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Schlagwortarchiv für: Europarecht

Alexandra Ritter

Die verschiedenen gerichtlichen Verfahren vor dem EuG und dem EuGH – Teil 2

Europarecht, Europarecht Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Uncategorized, Verschiedenes

Dies ist Teil 2 zu den verschiedenen gerichtlichen Verfahren vor dem EuG und dem EuGH, in dem das Vorabentscheidungsverfahren und die Schadensersatzklage dargestellt werden. In Teil 1 erfolgten bereits Darstellungen zu der Nichtigkeitsklage und dem Vertragsverletzungsverfahren.

Erneut sei an dieser Stelle auf den hilfreichen Beitrag „Europarecht im Examen – Rechtsschutz vor den europäischen Gerichten“ von Professor Dr. Matthias Ruffert gemeinsam mit den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Grischek und Schramm in der JuS 2022, 814 hingewiesen, sowie auf die Prüfungsschemata von Professor Dr. Matthias Pechstein, der diese frei zugänglich hier auf der Internetseite seines Lehrstuhls an der Europauniversität Viadrina Frankfurt (Oder) zur Verfügung stellt.

A)           Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein sehr praxisrelevantes Verfahren, das der einheitlichen Auslegung und Kontrolle des Unionsrechts dient. Bei dem Vorabentscheidungsverfahren legt ein Gericht eines Mitgliedstaats dem EuGH eine Frage hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts bzw. über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union vor. Bedeutung hat dieses Verfahren auch im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde, denn die Verletzung der Vorlagepflicht (hierzu sogleich) kann einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darstellen.

I.              Zulässigkeit

1.             Zuständigkeit

Zuständig für das Vorabentscheidungsverfahren ist der EuGH gem. Art. 256 Abs. 3 AEUV i. V. m. Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV), solange in der Satzung noch keine Festlegung über Zuständigkeit des EuG getroffen worden ist (Art. 23 Abs. 1 EuGH-Satzung).

2.             Zulässige Vorlagefrage

Die Vorlagefrage bezieht sich entweder auf die Auslegung des primären und abgeleiteten Unionsrechts (Art. 267 Abs. 1 lit. a) bzw. b) AEUV oder auf die Gültigkeit von Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV). Die Vorlage muss alle relevanten rechtlichen und tatsächlichen Tatsachen sowie eine Erklärung enthalten, aus welchem Grund die Frage vorgelegt wird.

Das mitgliedstaatliche Gericht muss seine Vorlagefrage daher passend und lediglich auf Unionsrecht bezogen formulieren. Es darf nicht explizit nach der Vereinbarkeit mit nationalem Recht fragen, denn hierüber hat der EuGH keine Entscheidungskompetenz. Ebenso kann der EuGH nicht über den Ausgangsrechtsstreit entscheiden.

Ist ein einer Klausur eine Vorlagefrage selbst zu formulieren, muss darauf geachtet werden, dass sie diesen Anforderungen entspricht. Ist eine Vorlagefrage bereits gegeben, muss diese darauf untersucht werden, ob sie zulässig ist und ggf. umformuliert werden. In der Praxis stellt sich häufig die Frage, ob nationales Recht und Unionsrecht vereinbar sind. Nach dem soeben Gesagten, wäre es aber unzulässig zu fragen, ob eine Norm des nationalen Rechts mit den Vorschriften des Unionsrechts vereinbar ist. Daher wird wie folgt formuliert: Ist die Norm XY des Unionsrechts dahingehend auszulegen, dass sie einer Auslegung der nationalen Rechtsvorschrift § 1 Beispielgesetz entgegensteht, die vorsieht, dass (Erläuterung der nationalen Norm)?

3.             Vorlageberechtigung

Das vorlegende Gericht ist vorlageberechtigt, wenn es ein mitgliedstaatliches Gericht ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH jedes unabhängige Organ, welches durch oder aufgrund eines (nationalen) Gesetzes im Rahmen einer obligatorischen Zuständigkeit bindend und unter Anwendung von Rechtsnormen in einem Verfahren, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt, entscheidet. Private Schiedsgerichte sind nicht vorlageberechtigt (EuGH v. 23.3.1982 – Rs 102/81, Nordsee).

4.             Vorlagerecht und Vorlagepflicht

Mitgliedstaatliche Gerichte können vorlageberechtigt oder sogar vorlagepflichtig sein.

a)             Vorlageberechtigung mitgliedstaatlicher Gerichte, Art. 267 Abs. 2 AEUV

Mitgliedstaatliche Gerichte sind vorlageberechtigt bei Zweifeln an der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht und Entscheidungserheblichkeit der der Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits. Das Vorliegen letzterer Voraussetzung wird generell vermutete, es sei denn die Vorlagefrage steht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens oder ist rein hypothetischer Natur oder die zur Beantwortung der Vorlagefragen erforderlichen tatsächlichen oder rechtlichen Angaben sind unzureichend.

b)            Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte

Aus dem Vorlagerecht der mitgliedstaatlichen Gerichte kann in bestimmten Fällen eine Vorlagepflicht werden. Das ist gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dann der Fall, wenn das mitgliedstaatliche Gericht eine Entscheidung treffen soll, die selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann. Auch nicht-letztinstanzliche Gerichte sind nach der Foto-Frost-Doktrin (EuGH v. 22.10.1987 – Rs 314/85) zur Vorlage verpflichtet, wenn sie eine Norm des Unionsrechts wegen Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht als ungültig erachten und daher nicht anwenden wollen. Daneben besteht eine Vorlagepflicht, wenn im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ein mitgliedstaatlicher Vollzugsakt in seiner Anwendung vorübergehend ausgesetzt werden soll.

Von der Vorlagepflicht gibt es jedoch Ausnahmen. Sie besteht nicht, wenn die aufgeworfene Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall vorgelegt und durch den EuGH beantwortet wurde. Sie entfällt außerdem, wenn eine gesicherte unionsgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage vorliegt, durch welche die Rechtsfrage geklärt ist (acte éclairé), oder wenn die richtige Auslegung des Unionsrechts so offensichtlich ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und der EuGH keine Zweifel an dieser Auslegung haben würden (acte clair).

II.           Beantwortung durch den EuGH

Im Unterschied zu den anderen Verfahren wird der zweite Teil der Prüfung nicht Begründetheit genannt, sondern „Beantwortung der Vorlagefrage(n) durch den EuGH“ oder „Vorlageentscheidung“.

Wenn die Vorlagefrage zulässig ist, legt der EuGH das Unionsrecht aus. In einer Klausur muss dann entweder aus der Vorbereitung bekanntes Unionsrecht (bspw. die Grundfreiheiten) geprüft werden oder es muss unbekanntes Unionsrecht mit Hilfe von Informationen aus dem Sachverhalt geprüft werden. Als Ergebnis ist die Vorlagefrage zu beantworten.

III.        Rechtskraftwirkungen des Vorabentscheidungsurteils

Zuletzt erfolgt ein Hinweis auf die Rechtskraftwirkungen des Vorabentscheidungsurteils. Hierbei ist zwischen Auslegungsurteilen und Ungültigkeitsurteilen zu unterscheiden.

Bei Auslegungsurteilen sind die mitgliedstaatlichen Gerichte dazu verpflichtet, das Unionsrecht in der Auslegung des EuGH anzuwenden oder bei Zweifeln an der Richtigkeit der Auslegung erneut vorzulegen. Von der Auslegung des EuGH darf nicht einfach so abgewichen werden, sondern es besteht eine Vorlagepflicht.

Ein Ungültigkeitsurteil führt dazu, dass auch die mitgliedstaatlichen Gerichte von der Ungültigkeit der betreffenden Norm ausgehen müssen. Hat der EuGH dagegen entschieden, dass die betreffende Norm gültig ist, so sind lediglich die mit dieser Sache befassten Instanzgerichte an die Entscheidung gebunden, da nur die konkrete Prüfung ergeben habe, dass der Gültigkeit der Norm nichts entgegensteht. Anders gelagerte Sachverhalte können jedoch eine neue Beurteilung gebieten und eine erneute Vorlage rechtfertigen bzw. erforderlich machen.

B)           Schadensersatzklage (Unionsrechtlicher Amtshaftungsanspruch), Art. 268 iVm Art. 340 Abs. 2 u. 3 AEUV

Die Schadensersatzklage dient der Durchsetzung von Amtshaftungsansprüchen aus Art. 340 AEUV. Dabei geht es um Ansprüche gegen Organe der Union bei schädigendem Verhalten von Unionsorganen. Davon zu unterscheiden ist der europarechtliche Staatshaftungsanspruch, der bei der Verletzung von Unionsrecht durch Mitgliedstaaten bestehen kann, wie der EuGH in der Rechtssache Frankovich (EuGH v. 19.11.1991 – Rs C-6/90 u. 9/90)entschieden hat (s. zu diesem Anspruch Sauer, JuS 2012, 695 (698)).

I.              Zulässigkeit

1.             Zuständigkeit

Bei Klagen von natürlichen und juristischen Personen ist das EuG zuständig, Art. 256 AEUV, Art. 51 EuGH-Satzung). Bei Klagen der Mitgliedstaaten ist der EuGH zuständig – jedoch wurde bislang durch Rechtsprechung nicht entschieden, ob Mitgliedstaaten Amtshaftungsklage erheben können.

2.             Parteifähigkeit

Aktiv parteifähig sind natürliche und juristische Personen, die nach ihrem Klagevortrag einen Schaden erlitten haben (und Mitgliedstaaten, was jedoch im Hinblick auf die Klagemöglichkeit nach Art. 263 Abs. 2 AEUV strittig ist). Passiv parteifähig ist das schadensverursachende Organ.

3.             Ordnungsgemäße Klageerhebung

Die Klage muss den Anforderungen von Art. Art. 21 Abs. 1 Satz 2 EuGH-Satzung sowie des Art. 57 VerfO-EuGH bzw. Art. 76 VerfO-EuG genügen.

4.             Klagegegenstand

Es muss geltend gemacht werden, dass ein Organ oder Bediensteter der Union in Ausübung der Amtstätigkeit einen Schaden verursacht hat.

5.             Klagefrist

Eine Klagefrist gibt es nicht, jedoch verjähren die Ansprüche gem. Art. 46 EuGH-Satzung in fünf Jahren nach Eintritt des Ereignisses, das ihnen zugrunde liegt.

6.             Rechtsschutzbedürfnis

Das Rechtsschutzbedürfnis ist nicht durch die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV ausgeschlossen, da es sich bei der Amtshaftungsklage um einen selbstständigen Rechtsbehelf handelt. Nur wenn mit der Nichtigkeitsklage der Eintritt des Schadens hätte verhindert werden können, entfällt das Rechtsschutzbedürfnis. Ebenso entfällt es, wenn die Geltendmachung des Schadens vor nationalen Gerichten möglich ist (Grundsatz der Subsidiarität des unionalen gegenüber dem innerstaatlichen Rechtsschutz).

II.           Begründetheit

Die Amtshaftungsklage ist begründet, wenn ein Organ oder ein Bediensteter der Union in Ausübung einer Amtstätigkeit

  • bei gebundenen Entscheidungen: eine dem Schutz des Geschädigten dienende Rechtsnorm
  • bei Entscheidungen mit Gestaltungsspielraum: eine höherrangige, dem Schutz des Einzelnen dienende Rechtsnorm

in hinreichend qualifizierter Weise verletzt und dadurch unmittelbar kausal einen Schaden des Klägers verursacht hat.

Die Prüfung soll sich in ihrem Aufbau daher an den folgenden Punkten orientieren: Amtstätigkeit (Handeln oder Unterlassen) (1), Rechtswidrigkeit des Verhaltens (2), Schaden (3) und Kausalzusammenhang zwischen Amtstätigkeit und Schaden (4).

30.08.2023/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2023-08-30 08:17:102023-09-04 13:02:58Die verschiedenen gerichtlichen Verfahren vor dem EuG und dem EuGH – Teil 2
Alexandra Ritter

Die verschiedenen gerichtlichen Verfahren vor dem EuG und dem EuGH – Teil 1

Europarecht, Europarecht Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Uncategorized, Verschiedenes

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Klagen vor den europäischen Gerichten in der Form, wie sie im ersten Examen oder in Vorlesungen zum Europarecht geprüft werden können. Das Europarecht ist in Ausbildung und Praxis nicht mehr wegzudenken. Dennoch wird häufig berichtet, dass gerade in der Examensvorbereitung im Rahmen von Repetitorien diesem Rechtsgebiet verhältnismäßig wenig Zeit und Mühe zugewendet wird. Nicht selten sind Examenskandidat:innen daher enttäuscht, wenn doch eine Klausur aus dem Europarecht gestellt wird und wenn diese dann noch eine prozessuale Einkleidung verlangt, geraten einige in Verzweiflung. Dieser Beitrag soll daher einen Überblick über die Verfahren vor den europäischen Gerichten bieten, in Gestalt von erläuterten Prüfungsschemata für die Zulässigkeitsprüfung und einem Einstieg in die Begründetheitsprüfung. Denn gerade wegen der soeben geschilderten Lage, kann man sich mit einer guten Klausur im Europarecht von den übrigen Kandidat:innen abheben und überdurchschnittliche Noten erreichen.

Besonders hilfreich bei Zusammenstellung der folgenden Darstellungen waren der Beitrag „Europarecht im Examen – Rechtsschutz vor den europäischen Gerichten“ von Professor Dr. Matthias Ruffert gemeinsam mit den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Grischek und Schramm in der JuS 2022, 814, sowie die Prüfungsschemata von Professor Dr. Matthias Pechstein, der diese frei zugänglich hier auf der Internetseite seines Lehrstuhls an der Europauniversität Viadrina Frankfurt (Oder) zur Verfügung stellt.

Dies ist der erste von zwei Teilen. In Teil 1 werden die Nichtigkeitsklage und das Vertragsverletzungsverfahren dargestellt. In Teil 2 folgen das Vorabentscheidungsverfahren und die Schadensersatzklage (Unionsrechtlicher Amtshaftungsanspruch).

A)           Nichtigkeitsklage, Art. 263 AEUV

Die Nichtigkeitsklage dient der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtssetzungsakten auf Unionsebene, von Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank und von Handlungen der Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union mit Wirkung gegenüber Dritten, Art. 263 Abs. 1 AEUV. Sie ähnelt daher der abstrakten Normenkontrolle vor dem BVerfG, während das Vorabentscheidungsverfahren gewisse Ähnlichkeiten zur konkreten Normenkontrolle vor dem BVerfG aufweist.

I.              Zulässigkeit

Bei prozessualer Einkleidung teilt sich die Prüfung schlicht in die bekannten Teile „Zulässigkeit“ und „Begründetheit“ auf. Die Nichtigkeitsklage ist zulässig, wenn die folgenden Voraussetzungen vorliegen.

1.             Zuständigkeit

Die Zuständigkeit für Verfahren vor den europäischen Gerichten richtet sich nach den Art. 256 ff. AEUV. Im Falle der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV ist gem. Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV grundsätzlich das Gericht (EuG) zuständig. Abweichendes kann sich jedoch aus der Satzung des EuGH (EuGH-Satzung) oder durch die Übertragung an Fachgerichte nach Art. 257 AEUV ergeben.

Nach Art. 51 EuGH-Satzung ist der EuGH zuständig für Nichtigkeitsklagen von Mitgliedstaaten oder Unionsorganen. Das EuG bleibt zuständig für Nichtigkeitsklagen von natürlichen und juristischen Personen (und bestimmte Klagen der Mitgliedstaaten).

2.             Parteifähigkeit

Die aktive Parteifähigkeit kommt den in Art. 263 Abs. 2 bis 4 AEUV Genannten zu: das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission (Abs. 2); der Rechnungshof, die Europäischen Zentralbank und der Ausschuss der Regionen (Abs. 3); natürliche und juristische Personen (Abs. 4).

Die passive Parteifähigkeit kommt den in Art. 263 Abs. 1 S. 1 AEUV Genannten zu: der Rat, die Kommission, das Europäische Parlament, die Europäische Zentralbank, der Europäische Rat, die Einrichtungen und sonstige Stellen der Union.

1.             Klagegegenstand

Ob ein tauglicher Klagegegenstand vorliegt, richtet sich danach, ob es sich um eine Organklage oder Klage eines Mitgliedstaates (Art. 263 Abs. 2 und 3 AEUV) handelt oder um eine Individualklage (Art 263 Abs. 4 AEUV). In jedem Fall muss es sich um Handlungen mit Rechtswirkung handeln. Keine tauglichen Klagegenstände sind daher bloße Empfehlungen, Stellungnahmen oder interne Handlungen.

a)             Organklage oder Klage eines Mitgliedstaates

Bei der Organklage oder Klage eines Mitgliedstaates können

  • Verordnungen,
  •  Richtlinien,
  • Beschlüsse und
  • alle anderen Handlungen der Unionsorgane, soweit sie dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen nach außen zu erzeugen,

tauglicher Klagegegenstand sein.

b)            Individualklagen

Bei Individualklagen sind

  • an den Kläger gerichtete Handlungen (Beschluss i. S. v. Art. 288 Abs. 4 S. 2 AEUV),
  • Rechtsakte mit Verordnungscharakter, (= Normativakte, die keine Gesetzgebungsakte sind), die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen und
  • Sonstige Handlungen (mit Rechtswirkung nach außen)

taugliche Klagegenstände.

2.             Richtiger Beklagter

Richtiger Beklagter der Nichtigkeitsklage ist das Unionsorgan, das den streitgegenständlichen Rechtsakt erlassen hat.

3.             Klageberechtigung

a)             Privilegierte Klageberechtigte

In Art. 263 Abs. 2 AEUV werden die sog. „privilegiert Klageberechtigten“ genannt. Sie sind ohne Weiteres klageberechtigt. Dazu gehören:

  • Die Mitgliedstaaten
  • Das Europäische Parlament
  • Der Rat
  • Die Kommission

b)            Teilprivilegierte Klageberechtigte

Art. 263 Abs. 3 benennt die sog. „teilprivilegierten Klageberechtigten“. Sie sind klageberechtigt, wenn die Nichtigkeitsklage dazu dient, die eigenen organschaftlichen Rechte und Befugnisse zu schützen. Dazu gehören:

  • Der Rechnungshof
  • Die Europäische Zentralbank
  • Der Ausschuss der Regionen

c)             Natürliche und juristische Personen

Auch natürliche und juristische Personen können klageberechtigt sein. Hierbei ist gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV zu differenzieren:

Art. 263 Abs. 4 Var. 1 AEUV: Ist die natürliche oder juristische Person Adressat einer angefochtenen Handlung, ist sie uneingeschränkt klageberechtigt.

Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV: Ist die natürliche oder juristische Person unmittelbar und individuell durch den angegriffenen Rechtsakt betroffen, müssen folgende Voraussetzungen vorliegen:

Betroffenheit: Ein tatsächliches Interesse des Klägers ist beeinträchtigt.

Unmittelbar: Der Rechtsakt selbst greift in das tatsächliche Interesse des Klägers ein und es bedarf keiner weiteren durchführenden Maßnahme, es sei denn die durchführende Maßnahme ist gewiss, muss zwingend ergehen oder wurde bereits erlassen. Nicht hierunter fallen bspw. Richtlinien, die noch von Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen und diesen dabei Umsetzungsspielraum zusteht.

Individuell: Der streitige Rechtsakt berührt den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände und betrifft ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten (sog. Plaumann-Formel).

Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV: Bei Rechtsakten mit Verordnungscharakter genügt die unmittelbare Betroffenheit. Hierunter fallen aber keine Gesetzgebungsakte, also auch keine Verordnungen iSv Art. 288 Abs. 2 AEUV (EuGH v. 3.10.2013 – C-583/11 P, Inuit Tapiriit Kanatami u. a.), diese fallen bereits unter Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV.

4.             Klagegründe

Als Klagegrund muss einer der in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten Gründe geltend gemacht werden:

  • Unzuständigkeit
  • Verletzung wesentlicher Formvorschriften
  • Verletzung der Verträge oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm
  • Ermessensmissbrauch

5.             Form der Klageerhebung

Die Klageschrift muss Art. 21 Abs. 1 S. 2 EuGH-Satzung sowie Art. 38 VerfO-EuGH bzw. Art. 76 VerfO-EuG genügen.

6.             Frist

Art. 263 Abs. 6 AEUV bestimmt für die Klageerhebung eine Frist von zwei Monaten. Die Frist beginnt je nach Fall mit Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen mit dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung.

7.             Rechtsschutzbedürfnis

Das Rechtsschutzbedürfnis ist in der Regel nicht problematisch. Es kann jedoch fehlen, wenn der fehlerhafte Rechtsakt zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits aufgehoben oder der Mangel vollständig beseitigt ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis kann dann dennoch angenommen werden, wenn

  • eine konkrete Wiederholungsgefahr besteht,
  • Rechtsfragen von grundlegender Bedeutung für das Funktionieren der Union betroffen sind oder
  • die Verurteilung des Unionsorgans die Grundlage für einen Amtshaftungsanspruch des Klägers gegen die Union begründen kann (Art. 340 Abs. 2 AEUV).

II.           Begründetheit

Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn der Klagegrund (Art. 263 Abs. 2 EUV) tatsächlich gegeben ist und die Handlung damit rechtswidrig war. In der Klausur wird der geltende gemachte Klagegrund im Obersatz benannt. Danach sollte die Prüfung die im Sachverhalt gegebenen Informationen strukturiert abarbeiten. Häufig wird Gegenstand der Klausur sein, dass eine Verletzung der Verträge oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm im Raum steht. Das können die Grundfreiheiten und europäischen Grundrechte sein, aber auch andere unionsrechtliche Grundsätze wie z.B. der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gem. Art. 4 Abs. 3 EUV kann Gegenstand der Prüfung sein

Folge einer begründeten Nichtigkeitsklage ist gem. Art. 264 Abs. 1 AEUV, dass der EuGH die angefochtene Handlung für nichtig erklärt, wobei gem. Art. 264 Abs. 2 AEUV die ganze oder teilweise Fortgeltung des Rechtsakts erklärt werden kann.

