. […] Er wendete dabei dermaßen heftige Gewalt an, dass R. R. Quetschungen an der Hand erlitt und das Display Ihres iPhones durch den Druck zerbrach. Als R. R. diese Gewaltattacke in legitimer Notwehrabsicht abwehrte, schlug L. der Rednerin der NPD brutal mit der Faust ins Gesicht. Das überraschte Opfer blutete. R. R. erlitt hierdurch eine Prellung des Nasenbeins, Nasenbluten und eine Schädelprellung sowie Quetschungen und blutige Kratzspuren an der Hand.[…]
Im Wesentlichen gleichlautende Berichte veröffentlichte der Beklagte auf der Facebook-Seite der NPD und auf der Internetseite „DS Aktuell“. Sie schlossen jeweils mit der Angabe „Verantwortlich: M. W. Pressesprecher der KPV“ bzw. „der Kommunalpolitischen Vereinigung (KPV) der NPD“.
Der Kläger hat den Beklagten unter dem 4.3.2013 aufgefordert, die Verbreitung der Artikel zu unterlassen, und am 8.3.2013 den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt, mit der dem Beklagten aufgegeben werden sollte, die Berichte aus dem Internet zu entfernen und es zu unterlassen, sie im Internet oder auf eine andere Art der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Zeugin R. R. tätlich angegriffen und ihr Mobiltelefon beschädigt oder zerstört zu haben, hat der Kläger von sich gewiesen. Er hat sich durch die Berichterstattung – unter anderem durch die Bezeichnung als „Frauenschläger“ – in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht schwerwiegend verletzt gesehen. Der Kläger hat zum Ablauf des Vorfalls an Eides statt versichert, die Zeugin R. habe sich unmittelbar vor ihn gestellt und ihm ihr Mobiltelefon direkt vors Gesicht gehalten; er habe die Linse mit seiner linken Hand verdeckt und das Telefon nach unten gedrückt. Die Zeugin habe ihm dann den – unstreitigen – Schlag ins Gesicht versetzt, woraufhin sie von den umstehenden Polizisten unter heftiger Gegenwehr überwältigt worden sei.
 
Entscheidung des Gerichts
Das Gericht bejahte einen Anspruch auf Unterlassung solcher Äußerungen. Die Rechtsgrundlage des Anspruches stelle § 1004 BGB i. V. m. Art. 2 I, 1 I GG dar. Dazu stellt das Gericht zunächst fest: „Gegen Angriffe auf die persönliche Ehre durch Behaupten oder Verbreiten von Äußerungen, die die Wertschätzung, den Ruf, das Ansehen einer Person beeinträchtigen, genießt sie den umfassenden negatorischen und deliktischen Schutz des Persönlichkeitsrechts. Das Recht der persönlichen Ehre wird verletzt, wenn der Einzelne beschimpft, verächtlich gemacht oder herabgewürdigt wird. Das kann insbesondere dadurch geschehen, dass er, wie hier, eines strafrechtlich sanktionierten oder eines moralisch verwerflichen Verhaltens bezichtigt wird.
Damit hat das Gericht die Grundlage für den Anspruch gelegt. Die interessante Frage hinter diesem Fall ist jedoch, ob und in welchen Bahnen sich ein Amtsträger auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen darf. Steht er in einer speziellen Sphäre, die seinen Schutz mindert, oder aber kommt ihm der volle Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugute? Das Gericht beantwortet diese Frage eindeutig: „Die Rechtsauffassung des Beklagten ist insoweit richtig, als Ansprüche auf die Abwehr von Beleidigungen, üblen Nachreden und Verleumdungen gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 185, 186, 187 StGB auch juristischen Personen zustehen können. Was juristische Personen des öffentlichen Rechts anbelangt, so haben diese zwar keine eigentliche „persönliche Ehre“, gleichwohl genießen sie, wie § 194 Abs. 3 StGB zeigt, im Zusammenhang mit der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben strafrechtlichen Ehrenschutz, der – vermittelt über die §§ 1004, 823 Abs. 2 BGB, 185 ff. StGB – auch zivilrechtliche Unterlassungsansprüche begründen kann, sofern es um das Mindestmaß an öffentlicher Anerkennung geht, ohne das die Wahrnehmung ihrer Funktionen beeinträchtigt wäre.
Der Beklagte irrt aber mit der Annahme, hier sei es allein die hinter der Behörde Landrat stehende Körperschaft, die berechtigt sein könne, die Unterlassung der streitgegenständlichen Äußerungen zu verlangen. Es mag sein, dass im gegebenen Fall auch die Anstellungskörperschaft vom Beklagten verlangen könnte, er möge die Behauptung, einer ihrer Organwalter habe eine Versammlungsteilnehmerin niedergeschlagen, unterlassen. Das würde jedoch an der davon unabhängigen Anspruchsinhaberschaft und Aktivlegitimation des Klägers nichts ändern Es spielt für den Ehrenschutz des Klägers keine Rolle, dass er in seiner amtlichen Eigenschaft als Versammlungsbehörde/Kreispolizeibehörde am Ort der Kundgebung gewesen ist. Die Annahme, ein Amtsträger ließe während der Zeit, in der er dienstlich tätig ist, seine Ehre und damit seinen Ehranspruch im Privaten zurück und reduzierte sich auf seine öffentliche Funktion, wäre mit der jedem Menschen unantastbar zukommenden Würde (Art. 1 GG) nicht zu vereinbaren. Eine Person bleibt bei allem, was sie tut, Person und behält auch in Lebenssituationen der Amtsausübung ihre individuelle und höchstpersönliche Würde und Ehre. Diese ist folgerichtig potenziell auch stets verletzbar, insbesondere, wie dargelegt, dadurch, dass die Person durch den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, in ein schlechtes Licht gerückt wird. Es muss ihr unbenommen sein, sich aus eigenem Recht gegen die damit verbundene Herabwürdigung zu verwahren, weil ihre Rehabilitation nicht davon abhängen kann, ob die hinter ihr stehende Körperschaft rechtliche Maßnahmen ergreift, die zudem in erster Linie der Wahrung des Ansehens der Körperschaft und allenfalls mittelbar dem des Organwalters dienen würden. Hinzu kommt: Wer Straftaten begeht, wird dafür strafrechtlich persönlich zur Verantwortung gezogen und hat auch für die zivilrechtlichen Folgen einzustehen, gleichviel ob er zur Tatzeit private Freizeitaktivitäten betrieb oder ob er mit einer amtlichen Aufgabe befasst war. Umgekehrt muss, wer dem Vorwurf strafrechtlich relevanten Verhaltens ausgesetzt wird, die Verteidigung gegen diesen Vorwurf selbst in die Hand nehmen dürfen.“
 
Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung des Gerichts vermag zu überzeugen. Neben der Wiederholung der Grundsätze des allgemeinen Persönlichkeitsrechts stellt sie die Rechte eines Trägers eines öffentlichen Amtes in den Vordergrund. Zwar ist der Schutz desjenigen, der in der Öffentlichkeit kraft seines öffentlichen Amtes auftritt, grundsätzlich eingeschränkt. Er ist jedoch nicht seiner Persönlichkeitsrechte beraubt. Dazu gehört, dass er sich gegen unwahre Tatsachenbehauptungen oder Meinungsäußerungen, die in den Bereich schmähender Aussagen vordringen, erwehren darf. Fraglich ist, wo die Grenze im staatlichen Bereich verläuft. Hier hat das Gericht festgestellt, dass einem Amtsträger ein gleichwertiger Schutz wie einem Privatmann zuteil wird. Dem ist nur insoweit zuzustimmen, als dass sich eine öffentliche Person nicht vollumfänglich auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen darf, wenn er mit strittigen Thesen oder provozierenden Aussagen in die Öffentlichkeit dringt. Außerdem muss trennscharf unterschieden werden, ob sich die Kritik gegen die Person oder die Sache wendet. Nur bei Kritik gegen die Person steht dem Amtsträger ein Anspruch zu. Dieser ist stets dann zu bejahen, wenn er einer Straftat bezichtigt wird, die er nicht begangen hat. Dabei ist auch die Wertung des § 186 StGB zu würdigen: Wer etwas behauptet, muss sich vergewissern, dass es wahr ist. Das Risiko der Unwahrheit trägt also derjenige, der behauptet. Diese Wertung sollte nicht durchbrochen werden. Der Amtsträger muss sich effektiv erwehren können.
Andere aktuelle Entscheidungen des BGH behandeln den genauen Grenzverlauf zwischen erlaubter Meinungskundgabe und unberechtigtem Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieser Bereich ist von einer ausgeprägten Kasuistik geprägt. Maßgeblich sind stets dieselben Fragen: In welcher Sphäre wird der „Verletzte“ getroffen? Mit welcher Intensität wird der „Verletzte“ kritisiert oder beansprucht? Aus welchem Kontext heraus? Hier müssen die Kriterien sitzen. Die konkrete Bewertung des Einzelfalls obliegt dem Ermessensspielraum des Prüflings, wobei die abstrakten Kriterien und Argumentation von besonderer Wichtigkeit sind.
Examensrelevanz
Die Entscheidung hat eine erhöhte Examensrelevanz, weil sie zwei Dinge miteinander verbindet. Auf der einen Seite lassen sich „bekannte“ Strukturen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts prüfen. Dies zeigt dem Korrektor, ob grundlegendes Wissen auf diesem Gebiet vorhanden ist. Kandidatinnen oder Kandidaten, die sich in höhere Punktebereiche vorwagen möchten, können ihr Problembewusstsein unter Beweis stellen. Sie erkennen in der Amtsträgereigenschaft ein Problem und erörtern es anhand der Kriterien des Gerichts und ihren Kenntnissen aus dem Öffentlichen Recht.
 