Bei der Nichtigkeitsklage muss für den Einstieg in die Prüfung kaum etwas auswendig gelernt werden, den Art. 258 ff und Art. 263 AEUV lassen sich alle wesentlichen Informationen entnehmen. Zudem ist die Zulässigkeitsprüfung verhältnismäßig kurz, lediglich für den Fall, dass eine natürliche oder juristische Person klagt, kann sie etwas länger werden.

B)           Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258

Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein Instrument der Europäischen Kommission als „Hüterin der Verträge“ die Einhaltung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten durchzusetzen.

I.              Zulässigkeit

Die Anrufung des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren ist zulässig, wenn die folgenden Voraussetzungen vorliegen.

1.             Zuständigkeit

Für das Vertragsverletzungsverfahren ist gem. Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV iVm Art. 51 EuGH-Satzung der EuGH zuständig.

2.             Parteifähigkeit

Bei dem Vertragsverletzungsverfahren ist ausschließlich die Kommission aktiv parteifähig, Art. 258 Abs. 1 AEUV.

Die passive Parteifähigkeit kommt ausschließlich den Mitgliedstaaten zu, Art. 258 Abs. 1 AEUV.

3.             Vorverfahren

Bevor die Europäische Kommission den EuGH anrufen kann, muss ein Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werden, Art. 258 Abs. 1 AEUV.

a)             Mahnschreiben

In einem ersten Schritt muss die Europäische Kommission ein Mahnschreiben mit den folgenden Angaben an den Mitgliedstaat senden:

  • Ankündigung über die Einleitung des formalen Vorverfahrens,
  • Mitteilung der Tatsachen, die nach Ansicht der Europäischen Kommission den Vertragsverstoß begründen sowie der verletzten Bestimmungen des Unionsrechts,
  • Aufforderung, sich im Rahmen einer von der Europäischen Kommission bestimmten Frist zu den Vorwürfen zu äußern.

b)            Stellungnahme

Die Europäische Kommission erlässt daraufhin eine begründete Stellungnahme, in der sie erneut eine Frist zur Abhilfe der Vertragsverletzung setzt.

c)             Nichtbefolgung

Der Mitgliedstaat darf auch innerhalb der zweiten Frist das betreffende Verhalten nicht eingestellt haben (Art. 258 Abs. 2 AEUV).

4.             Klagegegenstand

Der Klagegegenstand ist die Behauptung der Europäischen Kommission, der Mitgliedstaat habe durch ein ihm zurechenbares Verhalten gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen. Der Klagevorwurf darf nicht gegenüber dem in der Stellungnahme beschriebenen Umfang erweitert werden. Den Prüfungsmaßstab bildet das gesamte Unionsrecht, also sowohl Primär- als auch Sekundärrecht sowie das in die Unionsrechtsordnung integrierte Völkerrecht.

5.             Klageberechtigung

Die Europäische Kommission ist klageberechtigt, wenn sie von der Vertragsverletzung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überzeugt ist.

6.             Form und Zeitpunkt der Klageerhebung

Hinsichtlich der Form gilt das Schriftformerfordernis, vgl. Art. 21 EuGH-Satzung iVm Art. 38 VerfO-EuGH.

Des Weiteren gibt es keine besondere Klagefrist, jedoch ist eine Verwirkung denkbar, wenn die Klageerhebung rechtsmissbräuchlich verzögert wird.

7.             Rechtsschutzbedürfnis

Maßgeblich für das Rechtsschutzbedürfnis ist der Zeitpunkt, in dem die Frist der Stellungnahme (zweite Frist) abläuft. Wenn in diesem Zeitpunkt die gegen den Mitgliedstaat erhobenen Vorwürfe nicht vollständig ausgeräumt sind, besteht das Rechtsschutzbedürfnis. Anderen falls ist das Klageziel erreicht und die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abzuweisen.

II.           Begründetheit

Die Klage ist begründet, wenn die vom Kläger behaupteten Tatsachen zutreffen, das angegriffene Verhalten dem beklagten Mitgliedstaat zurechenbar ist und sich hieraus ein Verstoß gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ergibt.

Wie auch bei der Nichtigkeitsklage folgt hier eine strukturierte Prüfung dahingehend, ob das Verhalten des Mitgliedstaates mit den Normen des Unionsrechts vereinbar ist. In Klausuren wird häufig der gestellte Sachverhalt Anhaltspunkt dafür liefern, welche Normen des Unionsrechts in die Prüfung eingehen sollen. In der Praxis verletzen Mitgliedstaaten das Unionsrecht häufig durch nicht rechtzeitige oder nicht richtige Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht – aber auch eine Verletzung der Grundfreiheiten kann Gegenstand der Klausur sein.

Ist die Klage der Europäischen Kommission begründet, stellt der EuGH also eine Verletzung fest, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, um der Verletzung abzuhelfen, Art. 260 Abs. 1 AEUV. Kommt der Mitgliedstaat dem nicht nach, kann die Europäische Kommission gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV einen Antrag beim EuGH stellen und dieser die Zahlung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds verhängen.

C)           Staatenklage, Art. 259 AEUV

Die Staatenklage ist eine Form des Vertragsverletzungsverfahrens, bei dem die Europäische Kommission erst tätig wird, nachdem ein Mitgliedstaat den EuGH angerufen hat, weil er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Die zu prüfenden Voraussetzungen entsprechen denjenigen des unter B) dargestellten Vertragsverletzungsverfahrens mit wenigen Modifikationen:

Aktive Parteifähigkeit: aktiv parteifähig sind nur Mitgliedstaaten, Art. 259 Abs. 1 AEUV.

Vorverfahren: Auch hier muss ein Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werden, das in Art. 259 Abs. 2 bis 4 AEUV geregelt ist. Es entspricht weitgehend dem oben geschilderten Verfahren, ist aber so modifiziert, dass beide beteiligten Mitgliedstaaten einbezogen werden.

Klagegegenstand: Der Klagegegenstand ist die Behauptung des klagenden Mitgliedstaates, der beklagte Mitgliedstaat habe durch ein ihm zurechenbares Verhalten gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen. Der Prüfungsmaßstab ist derselbe.

Klageberechtigung: Der klagende Mitgliedstaat ist klageberechtigt, wenn er von der Vertragsverletzung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überzeugt ist.

30.08.2023/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2023-08-30 08:17:022023-09-04 13:03:07Die verschiedenen gerichtlichen Verfahren vor dem EuG und dem EuGH – Teil 1
Gastautor

Human Rights and Labour – Modern Slavery – Effektive Durchsetzung von Menschenrechten in globalen Lieferketten

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Theo Peter Rust veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften im siebten Semester an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Mit dem vorliegenden Aufsatz gewann er eine von ELSA München und ELSA Heidelberg ausgerichtete Essay Competition.

Der nachfolgende Beitrag gibt einen Überblick über die Regelungen des am 01.01.2023 inkrafttretenden Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes und der derzeit in der Verhandlung befindlichen EU Richtlinie zu einem europaweiten Lieferkettengesetz und setzt sich kritisch mit deren Effektivität bei der Bekämpfung von Moderner Sklaverei auseinander. Der Verfasser begrüßt zwar ausdrücklich die Intention der Vorhaben, jedoch bewertet er insbesondere die Einschränkungen kritisch, die den beiden Vorhaben innewohnen, die eine Prüfung der eigenen Lieferketten nur in Bezug auf unmittelbare Zulieferer bzw. etablierte Geschäftsbeziehungen beschränken. Durch diese Einschränkungen drohen die Regelungen ausgehöhlt zu werden und die Maßnahmen könnten nicht an den Anfang der Lieferketten reichen. Es obliegt nun dem europäischen Gesetzgeber diese Maßnahmen ausreichend zu schärfen.

I. Einführung

Im vergangenen Jahr wurde von der alten Bundesregierung, entsprechend des vereinbarten Koalitionsvertrags, das Lieferkettensorgfaltsgesetz (LkSG) verabschiedet, welches am 22.07.2021 verkündet wurde und am 01.01.2023 in Kraft treten soll. Dieses Gesetz zielt darauf ab, „auf eine Verbesserung der weltweiten Menschenrechtslage entlang von Lieferketten hinzuwirken und die Globalisierung mit Blick auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung sozial zu gestalten“[1]. Um eine einheitliche Regelung dieser Überprüfung der Lieferketten auf europäischer Eben zu gewährleisten, hat die EU-Kommission einen eigenen Entwurf eines Lieferkettengesetzes erarbeitet, der am 23.02.2022 veröffentlich wurde.

Im Folgenden soll zum einen darauf eingegangen werden, welche Maßnahmen das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz zur Abschaffung moderner Sklaverei vorsehen, wie effektiv diese Regelungen bei der Bekämpfung der modernen Sklaverei sind und anschließend welche konkreten Regelungen notwendig wären für eine effektive Bekämpfung der modernen Sklaverei in den internationalen Lieferketten.

II. Das Deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz

Das zentrale Vorhaben des deutschen LkSG soll es sein deutsche Unternehmen i.S.d. § 1 Abs. 1 LkSG zur Analyse und zum Management auftretender, menschenrechtlicher Risiken in ihren Lieferketten zu verpflichten. Ein menschenrechtliches Risiko soll nach § 2 Abs. 2 vorliegen bei einem Zustand, bei dem auf Grund tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen die in Abs. 2 genannten Rechtspositionen droht. Für die Bekämpfung der modernen Sklaverei relevant nennt §2 Abs. 2 verschiedene Formen der Sklaverei wie bspw. in Nr. 1 die Beschäftigung eines Kindes unter dem zulässigen Mindestalter, die Beschäftigung von Personen in Zwangsarbeit in Nr. 3 oder Leibeigenschaft sowie andere Formen von Herrschaftsausübung oder Unterdrückung in Nr. 4. Die Überwachung dieser menschenrechtlichen Risiken soll die Unternehmen für die gesamte Lieferkette betreffen, wobei der Begriff der Lieferkette weiter zu verstehen ist als ihre wirtschaftswissenschaftliche Definition und sich nach § 2 Abs. 5 auf alle Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens bezieht und dabei alle Schritte im In-und Ausland umfasst, die zur Herstellung der Produkte und zur Erbringung der Dienstleistungen erforderlich ist, angefangen von der Gewinnung der Rohstoffe bis zu Lieferung an den Endkunden.                                                                                                                              Eine so weitreichende Definition des menschenrechtlichen Risikos und des Begriffs der Lieferkette ist zunächst vielversprechend für eine umfassende Verpflichtung der Unternehmen zur Überprüfung ihrer ganzen Lieferketten und eine Bekämpfung von moderner Sklaverei innerhalb dieser. Diese weitreichende Definition der Lieferkette wirft aber das Problem der Praktikabilität auf, da zwar davon ausgegangen werden kann und von den Unternehmen erwartbar ist, dass eine hinreichende Überprüfung der Gegenstände und Dienstleistungen vorgenommen werden kann, die zentral und elementar für den Geschäftsbereich des Unternehmens sind, aber nicht für alle möglichen handelsüblichen Maschinen und Anlagen.[2]Ein großer deutscher Konzern hat nach dieser Definition bis zu 100.000 unmittelbare Zulieferer, bei denen eine umfassende Überprüfung praktisch nicht möglich ist.[3] Daher wäre eine Fokussierung und Konkretisierung auf die elementaren und die besonders risikoreichen Bereiche eines Unternehmens sinnvoller sowie eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des Gesetzes, wodurch eine größere Anzahl an Gegenständen und Dienstleistungen überprüft werden und nicht eine so geringe Zahl an Unternehmen alle Bereiche abdecken müssen. 

Auf der anderen Seite unternahm der Gesetzgeber aber eine sehr starke Einschränkung des Anwendungsbereichs, durch zum einen eine Beschränkung in § 1 Abs. 1 Nr. 2 auf Unternehmen mit 3.000 bzw. ab 2024 mit 1.000 Arbeitnehmern, was lediglich 600 bzw. 2.900 Unternehmen einbeziehen würde, [4] die wiederum ihren Sitz in Deutschland haben müssen. Eine solche Beschränkung auf diese Zahlen wirkt willkürlich und widerspricht den etablierten Größendefinition aus § 267 HGB und führt durch eine Beschränkung auf inländische Unternehmen zu einer leichten Umgehung des Gesetzes, einer eingeschränkten Effektivität sowie der Gefahr eines Abzugs inländischer Unternehmen ins Ausland.[5]                                       Zum anderen werden Präventionsmaßnahmen i.S.d § 6 nach § 6 Abs. 3 nur im eigenen Geschäftsbereich und nach Abs. 4 nur bei unmittelbaren Zulieferer verlangt, wodurch eben nicht, wie es in der Gesetzesbegründung heißt, die ganze Lieferkette in allen ihren Schritten zu überwachen ist, sondern beispielsweise mittelbare Zulieferer lediglich kontrolliert werden müssen, wenn das Unternehmen nach § 9 Abs. 2 substantiierte Kenntnis über eine mögliche Verletzung einer geschützten Rechtsposition erlangt. Durch dieses Erfordernis bereits eingetretener Menschenrechtsverstöße widerspricht sich das Gesetz in seiner eigentlichen Intention und ist mit dem Präventionsgedanken aus den Nr. 17ff. der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte unvereinbar, auf die sich das Gesetz explizit bezieht.[6]

Der Kritik an diesen Einschränkungen könnte man aber entgegenhalten, dass die großen betroffenen Unternehmen die kleinen Unternehmen in ihrer ganzen Lieferkette vertraglich dazu bringen, diese Compliance Vorschriften einzuhalten, um so eine Haftung zu umgehen, mit der Folge, dass eine Gewährleistung für die ganze Lieferkette gegeben wäre, wodurch aber eine unverhältnismäßige Belastung kleinerer Unternehmen drohen würde.[7] Dagegen spricht aber, dass, durch die enge Definition des Erlangens von substantiierter Kenntnis, die Unternehmen kein Interesse daran haben werden, Nachforschungen in ihrer Lieferkette zu betreiben. Der Gesetzesentwurf incentiviert die Unternehmen vielmehr, dass sie sich vor solchen Informationen verschließen, um so keine Kenntnis zu erlangen und damit in keine Haftung zu geraten.[8] Damit sind die geäußerten Bedenken wenig hinreichend und das Gesetz würde bei einem aktiven Verschließen vor Menschenrechtsverstößen bei Zulieferern leer laufen.

Außerdem ist bisher noch umstritten, inwieweit die Definition des „eigenen Geschäftsbereichs“ aus § 2 Abs. 6 auf Tochterunternehmen anwendbar ist. Dies könnte man bei einer engen Auslegung der Definition verneinen, womit ein erhebliches Umgehungsrisiko drohen würde bei der Abwicklung von Lieferungen über Tochterunternehmen, die in dem Fall nur als (unmittelbare) Zulieferer einzuordnen wären.[9]

Zuletzt ist noch anzumerken, dass sich aus den öffentlichen Äußerungen der letzten Bundesregierung ergibt, dass bei Menschenrechtsverstößen keine zivilrechtliche Haftung für schädigende Unternehmen vorgesehen ist, um diese vor Schadensersatzklagen zu schützen, die für eine effektive Bekämpfung von moderner Sklaverei notwendig wäre und echte Anreize zu eine menschenrechtsschützenden Überprüfung schaffen würde.[10] So würden Unternehmen bei Menschenrechtsverstößen sogar privilegiert werden können, indem ihnen im Falle einer deliktsrechtlichen Klage eine Verteidigungsmöglichkeit verschafft wird, durch Verweis auf die einfache Überprüfung der unmittelbaren Zulieferer, die kleineren Unternehmen nicht zukommt.[11]
Damit ist festzustellen, dass das Vorhaben des Lieferkettengesetzes zwar begrüßenswert war und zu einer wirklichen Verbesserung für viele Menschen in Zwangsarbeit hätte führen können, jedoch wurde der Anwendungsbereich so weit ausgehöhlt, durch die Beschränkung auf so wenige Unternehmen, die nur den eigenen Geschäftsbereich überwachen müssen sowie die Beschränkung auf unmittelbare Zulieferer, die meist selber keine Due Dilligence Pflichten treffen und dazu noch durch das Ermöglichen eines bewussten Verschließen vor Risiken, dass schlussendlich am Anfang einer Lieferkette, wo die Risiken mit am Höchsten sind, wohl kaum eine Wirkung des Gesetzes zu spüren sein wird. Es wurde zwar berechtigterweise auf die Praktikabilität der Umsetzung bei kleineren Unternehmen und die Verhältnismäßigkeit verwiesen, jedoch ist eine Interessen- und Güterabwägung, bei der sich erhöhte Betriebskosten und Praktikabilität für Unternehmen auf der einen Seite und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der anderen Seite entgegenstehen, sehr einseitig gewogen. Damit ist die Haltung des damaligen Gesetzgebers, wie sie auch Teile der neuen Bundesregierung vertreten,[12] zu Gunsten der Unternehmen bei dieser Abwägung schwer nachzuvollziehen und letztendlich auch, in Bezug auf den Schutz von Menschenrechten, abzulehnen. 

Das deutsche LkSG kann zwar als Übergangsregelung für ein EU-Lieferkettengesetz gesehen werden, welches die Unternehmen auf starke Regulierungen vorbereiten soll,[13] aber auch dafür geht das Gesetz zu kurz, es bleibt weit hinter den Vorhaben der EU-Kommission zurück und führt so zu keiner richtigen Vorbereitung, sondern kostet eher Zeit bei den Bemühungen gegen moderne Sklaverei. 

III. Der Gesetzesvorschlag der EU-Kommission

Am 23.02.2022 hat die EU-Kommission nun ihren Vorschlag für eine europäische Richtlinie veröffentlicht zur Implementierung von europaweit einheitlichen Sorgfaltspflichten in den Lieferketten der Unternehmen. Dieser Vorschlag der Kommission geht nun zunächst im Rahmen des europäischen Gesetzgebungsverfahrens an das Europäische Parlament und den Europäischen Rat über und wird voraussichtlich 2025 in Kraft treten und anschließend durch eine Überarbeitung des LkSG in deutsches Recht übergehen. 

Der Entwurf der Kommission schlägt als Anwendungsbereich eine Orientierung an der Mitarbeiterzahl und an dem Umsatz der Unternehmen vor. Demnach sind Unternehmen betroffen, wenn sie gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. (a) mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen und einen Umsatz von mehr als EUR 150 Mio. machen oder wenn sie nach lit. (b) mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigen und einen Umsatz von EUR 40 Mio. machen und 50% von diesem Umsatz in einem risikoreichen Sektor, namentlich Textil, Landwirtschaft und Bergbau, erwirtschaftet wird. Außereuropäische Unternehmen sind dabei nach Abs. 2 genauso betroffen, wenn sie die genannten Umsatzschwellen in der Union erwirtschaften. Des Weiteren geht auch der Begriff der „Value Chain“ im Richtlinienentwurf weiter als jener im LkSG, wobei neben der gesamten Wertschöpfungskette auch die Entsorgung der Produkte gemäß Art. 3 Lit. (g) unter diese Definition fällt. Außerdem regelt der Entwurf explizit die Haftung für das Handeln von Tochtergesellschaften[14]sowie die konkrete zivilrechtliche Haftung der Unternehmen bei mangelhafter Umsetzung der Due Dilligence Prozesse[15]. 

Diese weiten Regelungen finden aber auch bei diesem Entwurf lediglich Anwendung auf um die 1% aller europäischen Unternehmen[16] und auch wenn die Schwellen für Unternehmen, die in besonders risikoreichen Sektoren aktiv sind, gesenkt wurden, was insbesondere mit Blick auf das deutsche Gesetz begrüßenswert ist, fehlen bei dieser Aufzählung der Risikobereiche die besonders gefährdeten Sektoren Transport, Bauwesen, Energie und Finanzen.[17] Die Europäische Kommission behält sich aber vor, die geregelten Risikobereiche um weitere zu ergänzen.[18]                                                                                                                                    Eine sehr drastische Einschränkung erfährt dieser Entwurf aber durch das Erfordernis einer etablierten Geschäftsbeziehung, bei der erst eine Pflicht zur Due Dilligence in der Wertschöpfungskette entsteht, wenn zu den unmittelbaren oder mittelbaren Zulieferern eine Dauerhaftigkeit in der Geschäftsbeziehung besteht.[19] Dies schränkt zum einen den Anwendungsbereich erheblich ein und sorgt dazu auch noch für eine schlechtere Praktikabilität, indem jedes Unternehmen anhand dieser wagen Definition ihre Geschäftsbeziehungen kategorisieren muss und es birgt das Risiko, dass sich Unternehmen durch dauerndes Wechseln der Geschäftsbeziehungen von dieser Verpflichtung befreien könnten. Außerdem soll den Unternehmen bei der zivilrechtlichen Haftung für indirekte Geschäftsbeziehungen ein Exkulpationstatbestand zugutekommen, wenn sie die verminderten Due Dilligence Anforderungen einhalten, wobei diese Exkulpation eine begrüßenswerte Einschränkung findet, wenn es ungerechtfertigt war zu glauben, dass die Maßnahmen zu einer Verbesserung führen würde.[20]Weiterhin ergibt sich das Problem, dass Unternehmen nicht dazu angehalten sind Formen der modernen Sklaverei innerhalb ihrer Wertschöpfungskette zu eliminieren und Geschäftsbeziehungen mit Zulieferern, die durch moderne Sklaverei profitieren, zu beenden sondern lediglich sich verhältnismäßig dafür einzusetzen diese zu minimieren.[21]Dies widerspricht einem Zero-Tolerance-Approach, dem sich die Union verpflichtet hat.[22]

IV. Effektive Handlungsmöglichkeiten

Dieser Richtlinienentwurf wird nun zur Verhandlungen an das europäische Parlament und den Ministerrat weitergeleitet. Somit obliegt es unter anderem der deutschen Bundesregierung, die sich in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet hat ein europäisches Lieferkettengesetz sowie ein Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit zu unterstützen,[23] die Entscheidung über die Konsequenz und den Umfang eines solchen europäischen Lieferkettengesetzes festzulegen.

Zwingend notwendig für eine effektive Umsetzung wäre dabei eine Änderung der Voraussetzungen von etablierten Geschäftsbeziehungen, um ein Umgehungsrisiko zu verhindern und die Prüfungspflichten auf weitere Teile der Wertschöpfungsketten auszuweiten. Es sollte des Weiteren die Zero-Tolerance Haltung gegenüber moderner Sklaverei mehr in den Entwurf eingearbeitet werden, durch konsequenteres Handeln der Unternehmen in Bezug auf ihre Zulieferer sowie das schnellere Erfordernis des Geschäftsabbruchs bei Kenntnisnahme oder Kennenmüssen von Menschenrechtsverstößen. Außerdem ist ein zentraler Aspekt der konsequenten Durchsetzung der Regelungen die zivilrechtliche Haftung der Unternehmen bei Schädigungen, wobei das Beweisen eines Vertretenmüssens von Seiten der Geschädigten, mangels Kenntnis der internen Geschäftsabläufe der Unternehmen, unmöglich sein wird.[24] Damit wäre es erforderlich eine Beweislastumkehr zu Lasten der Unternehmen einzuführen, womit die Unternehmen von ihrer Seite aus das Einhalten der Due Dilligence Pflichten nachweisen müssten, was anderen Beteiligten nicht möglich wäre. Die Geschädigten müssen dabei weiterhin die Haftungsbegründenden Tatsachen vorlegen und werden nur insoweit entlastet, dass sie nicht selber die interne Ausübung der Sorgfaltspflichten nachweisen müssen. 

Diese Regelungen müssen selbstverständlich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit beschlossen werden, jedoch fällt diese Prüfung, wie bereits dargestellt, sehr einseitig aus. Im Jahr 2020 waren 160 Mio. Kinder Opfer von Kinderarbeit, was jedem zehnten Kind auf der Welt entspricht.[25] Außerdem befinden sich ca. 25 Mio. Menschen auf der Welt in Zwangsarbeit und Deutschland hat dabei den dritthöchsten Konsum von Gütern, bei denen ein hohes Risiko besteht, dass diese in Zwangsarbeit produziert wurden.[26]

Damit steht die deutsche Bundesregierung in der Verpflichtung umfassende und konsequente Regelungen in den Gesetzesentwurf der Kommission zu implementieren, um moderne Sklaverei effektiv zu bekämpfen. 


[1] RegE LkSG, S. 1.

[2] Stellungnahme des DAV, S. 11ff. 

[3] Ebd. 

[4] Stellungnahme der ILG, S. 4.

[5] Krajewski, Stellungnahme zum RegE, S. 9.

[6] Stellungnahme ILG, S. 3.

[7] Stellungnahme des BGA, S. 4.

[8] Korte, Der Betrieb 2021, Heft 12 S. M5.

[9] So auch Ehmann, ZVertriebsR 2021, S. 147; Vgl. Robert Grabosch Stellungnahme zum RegE vom 12.05.2021 S. 5ff.

[10] Krajewski, Stellungnahme zum RegE, S. 2.

[11] Krajewski, Stellungnahme zum RegE, S. 9. 

[12] Sigmund/Specht, „Justizminister Buschmann: EU-Lieferkettengesetz muss praktikabel sein“.

[13] So Löning, Stellungnahme zum RegE, S. 8.

[14] RichtlinienE, S. 31. 

[15] Ebd. S. 42.

[16] Ebd. S. 14

[17] ILG, Pressemitteilung vom 02.03.2022.

[18] RichtlinienE, S. 45.

[19] Ebd. S. 40. 

[20] Ebd. S. 21 (DE).

[21] Ebd. S. 17.

[22] EU-Strategy on the Rights of the Children, S. 21. 

[23] Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 34. 

[24] ILG, Anforderungen an ein wirksames Lieferkettengesetz, S. 7.

[25] COM 2022 66, S. 5.

[26] Global Slavery Index 2018, S. 4ff.

23.12.2022/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-12-23 07:42:522022-12-23 08:49:11Human Rights and Labour – Modern Slavery – Effektive Durchsetzung von Menschenrechten in globalen Lieferketten
Gastautor

Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor

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Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Über die Vorlagepflicht der nationalen Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV habe ich hier schon vor einigen Monaten berichtet anlässlich der Entscheidung des BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005): Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
 
I. Nun gibt es neue Impulse vom EuGH. Generalanwalt Bobek setzt sich mit den bisherigen Maßstäben ausführlich auseinander und schlägt ein Umdenken der insb. im Urteil in der Rs. CIFLIT (v. 6.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335) niedergelegten Maßstäbe vor (Schlussanträge v. 14.4.2021 – C-561/19, EU:C:2021:291). Weniger, dafür bessere Vorlagen. Nehme man die bisherigen Maßstäbe ernst, dann droht die Überlastung der Gerichte. Er begründet seine Ansicht in seiner ihm sehr eigenen, sehr narrativen Weise, mit der er sich gerade auch an Studenten wendet:
 

„Anders als die nationalen letztinstanzlichen Gerichte werden Studierende des Europarechts für das Urteil CILFIT u. a. vermutlich immer eher Sympathie gehabt haben. Im Lauf der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden die Herzen vieler Europarechtsstudenten wahrscheinlich mit einem plötzlichen Anflug von Freude und Erleichterung geklopft haben, wenn sie „Urteil CILFIT“, „Ausnahmen von der Vorlagepflicht“ und „Diskussion“ auf ihrem Prüfungs- oder Übungsblatt gelesen haben. Die Frage nach der Durchführbarkeit der nach dem Urteil CILFIT geltenden Ausnahmen von der Verpflichtung, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einzureichen, insbesondere der Ausnahme in Bezug auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels des nationalen letztinstanzlichen Gerichts, ist nämlich vielleicht nicht die anspruchsvollste Erörterungsaufgabe. Müssen diese Gerichte wirklich (alle) gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des Unionsrechts miteinander vergleichen? Wie sollen sie, praktisch betrachtet, bestimmen, ob die Frage für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof gleichermaßen offenkundig ist?

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Ausnahmen von dieser Pflicht und vor allem ihre Durchsetzung sind seit Jahren, bildlich gesprochen, schlafende Hunde des Unionsrechts. Wir wissen alle, dass sie da sind. Wir können alle über sie diskutieren oder gar akademische Aufsätze über sie schreiben. Im echten Leben aber weckt man sie am besten nicht. Pragmatisch (oder zynisch) gesagt, funktioniert das gesamte Vorabentscheidungssystem, weil niemand das Urteil CILFIT wirklich anwendet, jedenfalls nicht wörtlich. Oft ist es besser, sich einen Hund vorzustellen, als es mit dem lebenden Tier zu tun zu haben.

Aus einer Reihe von Gründen, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen werde, trage ich dem Gerichtshof den Vorschlag vor, dass es an der Zeit ist, die Rechtssache CILFIT zu überprüfen. Mein Vorschlag hierfür ist eher einfach und geht dahin, die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie die von ihr geltenden Ausnahmen so anzupassen, dass sie den Anforderungen des gegenwärtigen unionsrechtlichen Gerichtssystems entsprechen und dann realistisch angewendet (sowie möglicherweise zu gegebener Zeit durchgesetzt) werden können.

Der vorgeschlagene Anpassungsvorgang erfordert jedoch einen erheblichen Paradigmenwechsel. Die Grundgedanken und Ausrichtung der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen sollten sich wegbewegen vom Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall, der in Form eines subjektiven gerichtlichen Zweifel bestehen und festgestellt werden muss, hin zu einem objektiveren Gebot der Gewährleistung einer in der gesamten Union einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Mit anderen Worten sollte die Vorlagepflicht nicht in erster Linie auf die richtigen Antworten, sondern vielmehr auf die Ermittlung der richtigen Fragen ausgerichtet sein.“

 
II. Neugierig geworden? Einfach lesen. Es lohnt sich wirklich (und man erfährt auch noch was über den braven Soldat Schwjk). Und wer dann noch Lust und Energie hat, das Thema zu vertiefen, dann kann man sich auch mit dem Gegenteil beschäftigen: Wann nicht vorgelegt werden kann, selbst wenn man wollte. Auch Bobek betont: Vorgelegt werden kann nur, was entscheidungserheblich ist (nicht anders als bei der konkreten Normenkontrolle nachkonstitutionellen Rechts durch das BVerfG nach Art. 100 GG, s. hierzu BVerfG v. 28.1.1092, BVerfGE 85, 191). Hierbei ist anerkannt „dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; vgl. u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis C-80/08, EU:C:2011:550 Rn. 30 und die dort angeführte Rspr.). Es gilt eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit von zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen. Daher kann der Gerichtshof eine Entscheidung nur in begrenzten Fällen ablehnen, insbesondere dann, wenn die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht erfüllt sind oder wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung der betreffenden Unionsregelung in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht oder wenn die Fragen hypothetischer Natur sind (Generalanwalt Bobek, Schlussantrag v. 13.1.2021 – C-645/19, EU:C:2021:5 Rn. 33). Die Frage ist unzulässig, „wenn das Problem hypothetischer Natur ist“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; in diesem Sinne u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08, EU:C:2011:550 Rn. 31 und die dort angeführte Rspr.). Denn der Gerichtshof sieht die ihm durch Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe im Kern darin, „[…] zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben“ (wiederum EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105).
 
Manche Gerichte haben offensichtlich Freude an der Vorlage, zu der sie gar nicht verpflichtet sind. So gibt es z.B. ein Gericht mit acht Vorlagen desselben Richters innerhalb von etwas mehr als 20 Monaten (Vorlagebeschluss vom 27.3.2019 – 6 K 1016/15.Wi, entschieden durch den Gerichtshof am 9.7.2020 – Rs. C‑272/19; Vorlagebeschluss v. 27.6.2019 – 6 K 565/17, entschieden durch den Gerichtshof am 12.5.2021 – C-505/19; Vorlagebeschluss vom 13.5.2020 – 6 K 805/19.WI, anhängig Rs. C-215/20; Vorlagebeschluss vom 15.5.2020 – 6 K 806/19.WI, anhängig als Rs C-222/20; Vorlagebeschluss vom 17.12.2020 – 23 K 1360/20.WI.PV, anhängig als Rs. C-34/21; Vorlagebeschluss vom 30.7.2021 – 6 K 421/21.WI, anhängig als Rs. C-481/21; Vorlagebeschluss vom 31.8.2021 – 6 K 226/21.WI, anhängig als Rs. C-552/21; Vorlagebeschluss vom 1.10.2021 – 6 K 788/20.WI; vor einigen Jahren schon Vorlagebeschluss vom 27.2.2009 – 6 K 1045/08.WI, entschieden EuGH v. 9.11.2010 Rs. C-93/09). Sie betreffen alle – wie die anderen Vorlagen – auch diesmal den Datenschutz. Dieses Rechtsgebiet ist wohl das „Steckenpferd“ des Richters, zu dem er in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche engagierte, durchaus kluge und auch rechtspolitisch ausgerichtete Beiträge veröffentlicht hat. Dabei kommentiert er auch seine eigenen Vorlagen, in denen er das gewünschte Ergebnis der Prüfung des Gerichtshofs vorwegnimmt (s. ZD-Aktuell 2021, 05470), oder im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs das Ergebnis, von dem er dann ggf. auch deutlich macht, wo er anders denkt (ZD 2021, 426).
 
III. Das mag man auch rechtspolitisch bewerten. Ich habe schon vor mehr als 15 Jahren geschrieben, ohne dass sich meine Meinung geändert hätte: Nicht alles muss nach Luxemburg (Thüsing, BB Editorial, Heft 35/2005). Die deutschen Gerichte bleiben vorlagefreudig und das ist gut so, weil es in den meisten Fällen der größeren Rechtssicherheit dient. Nicht alle diese Vorlagen verfolgen freilich dieses Ziel (s. auch Thüsing, BB-Editorial, Heft 25/2007). Zuweilen spielen die Instanzgerichte über Bande und versuchen, ihre Rechtsprechung, die das BAG nicht überzeugt, über den Umweg des EuGH zu erzwingen (s. hierfür exemplarisch die Vorlage im Verfahren Schultz-Hoff Rs. C-350/06 durch das LAG Düsseldorf v. 21.8.2006). So etwas hat einen faden Beigeschmack, insbesondere wenn die europarechtlichen Anknüpfungspunkte gering sind und die erhoffte Antwort nur richtig sein könnte, wenn nicht nur Deutschland, sondern sehr viele andere Länder auch irren würden. Allgemein gilt: respice finem! Wer vorlegt, muss sorgsam die Folgen berechnen, die seine Vorlage haben könnte.

18.11.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-18 08:27:472021-11-18 08:27:47Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig

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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 (Az. 2 BvR 859/15 u.a.), das mehreren Verfassungsbeschwerden im Hinblick auf das Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise stattgab, hat große mediale Aufmerksamkeit erhalten. Neben spezifischen Fragen der Währungs- und Wirtschaftspolitik werden vor allem europarechtliche Fragestellungen zur Kompetenzverteilung innerhalb der Europäischen Union relevant, die jedem Examenskandidaten geläufig sein sollten. Dies führt – neben der politischen Tragweite der Entscheidung – zu einer besonders hohen Examensrelevanz. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die wesentlichen Verfahrensfragen und Entscheidungspunkte bieten.
Worum es geht
Im Jahre 2015 beschloss die EZB das Staatsanleihekaufprogramm „PSPP“. Ziel des Programms ist es, durch den Kauf von Staatsanleihen und ähnlichen Schuldtiteln die Geldmenge im Wirtschaftskreislauf auszuweiten, was Investitionen fördern und langfristig zu einer Erhöhung der Inflationsrate auf ca. 2 % führen soll. Die EZB sieht sich hierbei der fortlaufenden Kritik ausgesetzt, nicht nur die ihr übertragene Währungs-, sondern darüber hinaus kompetenzwidrig Wirtschaftspolitik zu betreiben. Der EuGH entschied indes nach Vorlage des BVerfG am 11.12.2018 (C-493/17), das PSPP halte sich im Rahmen der Kompetenzen der EZB. Das BVerfG hatte nun über mehrere Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die sich u.a. gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages, darauf hinzuwirken, dass die Beschlüsse des EZB hinsichtlich des PSPP aufgehoben bzw. nicht durchgeführt werden, richteten. Die Beschwerdeführer machten weiterhin geltend, das Urteil des EuGH vom 11.12.2018 sei im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Ultra-Vires-Akt nicht anwendbar.
Europarechtliche Grundlagen
Der Beschwerdegegenstand bedarf der Erläuterung: Während es den Beschwerdeführern maßgeblich darum gehen dürfte, die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der EZB feststellen zu lassen, wenden sie sich gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages. Dies ist darin begründet, dass Gegenstand der Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 1 BVerfGG nur Akte der öffentlichen Gewalt sein können, womit ausschließlich die deutsche Staatsgewalt gemeint ist (siehe BeckOK BVerfGG/Grünewald, § 90 Rn. 71). Dennoch ist die Überprüfung des Handelns von Unionsorganen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde möglich, und zwar soweit sie Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane sind oder aus der Integrationsverantwortung folgende Handlungspflichten dieser auslösen (BVerfG v. 19.7.2016 – 2 BvR 2752/11, Rn. 17 und BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 u.a., Rn. 23). Die Beschwerdebefugnis des Einzelnen leitet das BVerfG in einem solchen Fall aus der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG her:

„Das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag erschöpft sich nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt. Der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf demokratische Selbstbestimmung gilt auch in Ansehung der europäischen Integration und schützt sie im Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 GG vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sowie davor, dass solche Maßnahmen die Grenze der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze des Art. 1 oder des Art. 20 GG überschreiten.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 98, Verweise im Zitat ausgelassen).

Die Kompetenzkontrolle durch das BVerfG ist also als Unterfall der Identitätskontrolle zu verstehen – der unantastbare Verfassungskern, der gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG auch den Maßstab für die Kontrolle des Unionshandelns bildet, ist berührt, wenn Unionsorgane ihre Kompetenzen überschreiten. Ein solcher Ultra-Vires-Akt ist nicht hinreichend durch die deutschen Wähler legitimiert, eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist möglich.
Bei der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten ist stets das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 EUV zu beachten: Die EU-Organe dürfen sich stets nur im Rahmen der Kompetenzen bewegen, die ihnen ausdrücklich durch die Mitgliedsstaaten übertragen wurden. Wird die Kompetenzordnung missachtet, sieht das BVerfG den Bundestag und die Bundesregierung in der Pflicht:

„Überschreitet eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen des Integrationsprogramms in offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Weise, so haben sich Bundesregierung und Bundestag aktiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Kompetenzordnung wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber herbeizuführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 109)

Prüft das BVerfG nun die Einhaltung dieser Verpflichtungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, ist entscheidend, ob tatsächlich ein Ultra-Vires-Akt eines Unionsorgans vorliegt. Für die Ultra-Vires-Kontrolle gelten dabei folgende Grundsätze:

„Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzte Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und innerhalb des Kompetenzgefüges zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen führt.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 110)

Diese Kontrolle ist zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (siehe BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 112). Hierzu sieht das BVerfG vor, die Entscheidung über die Kompetenzüberschreitung vorrangig dem EuGH zu überlassen und dessen Entscheidung zu respektieren, solange sie sich auf methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint. An dieser Stelle zeigt sich die Brisanz der vorliegenden Entscheidung: Zum ersten Mal setzt sich das BVerfG im Rahmen der Ultra-Vires-Kontrolle über eine Entscheidung des EuGH hinweg und beanstandet diese als methodisch fehlerhaft und willkürlich.
Entscheidung des BVerfG: Anleihekäufe überschreiten Kompetenz der EZB
Denn nach Ansicht des BVerfG handelt es sich bei den Beschlüssen zum PSPP offensichtlich um eine Kompetenzüberschreitung. Das Gericht beanstandet hier allerdings weniger die Tatsache, dass Anleihekäufe getätigt werden, sondern vielmehr die Begründung der EZB. Diese genügten nicht den Anforderungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung: Die rechtmäßige Umsetzung eines solchem Programms setze voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen würden. Dass die weitreichenden ökonomischen und sozialen Folgen des PSPP mit dessen währungspolitischen Ziel, die Inflationsrate von ca. 2 % zu erreichen, abgewogen wurde, sei aber nicht ersichtlich. Die unbedingte Verfolgung dieses Ziels, ohne die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen, missachte offensichtlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und begründe so letztlich die Kompetenzwidrigkeit des Handelns.
Eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Programms hielt das BVerfG nicht für möglich, bis eine solche Abwägung durch die EZB stattgefunden habe.
Keine Bindung an Entscheidung des EuGH
Ausführlich begründet das BVerfG auch, warum es sich nicht an die Entscheidung des EuGH vom 11.12.2018 gebunden sieht, die die Einhaltung der Kompetenzordnung hinsichtlich des PSPP festgestellt hatte. Es erkennt zwar eine grundsätzliche Bindung an die Auslegung des EuGH an, nicht jedoch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem das BVerfG die Entscheidung für schlechterdings nicht mehr vertretbar hält. Indem auch der EuGH bei seiner Beurteilung die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen außer Acht ließ, missachte er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sodass auch die Entscheidung des EuGH teilweise als Ultra-Virus-Akt anzusehen sei:

„Die Auffassung des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 11. Dezember 2018, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP-Programm und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) offensichtlich und ist wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar. Das Urteil des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2018 überschreitet daher offenkundig das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat und bewirkt eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten. Da es sich selbst als Ultravires-Akt darstellt, kommt ihm insoweit keine Bindungswirkung zu. (…) Der Ansatz des Gerichtshofs, auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen des PSPP außer Acht zu lassen und eine wertende Gesamtbetrachtung nicht vorzunehmen, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats von ESZB und EZB. Damit kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die ihm in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht mehr erfüllen. Diese Auslegung lässt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV im Grunde leerlaufen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 119, 123, Verweise im Zitat ausgelassen)

Einen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung aus Art. 123 Abs. 1 AEUV sowie die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages durch das PSPP stellte jedoch auch das BVerfG nicht fest.
Folgen der Entscheidung
Bundesregierung und Bundestag seien dazu verpflichtet, dem als Ultra-Vires-Akt zu qualifizierenden PSPP entgegenzutreten und sich schützend vor den durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Anspruch auf Demokratie zu stellen (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 229 f.). Hierzu müssten sie auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinwirken. Nach Ablauf einer Übergangsfrist von drei Monaten sei es der Deutschen Bundesbank untersagt, an der Umsetzung des PSPP mitzuwirken, wenn die EZB die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Beschlüsse bis dahin nicht hinreichend dargelegt habe (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 335).
Ausblick
Eine Entscheidung, der eine solche Aufmerksamkeit zu Teil wird, darf von Examenskandidaten keinesfalls ignoriert werden – sie dürfte alsbald Einzug in schriftliche und mündliche Prüfungen finden. Dies gilt umso mehr, als dass sich das BVerfG zum ersten Mal über eine Entscheidung des EuGH hinwegsetzt. Neben der vertieften Auseinandersetzung mit der Entscheidung sollten auch die Grundlagen der Identitätskontrolle im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wiederholt werden.