07.02.2015/1 Kommentar/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2015-02-07 09:01:102015-02-07 09:01:10OLG Saarbrücken: Allgemeines Persönlichkeitsrecht bei Amtsträgern
Jennifer Eggenkämper

EuGH: Parodien mit diskriminierender Aussage sind unzulässig

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Der EuGH hat mit Urteil vom 3.9.2014 (C-201/13) entschieden, dass der Rechteinhaber an einem parodierten Werk verlangen kann, dass sein Werk nicht mit der Parodie in Verbindung gebracht wird, wenn diese eine diskriminierende Aussage enthält. Zudem nahm er in seinem Urteil Stellung zu den wesentlichen Merkmalen einer Parodie.
Hintergrund
Nach der Richtlinie über das Urheberrecht 2001/29/EG hat der Urheber das ausschließliche Recht, die Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe seines Werkes zu erlauben. Die Mitgliedsstaaten können jedoch erlauben, dass ein Werk ohne Zustimmung des Urhebers zum Zwecke von Karikaturen, Parodien oder Pastiches genutzt wird. Belgien hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Sachverhalt
Johan Deckmyn, ein Mitglied der flämischen Partei Vlaamse Belang, verteilte auf einem Neujahrsempfang der Stadt Gent Kalender für das Jahr 2011. Auf der Vorderseite der Kalender war eine Karikaturzeichnung abgebildet. Die dieser zugrunde liegende Originalzeichnung von Willy Vandersteen mit dem Titel „De Wilde Weldoener“ (Der wilde Wohltäter) zeigt eine mit Münzen um sich werfende Comicfigur. Um diese herum befinden sich mehrere Personen, die die Münzen aufsammeln. In der streitgegenständlichen Karikatur, die mit dem gleichen Titel überschrieben war, wurde diese Comicfigur durch den Bürgermeister der Stadt Gent ersetzt, während die anderen Personen durch verschleierte Personen farbiger Hautfarbe ersetzt wurden.
Die Erben von Vandersteen sowie weitere Inhaber von Rechten an der Zeichnung erhoben Klage gegen Deckmyn und den Vrijheidsfonds (Organisation, die die Partei finanziert), weil sie durch die Zeichnung und deren öffentliche Wiedergabe ihre Urheberrechte verletzt sahen. Vor Gericht trugen die Beklagten vor, die streitgegenständliche Zeichnung sei eine politische Karikatur und folglich eine Parodie, so dass die von der Richtlinie für das Urheberrecht 2001/29/EG für diese Art von Werken geschaffene Ausnahmeregelung anzuwenden sei.Die Kläger waren der Ansicht, eine Parodie selbst müsse von Ursprünglichkeit zeugen. Außerdem enthalte die Zeichnung eine diskriminierende Aussage.
Die erste Instanz sah das streitgegenständliche Werk als Parodie und daher als von der Meinungsfreiheit geschützt an. Das zuständige Rechtsmittelgericht bat den EuGH nun darum, die Voraussetzungen zu präzisieren, die ein Werk erfüllen muss, um als Parodie eingestuft werden zu können.
Entscheidung
Der EuGH entschied, dass der Begriff der Parodie entsprechend seinem Sinn nach den gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen sei. Dabei sei zu berücksichtigen, in welchem Zusammenhang er verwendet wird und welche Ziele mit der Richtlinie 2001/29/EG verfolgt werden. Die wesentlichen Merkmale eine Parodie bestünden zum einen darin, an ein bestehendes Werk zu erinnern, von dem sie sich wahrnehmbar unterscheiden muss. Zum anderen darin, einen Ausdruck von Humor oder eine Verspottung darzustellen. Eine Parodie müsse entgegen der Ansicht der Kläger jedoch keinen anderen eigenen ursprünglichen Charakter haben als den, gegenüber dem ursprünglichen Werk wahrnehmbare Unterschiede aufzuweisen. Es sei auch weder erforderlich, dass die Parodie einem anderen als dem Urheber des ursprüngliches Werkes zugeschrieben werden kann, noch dass sie das ursprüngliche Werk selbst betrifft oder das parodierte Werk nennt.
Bei der Anwendung dieser Ausnahmeregelung müsse jedoch ein angemessener Interessenausgleich zwischen den Interessen und Rechten der Rechteinhaber auf der einen Seite und des Rechts auf freie Meinungsäußerung der Person, die sich auf diese Ausnahme beruft, auf der anderen Seite sichergestellt werden. Enthält eine Parodie eine rassistische oder sonstige diskriminierende Aussage, haben die Rechteinhaber an dem zugrunde liegenden Werk grundsätzlich ein schützenswertes Interesse daran, dass ihr Werk nicht mit dieser Aussage in Verbindung gebracht wird.
Die Beurteilung, ob im konkreten Einzelfall bei der Anwendung der Ausnahmeregelung ein angemessener Interessenausgleich gewahrt wird, sei Sache des belgischen Gerichts.
Fazit
Auch wenn der EuGH die Entscheidung, ob die streitgegenständliche Karikatur nun diskriminierend ist oder nicht, dem Rechtsmittelgericht überlässt, ist davon auszugehen, dass er von einer Diskriminierung ausgeht. Auch wenn diese Entscheidung im vorliegenden Fall angemessen erscheint, ist dies vor dem Hintergrund nicht unproblematisch, dass die überspitzte Darstellung von Menschen oder gesellschaftlichen Zuständen grade das Wesen einer von dem Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) geschützten Karikatur ausmacht, die sich oftmals am Rande des guten Geschmacks bewegt.