11.05.2020/4 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-05-11 08:50:002020-05-11 08:50:00BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht

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Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16): Minderung von Hartz IV bei unterbliebener Mitwirkung teilweise verfassungswidrig
 Die Regelungen zur Minderung bzw. zum Entzug der Sozialhilfe nach § 31a I SGB II und § 31b SGB II, welche die Mitwirkungspflichten nach § 31 I SGB II durchsetzen sollen, sind in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 IGG) vereinbar: Zwar sind Mitwirkungspflichten – ebenso wie Sanktionen bei unterlassener Mitwirkung – im Rahmen der Gewährung existenzsichernder Leistungen grundsätzlich zulässig, jedoch müssen sie in ihrer konkreten Ausgestaltung auch verhältnismäßig sein. Denn die Minderung existenzsichernder Leistungen steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur aus Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG abgeleiteten Existenzsicherungspflicht des Staates. Daher gilt ein strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab:

„Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt. Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.“

Zwar dienen die Sanktionsregelungen in § 31a I SGB II sowie § 31b SGB II mit der Durchsetzung dieser Mitwirkungspflichten einem legitimen Ziel, da nur durch ein „Fördern und Fordern“ die dauerhafte Finanzierbarkeit der Sozialhilfe gewährleistet werden kann. Allerdings sind die konkreten Regelungen unverhältnismäßig, da sie Leistungskürzungen in unzumutbarer Höhe – einschließlich des vollständigen Wegfalls existenzsichernder Leistungen – ermöglichen. Zudem können auch nur geringe Kürzungen gegenwärtig ohne weitere Prüfung, beispielsweise von besonderen Härten, erfolgen. Letztlich endet die Leistungskürzung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls stets nach einer starren Frist, sodass auch eine Nachholung der Mitwirkung unbeachtlich ist. Aufgrund vorstehender Erwägungen verstoßen die Sanktionen bei Unterlassen einer Mitwirkungshandlung in ihrer konkreten Ausgestaltung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
 
 BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13): Recht auf Vergessen I
Das BVerfG räumt der Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG nunmehr einen Vorrang ein, sofern sich die Anwendungsbereiche von GG und GRCh überschneiden. Grundsätzlich prüft das Gericht nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, weshalb es die GRCh – bislang – nicht als Prüfungsmaßstab heranziehen konnte. Um dadurch nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gefährden, treten die Grundrechte des GG grundsätzlich zurück, sofern der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist, d.h. wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (Art. 51 I 1 GRCh). Dies gilt jedenfalls, solange der europäische Grundrechtsstandard im Wesentlichen mit dem Schutzniveau des Grundgesetzes vergleichbar ist.  Soweit den Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsspielräume verbleiben, bleiben die Grundrechte des GG jedoch anwendbar. Denn in einem solchen Fall ist wegen der verbleibenden mitgliedstaatlichen Spielräume eine vollständig einheitliche Anwendung des Unionsrechts gar nicht intendiert. Die Grundrechte des GG treten damit – wie das BVerfG nunmehr ausdrücklich feststellt – neben die Grundrechte der GRCh. Bei paralleler Anwendbarkeit mehrerer Grundrechtskataloge gilt grundsätzlich das jeweils höhere Schutzniveau (Art. 53 GRCh). In diesem Zusammenhang stellt das BVerfG fest, dass zu vermuten ist, dass das Schutzniveau der Grundrechte des GG demjenigen der GRCh zumindest entspricht oder dieses sogar übersteigt.

„Wenn danach regelmäßig anzunehmen ist, dass das Fachrecht, soweit es den Mitgliedstaaten Spielräume eröffnet, auch für die Gestaltung des Grundrechtsschutzes auf Vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass insoweit die Grundrechte-Charta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17): Recht auf Vergessen II
Enthält das durch die Mitgliedstaaten umzusetzende und zu vollziehende Unionsrecht keine Gestaltungsspielräume, finden die Grundrechte des GG keine Anwendung; sie treten hinter der GRCh zurück. Allerdings hat das BVerfG nunmehr klargestellt, dass es sich berechtigt sieht, die Grundrechte der GRCh selbst anzuwenden und als Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde heranzuziehen. So heißt es ausdrücklich:

„Soweit das BVerfG die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH aus.“

Nur so könne das BVerfG einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten. Da die Grundrechte der GRCh letztlich ein Funktionsäquivalent der Grundrechte des GG seien und auf unionsrechtlicher Ebene kein effektiver Individualrechtsbehelf bestehe, komme dem BVerfG die Aufgabe zu, den effektiven Schutz auch der Grundrechte der GRCh im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sicherzustellen:

„Die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes gehört zu den zentralen Aufgaben des BVerfG. […]Auch die Unionsgrundrechte gehören heute zu dem gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsschutz. Sie sind nach Maßgabe des Art. 51 I GRCh innerstaatlich anwendbar und bilden zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent. […] Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechtezum Prüfungsmaßstab nimmt.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18): Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt Blinde unangemessen
Ein gegenüber blinden Menschen ausgesprochenes Verbot, mit einem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, stellt eine mit Art. 3 III 2 GG – der jede Benachteiligung wegen der Behinderung verbietet – nicht zu vereinbarende Benachteiligung dar. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur ausnahmsweise zulässig, sofern sie durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann. Dies gilt auch im Rechtsverhältnis zwischen Privaten, denn das Benachteiligungsverbot ist zugleich eine objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers und hat daher auch Einfluss auf Anwendung und Auslegung des Zivilrechts. Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt blinde Menschen in besonderem Maße, soweit es ihnen dadurch insgesamt verwehrt wird, die Praxisräume selbstständig zu durchqueren. Unerheblich ist dabei, dass die betroffenen blinden Personen selbst nicht daran gehindert werden, die Praxisräume zu betreten, sondern sich daran lediglich deshalb gehindert fühlen, weil sie ihren Blindenführhund nicht mitnehmen können. Denn Art. 3 III 2 GG möchte jede Bevormundung behinderter Menschen verhindern und ihnen Autonomie ermöglichen. Wird einem Blinden jedoch verwehrt, seinen Blindenführhund mit in die Praxis zu nehmen, so folgt daraus zugleich, dass er sich von anderen Menschen helfen lassen und sich damit von anderen abhängig machen muss, um die Praxisräume zu durchqueren. Die betroffene Person muss sich – ohne dies zu wollen – anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen, was einer Bevormundung gleichkommt und daher mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar ist. Diese erhebliche Beeinträchtigung überwiegt die entgegenstehende Berufsausübungsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit das Praxisinhabers. Denn es bestehen keine sachlichen Gründe für ein Verbot, Blindenhunde mitzuführen: Dies gelte insbesondere soweit auf die Gewährleistung der nötigen Hygiene verwiesen werde. Denn sofern die blinde Person mit ihrem Blindenführhund lediglich den Wartebereich durchqueren möchte – den auch andere Menschen mit Straßenschuhe und Straßenkleidung betreten – sei keine nennenswerte Beeinträchtigung der Hygiene durch den Hund zu erkennen.
 
BVerfG (Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a.): Grundrecht auf Suizid
Das BVerfG hat § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärt und damit zugleich ein Grundrecht auf Suizid geschaffen. § 217 StGB hatte bislang jede Form der geschäftsmäßigen Sterbehilfe unter Strafe gestellt, wobei Geschäftsmäßigkeit in diesem Zusammenhang keine Gewinnerzielungsabsicht erforderte, sondern es allein auf eine Wiederholungsabsicht, die auch bei Ärzten angenommen werden konnte, ankam. Die Norm verletzt das Grundrecht der betroffenen Sterbewilligen auf selbstbestimmtes Sterben, das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) herleiten lässt und in jeder Phase menschlicher Existenz besteht. Zwar verfolgt die Norm das legitime Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes. Indes führte das BVerfG aus:

„Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht.“

Weitergehend setzte sich das Gericht auch mit einer möglichen Verletzung der Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine auseinander, die sich ihrerseits auf Art. 12 I GG und subsidiär auf Art. 2 I GG berufen können. Denn die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit sind, diese zu leisten. Nur wenn Dritte Sterbehilfe straffrei durchführen können, kann auch das Grundrecht auf Suizid tatsächlich verwirklicht werden.
 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 27.2.2020 – 2 BvR 1333/17): Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen
Das BVerfG hat das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, das es ihnen untersagt, Tätigkeiten, bei denen sie von Bürgern als Repräsentanten der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können, mit Kopftuch auszuüben, als verfassungsgemäß eingestuft. Das Verbot stelle keine Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) dar. Im Schwerpunkt setzte das BVerfG sich mit der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin auseinander: Die Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen die Beschwerdeführerin als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden könnte, gegen ihre religiös begründeten Bekleidungsregeln zu verstoßen, stellt zwar einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit dar, da sie dadurch vor die Wahl gestellt werde, „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.“ Allerdings ist dieser Eingriff nach Auffassung des BVerfG gerechtfertigt, da der Staat seinerseits zur Neutralität verpflichtet sei.

„Hierbei entspricht die Verpflichtung des Staates zur Neutralität einer Verpflichtung seiner Amtsträger: Der Staat kann nur durch seine Amtsträger handeln, sodass diese das Neutralitätsgebot zu wahren haben, soweit ihr Handeln dem Staat zugerechnet wird.
Hier ist eine besondere Betrachtung des Einzelfalls erforderlich. Nicht jede Handlung eines staatlich Bediensteten ist dem Staat in gleicher Weise zuzurechnen. […] Die Situation vor Gericht ist indes besonders dadurch geprägt, dass der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich gegenübertritt. Auch ist eine besondere Formalität und Konformität dadurch gegeben, dass die Richter eine Amtstracht tragen.
[…] Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“

Weitere Erwägungen für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Kopftuchverbotes sind zudem das Vertrauen des Bürgers in die Rechtspflege und die Justiz sowie sie negative Religionsfreiheit Dritter, die durch den unausweichlichen Anblick des Kopftuchs im Gerichtssaal verletzt sein kann. Unter Berufung auf diese Argumente lehnte das BVerfG daher auch eine Verletzung der Berufsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin ab.
S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.

08.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-08 10:00:122020-04-08 10:00:12Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht
Gastautor

BVerfG zum „Recht auf Vergessen“

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Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Grigory Bekritsky veröffentlichen zu können. Der Autor ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Universität Bonn bei Prof. Dr. Jens Koch.
I. Einleitung
Erneut stellt ein Kanon unionsrechtlich beeinflusster Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die nationale Grundrechtsdogmatik und damit auch den Examenskandidaten auf den Prüfstand. War es bislang die Frage, inwieweit sich Akte des Unionsrechts an den Grundrechten des Grundgesetzes messen lassen müssen, wird mit den Beschlüssen Vergessen I (1 BvR 16/13) und Vergessen II (1 BvR 276/17) vom 6.11.2019 neues Terrain betreten: Es geht nicht mehr darum, nationale Barrieren in Anbetracht des Durchgriffs von Unionsrecht auszugestalten, sondern vielmehr umgekehrt um das Vereinheitlichungsziel, die nationale Gerichtsbarkeit als Durchsetzungsmechanismus nun auch der unionalen Grundrechte zu begreifen.
Unter welchen Voraussetzungen welcher Grundrechtskatalog einschlägig und welches Gericht zuständig ist, soll im Folgenden näher beleuchtet werden, indem der Vergessen II-Beschluss als Lösungsvorschlag aufbereitet und die Vergessen I-Entscheidung als Zusatzfrage behandelt wird. Abschließend werden beide Beschlüsse in den Kontext von bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit unionalem Bezug gesetzt und einem Ausblick für mögliche Prüfungskonstellationen unterworfen.
 II. Sachverhalt (angelehnt an Vergessen II)
 Der Fernsehsender F strahlte einen Beitrag mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Darin wurde der Fall eines gekündigten Arbeitnehmers geschildert, der zuvor in einem Unternehmen beschäftigt war, das B als Geschäftsführerin leitete. In dem Beitrag wurde ihr ein unfairer Umgang mit dem betroffenen Mitarbeiter vorgeworfen, wozu B in einem freiwilligen Interview auch Stellung bezog.
Im Anschluss daran stellte F den Beitrag auf seiner Internetseite ein. Bei Eingabe des Namens der B in die Suchmaske des Suchmaschinenbetreibers G wurde die Verlinkung auf diesen Beitrag als eines der ersten Suchergebnisse angezeigt. Nachdem G es abgelehnt hatte, die Nachweise dieser Seite zu unterlassen, durchzog B erfolglos den gerichtlichen Instanzenzug. Nach der Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs könne sie weder aus Art. 17 DSGVO noch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG beanspruchen, dass der Link entfernt werde.
Daraufhin erhebt B Verfassungsbeschwerde, mit der sie eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung rügt. Bereits die Überschrift des Suchergebnisses sei verfälschend, da sie niemals „fiese Tricks“ angewandt habe. Außerdem werde dadurch sogar Schmähkritik geübt. Das Suchergebnis rufe eine negative Vorstellung über sie hervor, die geeignet sei, sie als Privatperson herabzuwürdigen. Schließlich liege der Bericht zeitlich so weit zurück, dass auch in Folge des Zeitablaufs kein berechtigtes öffentliches Interesse mehr an ihm bestehe.
Hat die Verfassungsbeschwerde Erfolg?
Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass das Datenschutzrecht vollständig harmonisiert ist. Auf die Art. 7, Art. 8, Art. 11, Art. 16 und Art. 52 GRCh wird hingewiesen.
Abwandlung (angelehnt an Vergessen I)
Ändert sich etwas, wenn es sich um eine nicht vollständig harmonisierte Materie handeln und den Mitgliedstaaten damit ein Umsetzungsspielraum verleiben würde?
III. Rechtsausführungen
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
1. Zulässigkeit
a) Während die natürliche Person B als „Jedermann“ beschwerdefähig und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs als Akt der Judikative ein tauglicher Beschwerdegegenstand ist, stellt sich die Frage, ob B nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG auch beschwerdebefugt ist. Problematisch ist einzig, ob sich B in der vorliegenden Konstellationen mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht auf die in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Grundrechte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der informationellen Selbstbestimmung berufen kann. Dem könnte zum einen der unionsrechtliche Anwendungsvorrang (1) und zum anderen eine etwaig fehlende Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts entgegenstehen (2).
(1) Nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist kollidierendes mitgliedstaatliches Recht, auch solches mit Verfassungsrang, nicht anwendbar (Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 19). Kollidierend ist das nationale Recht aber nur, wenn es eine Regelungsmaterie betrifft, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist (vgl. auch Art. 51 Abs. 1 S. 1 HS. 2 GRCh: „Durchführung des Rechts der Union“).
„Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. […] Die Anwendung der Unionsgrundrechte ist hier Konsequenz der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Wenn die Union im Rahmen dieser Befugnisse Regelungen schafft, die in der gesamten Union gelten und einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein. Diesen Grundrechtsschutz gewährleistet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die deutschen Grundrechte sind in diesen Fällen nicht anwendbar, weil dies das Ziel der Rechtsvereinheitlichung konterkarieren würde“ (Rn. 42, 44).
Abzugrenzen ist der Anwendungsvorrang vom sog. Geltungsvorrang, der für das Unionsrecht nicht gilt und damit dem nationalen Recht einen Reservevorbehalt für den Fall bietet, dass das unionsgrundrechtlich gewährleistete Schutzniveau wegbricht.
„Die Nichtanwendung […] lässt die Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes als solche unberührt. Sie bleiben dahinterliegend ruhend in Kraft. Dementsprechend erkennt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung einen die Überprüfung an den Grundrechten des Grundgesetzes ausschließenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur unter dem Vorbehalt an, dass der Grundrechtsschutz durch die stattdessen zur Anwendung kommenden Grundrechte der Union hinreichend wirksam ist […]. Maßgeblich ist insoweit eine auf das jeweilige Grundrecht des Grundgesetzes bezogene generelle Betrachtung. Nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts – zumal unter Geltung der Charta – ist entsprechend ständiger Rechtsprechung davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind“ (Rn. 47).
Bei dem Datenschutzrecht, das mittlerweile in der DSGVO geregelt ist, handelt es sich um eine vollständig vereinheitlichte Materie des Unionsrechts. Daher genießt das gesamte Unionsrecht Anwendungsvorrang vor dem gesamten nationalen Recht, mithin auch vor den Art. 2 und Art. 1 GG. Folglich kann sich B – wenn überhaupt – nur auf die entsprechenden Charta-Grundrechte berufen, die in Art. 7 und Art. 8 GRCh verbürgt sind.
(2) Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht auch dafür zuständig ist, über eine Beschwerde zu entscheiden, die sich auf eine mögliche Verletzung von Grundrechten der GRCh und nicht des GG stützt.
„Die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts für die Unionsgrundrechte folgt aus Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit den grundgesetzlichen Vorschriften über die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Grundrechtsschutzes. Das Bundesverfassungsgericht nimmt entsprechend seiner Aufgabe, gegenüber der deutschen Staatsgewalt umfassend Grundrechtsschutz zu gewähren, im Bereich der Anwendung vollständig vereinheitlichten Unionsrechts gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG durch eine Prüfung der Rechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG seine Integrationsverantwortung wahr“ (Rn. 53).
Damit kontrolliert das Bundesverfassungsgericht die Anwendung des Unionsrechts am Maßstab der Unionsgrundrechte, soweit die Grundrechte des GG durch den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang verdrängt werden. An der danach gegebenen Beschwerdebefugnis der B ändert sich insbesondere nicht dadurch etwas, dass sie die Grundrechte des Grundgesetzes und nicht die Grundrechte der Charta nennt: „Wird nur die falsche Norm benannt, aber in der Sache substantiiert vorgetragen, wird hierdurch die Verfassungsbeschwerde nicht unzulässig.“
b) Während Form und Frist (§§ 93 Abs. 1, 23 Abs. 1 BVerfGG) gewahrt sind und auch der Rechtsweg erschöpft ist, müsste B zudem den Anforderungen an die Subsidiarität genügen, indem sie weitere Möglichkeiten ergreift, um die gerügte Grundrechtsverletzung abzuwenden.
„[Dazu musste sie] vor der Inanspruchnahme des beklagten Suchmaschinenbetreibers [aber] nicht zuerst [von F] als Inhalteanbieter die Unterlassung der Verbreitung des streitgegenständlichen [Beitrags] verlangen. Die Bereitstellung des Beitrags im Internet durch den Inhalteanbieter und sein Nachweis durch den Suchmaschinenbetreiber stellen zwei verschiedene Maßnahmen dar, die als je eigene Datenverarbeitungsmaßnahmen grundrechtlich je für sich zu beurteilen sind“ (Rn. 30).
Die Verfassungsbeschwerde ist demnach zulässig.
2. Begründetheit
Begründet ist die Verfassungsbeschwerde, wenn B durch das Urteil des Bundesgerichtshofs in zumindest einem ihrer Unionsgrundrechte verletzt ist. Infrage kommt eine Verletzung der Art. 7, Art. 8 GRCh. Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht nicht die richtige Anwendung des einfachen Rechts – hier des Art. 17 DSGVO – sondern ist im Rahmen der Verfassungsbeschwerde darauf beschränkt, die Beachtung der Grundrechte zu kontrollieren.
a) Zunächst müsste der entsprechende Schutzbereich eröffnet sein.
„Art. 7 GRCh begründet das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie der Kommunikation, Art. 8 GRCh das Recht auf Schutz personenbezogener Daten. […] Die Gewährleistungen der Art. 7 und Art. 8 GRCh sind dabei eng aufeinander bezogen. Jedenfalls soweit es um die Verarbeitung personenbezogener Daten geht, bilden diese beiden Grundrechte eine einheitliche Schutzverbürgung. […] Das gilt insbesondere für den Schutz Betroffener vor Nachweisen einer Suchmaschine. […] Art. 7, Art. 8 GRCh schützen vor der Verarbeitung personenbezogener Daten und verlangen die „Achtung des Privatlebens“. Unter personenbezogenen Daten werden dabei – wie nach dem Verständnis des deutschen Verfassungsrechts zu Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG – alle Informationen verstanden, die eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person betreffen […]“ (Rn. 99 f.).  
Der Schutzbereich der Art. 7, Art. 8 GRCh ist folglich eröffnet.
b) B müsste ferner in dem durch Art. 7, Art. 8 GRCh garantierten Gewährleistungsbereich beeinträchtigt sein. Problematisch ist dabei, dass B nicht unmittelbar durch den Staat, sondern vielmehr durch das Verhalten des G in ihren grundrechtlichen Positionen berührt ist. Es handelt sich mithin nicht um ein Vertikalverhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern um eine horizontale Beziehung zwischen Privaten.
„Eine Lehre der „mittelbaren Drittwirkung“, wie sie das deutsche Recht kennt […] wird der Auslegung des Unionsrechts dabei nicht zugrunde gelegt. Im Ergebnis kommt den Unionsgrundrechten für das Verhältnis zwischen Privaten jedoch eine ähnliche Wirkung zu. Die Grundrechte der Charta können einzelfallbezogen in das Privatrecht hineinwirken“ (Rn. 97).
Auf dieser Grundlage liegt eine Beeinträchtigung dadurch vor, dass der Staat seiner aus den Grundrechten erwachsenden Schutzpflicht dadurch nicht nachgekommen ist, dass der Bundesgerichtshof die Grundrechte der B für nachrangig erklärt und insoweit keinen Schutz gewährt hat.
c) Die Beeinträchtigung könnte allerdings unionsrechtlich gerechtfertigt sein. Die Grundrechte nach Art. 7, Art. 8 GRCh können nach Art. 52 Abs. 1 GRCh und unter Beachtung der Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 GRCh eingeschränkt werden (Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 8 Rn. 11). Als gesetzliche Grundlage fungiert Art. 6 DSGVO, der eine Datenverarbeitung unter den dort genannten Voraussetzungen für zulässig erklärt. Während die Vorschrift selbst als unionsrechtskonform anzusehen ist, sind im Rahmen ihrer konkreten Anwendung die Grundrechte des Beschwerdeführers gegen die Rechte und Freiheiten anderer abzuwägen, vgl. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh. Dazu kommen nicht nur die Grundrechte des F und des G, sondern auch die Informationsinteressen der Nutzer in Betracht.
(1) „Auf Seiten des beklagten Suchmaschinenbetreibers ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh einzustellen. Demgegenüber kann er sich für die Verbreitung von Suchnachweisen nicht auf Art. 11 GRCh berufen [da es sich dabei nicht um eine Meinungsäußerung handelt]. Einzustellen sind jedoch die von einem solchen Rechtsstreit möglicherweise unmittelbar betroffenen Grundrechte Dritter und damit vorliegend die Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter [Art. 11 GRCh]. Zu berücksichtigen sind darüber hinaus die Informationsinteressen der Nutzer“ (Rn. 102).
(2) Die kollidierenden Grundrechte und Interessen sind im Rahmen einer Abwägung in Einklang zu bringen. Dabei hält es das Bundesverfassungsgericht für die Wahrung der Rechte aus Art. 16 und Art. 11 GRCh für maßgeblich, dass Inhalte mithilfe von Suchmaschinen, insbesondere auch mittels namensbezogener Abfragen aufgefunden werden können. B sei dadurch zwar nicht nur in der Sozial-, sondern auch in ihrer Privatsphäre betroffen, jedoch stehe dem das allgemeine Interesse an der praktischen Wirksamkeit des Kündigungsschutzes gegenüber.  
 „Der Beitrag bezieht sich auf ein in die Gesellschaft hineinwirkendes Verhalten der […] und des von ihr geführten Unternehmens, nicht aber allein auf ihr Privatleben und ist in Hinblick hierauf durch ein hier noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt. Diesbezüglich muss die Beschwerdeführerin belastende Wirkungen – auch in ihrem privaten Umfeld – weitergehend hinnehmen als gegenüber Beiträgen über ihr privates Verhalten“ (Rn. 128).  
Entgegen der Behauptung der B handele es sich bei dem Beitrag auch nicht um eine Schmähung, was nur der Fall wäre, „wenn es ohne Sachbezug allein um die Verunglimpfung der Person geht […]. Davon kann hier keine Rede sein. Vielmehr steht der Beitrag in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung der Beschwerdeführerin als Geschäftsführerin einer Arbeitgeberin mit der Belegschaft“ (Rn. 130).  
Entscheidend ist schließlich auch der Zeitfaktor, der dadurch zu Tragen kommt, dass die Weiterverbreitung des Beitrags auch unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit nicht mehr gerechtfertigt sein kann.
„Der Zeitablauf kann sowohl das Gewicht des öffentlichen Interesses als auch das der Grundrechtsbeeinträchtigung modifizieren. […] Letztlich sieht [das Gericht] einen solchen Anspruch auf Auslistung im vorliegenden Fall aber als jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben an. Maßgeblich stellt es insoweit darauf ab, dass die Beschwerdeführerin mit dem Interview selbst in die Öffentlichkeit getreten ist, an dem Thema ein fortdauerndes öffentliches Interesse besteht, sie nach wie vor als Geschäftsführerin unternehmerisch tätig ist und der Zeitraum von sieben Jahren in Bezug auf die fortdauernde Aktualität des Themas nicht übermäßig lang ist. Dies trägt den Garantien der Grundrechtecharta hinreichend Rechnung; es lässt eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Grundrechte nicht erkennen und ist als fachrechtlich vertretbar vom Bundesverfassungsgericht nicht zu beanstanden“ (Rn. 131).
Damit überwiegen die Grundrechte und Interessen anderer die grundrechtlich geschützten Belange der B, weswegen ihre Verfassungsbeschwerde mangels Begründetheit keinen Erfolg hat.
Abwandlung:
 Im Gegensatz zu vollständig vereinheitlichendem Unionsrecht, wie etwa einer Verordnung oder einer vollharmonisierenden Richtlinie, können in nicht vollständig vereinheitlichten Bereichen die Grundrechte des Grundgesetzes das grundrechtliche Schutzniveau der Union regelmäßig mitgewährleisten (Rn. 59). Daher prüft das Bundesverfassungsgericht „innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Das ergibt sich schon aus Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet [aber] nicht, dass insoweit die Grundrechtecharta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind“ (Rn. 42).
Daher sind die Grundrechte des GG – und nicht die der GRCh – heranzuziehen, wenn es sich um eine Materie handelt, hinsichtlich derer seitens der Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume bestehen, wie etwa im Falle einer mindestharmonisierenden Richtlinie. Diese Abgrenzung ist im Rahmen der Beschwerdebefugnis zu treffen, woraufhin im Rahmen der Begründetheit die gewohnte Grundrechtsprüfung am Maßstab des GG zu erfolgen hat. Der unionsrechtliche Einschlag ergibt sich daraus, dass die Grundrechte des GG im Lichte der GRCh auszulegen sind. Dies ähnelt dem Konstrukt, mit dem Bestimmungen der EMRK nach Art. 1 Abs. 2 GG Eingang in die Interpretation der deutschen Grundrechte gefunden haben.
IV. Ausblick
Obwohl es sich in einer Konstellation, wie sie Vergessen II zugrunde lag, nicht mehr um eine Prüfung anhand der Grundrechte des GG, sondern um die der GRCh handelt, dient die bereits bekannte Methode der deutschen Grundrechtsdogmatik doch als sinnvolle Blaupause, um sie über den unionalen Grundrechtskatalog zu legen. Der Umgang mit der GRCh muss daher nicht von Neu auf erlernt, sondern die bereits erprobte Grundrechtsprüfung in die nächsthöhere unionale Tonart transponiert werden. Dabei hat sie sich selbstverständlich an den geeigneten Stellschrauben auf die Klänge des Unionsrechts einzustellen: So bedarf es bereits im Rahmen der Beschwerdebefugnis einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Frage, welcher Grundrechtskatalog überhaupt einschlägig sein soll, indem nach Voll- und Teilharmonisierung differenziert wird. Auch sind die Schutzbereiche der einzelnen Garantien der GRCh stets autonom auszulegen, wobei doch der anhand des GG angereicherte Assoziationshaushalt dem Examenskandidaten dabei helfen kann, den Gewährleistungsinhalt der GRCh zu entziffern. Schließlich ist im Rahmen der Rechtfertigung stets Art. 52 GRCh im Blick zu behalten, der mit dem Verweis auf „Rechte und Freiheiten anderer“ funktional auch die Konstellation umfasst, das nach der deutschen Grundrechtsdogmatik als mittelbare Drittwirkung bekannt ist. Zudem können sich erhöhte Rechtsfertigungsanforderungen aus grundrechtsimmanenten Schranken wie etwa in Art. 8 Abs. 2 GRCh ergeben. Dies erinnert an die grundrechtsspezifisch erhöhten Voraussetzungen, wie sie etwa in Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2 oder auch Art. 9 Abs. 2 GG zu finden sind.
Was das Verhältnis von Vergessen I und II zu der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit unionalem Bezug anbelangt, handelt es sich um ein jeweils umgekehrtes Verhältnis von Prüfungsmaßstab und Prüfungsgegenstand. So führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass die bisherige „Rechtsprechung auf Fallkonstellationen bezogen [war], in denen – mittelbar oder unmittelbar – die Gültigkeit von Unionsrecht selbst in Frage stand. Es handelte sich um Fälle, in denen darüber zu entscheiden war, ob das Bundesverfassungsgericht die Wirksamkeit entweder von bestimmten Entscheidungen (vgl. etwa BVerfGE 129, 186, 198 f. – Investitionszulagengesetz) oder Rechtsvorschriften (vgl. etwa BVerfGE 73, 339, 374 ff. – Solange II; 102, 147, 160 ff. – Bananenmarktordnung) der Union selbst oder aber von deutschen Normen, die zwingendes Unionsrecht innerstaatlich umsetzen (vgl. etwa BVefGE 118, 79, 95 f. m.w.N. – Emissionshandel), prüfen kann. Da die Verwerfung oder Ungültigerklärung von Unionsrecht allein dem Europäischen Gerichtshof vorbehalten ist, hat das Bundesverfassungsgericht dort auf eine vorherige eigene Grundrechtsprüfung ganz verzichtet. […] [In Vergessen II] stehen jedoch nicht Gültigkeit oder Wirksamkeit von Unionsrecht in Frage, sondern die richtige Anwendung vollvereinheitlichten Unionsrechts im Lichte der für den Einzelfall konkretisierungsbedürftigen Grundrechte der Charta. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Kontrolle einer Entscheidung eines deutschen Fachgerichts daraufhin, ob es bei der ihm obliegenden Anwendung des Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Charta Genüge getan hat“ (Rn. 51 f.).
Kurz: Bisheriger Prüfungsgegenstand war das Unionsrecht selbst und Prüfungsmaßstab das deutsche Grundgesetz, und zwar inwieweit es nach Art. 23 Abs. 1, Art. 79 Abs. 3 zur Überprüfung unionaler Sachverhalte herangezogen werden darf. In Vergessen I und II ist Prüfungsgegenstand ein nationaler Rechtsakt und Prüfungsmaßstab das Unionsrecht – entweder direkt, wenn der Unionsrechtsakt vollharmonisierend wirkt oder als Auslegungsmaxime für den nationalen Grundrechtskatalog bei Umsetzungsspielräumen der Mitgliedstaaten. Damit erweitert sich das Instrumentarium, das zu einer unionsrechtlichen Überprüfung nationaler Rechtsakte zur Verfügung steht. Waren es zuvor die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV und dessen grundrechtliche Absicherung durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, die allerdings nur im Falle evidenter Verstöße greift, sind es nunmehr die Grundrechte der GRCh selbst, die Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht sein können. Dies erweitert zwar den Prüfungsstoff, der in einer Examensklausur abgefragt werden kann, erhöht dafür aber die durch das nationale Recht inspirierte Transferleistung des Examenskandidaten und schließlich die Rechtsschutzmöglichkeiten der Unionsbürger.

16.03.2020/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2020-03-16 09:00:292020-03-16 09:00:29BVerfG zum „Recht auf Vergessen“
Gastautor

Ist die „Abschaffung“ des Europäischen Parlaments unionsrechtlich möglich?

Aktuelles, Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Nikolaus Klausmann veröffentlichen zu können. Der Autor ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin (EWeRK Institut).
 

Die „Abschaffung“ des Europäischen Parlaments als Europawahlversprechen der AfD

 

-Eine Anmerkung aus europarechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive-

 
Rechtliche Erläuterungen zu aktuellen politischen Ereignissen sind vor allem im Rahmen des mündlichen Teils der Juristischen Staatsprüfungen regelmäßig gefragt. Für die Vorbereitung auf diese Prüfungen ist es daher unerlässlich, sich mit politischem Tagesgeschehen aus rechtswissenschaftlicher Sicht zu beschäftigen. Die in diesem Beitrag beleuchtete Thematik bietet sich als Prüfungsgegenstand einer mündlichen Prüfung an. Es können europa- und verfassungsrechtliche Kenntnisse sowie die Fähigkeit, diese auf aktuelles Politikgeschehen anzuwenden, geprüft werden. 
 
Vom 23. bis 26. Mai 2019 findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Die AfD möchte unter anderem mit der Forderung der „Abschaffung“ des EU-Parlamentes Stimmen gewinnen. Konkret ist im Europawahlprogramm[1] der AfD zu lesen: „Das undemokratische EU-Parlament mit seinen derzeit (…) 751 Abgeordneten wollen wir abschaffen“ (Seite 12). Zwar wird das Europäische Parlament aus verschiedensten politischen Richtungen als reformbedürftig bezeichnet. Die AfD ist jedoch die einzige in Deutschland zur Wahl antretende, maßgebliche Partei die eine Beseitigung des Organs fordert.[2]
 
Dieser Beitrag geht zunächst kurz auf die These ein, das Organ sei „undemokratisch“ (I.). Anschließend wird dargestellt wie sich das Parlamente tatsächlich „abschaffen“ ließe (II. & III.) und ob es Parallelen zwischen dem europäische Recht und der deutschen Verfassung bezüglich eines solchen Vorgangs gibt (IV.). In einem Fazit werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst (V.).
 
I. Anhaltspunkte für ein Demokratiedefizit?
Das „Demokratiedefizit der Europäischen Union“ ist wissenschaftlicher Forschungsgegenstand und viel bemühte Thematik der Politik. Untersucht wird in diesem Zusammenhang neben einem strukturellen Demokratiedefizit (Die Nichtexistenz einer „europäischen Öffentlichkeit“), auch ein sog. „institutionelles Demokratiedefizit“ (Ausgewogenheiten im institutionellen Gefüge der Europäischen Union).[3] Ein solches soll beispielsweise deshalb vorliegen, weil -gemäß Art. 294 AEUV- weder das Europäische Parlament, noch der Rat der EU -die europäischen Institute der Legislative, vgl. Art 12 I EUV- ein Initiativrecht im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens besitzen.[4] Ebenfalls ist die Anzahl der Abgeordneten eines Mitgliedsstaats im Europäischen Parlament nicht direkt proportional zu seiner Bevölkerungsgröße (sog.  degressiv proportionale Repräsentation), vgl. Art 14 II EUV.[5] Kritik an dieser institutionellen Ausgestaltung wird mit einem Verweis auf die Grundsätze der Effizienz, der Pluralität und der Solidarität begegnet.[6]
 
II. Wie ließe sich das EU Parlament „abschaffen“?
Was meint die AfD mit dem Begriff des „Abschaffens“? Der Duden schlägt als Synonyme die Begriffe „aufheben, außer Kraft setzen, beseitigen“ vor. Es soll eine Situation ohne Existenz des Organs geschaffen werden – so das Versprechen.[7]
Der Grund für das Bestehen des Europäischen Parlaments ist dessen Verankerung in Art. 13 und 14 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und  Handlungskompetenzen des Organs, beispielsweise im Bereich der Rechtssetzung, werden im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) definiert. Beide Verträge sind Teil des sogenannten europäischen Primärrechts. Dabei handelt es sich -im Gegensatz zum europäischen Sekundärrecht- nicht um von der EU erlassene Legislativakte, sondern um von den Mitgliedsstaaten ursprünglich geschlossene völkerrechtliche Verträge.[8] Sie bilden die Basis für das Bestehen der EU und die Handlungsfähigkeit ihrer Institutionen.[9]
Daher ist eine „Abschaffung“ des EU-Parlaments nur mit einer Änderung des europäischen Primärrechts möglich. Doch wie könnte die AfD als Teil des Parlamentes eine Primärrechtsänderung mit entsprechendem Inhalt herbeiführen, bzw. zu einer solchen beitragen?
 
III. Änderung des Europäischen Primärrechts
Art. 48 EUV regelt die Änderung der Verträge, also des EUV und des AEUV.[10] Diese Norm stellt somit lex specialis zu den allgemeinen Vorgaben aus dem Völkervertragsrecht, vgl. Art. 39 WVK ff., dar. Den dort dargelegten, verschiedenartigen Änderungsverfahren ist grundsätzlich gemein, dass sie der mitgliedstaatlichen Zustimmung bedürfen und nicht allein durch Rechtshandlungen der Organe der Europäischen Union bewirkt werden können. Das folgt auch aus deren völkerrechtlichem Ursprung.[11]
Initiiert werden kann ein Änderungsverfahren von der Regierung jedes Mitgliedstaates, dem Europäischen Parlament und der Kommission.[12] Als Teil des Parlamentes könnte die AfD daher grundsätzlich ein Änderungsverfahren anstoßen. Aber schon die Zulassung der Initiative hängt von der einfachen Mehrheit des Europäischen Rates ab. Sollte eine solche nicht zustande kommen, wäre die Initiative aus dem Parlament schon im Keim erstickt.
Nach erfolgreicher Initiative, hat ein Konvent von Vertretern und Vertreterinnen der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission anschließend den Auftrag die Änderungsentwürfe zu prüfen.[13] Das Ergebnis dieser Prüfung wird nun der Regierungskonferenz – ausschließlich als Empfehlung – weitergeleitet.[14] Diese besteht aus Vertretern und Vertreterinnen der Regierungen der Mitgliedstaaten. Bis zu diesem Punkt könnte die AfD als Teil des EU-Parlaments auf die Ausgestaltung dieser Empfehlung, wenn auch nur sehr eingeschränkt, einwirken. In allen folgenden Schritten versiegt jedoch die Einflussnahme aller EU-Institutionen vollständig.
Diese Regelung ist nachvollziehbar: Die EU wurde auf Basis von Verträgen zwischen den Mitgliedsstaaten geschaffen; also auf Basis von Einigungen zwischen diesen. Der Inhalt solcher Verträge kann nur durch eine zeitlich nachgelagerte Einigung eben dieser Vertragspartner verändert werden.
 
IV. Das Parlament auf europäischer und deutscher Ebene
Interessanterweise richtet sich aber nicht das Recht selbst gegen eine entsprechende Gesetzesänderung. An dieser Stelle unterscheidet sich das europäische vom deutschen Recht. Unabhängig von parlamentarischen Mehrheiten und sonstigen politischen Erwägungen stünde einer -jedenfalls ersatzlosen- Abschaffung des deutschen Bundestages die Verfassung selbst entgegen. Für eine entsprechendes Vorhaben müsste Art. 20 GG geändert oder verworfen werden, denn: Gesetzgebung ohne Parlament wäre mit der Gewährleistung eines Kernbestands des demokratischen Prinzips unvereinbar.[15] Eine Verfassungsänderung ist dem Grunde nach möglich, vgl. Art. 76 II & III GG, Art. 79 I GG, bedarf aber jedenfalls einer zweidrittel Mehrheit des Bundestages und des Bundesrates.[16]
Gegen eine entsprechende Änderung, schützt sich die deutsche Rechtsordnung jedoch u.a. in diesem Einzelfall mit der sog. „Ewigkeitsklausel“ selbst. Sie sieht in Art. 79 III GG eine Bestandsgarantie für die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze, namentlich auch den Erhalt der Volksouveränität  vor.[17] Eine solche ist aber nur gewährleistet, wenn das staatliche Handeln demokratisch legitimiert ist. Bei einem ersatzlosen Abschaffen des Bundestages wäre das wohl nicht weiter der Fall. Daher sind gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse für ein entsprechendes Vorhaben nicht ausschlaggebend. Die aus Art. 20 GG ableitbaren staatsorganisatorischen Grundsätze ließen sich auf deutscher-nationalen Ebene nicht abschaffen. Politischer Wille könnte daran nichts ändern.
Auf die europäische Ebene ist diese Argumentation nicht übertragbar. Hier entwickelte sich Demokratie zwar von einer politischen Forderung, ohne Status eines Rechtsprinzips, zur verbindlichen primärrechtlichen Vorgabe (s.o.). Die Ewigkeitsklausel aus der deutschen Verfassung findet auf unionsrechtlicher Ebene jedoch keine Entsprechung. Deshalb ist jede Primärrechtsänderung dem Grunde nach möglich.
 
V. Fazit
Der „Abschaffung“ des Europäischen Parlamentes stellt sich zwar kein, der Ewigkeitsklausel der deutschen Verfassung entsprechender unionsrechtlicher Schutzmechanismus entgegen. Für die Beseitigung des Organs wäre jedoch eine Änderung des Europäischen Vertragswerkes notwendig. Hierzu würde es der Einstimmigkeit der Vertragspartner – der europäischen Mitgliedstaaten – bedürfen. Ausschließlich diese besitzen entsprechende Änderungskompetenzen. Das bedeutet: Die Forderung lässt sich schlicht auf europäischer Ebene nicht umsetzen.
 
 
 
[1] Abrufbar unter: https://www.afd.de/europawahlprogramm/.
[2] Europawahl 2019 – Die wesentlichen Kernforderungen von FDP, CDU, SPD, DIE LINKE, Bündis 90/Die Grünen und AfD, Friedrich Naumann Stiftung, S. 5.
[3] Vgl. z.B: Calliess, Auf der Suche nach dem europäischen Weg: Überlegungen im Lichte des Weißbuchs der Europäischen Kommission zur Zukunft Europas, NVwZ 2018, 1ff.; Christian Kreuder-Sonnen, Europas doppeltes Demokratieproblem – Defizite von EU und Mitgliedsstaaten verstärken sich gegenseitig (2018), WZB Mitteilungen, Heft 160, S. 13 ff; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon (2008), S. 4; Follesdal, Andreas und Hix, Simon (2006): “Why there is a democratic deficit in the EU: A response to Majone and Moravcsik.” Journal of Common Market Studies, 4:3, S. 533ff.; Lord, Christopher und Magnette, Paul (2004): E Pluribus Unum? Creative Disagreement about Legitimacy in the EU”. Journal of Common Market Studies, 42:1, S. 183 ff.
[4] Wissenschaftlicher Dienst des DeutschenBundestages, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon (2008), S. f.
[5] Wissenschaftlicher Dienst des Deutscher Bundestag, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon (2008), S. 7f.
[6] Vgl. Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 14. EUV, Rn. 23 f.
[7] Diese Interpretation bestätigte Jörg Meuthen ausdrücklich in: „Ich würde nie…“ mit Jörg Meuthen (AfD), Deutschlandfunk Nova, 06.05.2019 -abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=BtIun9CGS84.
[8] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 1 AEUV, Rn. 5.
[9] Vgl. Haratsch/König/Pechstein, Europarecht (2016), S. 32 ff.
[10] Vgl. Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 1 ff; Haratsch/König/Pechstein, Europarecht (2016), S. 88 ff.
[11] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 1; NJW 2013, 9f.
[12] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 4.
[13] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 5.
[14] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 6.
[15] BVerfGE 104, 151 (208); BeckOK Grundgesetz, Eppig/Hillgruber 40. Edition, Art. 20 GG, Rn. 131 ff.
[16] Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, ZRP 2017, 197, 200.
[17] BeckOK Grundgesetz, Eppig/Hillgruber 40. Edition, Art. 79 GG, Rn. 33 ff.