08.09.2014/5 Kommentare/von Jennifer Eggenkämper
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Jennifer Eggenkämper https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Jennifer Eggenkämper2014-09-08 09:00:202014-09-08 09:00:20EuGH: Parodien mit diskriminierender Aussage sind unzulässig
Redaktion

Die Meinungs- und Medienfreiheit

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Verfassungsrecht, Verschiedenes


Der Verlag De Gruyter stellt jeden Monat einen Beitrag aus der Ausbildungszeitschrift JURA – Juristische Ausbildung zwecks freier Veröffentlichung auf Juraexamen.info zur Verfügung.
Der heutige Beitrag

“Die Meinungs- und Medienfreiheit” von Prof. Dr. Walter Frenz

beleuchtet die Grundlagen dieser aus Art. 5 Abs. 1 zu entnehmenden Grundrechte. In einer „mediengewohnten“ Informationsgesellschaft gehört das Grundrecht der Meinungsfreiheit nahezu unausweichlich zu den am meisten diskutierten Verfassungsgütern. Vor allem, wenn es um die Kollision der Meinungsfreiheit mit anderen Grundrechten, wie insbesondere dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, geht, wecken die juristischen Auseinandersetzungen regelmäßig ein breites öffentliches Interesse. Aus gegebenem Anlass ist eine Auffrischung der Grundkenntnisse auch im Hinblick auf die im Zusammenhang mit §§ 169, 176 GVG denkbaren Fragestellungen sehr zu empfehlen. Der vorliegende Aufsatz vermittelt anhand wichtiger Judikate des Bundesverfassungsgerichts die wesentlichen Grundlagen zu Art. 5 Abs. 1 GG.
Den Beitrag findet Ihr hier.

10.04.2013/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2013-04-10 10:00:192013-04-10 10:00:19Die Meinungs- und Medienfreiheit
Christian Muders

LG Tübingen: Keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch Wikipedia-Artikel

Deliktsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht, ZPO

Anm. zu LG Tübingen, Urteil v. 18.06.2012 – 7 O 525/10
1. Um was geht es?
Geklagt hatte ein außerplanmäßiger Professor an der Universität Tübingen gegen die Wikimedia-Foundation Inc., eine Stiftung nach dem Recht des amerikanischen Bundesstaates Florida, die in San Francisco ansässig ist. Anlass war ein Beitrag auf der deutschen Internetseite der Beklagten, in welchem sowohl über den Kläger selbst als auch über dessen berufliches Wirken berichtet wird. Insbesondere wird dort auf seinen Lebenslauf, seine Mitgliedschaft in katholischen Studentenverbindungen und seine Schriften Bezug genommen. Einer Veröffentlichung dieses Beitrages hatte der Kläger im Vorfeld nicht zugestimmt und forderte mit Schreiben vom 25.10.2010 die Beklagte auf, den Beitrag zu entfernen und eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Hierauf reagierte die Beklagte nicht. Da der Kläger der Auffassung war, er werde durch den Eintrag in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt, erhob er vor dem LG Tübingen Klage mit dem Antrag, es zu unterlassen, auf der Internetseite über seine persönlichen Daten zu berichten.
2. Was sagt das Gericht?
Das Gericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen.
a) Zulässigkeit
Dabei ist es zunächst auf seine internationale Zuständigkeit eingegangen und hat diese unter Hinweis auf den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung bejaht:

Nach § 32 ZPO ist für Klagen aus unerlaubter Handlung das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Handlung begangen ist. Begehungsort ist dabei sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort, wobei neben Ansprüchen auf Schadensersatz auch Unterlassungsansprüche erfasst werden. Zur Entscheidung über Klagen wegen der Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch im Internet abrufbare Veröffentlichungen sind die deutschen Gerichte nach § 32 ZPO dann international zuständig, wenn die beanstandeten Inhalte objektiv einen deutlichen Bezug zum Inland aufweisen und eine Kollision der widerstreitenden Interessen im Inland tatsächlich schon eingetreten sein kann oder noch eintreten kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Kenntnisnahme der Veröffentlichung im Inland im Gegensatz zur bloßen Abrufbarkeit der Veröffentlichung näher liegt und die vom Kläger behauptete Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts durch eine Kenntnisnahme auch im Inland eintreten kann. Aufgrund des Wirkens des Klägers im Inland liegt eine Kenntnisnahme des Eintrages im Inland deutlich näher als eine solche im Ausland. Der Kläger hat vorgetragen, dass die Internetseite vor allem in Hinblick auf seine Stellung als außerplanmäßiger Universitätsprofessor und seine anstehenden Bewerbungen im Inland abgerufen wird.

b) Begründetheit
Im Folgenden hat das LG Tübingen allerdings einen materiellen Anspruch auf Unterlassung bzw. Beseitigung des Wikipedia-Artikels abgelehnt und insoweit dem Vortrag des Klägers bereits die Schlüssigkeit abgesprochen.
aa) Hierbei bejaht das Gericht zunächst die Anwendbarkeit des deutschen Rechts und verweist dazu auf die Regelungen des EGBGB:

Auf die geltend gemachte Rechtsverletzung ist deutsches Recht anwendbar. Das anwendbare Recht ergibt sich aus den Art. 40 ff. EGBGB, denn außervertragliche Schuldverhältnisse sind nach Art. 1 Abs. 2 lit. g der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (ROM II-VO) vom Anwendungsbereich der ROM II-VO ausgenommen. Art. 40 EGBGB unterfällt dabei auch der Persönlichkeitsschutz einschließlich der sich daraus herleitenden Unterlassungsansprüche. Der Kläger übte jedenfalls sein Bestimmungsrecht aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 EGBGB in der Klageschrift aus. Er berief sich in dieser ausdrücklich auf deutsche Normen. Zudem trug er vor, dass er im Inland außerordentlicher Professor ist, sich neu bewerben will und die Internetseite mit dem betreffenden Eintrag in Deutschland abrufbar ist, die Verletzung seines Persönlichkeitsrechts also im Inland eintritt.

bb) Eine mögliche Anspruchsgrundlage für den Kläger erblickt das Gericht sodann in dem sog. „quasinegatorischen“ Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch analog § 1004 i.V.m. § 823 BGB. Von der erstgenannten Norm werden ihrem Wortlaut nach zwar nur Beeinträchtigungen des Eigentumsrechts (abzüglich des Entzugs, für welchen § 985 BGB gilt) erfasst, nach wohl allgemeiner Ansicht sind indes auch sonstige absolute Rechte in entsprechender Anwendung der Vorschrift vor Verletzungen geschützt. Denn es erscheint widersinnig, bei erfolgtem Eingriff zwar einen grundsätzlichen Anspruch des Geschädigten auf Naturalrestitution zu bejahen, ihm aber das Recht zu verwehren, bereits (zuvor) den drohenden Eingriff selbst abwehren zu können. Hierbei nimmt das Gericht zunächst das Vorliegen eines Eingriffs in ein von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes absolutes Recht des Klägers an und zwar in Gestalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, welches durch die Veröffentlichung personenbezogener Daten tangiert werde:

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches ein sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist, sichert dem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann (vgl. Palandt/Sprau, 71. Auflage 2012, § 823, Rn.112). Hieran anknüpfend ist vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Dieses verleiht dem Einzelnen die Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Hierunter fällt auch das Recht des Klägers grundsätzlich selbst darüber zu bestimmen, ob und welche Informationen über seine Person auf der streitigen Internetseite der Beklagten veröffentlicht werden. (…) Infolge des Bereithaltens der beanstandeten Inhalte zum Abruf im Internet liegt auch ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers durch die Beklagte vor. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, dass er über den Eintrag auf der Seite https://de.wikipedia.org und darüber, ob dessen persönliche Daten wie Beruf, Lebenslauf und Mitgliedschaft in katholischen Studentenverbindungen, veröffentlicht werden, nicht selbst entschieden hat. Vielmehr stellte die Beklagte den Eintrag ohne sein Mitwirken ein und dieser ist grundsätzlich jedem interessierten Internetnutzer zugänglich.

cc) Im Folgenden verneint die Kammer allerdings eine Rechtswidrigkeit dieses Eingriffs. Bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht handelt es sich – was etwa auch für das Recht des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs gilt – um ein sog. Rahmenrecht, welches erst durch die Rechtsanwendung im Einzelfall konturiert werden kann. Wichtigste Konsequenz hieraus ist, dass bei einem tatbestandsmäßigen Verhalten, also einem bejahten Eingriff in das geschützte Rechtsgut, die Rechtswidrigkeit nicht indiziert wird, so dass bei einem Fehlen besonderer Rechtfertigungsgründe stets von einem grundsätzlich schadensersatzpflichtigen Unrecht auszugehen wäre. Vielmehr ist die Rechtswidrigkeit bei solchen Rahmenrechten immer positiv zu begründen, indem eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen der Parteien erfolgt. Hier ist auf Seiten des Beeinträchtigenden insbesondere die Intensität des festgestellten Eingriffs zu berücksichtigen, auf Seiten des Eingreifenden ist zu fragen, ob dieser rechtlich besonders geschützte Interessen geltend machen kann. Bei Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht kommen insoweit v.a. die grundgesetzlich verbürgte Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit in Betracht.
(1) Das LG Tübingen prüft im Folgenden daher zunächst die Folgen der Veröffentlichung für den Kläger, denen es aber einen nur geringen Beeinträchtigungsgrad zuspricht:

Weder entfaltet der abrufbereite Eintrag über den Kläger eine erhebliche Breitenwirkung, noch ist er Anknüpfungspunkt, um den Kläger sozial auszugrenzen oder zu isolieren. Dies gilt sowohl bezüglich seiner persönlichen Daten wie Beruf oder Lebenslauf als auch hinsichtlich der Mitgliedschaft in katholischen Studentenverbindungen. Der Inhalt des Eintrages besteht zwar aus persönlichen Inhalten, es werden jedoch lediglich bestimmte zutreffende Stationen oder Vorgänge im Leben des Klägers beschrieben. Die Inhalte sind ferner zwar abrufbereit im Internet verfügbar, allerdings werden diese nur dann zur Kenntnis genommen, wenn sich ein Nutzer aktiv informieren möchte. Anders als beispielsweise bei einer Zeitungsveröffentlichung ist hier nicht von einer breiten Ausstrahlungswirkung des Beitrages auszugehen, mit welchem potentiell die gesamte Bevölkerung informiert werden soll, sondern hier beschränkt sich die Kenntnisnahme auf Personen, welche den Kläger kennen und sich über ihn informieren möchten. Zudem bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Kläger durch den Beitrag sozial ausgegrenzt oder isoliert zu werden droht.