23.05.2019/2 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-05-23 09:30:372019-05-23 09:30:37Ist die „Abschaffung“ des Europäischen Parlaments unionsrechtlich möglich?
Gastautor

Niederlassungsfreiheit und grenzüberschreitende Sitzverlegungen

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Wir freuen uns sehr, heute einen Gastbeitrag von Nils Drosten veröffentlichen zu können. Nils Drosten studiert Jura an der Universität Osnabrück.
Die Rechtsprechung EuGH zur grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von „Daily Mail“ bis „National Grid“
Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ist das Europarecht in seiner stetigen Entwicklung durch die Rechtsprechung seines obersten Gerichts geprägt. Eine genauere Betrachtung der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49, 54 AUEV ist daher für ein tiefergehendes Verständnis des Europäischen Wirtschaftsrechts und des Europäischen Gesellschaftsrechts im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung unerlässlich. Darüber hinaus gewinnt das Europarecht als Teil der staatlichen Pflichtfachprüfung immer mehr an Bedeutung, weshalb auch mit Blick auf das Staatsexamen eine genauere Beschäftigung mit der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung vorteilhaft erscheint.
In diesem Beitrag soll sich auf die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften konzentriert werden, weshalb die EuGH-Entscheidungen „Vale“ und „Polbud“ zur grenzüberschreitenden rechtsformwechselnden Sitzverlegung in Form des Herein – bzw. Herausformwechsels nicht behandelt werden.
 
I. Sitzverlegung vom Ausland ins Inland (Zuzug)
1. Entscheidung „Centros“
In der „Centros“-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros) ging es um die Errichtung einer Zweigniederlassung einer englischen Limited in Dänemark durch ein dänisches Ehepaar. Es war geplant, die gesamte tatsächliche Geschäftstätigkeit der Gesellschaft von Beginn an nur über die Zweigniederlassung in Dänemark auszuüben. Die dänischen Behörden verweigerten die Eintragung der Zweigniederlassung mit der Begründung, es läge eine bewusste Umgehung der Kapitalaufbringungsvorschriften des dänischen Rechts vor. Der EuGH sah in der Verweigerung der dänischen Behörden eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 30 – Centros). Die bewusste Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme stelle für sich genommen noch keine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit dar (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27 – Centros). Vielmehr dürfe die Wahl der Rechtsordnung und Rechtsform in der Absicht erfolgen, für sich die „größte Freiheit“ hinsichtlich der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften zu erreichen (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27 – Centros).
2. Entscheidung „Überseering“
Im Rahmen der Entscheidung „Überseering“ (EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering) befasste sich der EuGH mit dem Fall einer in den Niederlanden gegründeten Kapitalgesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt hatte und nun dort ein deutsches Unternehmen verklagen wollte. Die Klage wurde von den Gerichten aufgrund der in Deutschland geltenden Sitztheorie mangels Rechts- und Prozessfähigkeit der zugezogenen Gesellschaft abgewiesen (BGH, Beschl. v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 – 5 U 1/98). Die niederländische Gesellschaft könne ohne Neugründung und Eintragung in das deutsche Handelsregister nicht als rechtsfähige Gesellschaft nach deutschem Recht angesehen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 – 5 U 1/98). Der EuGH sah hierin einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Die Mitgliedsstaaten seien nach Art. 49, 54 AEUV dazu verpflichtet, die Rechts- und Prozessfähigkeit der zugezogenen Gesellschaften zu achten, welche ihnen nach dem Recht ihrer Gründungsstaaten als Mitgliedstaaten der EU zukomme ( EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 Rn. 82, 94 – Überseering).
3. Entscheidung „Inspire Art“
In der Entscheidung „Inspire Art“ (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art) hatte der EuGH erneut über den Fall einer englischen Limited zu entscheiden. Die Gesellschaft war in England gegründet worden, entfaltete ihre Geschäftstätigkeit jedoch allein mittels einer Zweigniederlassung in den Niederlanden. Im Gegensatz zur „Centros“-Entscheidung verweigerten die niederländischen Behörden nicht die Eintragung, sondern verlangten für die Eintragung die Einhaltung bestimmter Kriterien, u.a. die Erbringung eines bestimmten Mindestkapitals sowie die Firmierung unter dem Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“. Eine Nichtbeachtung dieser Kriterien hatte insbesondere die persönliche Haftung der Geschäftsführer zur Folge. Diese Anforderungen sah der EuGH als mit den Art. 49, 54 AEUV unvereinbar an. Denn die Regelungen würden dazu führen, dass die zugezogene Gesellschaft den Vorschriften des niederländischen Gesellschaftsrechts zum Mindestkapital und zur Geschäftsführerhaftung unterworfen sei, was eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit darstelle (vgl. EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 Rn. 99, 100 f. – Inspire Art). Die Mindestkapitalanforderungen und der Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“ seien aus Gründen des Gläubigerschutzes nicht erforderlich, da die Gesellschaft als englische Limited im Rechtsverkehr auftrete und die Gläubiger somit über die Gesellschaftsform und die damit verbundenen Folgen hinreichend informiert seien (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 Rn. 135 – Inspire Art).
4. Zwischenfazit
In Bezug auf die Zuzugskonstellationen hat der EuGH den Schutzumfang der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften gem. Art. 49, 54 AEUV durch seine Rechtsprechung stetig erweitert und konkretisiert. Diese Entwicklung ist im Hinblick auf die fortschreitende europäische Integration begrüßenswert. Überdies kann aus der Rechtsprechung zu „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ hinsichtlich der Zuzugskonstellationen eine Absage an die Sitztheorie und Wendung hin zur Gründungstheorie zumindest bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EU ermittelt werden (so auch Weller, in: MüKo GmbHG, Bd. 1, 2. Auflage, Einl. Rn. 350). Diese Entwicklung bedeutet jedoch nicht die vollkommene Unanwendbarkeit der Sitztheorie. Vielmehr verbleibt ein Anwendungsbereich der Sitztheorie in grenzüberschreitenden Sachverhalten außerhalb der Reichweite der Niederlassungsfreiheit, also im Verhältnis zu Drittstaaten außerhalb der EU (in diesem Sinne Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Auflage, § 35 II 2 c)).
Kritisch ist die Entscheidung „Inspire Art“ hinsichtlich eines ausreichenden Gläubigerschutzes zu betrachten. Im täglichen Handelsverkehr ist kaum zu erwarten, dass jeder Vertragspartner weiß, was sich hinter der Abkürzung „Ltd.“, also einer englischen Limited, verbirgt und welche Auswirkungen diese Gesellschaftsform nach englischem Recht für die Mindestkapitalanforderungen als Instrument des Gläubigerschutzes hat. Dieser Situation wollte der niederländische Gesetzgeber mit den Regelungen zur Aufbringung eines bestimmten Mindestkapitals als Schutz für den inländischen Rechtsverkehr und insbesondere für die Gläubiger entgegenwirken. Indem der EuGH die Regelungen als unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit ansah, machte er dieses Instrument des Gläubigerschutzes wirkungslos. Die Aussage des EuGH, dass potentielle Gläubiger durch den Zusatz „Ltd.“ hinreichend gewarnt seien, da dies eine ausländische Gesellschaftsform erkennen lasse, ist kaum überzeugend (vgl. Bayer, BB 2003, 2357, 2364; Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409, 411 f.). Natürlich ist kein Vertragspartner nach dem Grundsatz der Privatautonomie verpflichtet, mit Vertragspartnern in unbekannter ausländischer Gesellschaftsform zu kontrahieren. Doch erscheint z.B. die Erstellung eines Rechtsgutachtens vor einem möglichen Vertragsschluss über die Risiken einer ausländischen Gesellschaftsform im täglichen Handelsverkehr kaum praxisgerecht.
Auch wenn die Entscheidung als Fortentwicklung der Niederlassungsfreiheit im Sinne eines reibungslosen Binnenmarktes begrüßenswert ist, dürfen Aspekte des Gläubigerschutzes nicht vernachlässigt werden. Der EU müsste zum Wohle eines schnellen und sicheren Rechtsverkehrs als grundlegende Voraussetzung eines funktionierenden Binnenmarktes an einem umfassenden Gläubigerschutz durch Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung gelegen sein. Die Entscheidung „Inspire Art“ mag bezüglich der Weiterentwicklung der Niederlassungsfreiheit erfreulich sein, hinsichtlich eines umfassenden Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften, gerade auch im Rechtsverkehr mit ausländischen Gesellschaften, erscheint sie jedoch bedenklich.
 
II. Sitzverlegung vom Inland ins Ausland (Wegzug)
1. Entscheidung „Daily Mail“
In der Entscheidung „Daily Mail“ (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 – Daily Mail) befasste sich der EuGH mit einer englischen Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz aus Gründen der Steuerersparnis in die Niederlande verlegen wollte. Die britischen Finanzbehörden verweigerten die nach englischem Recht für eine solche Sitzverlegung erforderliche Genehmigung. Dadurch sah sich die Gesellschaft in ihren Rechten aus Art. 49, 54 AEUV verletzt. Der EuGH urteilte aber, dass das Genehmigungserfordernis nach englischem Recht mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 18 – Daily Mail). Im Unterschied zu natürlichen Personen würden juristische Personen nach Stand des derzeitigen Gemeinschaftsrechts auf Grundlage einer nationalen Rechtsordnung gegründet und hätten jenseits dieser Rechtsordnung „keine Realität“ (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 19 f. – Daily Mail). Die Gesellschaft habe keinen Anspruch auf Genehmigung des Wegzugs nach dem nationalen Recht (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 24 f. – Daily Mail).
2. Entscheidung „Cartesio“
Auch in der Entscheidung „Cartesio“ (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 – Cartesio) beschäftigte sich der EuGH mit Wegzugsbeschränkungen eines Mitgliedsstaates. Eine ungarische Gesellschaft hatte ihren Verwaltungssitz nach Italien verlegt und begehrte die Änderung des ungarischen Handelsregisters hinsichtlich der Sitzverlegung. Das ungarische Registergericht lehnte den Änderungsantrag mit der Begründung ab, dass ein Auseinanderfallen von Satzungs- und Verwaltungssitz nach ungarischem Recht nicht möglich sei. In Fortsetzung seiner „Daily Mail“-Rechtsprechung sah der EuGH in der Weigerung des ungarischen Registergerichts keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 110 f., 124 – Cartesio). Eine Anwendung der Art. 49, 54 AEUV komme nach derzeitigem Stand des Gemeinschaftsrechts erst in Betracht, wenn die Gesellschaft nach der nationalen Rechtsordnung des Wegzugsstaates auch nach der Sitzverlegung in formwahrender Weise weiter existieren könne (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 109 – Cartesio). Den Mitgliedsstaaten obliege damit die Regelungshoheit über die Voraussetzungen der rechtsformwahrenden Sitzverlegung einer Gesellschaft ins Ausland. (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 110 – Cartesio).
Obiter dictum stellte der EuGH klar, dass im Gegensatz dazu nationale Regelungen zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit Formwechsel an der Niederlassungsfreiheit zu messen seien (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 111 f. – Cartesio).
3. Entscheidung „National Grid“
Im Rahmen der „National Grid“-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10, Slg. 2011 – National Grid) hatte der EuGH Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bei Wegzugsfällen weiter zu konkretisieren. Es ging um eine niederländische Kapitalgesellschaft, die ihren Verwaltungssitz nach England verlegte, um der Besteuerung durch den niederländischen Staat zu entgehen. Die niederländischen Finanzbehörden verlangten infolge der Sitzverlegung die sofortige Versteuerung bisher noch nicht realisierter Gewinne, wogegen sich die Gesellschaft unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit zur Wehr setzte.
Nach dem EuGH konnte die in den Niederlanden gegründete Gesellschaft aufgrund der dort vorherrschenden Gründungstheorie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ins Ausland verlegen, ohne ihren Rechtsstatus als Gesellschaft im Herkunftsland zu verlieren (EuGH, Rs. C-371/10, Urt. v. 29.11.2011, Slg. 2011 Rn. 31 f. – National Grid). Aufgrund des unberührten Rechtsstatus in den Niederlanden könne sich die Gesellschaft weiterhin auf die Niederlassungsfreiheit berufen (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10, Slg. 2011 Rn. 31 f. – National Grid).
4. Zwischenfazit
Die Entscheidung „National Grid“ erscheint in der Zusammenschau mit den Entscheidungen „Daily Mail“ und „Cartesio“ in mehrerer Hinsicht widersprüchlich.
In der Entscheidung „Cartesio“ hatte der EuGH geurteilt, dass Wegzugsbeschränkungen durch den Herkunftsstaat generell nicht der Niederlassungsfreiheit unterfallen würden. Hieraus ließe sich ableiten, dass wenn der Herkunftsstaat den Wegzug sogar ganz verbieten kann, er dann erst recht zu weniger härteren Wegzugsbeschränkungen, wie der Wegzugssteuer, ermächtigt sein muss (so die Argumentation Deutschlands, vgl. EuGH, Rs. C-371/10, Slg. 2011 Rn. 29 – National Grid). Indem der EuGH bei der Entscheidung „National Grid“ dieser Argumentation nicht gefolgt ist, muss jedoch kein Widerspruch zur Entscheidung „Cartesio“ gesehen werden: Vielmehr kann die Entscheidung „National Grid“ als Weiterentwicklung der „Cartesio“-Entscheidung gedeutet werden (So Verse, ZeuP 2013, 458, 463 f.). Wenn ein Mitgliedsstaat den rechtsformwahrenden Wegzug von Gesellschaften nach seiner Rechtsordnung zulässt, so muss er sich auch diesbezüglich an der Niederlassungsfreiheit messen lassen (Verse, ZeuP 2013, 458, 464 f.). Dieser Argumentation ist unter dem Gesichtspunkt des „effet utile“ der Niederlassungsfreiheit zuzustimmen. Soweit die nationale Rechtsordnung des Wegzugsstaates den rechtsformwahrenden Wegzug für zulässig hält, muss dieser unter Beachtung der bestmöglichen Wirkung der Niederlassungsfreiheit erfolgen.
Jedoch steht die Entscheidung „National Grid“ im Widerspruch zur „Daily Mail“-Entscheidung des EuGH. Wie in den Niederlanden wird auch in Großbritannien die Gründungstheorie vertreten, weshalb der EuGH gemessen an den in der Entscheidung „National Grid“ aufgestellten Kriterien auch in der Rechtssache „Daily Mail“ die Wegzugsbeschränkung an der Niederlassungsfreiheit hätte messen müssen (Verse, ZeuP 2013, 458, 464 f.). Insoweit ist die Entscheidung „National Grid“ als „verdeckte“ Aufhebung der „Daily Mail“-Entscheidung durch den EuGH anzusehen (Mörsdorf, EuZW 2012, 296, 298; Schall/Barth, NZG 2012, 414, 418). Dabei ist nicht die Korrektur der eigenen Rechtsprechung durch den EuGH zum Zwecke einer genaueren Justierung der eigenen Rechtsprechung zu kritisieren. Wohl aber ist die Art und Weise der Korrektur im Rahmen der Entscheidung „National Grid“, in welcher der EuGH mit keinem Wort auf seine selbst aufgestellten Kriterien aus der Entscheidung „Daily Mail“ eingeht, zumindest als unglücklich zu bewerten. Eine solche verdeckte oder „stille“ Korrektur des EuGH, durch welche der Gerichtshof die Deutungshoheit den Stimmen der Literatur überlässt, führt nur sehr bedingt zu mehr Rechtssicherheit. Im Interesse einer größeren Rechtssicherheit für die Praxis wäre eine klare Absage an die frühere Rechtsprechung zu „Daily Mail“ durch den EuGH wünschenswert gewesen.
 
III. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des EuGH
In der Entwicklung der Rechtsprechung hat der EuGH immer wieder die strikte Trennung zwischen den Zuzugs- und den Wegzugskonstellationen hervorgehoben. Diese strikte Trennung hat nicht zuletzt zur Folge, dass der Zuzugsstaat strengeren Prüfungskriterien durch den EuGH mit Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit unterliegt als der Wegzugsstaat (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396). Während der EuGH Regelungen der Zuzugsstaaten bezüglich der grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit der Niederlassungsfreiheit für unvereinbar erklärte, stärkte er in den Wegzugsfällen, insbesondere in den Entscheidungen „Daily Mail“ und „Cartesio“, die Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten hinsichtlich gesetzlicher Wegzugsbeschränkungen.
1. Meinungsstand in der Literatur
Die Literatur ist dieser Auffassung teilweise gefolgt. Die unterschiedliche Behandlung von Zuzugs- und Wegzugsfällen wird vor allem mit der mangelnden Vergleichbarkeit der beiden Konstellationen begründen (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Nur durch die unterschiedliche Behandlung der Zuzugs- und Wegzugsfälle könnte die Regelungsautonomie der Gründungsstaaten hinreichend berücksichtigt werden (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Es unterfalle der Regelungsautonomie des Wegzugsstaates, ob für eine nach seinem Recht gegründete Gesellschaft der Wegzug unter Formwahrung möglich ist (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Dagegen könne der Zuzugsstaat regeln, ob ein solcher Zuzug unter Rechtsformwechsel zulässig sei (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Der Regelungsautonomie des Gründungsstaates über die nach seinem Recht gegründeten Gesellschaften sei dabei Vorrang gegenüber der Regelungsautonomie des Zuzugsstaates hinsichtlich der fremden Gesellschaften einzuräumen (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Schließlich richte sich das Bestehen der Gesellschaft allein nach dem Recht des Gründungsstaates (Barthel, EWS 2010, 316, 320; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58, 59). Diese enge Verbindung zwischen der Rechtsordnung des Gründungsstaates und der Existenz der Gesellschaft begründe den Vorrang der Rechtsautonomie des Gründungsstaates (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Dieser Vorrang mache die Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen zwingend (Barthel, EWS 2010, 316, 320).
Andere Teile der Literatur haben die strikte Trennung zwischen den Zuzugs- und Wegzugskonstellationen stark kritisiert. Als naheliegendes Argument gegen die unterschiedliche Behandlung der Zuzugs- und Wegzugsfälle wird angeführt, dass es sich dabei um denselben Vorgang handele (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396). Denn was für den Gründungsstaat einen Wegzug bedeute, stelle für den Aufnahmestaat einen Zuzug dar (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396).
Weiterhin könne die Niederlassungsfreiheit komplett „leer“ laufen, wenn ein Mitgliedsstaat den Wegzug einer Gesellschaft durch Verlegung ihres Verwaltungssitzes ins Ausland nach seiner nationalen Rechtsordnung schlicht verbiete (Campos Nave, BB 2008, 1410, 1413).
Auch wird unter Berufung auf den „effet utile“ vertreten, dass eine Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf einen freien, ungehinderten grenzüberschreitenden Verkehr nicht überzeuge (Behme/Nohlen, BB 2009, 11, 13). Von welchem Staat die jeweilige Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Verkehrs erfolge, könne für die Förderung eines ungehinderten Handelsverkehrs im Wirtschaftsraum der EU nicht entscheidend sein (Behme/Nohlen, BB 2009, 11, 13).
2. Stellungnahme
Stellungnehmend ist den kritischen Stimmen in der Literatur zuzustimmen, welche an der strikten Trennung von Zuzugs- und Wegzugsfällen durch den EuGH zweifeln. Zwar mag nach systematischen Gesichtspunkten der Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten ein höheres Gewicht zukommen als der Regelungsautonomie der Zuzugsstaaten. Diese Argumentation kann jedoch mit Blick auf den Sinn und Zweck der Niederlassungsfreiheit nicht überzeugen.
Die Begründung anhand der höheren Gewichtung der Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten stellt eine sich durch jahrelange Rechtsprechung ergebende Ungleichbehandlung lediglich auf eine systematische Grundlage und begründet damit nur vom Ergebnis her, ohne auf eine teleologische Betrachtung der Niederlassungsfreiheit einzugehen. Zu dieser Sichtweise passt auch die Rechtsprechung des EuGH zu „National Grid“, in welcher der EuGH seine ursprüngliche „Daily Mail“-Entscheidung teilweise korrigiert hat. Vielmehr kann in der Prüfung von Wegzugsbeschränkungen auf die Vereinbarkeit mit der Niederlassungsfreiheit eine Annäherung zwischen den Zuzugs- und Wegzugskonstellationen gesehen werden.
Insbesondere überzeugt die Argumentation, dass aufgrund des „effet utile“ eine Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugskonstellation nicht geboten sein kann. Dem Grundgedanken der Niederlassungsfreiheit, einen reibungslosen und möglichst unbeschränkten Rechtsverkehr im Wirtschaftsraum der EU zu gewährleisten, muss auch bei der Betrachtung der grenzüberschreitenden Sitzverlegung eine entscheidende Rolle zu kommen. Wie in anderen Gebieten des Europarechts kann auch hier der Grundsatz des „effet utile“ eingreifen, um eine Gleichstellung des Schutzniveaus der Niederlassungsfreiheit von Zuzugs- und Wegzugskonstellationen zur Förderung eines freien und reibungslosen Binnenmarktes innerhalb des Wirtschaftsraums der EU zu bewirken.
Letztendlich sind die Zuzugs- und die Wegzugskonstellation als „zwei Seiten derselben Medaille“ (Campos Nave, BB 2008, 1410, 1413; Otte, EWS 2009, 38, 39) anzusehen, welche nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können und deren Ungleichbehandlung zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Das Angleichen des Schutzniveaus der Niederlassungsfreiheit bezüglich der Zuzugs- und Wegzugsfälle ist dringend erforderlich, um ein „Leerlaufen“ der Niederlassungsfreiheit durch restriktive Wegzugsbeschränkungen der Mitgliedsstaaten zu verhindern. Mit seiner „National Grid“-Entscheidung hat der EuGH den ersten richtigen Schritt hin zu einer Korrektur seiner früheren „Daily Mail“-Rechtsprechung gemacht. Zur Förderung des europäischen Rechtsverkehrs darf auch zukünftig auf weitere Korrekturen durch den EuGH hin zu einer Angleichung der Zuzugs- und Wegzugskonstellationen gehofft werden.
 
IV. Zusammenfassung
Zusammenfassend ist in Anbetracht der ausgewerteten Urteile festzustellen, dass Rechtssicherheit durch die Judikatur des EuGH hinsichtlich der grenzüberschreitenden Sitzverlegung nur bedingt erreicht werden konnte. Durch seine Rechtsprechung zu den Zuzugsfällen im Rahmen der rechtsformwahrenden Sitzverlegung hat der EuGH den Anwendungsbereich der Art. 49, 54 AEUV erweitern und konkretisieren können, was im Sinne eines reibungslosen Binnenmarktes zu begrüßen ist. Auch die Absage an die Sitztheorie und Anwendung der Gründungstheorie in grenzüberschreitenden Fällen innerhalb der EU trägt der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit als Ziel des europäischen Binnenmarktes Rechnung.
Die Entwicklung der Rechtsprechung zu den Wegzugsfällen weist jedoch deutliche Widersprüche auf. Generell vermag die Differenzierung zwischen den Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf eine bestmögliche Geltung der Niederlassungsfreiheit nach dem Grundsatz des „effet utile“ nicht zu überzeugen. 
Abschließend bleibt damit festzustellen, dass der EuGH von einer widerspruchsfreien Klärung der grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften noch weit entfernt ist.
 
 

07.03.2018/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2018-03-07 10:00:472018-03-07 10:00:47Niederlassungsfreiheit und grenzüberschreitende Sitzverlegungen
Redaktion

Schema: Rücknahme eines Verwaltungsakts, § 48 VwVfG

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Schema: Rücknahme eines VAs, § 48 VwVfG

  • Gilt für die Aufhebung eines rechtswidrigen VAs.
  • Dagegen gilt § 49 VwVfG für die Aufhebung eines rechtmäßigen VAs.
  • Vorrangig sind speziellere Regelungen anzuwenden, insbesondere § 45 I WaffG und § 15 I GastG sind insofern zu beachten.

I. Ermächtigungsgrundlage ist § 48 I 1 VwVfG
II. Formelle Rechtmäßigkeit

1. Zuständigkeit
– Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach § 48 V VwVfG iVm § 3 VwVfG.
– Die sachliche Zuständigkeit liegt nach dem actus-contrarius-Gedanken bei derjenigen Behörde, die den ursprünglichen VA erlassen hat. Ausnahme:

– Es hat ursprüngliche eine unzuständige Behörde gehandelt oder
– Inzwischen wäre eine andere Behörde für den Erlass des Ausgangs-VAs sachlich zuständig.

2. Verfahren
3. Form

II. Materielle Rechtmäßigkeit

1. Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen VAs

 a) Formelle Rechtmäßigkeit
 b) MaterielleRechtmäßigkeit

2. Vertrauensschutz, § 48 I 2, II-III VwVfG

– Bei einem rechtswidrigen, nicht begünstigenden VA gelten keine weiteren Voraussetzungen (§ 48 I 1 VwVfG).

– Bei einem rechtswidrigen, begünstigenden VA, der eine einmalige oder laufende Geld- oder teilbare Sachleistung gewährt, darf keine Rücknahme erfolgen, soweit der Begünstigte auf den Bestand des VAs vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 48 II 1 VwVfG).

– Wann das Vertrauen idR schutzwürdig ist, bestimmt sich nach § 48 II 2 VwVfG.
– Wann das Vertrauen keinesfalls schutzwürdig ist, bestimmt sich nach § 48 II 3 VwVfG.

– Bei einem rechtswidrigen, begünstigenden VA, der nicht unter Abs. 2 fällt, bestehen keine weiteren Voraussetzungen. Dem Betroffenen ist jedoch der entstandene Vermögensnachteil auszugleichen (§ 48 III 1 VwVfG).

3. Rücknahmefrist, § 48 IV VwVfG
Ein Jahr ab Kenntnis derjenigen Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen.
– Frist gilt auch, wenn die Behörde erst nachträglich Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des VAs erlangt (hM). 
Arg.: Andernfalls wäre in diesem Fall eine unbefristete Rücknahme möglich.
– Frist beginnt erst zu laufen, wenn die Behörde Kenntnis von allen entscheidungserheblichen Tatsachen hat (hM).
IV. Rechtsfolge: Ermessen, § 48 I 1 VwVfG 
Exkurs: Rücknahme europarechtswidriger Subventionen

  • § 48 VwVfG ist auch einschlägig im Falle von europarechtswidrigen Subventionen, wenn die Rechtswidrigkeit der Beihilfe von der Kommission entsprechen der Art. 107, 108 AEUV festgestellt wurde. Eine spezielle europarechtliche Ermächtigungsgrundlage existiert nicht.
  • Insofern ist zu beachten, dass die Anwendung von § 48 VwVfG die Rücknahme nicht faktisch unmöglich machen darf, das europarechtliche Interesse muss voll berücksichtigt werden können (effet utile). Daher hat der Vertrauensschutz des Betroffenen in aller Regel zurückzutreten.
  • Im Falle europarechtswidriger Subventionen gilt die Jahresfrist des § 48 IV VwVfG grds. nicht, es ist eine unbegrenzte Rücknahme möglich.
  • Fall der Ermessensreduzierung auf Null.

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26.05.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-05-26 10:00:432017-05-26 10:00:43Schema: Rücknahme eines Verwaltungsakts, § 48 VwVfG
Redaktion

Schema: Warenverkehrsfreiheit, Art. 34ff. AEUV

Europarecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Schema: Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 ff. AEUV

I. Anwendungsbereich der Art. 34 ff. AEUV betroffen

1. Räumlicher Anwendungsbereich

a) Art. 349 AEUV
b) Grenzüberschreitender Bezug

2. Sachlicher Anwendungsbereich

a) Keine vorrangigen, spezielleren europarechtlichen Regelungen (zB Art. 38ff. AEUV)

b) Waren iSv Art. 28 II AEUV
– Alle körperlichen Gegenstände, die einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können.
– Die Waren müssen im freien Verkehr eines Mitgliedsstaates befindlich sein (Art. 29 AEUV).

c) Staatliche Maßnahme in Form einer Handelsbeschränkung

aa) Staatliche Maßnahme

bb) Handelsbeschränkung

(1) Mengenmäßige Einfuhrbeschränkung

(2) Maßnahme gleicher Wirkung 

– Grds. jede unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder potentielle Behinderung des freien Warenverkehrs. Die Eignung einer Behinderung genügt (Dassonville-Formel).
– Einschränkung: Die Maßnahme ist nicht geeignet, den Handel zu behindern, sofern es sich lediglich um eine Verkaufsmodalität handelt, die für In- und Ausländer gleichermaßen gilt und den Absatz in- und ausländischer Erzeugnisse gleichermaßen berührt (Keck-Formel). Dies stellt keine Maßnahme gleicher Wirkung dar.
II. Rechtfertigung

1. Rechtfertigung gem. Art. 36 AEUV

a) Anerkannter Allgemeinbelang

b) Verhältnismäßigkeit, insbesondere keine willkürliche Diskriminierung

2. Rechtfertigung über die Cassis-Formel als immanente Schranke des Art. 34 AEUV. Demnach müssen Beschränkungen hingenommen werden, soweit sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden.

a) Zwingende Gründe des Allgemeinwohls

b) Verhältnismäßigkeit

3. Unter Umständen: Rechtfertigung unmittelbar aus den Grundrechten

 

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14.04.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-04-14 10:00:562017-04-14 10:00:56Schema: Warenverkehrsfreiheit, Art. 34ff. AEUV
Redaktion

Schema: Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

Europarecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Schema: Das Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

A. Annahmefähigkeit der Vorlagefrage („Zulässigkeit“)

I. Zuständigkeit


- Grds. der Gerichtshof (EuGH) gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV

– Ausnahmsweise das Gericht (EuG) gem. Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV

II. Vorlagegegenstand (Art. 267 Abs. 1 AEUV): Vorlagefrage zur

1. Art. 267 Abs. 1 lit. a:  Auslegung der Verträge

2. Art. 267 Abs. 1 lit. b: Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union



Keinesfalls tauglicher Gegenstand der Vorlage ist die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht. Darüber müssen die nationalen Gerichte ggf. nach Einholung der Vorentscheidung bzgl. der Auslegung des Unionsrechts selbst entscheiden.

III. Vorlageberechtigung, Art. 267 Abs. 2 AEUV
Vorlageberechtigt sind die Gerichte der Mitgliedsstaaten der europäischen Union.

1. Grds. besteht ein Vorlagerecht der nationalen Gerichte

2. Eine Vorlagepflicht besteht gem. § 267 Abs. 3 AEUV für Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Nach hM kommt es nur darauf an, dass die Entscheidung im Einzelfall nicht mehr anfechtbar ist.

3. Nach der Rspr. des EuGH besteht auch eine Vorlagepflicht für unterinstanzliche Gerichte, wenn sie einen Rechtsakt der Unionsorgane nicht anwenden wollen, weil sie der Auffassung sind, dass der Rechtsakt wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht ungültig ist.

V. Abstrakte Formulierung der Auslegungsfrage

VI. Entscheidungserheblichkeit, Art. 267 Abs. 2 AEUV

– Die Vorentscheidung muss nach Auffassung des vorlegenden Gerichts entscheidungserheblich für den Ausgangsrechtsstreit sein, d.h. je nach Ausgang des Vorabenscheidungsverfahrens hat das mitgliedsstaatliche Gericht den ihm vorliegenden Sachverhalt anders zu bewerten.

– Eine Überprüfung der subjektiven Auffassung des vorlegenden Gerichts bzgl. der Entscheidungserheblichkeit ist durch den EuGH nur in Ausnahmefällen möglich, z.B. wenn zwischen Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage offensichtlich kein Zusammenhang besteht.

B. Beantwortung der Vorlagefrage durch Urteil des Gerichtshofes

I. Auslegungsfrage

–  Aufstellung von Auslegungskriterien und anschließende Interpretation des Unionsrechts.
–  Bindung des vorlegenden Gerichts und aller anderen mit diesem 
Rechtsstreit befassten Gerichte.
–  Außerhalb des Rechtsstreits: Vorlagepflicht, sofern ein Gericht von 
Auslegung abweichen will (faktische allgemeine Wirkung).

II. Gültigkeitsfrage

–  Feststellung der (Un-)Gültigkeit der Unionshandlung anhand von 
höherrangigem Recht.
–  Keine allgemeine Bindungswirkung bei Gültigerklärung.
–  Bei Ungültigerklärung: Faktische erga omnes Wirkung, d.h. Nationale Instanzen und Organe der Union können den Rechtsakt als ungültig behandeln.

 

Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

09.02.2017/2 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-02-09 10:00:162017-02-09 10:00:16Schema: Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV
Dr. Patrick Christian Otto

BVerfG vs. EuGH – eine Analyse des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht

Europarecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, einen weiteren Gastbeitrag veröffentlichen zu können. Er stammt von Patrick Otto, Studium in Hannover, studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Volker Epping) sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft (Prof. Dr. Veith Mehde).
 
Lokalkolorit vs. europäische Integration – mit dieser Dichotomie könnte das Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht umschrieben werden. Seit Jahrzehnten streiten sich beide über die Bindungswirkung ihrer Urteile, wobei das BVerfG stets darum bemüht ist, sich eine möglichst maximale Prüfungskompetenz zu sichern. Neu entfacht wurde diese Diskussion nun durch den kürzlich veröffentlichten OMT-Beschluss des EuGH. Was nun? Dieser Frage möchte der vorliegende Beitrag nachgehen.
I. Grundsätzliches zum Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH
Im Grundsatz pflegen BVerfG und EuGH ein kooperatives Verhältnis, da sie beide ein Interesse an der europäischen Integration haben und sich daher gegenseitig unterstützen (Stichwort: Grundsatz der Europafreundlichkeit). Dennoch zeigt sich in der Linie der Jurisdiktion des BVerfG an einigen Stellen, dass sich das hiesige Verfassungsgericht schwer damit tut, Kompetenzen an den EuGH abzugeben und damit selbst in den Hintergrund zu treten. Andererseits hat der EuGH ein Interesse daran, möglichst stark und mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet zu sein, um eine für die Mitgliedstaaten einheitliche Rechtsprechung zu schaffen. Dafür nimmt dieser auch in Kauf, dass Entscheidungen getroffen werden, die ein nationales Verfassungsgericht so oder so ähnlich nicht getroffen hätte. So hat das europäische Gericht bereits im Jahr 1964 in seiner prominenten Costa/ENEL-Entscheidung (EuGH v. 15.7.1964 – 6/64 (Costa/ENEL)) klargestellt, dass ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts existiert, der absolut und uneingeschränkt gelte. Das BVerfG erkennt diesen zwar an, interpretiert ihn jedoch nur als relativ und daher als für Ausnahmen zugänglich. Dieser Umstand führte in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart zu einem nicht zu übersehbaren Konflikt.
II. Der Ausgangspunkt des Konflikts: Die Solange-Rechtsprechung des BVerfG
Erstmals virulent wurde das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH in der prominenten Solange-Rechtsprechung. In seiner Solange I-Entscheidung (BVerfG v. 29.5.1974 – BvL 52/71, BVerfGE 37, 271), die noch zur Anfangszeit der europäischen Integration ergangen war, hielt sich das BVerfG solange einen Prüfungsmaßstab anhand der nationalen Grundrechte offen, wie das europäische Recht und die Judikatur des EuGH keinen vergleichbaren Rechtsschutz gewährleiste. Verstoße daher europäisches Recht gegen die nationalen Grundrechte, so trete das Unionsrecht hinter dem nationalen Recht zurück. Mit fortschreitender Integration erhöhte sich in der Folge auch der Grundrechtsschutz, sodass sich das BVerfG in seiner Solange II-Entscheidung (BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339) erneut mit dem Verhältnis zwischen nationalen Recht und Unionsrechts befasste. Hier sah es den vergleichbaren Grundrechtsschutz als gegeben an, da der EuGH mittlerweile selbst einen ungeschriebenen Grundrechtekatalog in Form der allgemeinen Rechtsgrundsätze anerkenne. Daher prüfe das BVerfG dann nicht mehr am Maßstab der nationalen Grundrechte. Durch diesen recht deutlichen Richterspruch hin zum Unionsrecht galt das Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrechts zumindest prima facie als geklärt.
III. Die Ausnahme Identitätskontrolle
Die erste Ausnahme vom Verdikt der Solange II-Entscheidung ist die sog. Identitätskontrolle. Die Verfassungsrichter aus Karlsruhe behalten sich dabei die Prüfung von Rechtsakten anhand des nationalen Rechts für den Fall offen, dass der unantastbare Kerngehalt der Art. 1 und 20 GG verletzt wird (vgl. Art. 23 I 3, 79 III GG). Erstmals ausdrücklich genannt wurde dieses Institut in der Lissabon-Entscheidung (BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08 u.a., BVerfGE 123, 267) und finde seine Erforderlichkeit darin, dass die Übertragung von Kompetenzen an die Union nicht über die unantastbaren Ewigkeitsnormen der Art. 1 und 20 GG hinausgehen dürfe. Praktisch relevant sei hierbei vor allem das Demokratieprinzip, nach dem substanzielle Kompetenzen beim deutschen Parlament verbleiben müssten.
IV. Die Ausnahme der Rechtsakte ultra vires
Die zweite Ausnahmen sind die ausbrechenden Rechtsakte, die das Kompetenzgefüge des Unionsrechts sprengen (sog. Rechtsakte ultra vires) und erstmals in der Maastricht-Entscheidung (BVerfG v. 12.10.1993 – Az 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155), seinerzeit firmierend unter dem Begriff „ausbrechende Rechtsakte“, genannt wurde. Ein solcher Rechtsakt liege dann vor, wenn gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I und II EUV) oder das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 III EUV) verstoßen wird. Wie das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung (BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08 u.a., BVerfGE 123, 267) ausführte, habe das Gericht dann durchaus die Kompetenz dazu, die Rechtsakte der Union im Hinblick auf den gesteckten Kompetenzkatalog in den Verträgen zu überprüfen und zu verwerfen, solange sie die deutsche Rechtsordnung berühren. Gleichwohl begreift es diese Kompetenz nur als eine Reservekompetenz, die subsidiär gegenüber dem Unionsrechtsschutz ist, sodass das Entscheidungsprimat des EuGH im Grundsatz anerkannt wird. Die genauen Kriterien für einen solchen Rechtsakt ultra vires formulierte das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung (BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286) sehr eng, sodass teilweise vertreten wird, dass ein solcher Rechtsakt ultra vires kaum mehr vorstellbar sei.
V. Alles neu macht der OMT-Beschluss?
Das bisher Gesagte galt lange Zeit als gesetzt. Neue Beachtung wurde dem Verhältnis zwischen nationalen Recht und Unionsrecht jedoch wieder durch den sog. OMT-Beschluss geschenkt (BVerfG v. 7.2.2014 – 2 BvR 1390/12). In dieser Entscheidung zog das BVerfG einen ausbrechenden Rechtsakt für den Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB) v. 6.9.2012 in Betracht, indem es um die Technical features of Outright Monetary Transactions ging. Hierbei hat das BVerfG Neuland betreten und erstmalig dem EuGH eine Rechtssache zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der OMT-Beschluss der EZB sieht vor, dass diese Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe ankaufen darf, wenn und solange diese Mitgliedstaaten Teil des Europäischen Rettungsschirms (ESM) sind. Eine Umsetzung hiervor fand bislang noch nicht statt. Der zweite Senat erblickt hierin eine Überschreitung der Kompetenz der EZB, da diese unzulässige Wirtschaftspolitik betreibe und zudem ein Verstoß gegen das Verbot der Staatenfinanzierung aus Art. 123 I AEUV vorliege, welcher im Wege des Organstreitverfahrens oder der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 38 I GG geltend gemacht werden könne.
Der EuGH judizierte auf das Vorabentscheidungsersuchen des BVerfG, dass das Vorhaben der EZB im Einklang mit dem Unionsrecht stehe (EuGH v. 16.6.2015 – C-62/14 (Gauweiler u.a.)). Das EZB-Programm sei, entgegen der Auffassung des BVerfG, nicht der Wirtschafts-, sondern der Währungspolitik zuzuordnen. Auch ein Verstoß gegen das Verbot der Staatenfinanzierung liege nicht vor, soweit die EZB die ihr selbst gesetzten Kriterien einhalte. Damit negierte der EuGH alle Bedenken des BVerfG und gab die Rechtssache zurück nach Karlsruhe. Dies ist letztlich nur ein weiterer Beleg dafür, dass der EuGH seine eigene Kompetenz als umfassend begreift und den Mitgliedstaaten insoweit keinen eigenen Spielraum zubilligt. Damit ist die Ausgangsfrage (Alles neu macht der OMT-Beschluss?) damit zu beantworten, dass sich die Entscheidung nur in den Kanon bisheriger Entscheidungen einfügt und diese bestätigt, aber das Rad sprichwörtlich nicht neu erfindet.
VI. Fazit
Der Konflikt ist noch nicht entschärft. Auch der OMT-Beschluss macht deutlich, dass das BVerfG immer noch eine sehr starke Skepsis gegenüber dem EuGH hat und daher weiterhin Reservekompetenzen behalten möchte. Der EuGH weicht hingegen auch nicht von seiner Linie ab, für sich selbst ein Maximum an Kompetenzen zu beanspruchen. Dennoch erweist sich der EuGH vorerst als Sieger dieses Konflikts und es ist wohl auch mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung davon auszugehen, dass sich das BVerfG immer weiter zurückziehen wird und der EuGH insoweit allein über die Prüfung von Rechtsakten im Anwendungsbereich des Unionsrechts entscheiden wird. Indes würde dies wiederum zu einer Stärkung des BVerfG führen, da dem EuGH die Bürde von Entscheidungen obliege und sich das nationale Gericht somit nicht der öffentlichen Kritik seiner eigenen Entscheidungen aussetzen müsste. Zudem würde dies dem Kooperationsgedanken am Besten Rechnung tragen. Daher wäre es sehr zu begrüßen, wenn der nun veröffentlichte OMT-Beschluss zu einem nachhaltigen Umdenken hin zum alleinigen Entscheidungsmonopol des EuGH führen würde.

10.08.2015/0 Kommentare/von Dr. Patrick Christian Otto
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Patrick Christian Otto https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Patrick Christian Otto2015-08-10 07:15:412015-08-10 07:15:41BVerfG vs. EuGH – eine Analyse des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht
Dr. David Saive

Misstrauensvotum im EU-Parlament

Aktuelles, Europarecht, Startseite

Heute hat das Europaparlament ein Misstrauensvotum abgehalten. Eine Vielzahl von Medien berichteten hierüber. Daher nun an dieser Stelle eine rechtliche Einordnung der Vorgänge.
 