(2) Auf der anderen Seite sieht das LG die Veröffentlichung der Wikimedia Foundation auf der deutschsprachigen Internetseite sowohl vom Schutzbereich der grundgesetzlichen Informations- als auch der Pressefreiheit erfasst:

Auf Seiten der Beklagten ist ferner zu berücksichtigen, dass es sich bei Wikipedia um eine weltweite freie Online-Enzyklopädie handelt (…). Insofern besteht ein erhebliches öffentliches Interesse nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG, 10 Abs. 1 S. 1 EMRK an den von der Beklagten bereitgehaltenen Einträgen, um sich umfassend informieren zu können. (…) Weiterhin kann die Beklagte die Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG für sich in Anspruch nehmen. Diese schützt grundsätzlich die Verbreitung von Informationen, wobei unter anderem auch das Recht eingeräumt wird, wahre Tatsachen zu publizieren. Mit dieser Gewährleistung korrespondiert insbesondere das Interesse der Öffentlichkeit an einer ausreichenden Versorgung mit Informationen. Zudem kommt diesen beiden Rechten schon aufgrund ihres Charakters als demokratische Grundrechte ein hoher Stellenwert zu, sodass gewichtige Gründe erforderlich sind, welche ein Überwiegen eines kollidierenden Rechtsgutes rechtfertigen.

(3) Schlussendlich betont das Gericht nochmals die geringe Intensität des Eingriffs beim Kläger:

Jedenfalls aber muss beachtet werden, dass es sich bei den Einträgen jeweils um wahre Tatsachen handelt und der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers nur als sehr gering zu qualifizieren ist. Er ist lediglich der Sozialsphäre zuzuordnen, denn hier ist nur der Bereich des menschlichen Lebens betroffen, in dem sich der Betroffenen als Teil einer sozialen Gesellschaft zeigt und wahrgenommen wird. Äußerungen, welche diese Sphäre betreffen, sind jedoch grundsätzlich hinzunehmen, denn das Persönlichkeitsrecht verleiht seinem Träger keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist. Zu den hinzunehmenden Folgen gehören auch solche Beeinträchtigungen des Einzelnen, die sich aus nachteiligen Reaktionen Dritter auf die Offenlegung der wahren Tatsachen ergeben (BVerfG, NJW 2011, 47; BVerfG NJW 1998, 2889).

dd) Im Anschluss an diese Prüfung setzt sich das Gericht noch ausführlich mit der Frage auseinander, ob die Beklagte hypothetisch überhaupt als „Störer“ im Hinblick darauf in Betracht kommt, dass nicht sie selbst, sondern die Nutzer der Plattform die Artikel im Internet einstellen und verändern. Angesprochen ist damit die Frage der Passivlegitimation, auch wenn diese bei Verneinung eines rechtswidrigen Eingriffs eigentlich dahinstehen kann. Die Kammer geht dabei ausführlich auf die spezielle Norm des § 10 TMG ein, wonach eine Verantwortlichkeit von Dienstanbietern i.S.d. § 2 TMG solange nicht besteht, wie sie keine Kenntnis von einer Rechtsverletzung haben bzw. – nur bei SE-Ansprüchen – ihnen keine Tatsachen oder Umstände bekannt sind, aus denen die rechtswidrige Handlung offensichtlich wird. Jedenfalls mit der erfolglosen Aufforderung des Klägers an die Wikimedia Foundation vom 25.10.2010, den Beitrag zu entfernen, dürfte allerdings die geforderte Kenntnis bei der Beklagten vorliegen.
3. Warum ist die Entscheidung interessant?
a) Die Entscheidung betrifft allgemeine Fragen des quasinegatorischen Unterlassungsanspruchs und ist insofern für Klausur oder mündliche Prüfung durchaus geeignet. Der Reiz liegt dabei nicht zuletzt auch in der Gelegenheit, übergreifende rechtliche Zusammenhänge, namentlich den Einfluss der Grundrechte als „objektive Werteordnung“, bei der Beurteilung zivilrechtlicher Fragen abprüfen zu können. Hinzu kommt die Beschäftigung mit speziellen Fragen des Internetrechts, namentlich die Anwendung der Norm des § 10 TMG.
b) Im Hinblick auf den Inhalt der Entscheidung ist zunächst auf einen Widerspruch des LG Tübingen zwischen Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung hinzuweisen: Nimmt das Gericht nämlich an, dass es bereits an einem schlüssigen Vortrag des Anspruchs fehlt, ist streng genommen auch die Zuständigkeit des Spruchkörpers nach § 32 ZPO zu verneinen: Denn nach dieser Vorschrift ist ein Gericht nur dann zuständig, wenn an dessen Ort eine „unerlaubte Handlung“ begangen wurde. Das tatsächliche Vorliegen einer solchen Handlung ist damit streng genommen bereits für die Frage der Zuständigkeit entscheidend, nicht nur für die Frage der Begründetheit des Anspruchs, so dass es sich sozusagen um ein „doppelfunktionales Merkmal“ handelt. Bei solchen Merkmalen wird im Rahmen der Zulässigkeit gemeinhin aber wenigstens gefordert, dass der Kläger die Tatsachen, welche das Vorliegen einer unerlaubten Handlung begründen sollen, schlüssig darlegt, während erst die Frage des tatsächlichen Vorliegens (bei Bestreiten des Gegners) ein Problem der Sachentscheidung, also der Begründetheit ist (vgl. Musielak-Heinrich, ZPO, 9. Aufl. 2012, § 32 Rn. 19; MüKo/ZPO-Patzina, 4. Aufl. 2013, § 32 Rn. 39, jew. m.w.N.). Da das Gericht vorliegend bereits eine schlüssige Darlegung der anspruchsbegründenden Tatsachen verneint, wäre insofern tatsächlich durch Prozessurteil zu entscheiden gewesen, d.h. die Kammer hätte die Klage mangels eigener Zuständigkeit (schon) als unzulässig abweisen müssen.
c) Daneben erscheint auch die Ansicht des Gerichts zweifelhaft, wonach im Rahmen der Abwägung des Eingriffs u.a. das Grundrecht der Pressefreiheit zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen sein soll. Denn die Wikimedia Foundation ist als Stiftung eine juristische Person, die aber nur nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG Grundrechtsträger sein kann. Die vorgenannte Norm begrenzt die Grundrechtsfähigkeit indes ausdrücklich auf inländische juristische Personen, d.h. solche, die ihren tatsächlichen Sitz im Inland haben, was im Hinblick auf das Diskriminerungsverbot nach Art. 18 AEUV allenfalls bezüglich Vereinigungen im EU-Ausland durchbrochen wird, zu denen eine Körperschaft mit Sitz in Amerika aber jedenfalls nicht zählt. Demgemäß bleibt von der Grundrechtsargumentation des LG Tübingen eigentlich nur die von diesem ebenfalls in Bezug genommene Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 GG übrig, welche das Gericht nicht auf die Beklagte selbst, sondern (allgemein) Dritte bezieht, die sich über deren Plattform informieren wollen. Ebenfalls in Erwägung zu ziehen ist zudem ein Schutz nach Art. 10 EMRK, der die Meinungsfreiheit grundsätzlich auf alle Personen, auch juristische Vereinigungen, erstreckt, die von der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates betroffen werden (vgl. dazu Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 16) – auf die Frage, ob es sich hierbei um eine in- oder ausländische juristische Person handelt, kommt es also grundsätzlich nicht an.
d) Zu denken ist schließlich daran, den Schutz der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht auf die Beklagte selbst, sondern die beteiligten Nutzer zu projizieren  welche die Artikel bei Wikipedia hochladen und gestalten: Ist nämlich bereits deren Verhalten unter dem Grundrecht der Pressefreiheit zulässig, kann die Beklagte kaum eine „mittelbare“ Verhinderungspflicht dergestalt treffen, demselben Einhalt zu gebieten. Allerdings wird auch die Eigenschaft des einzelnen „Wikipedianers“ als presseberechtigter Grundrechtsträger mit dem Argument in Frage gestellt, dass bei Wikipedia keine einzelnen Autoren für einen Beitrag verantwortlich seien, sondern die Artikel Produkt eines „Schwarms“ seien, der weder durch die Vor- noch Nachkontrolle einer zentralen Redaktion begleitet werde (so Ziegelmayer, LTO v. 13.12.2012). Diese Annahme ist indes nicht unangreifbar, denn die Organisation von Wikipedia ist durchaus in grobe personelle Hierarchien – namentlich durch sog. Administratoren – gegliedert, welche über die Vorgänge auf der Plattform wachen, und der Begriff des „Schwarms“ ist selbstverständlich nur ein Bild für den Schaffensprozess, das aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass durchweg grundrechtsberechtigte Personen aus Fleisch und Blut die einzelnen Artikel gestalten und verändern. Nimmt man dennoch an, dass aufgrund der vorgebrachten Argumente das Grundrecht der Pressefreiheit insgesamt zu versagen ist, bleibt jedenfalls die allgemeine Meinungsfreiheit zugunsten der einzelnen Nutzer übrig, deren Schutzbereich unabhängig von organisatorischen Vorkehrungen im vorgenannten Sinne besteht (so auch Ziegelmayer, a.a.O.).

22.12.2012/0 Kommentare/von Christian Muders
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Christian Muders https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Christian Muders2012-12-22 12:00:082012-12-22 12:00:08LG Tübingen: Keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch Wikipedia-Artikel
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