Das war geschehen

 
Eine Gruppe von 76 z.T. EU-kritischen Abgeordneten hatten einen Antrag auf ein Misstrauensvotum gegen die EU-Kommission um Jean-Claude Juncker gestellt.[1] Ihm wurde vorgeworfen, er habe während seiner Amtszeit als luxemburgischer Premierminister Unternehmen gezielt geholfen, Steuern zu vermeiden. Dies machte ihn in den Augen der Antragssteller als Präsident der Europäischen Kommission untragbar, da die Geschäftspraktiken größtenteils zu Lasten anderer EU-Mitgliedstaaten gingen.
Das Misstrauensvotum hatte allerdings keinen Erfolg, weil sich nicht die nötige Mehrheit fand.
 

Rechtliche Grundlagen

 
Beim flüchtigen Lesen der Nachrichten kann leicht der Eindruck entstehen, das Misstrauensvotum richte sich allein gegen Juncker selbst. Ein kurzer Blick ins Gesetz schafft jedoch Abhilfe.
Geregelt ist dieses nämlich in Art. 234 AEUV. Dort heißt es in Absatz 2 Satz 1:
 

Wird der Misstrauensantrag mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments angenommen, so legen die Mitglieder der Kommission geschlossen ihr Amt nieder, […]

Demnach richtet sich das Misstrauensvotum immer gegen die gesamte Kommission. Sollten tatsächlich Zweifel an nur einer Person bestehen, könnte jedoch eine Amtsenthebung nach Art. 247 AEUV in Frage kommen. Diese kann allerdings nur auf Antrag des Rates oder der Kommission hin eingeleitet werden.
Das Misstrauensvotum ist ein relativ seltenes Instrument der parlamentarischen Kontrolle. Insgesamt wurde lediglich neunmal hierüber abgestimmt, wobei keines Erfolg hatte. Allerdings trat 1999 die Kommission um Jacques Santer zurück, nachdem zuvor das Misstrauensvotum gegen sie knapp gescheitert war.[2]
In Deutschland ist das Misstrauensvotum in Art. 67 GG geregelt. Hierbei handelt es sich um ein konstruktives Misstrauensvotum, da mit der Abwahl des alten Bundeskanzlers gleichzeitig ein neuer gewählt werden muss. In Europa bleibt die Kommission solange im Amt, bis sie durch eine neue Kommission gem. Art.17 AEUV ersetzt wird (vgl. Art. 234 II 2 AEUV).
 
 
 
____________________________________________________________________________________
[1] Süddeutsche Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/politik/misstrauensvotum-gegen-eu-kommission-juncker-gegner-scheitern-im-europaparlament-1.2240692; abgerufen am 27.11.2014.
[2] Kluth in: Calliess/Ruffert (Hrsg.) , EUV/AEUV, 2011, München, beck, § 234, Rn.6.

27.11.2014/0 Kommentare/von Dr. David Saive
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. David Saive https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. David Saive2014-11-27 20:48:462014-11-27 20:48:46Misstrauensvotum im EU-Parlament
Dr. Maximilian Schmidt

Prüfungsgespräch Öffentliches Recht – Europarecht

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Europarecht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Weiter geht es mit einem Prüfungsgespräch zur Entscheidung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung. Diese dient allerdings nur als Aufhänger. Wünschenswert wäre, die Fragen kurz im Kopf zu beantworten, s. zu Sinn und Zweck dieser Kategorie den Einführungsbeitrag.
Sehr geehrte Damen und Herren,
der EuGH hat, wie Sie sicher in den Tageszeitungen gelesen haben, entschieden, dass die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung europarechtswidrig und damit nichtig ist.
Zunächst: Was ist der Unterschied zwischen einer Richtlinie und einer Verordnung?*
Sowohl Verordnung als auch Richtlinie gehören zum europäischen Sekundärrecht, wovon das Primärrecht, das seit Lissabon insbesondere aus EUV und AEUV besteht, abzugrenzen ist. Verordnungen haben allgemeine Geltung, d.h. sie wirken wie nationale Gesetze, weswegen sich der Bürger unmittelbar auf sie berufen kann, Art. 288 Abs. 2 AEUV. Sie sind in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Richtlinien werden an Mitgliedstaaten gerichtet und sind für diese hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, Art. 288 Abs.3 AEUV. Die innerstaatlichen Stellen wählen Form und Mittel der Umsetzung in nationale Gesetze, mit denen die Ziele innerhalb einer bestimmten Frist zu erreichen sind. (Art. 288 AEUV) Die Richtlinie ist daher ein Kompromiss zwischen der Notwendigkeit, in der EU einheitliches Recht zu setzen und der Rücksicht auf nationale Eigenheiten.
Das kann man – grosso modo – so sagen. Nun, wer kann denn Richtlinien und Verordnungen für nichtig erklären? *
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass es die Nichtigkeitsklage vor dem EuGH gibt, Art. 263 AEUV. Hiermit können Verstöße gegen das europäische Primärrecht bei Erlass von Richtlinien und Verordnungen durch den europäischen Gesetzgeber gerügt und gegebenenfalls für nichtig erklärt werden.
Ich hake hier kurz ein. Angenommen der EuGH verwirft eine Nichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie. Welche weiteren Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen dann?*
In Betracht käme dann grundsätzlich noch eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Bei Prüfung dieser stellen sich aber einige Probleme. Zum einen müsste ein tauglicher Beschwerdegegenstand nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a vorliegen. Dies sind aber grundsätzlich nur innerstaatliche Gesetze im materiellen Sinne.
Ich hake wiederum kurz ein und frage Ihren Nachbarn: Was meint Ihr Vorredner mit Gesetz im materiellen Sinne?*
Man unterscheidet herkömmlich Gesetze im formellen und materiellen Sinne. Gesetze im materiellen Sinne sind all solche, die abstrakt-generelle Rechtsfolgen für die Bürger treffen. Demgegenüber sind Gesetze im formellen Sinne allein Parlamentsgesetze. Häufig fallen beide Begriffe zusammen, dem muss aber nicht so sein. Bspw. ist ein Gesetz nur im formellen Sinne ein Haushaltsgesetz des Bundestages, da diese keine Rechtsfolgen für die Bürger zeitigen. Demgegenüber sind gemeindliche Satzungen allein Gesetze im materiellen Sinne.
Vielen Dank für diesen kurzen Exkurs. Zurück zum eigentlichen Thema. Welches Problem gibt es nun beim Beschwerdegegenstand? *
Wie bereits gesagt müsste ein Gesetz im materiellen Sinne vorliegen. Eine Richtlinie bindet aber nur den nationalen Gesetzgeber zur Transformation in einem dann materiellen Gesetz, sie ist also nur eine Vorstufe.
Das träfe aber auf die Verordnung nicht zu, diese gilt ja schließlich unmittelbar!’
Das stimmt, doch muss nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ein Akt der deutschen öffentlichen Gewalt vorliegen, die allein an die Grundrechte gebunden ist, Art. 1 Abs. 3 GG. Bei der Verordnungsgebung durch die EU liegt aber solche gerade nicht vor, es handelt sich um zwei unterschiedliche Rechtsordnungen. Die EU ist nämlich nicht an die deutschen Grundrechte gebunden. Daher scheidet eine Verfassungsbeschwerde aus.
Bedeutet das also, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen, sprich Richtlinien und Verordnungen, der EU niemals zulässig?
Nein, in dieser Konsequenz lässt sich das nicht sagen. Das BVerfG hat mit seiner Solange II – Entscheidung das Verhältnis zum EuGH auf eine neue Basis gestellt. In seinem Solange I Urteil hatte das BVerfG noch festgestellt, dass es solange Rechtsakte der EU an deutschen Grundrechten prüfen werde, wie noch kein ausreichendes, dem deutschen Grundrechtsschutz entsprechendes Niveau durch den EuGH gewährleistet werde. Dies hat das BVerfG mit seiner Solange II Entscheidung revidiert und den Satz nahezu umgekehrt: Solange der EuGH einen ausreichenden Grundrechtsschutz anhand des Primärrechts der Union gewährleiste, werde das BVerfG Rechtsakte der EU nicht mehr an der deutschen Verfassung messen.
Daher lautet die Antwort: Nur wenn das grundrechtliche Schutzniveau auf Unionsebene drastisch absinken würde, käme über die Solange II Rechtsprechung eine Kontrolle von Rechtsakten der Union durch das BVerfG in Betracht.
Sehr schön. Nun wie nennt man nun das Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG?**
Seit der Maastricht-Entscheidung wird dieses Verhältnis auch „Kooperationsverhältnis“ genannt.
Welche weitere Entscheidung des BVerfG hat die Solange II Rspr. konturiert?**
Es handelt sich um die sog. „Bananenmarkt-Entscheidung“ des BVerfG. In diesem stellte es fest, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsakte der Union erst dann zulässig sein können, wenn dargelegt ist, dass in der Zwischenzeit das Schutzniveau innerhalb der EU unter den erforderlichen Grundrechtsschutz abgesunken sei. Hiermit verlagerte es also die Darlegungslast auf den Beschwerdeführer, weswegen das BVerfG nicht mehr bei jeder Verfassungsbeschwerde gegen Sekundärrecht der Union prüfen muss, ob ein Absinken des Grundrechtsschutzes erkennbar ist.
Angenommen das Schutzniveau würde absinken, die Voraussetzungen von Solange II wären also erfüllt, und das BVerfG würde zugleich einen Verstoß der europäischen Verordnung gegen deutsche Grundrechte erkennen. Was wäre die Rechtsfolge?**
Das BVerfG könnte zunächst nicht die Nichtigkeit des Unionsrechtsakts feststellen, da dies allein dem EuGH vorbehalten ist, Art. 263 AEUV. Dies ist konsequent, da die Verordnung auch in anderen Mitgliedsstaaten gilt und das BVerfG für diese keine Nichtigkeitsfolge anordnen kann. Allerdings wäre der Verstoß nicht rechtsfolgenlos. Das BVerfG könnte die Unanwendbarkeit der Verordnung in Deutschland feststellen, müsste aber zugleich dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Entscheidung vorlegen.
Nachdem Sie nun Ihre Kenntnisse im Recht der Union nachgewiesen haben, noch eine letzte Frage: Wie Sie sicher wissen, war der historische Anfang der heutigen Union die sog. Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, oder auch Montanunion genannt. Welcher berühmte Politiker hatte hierfür die Idee und schlug diese vor?***
Es handelt sich um den damaligen französischen Außenminister Robert Schuman, weswegen auch vom „Schuman-Plan“ gesprochen wird. Zudem muss der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer genannt werden, der diesem Plan unverzüglich zustimmte. Daher nennt man Schuman und Adenauer auch die Gründungsväter der Europäischen Union.
Vielen Dank für diese ausgesprochen erfreuliche Prüfung!

08.04.2014/1 Kommentar/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2014-04-08 13:00:172014-04-08 13:00:17Prüfungsgespräch Öffentliches Recht – Europarecht
Dr. Christoph Werkmeister

Aus aktuellem Anlass: Der europarechtliche Grundsatz der Subsidiarität

Aktuelles, Europarecht

Juris berichtet über eine aktuelle Subsidiaritätsrüge des Bundesrates gegen eine europarechtliche Richtlinie, die das Küstenzonenmanagement zum Gegenstand hat. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Richtlinie mit dem europarechtlichen Subsidiaritätsprinzip nicht im Einklang stehe, da der EU keine eigene Kompetenz auf diesem Gebiet zukomme. Die Zuständigkeit liege nach europäischem Recht vielmehr bei den Mitgliedstaaten.
Die vorgenannte Materie als solche ist im Speziellen in keiner Weise examensrelevant. Der europarechtliche Grundsatz der Subsidiarität im Allgemeinen gehört hingegen zum Pflichtfachstoff im ersten juristischen Staatsexamen. Im zweiten Staatsexamen werden europarechtliche Grundlagen mitunter zumindest im Rahmen des mündlichen Prüfungsgesprächs abgefragt. Grund genug also, sich aus aktuellem Anlass mit den Grundlagen – zumindest im Überblick – auseinanderzusetzen.
Grundsätzliches
Der Grundsatz der Subsidiarität ist in Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 EUV niedergelegt. Auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips wird die geeignete Handlungsebene im Bereich der geteilten Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten ermittelt. Das bedeutet, dass der Grundsatz immer nur dann Anwendung findet, wenn keine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit auf EU-Level besteht. Immer dann, wenn eine Richtlinie, Verordnung oder ein Beschluss im Bereich der geteilten Zuständigkeiten erlassen wird, muss die EU also in Betracht ziehen, ob nicht eine Verletzung des Grundsatzes der Subsidiarität vorliegt. Es kann sich bei den vorgenannten Maßnahmen um solche auf europäischer, nationaler oder lokaler Ebene handeln.
Inhaltlich besagt der Grundsatz der Subsidiarität, dass die EU nur dann tätig werden kann, wenn sie in der Lage ist, effizienter zu handeln als die Mitgliedstaaten. Aufgaben sollen demnach so weit wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich von den Mitgliedstaaten übernommen werden.
Kriterien?
Die vorgenannte Formel ist wenig konkret und lässt viel Raum für Argumentation. Aus diesem Grund wurde zusätzlich zu den vorgenannten primärrechtlichen Regelungen noch das sog. Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erlassen. Artt. 2 und 5 des Protokolls regeln etwa konkretisierend, dass bestimmte Erwägungen in die Betrachtung mit einfließen müssen. Diese lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:

  • Hat die Maßnahme grenzüberschreitende Aspekte, die nicht von den Mitgliedstaaten geregelt werden können?
  • Würde eine nationale Maßnahme oder ein Nichttätigwerden im Widerspruch zu den Anforderungen des Primärrechts stehen?
  • Hat eine Maßnahme auf europäischer Ebene offenkundige Vorteile?
  • Bei den Betrachtungen sind insbesondere auch finanzielle Auswirkungen zu beachten.

De facto eingeschränkte Kontrolle
Die vorgenannten Kriterien nach dem Protokoll mögen einen ersten Anhaltspunkt geben. Gleichwohl ist das Merkmal der Subsidiarität merklich unbestimmt. Aus diesem Grund kam es seitens des EuGH wohl auch noch nie zur Feststellung der Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes. Insbesondere die sehr weitreichenden Kompetenzen der EU im Rahmen des Art. 114 AEUV zur Vereinheitlichung des europäischen Binnenmarktes lassen im Einzelfall Zweifel aufkommen, ob nationalrechtliche Regelungen nicht ausreichend gewesen wären.
In der Rechtssache Ex p. BAT (C-491/01) vertrat der EuGH etwa, dass der EU-Legislative ein äußerst breiter Ermessensspielraum im Hinblick auf Subsidiaritätserwägungen zustehe. Noch weiter ging dagegen die Entscheidung in der Rechtssache Working Time (C-84/94, Rz. 47). Der EuGH stellte in dieser Entscheidung lediglich beiläufig klar, dass EU-Gesetzgebung mit dem Ziel der Harmonisierung im Regelfall bereits die Notwendigkeit einer europaweiten Regelung vermuten lasse. Faktisch werden Verstöße gegen den Grundsatz der Subsidiarität also nur sehr selten – und dann auch zurückhaltend – von der europäischen Gerichtsbarkeit überprüft. Im Hinblick auf diese Haltung erscheint die o.g. Subsidiaritätsrüge des Bundesrates wenig Erfolg versprechend.
Stattdessen verfahrensrechtliche Absicherung
Angesichts der zurückhaltenden gerichtlichen Prüfungsdichte ist fraglich, inwiefern dem Grundsatz der Subsidiarität dennoch Genüge getan werden kann. Wie bereits erwähnt bezieht sich Art. 5 Abs. 3 EUV auf das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Dieses lediglich neun Artikel umfassende Protokoll regelt zumindest einige verfahrensrechtliche Absicherungen des Subsidiaritätsprinzips. Aufmerksamkeit verdient dabei insbesondere die sog. “yellow-card-procedure”. Hiernach kann ein nationales Parlament einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip rügen. Wenn sich 1/3 aller Mitgliedsstaaten dieser Beschwerde anschließen, muss ein formelles Überprüfungsverfahren seitens der EU eingeleitet werden. Die Kommission kann in solch einem Fall den Entwurf des Gesetzgebungsakts zurückziehen, ändern oder an ihm festhalten, wobei sie ihre Stellungnahme jeweils begründen muss. Beschließt die Kommission an dem Entwurf festzuhalten, obwohl die einfache Mehrheit der nationalen Parlamente ihn ablehnt, entscheiden der Rat und das Europäische Parlament in letzter Instanz, ob das Verfahren fortgesetzt wird oder nicht.
Darüber hinaus enthält das Protokoll einige verfahrensrechtliche Vorgaben im Hinblick auf die Begründung von EU-Regelungen, die Berührung mit den Subsidiaritätsgrundsatz haben.
Zu guter Letzt sieht das Protokoll auch noch die Klagemöglichkeit der Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen den Subsidiaritätsgrundsatz vor. Angesichts der vorgenannten Schwächen ist ein solches Vorgehen im Regelfall allerdings wenig Erfolg versprechend.
Fazit
Es zeigt sich also, dass der Grundsatz der Subsidiarität weniger materiellrechtlich abgesichert wird, sondern eher auf verfahrensrechtlicher Ebene. Die Ausgestaltung der Schutzmechanismen verlagern demnach einen weiten Spielraum zugunsten der EU.

07.05.2013/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2013-05-07 08:32:492013-05-07 08:32:49Aus aktuellem Anlass: Der europarechtliche Grundsatz der Subsidiarität
Dr. Christoph Werkmeister

Konkrete Normenkontrolle bei Gesetz zur Umsetzung von Europarecht

Europarecht, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hatte über eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG zu entscheiden (Beschluss v. 04.10.2011, Az. 1 BvL 3/08), wobei es in der Sache um ein Gesetz ging, welches Europarecht in Form einer Richtlinie umsetzte. Hierbei verblieb dem deutschen Gesetzgeber allerdings in vielerlei Hinsicht kein Spielraum. Die Entscheidung ist im Kontext des Kooperationsverhältnisses zwischen BVerfG und EuGH zu sehen, weshalb zunächst auf den einschlägigen Beitrag zu diesem Thema verwiesen werden soll.
Die wichtigste Aussage der Entscheidung lautet indes folgendermaßen:

Auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie oder einen Beschluss in deutsches Recht umsetzt, wird nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, wenn das Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber keinen Umsetzungsspielraum belässt, sondern zwingende Vorgaben macht.

Im Ergebnis war der Antrag auf konkrete Normenkontrolle beim BVerfG damit (wie erwartet) unzulässig. Sofern Grundrechte eine Rolle spielen kann höchstens im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV geprüft werden, ob die infrage stehende Richtlinie gegen europäisches Primärrecht – also insbesondere die europäische Grundrechtscharta – verstößt.
Wer an den weiteren Fakten und am konkreten Sachverhalt interessiert ist, kann sich noch die Pressemitteilung des BVerfG durchlesen.

18.11.2011/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2011-11-18 15:29:242011-11-18 15:29:24Konkrete Normenkontrolle bei Gesetz zur Umsetzung von Europarecht
Gastautor

Rezension: Herdegen, Europarecht, 13. Auflage 2011

Rezensionen, Verschiedenes


Herdegen, Europarecht, 13. Auflage 2011
Zumindest in Grundzügen gehört das Europarecht zu den meisten Prüfungsordnungen, daneben gibt es an den Universitäten zahlreiche Schwerpunkte mit europarechtlicher Vertiefung und selbst im Zivilrecht kommt man ganz ohne Europarecht nicht mehr aus (Stichworte: Quelle, Heinrich Heine, Kücükdeveci). Das Lehrbuch von Prof. Dr. Matthias Herdegen will laut Klappentext „einen umfassenden Einstieg in die vielgestaltigen Regelungsmaterien, die sich unter dem begrifflichen Dach des ‚Europarechts‘ zusammenfinden“ geben. Dementsprechend wendet sich das Buch an Studenten, will aber auch Schwerpunktkandidaten eine solide Grundlage bieten.
I. Allgemeines
Die 13. Auflage (ISBN:  978-3-406-61453-8) ist gerade im Verlag C.H.Beck erschienen (Preis: 22,90 Euro). Sie fällt mit 469 Seiten deutlich schlanker aus als die Vorauflage von 2010 (517 Seiten). Laut Klappentext sind die Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung eingearbeitet. Die Ausführungen hierzu beschränken sich allerdings auf wenige neue Absätze (§ 23 Rn. 5). Insgesamt befindet sich das Buch auf dem Stand von November 2010. Es ist in der bekannten Grundrisse-Reihe („Brox“) erschienen und greift deren typische optische Gestaltung auf, normalgroße Schrift wechselt mit Einschüben in Kleinschrift. Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen Diagramme, Tabellen und Schemata, die dem Leser einen schnellen Überblick über die wichtigsten Zusammenhänge verschaffen. Wünschenswert wäre eine deutlichere optische Hervorhebung der wichtigsten Urteile, wie sie aus anderen Büchern der Grundrisse-Reihe bekannt ist.
II. Inhalt
Inhaltlich behandelt das Buch im Schwerpunkt das Recht der EU, daneben erfahren aber auch EMRK und OSZE eine relativ ausführliche Behandlung. Der Band wird damit dem eigenen Anspruch gerecht, das „Europarecht“ und nicht nur das Recht der EU zu behandeln. Innerhalb des EU-Rechts erörtert Herdegen schwerpunktmäßig die Grundfreiheiten, „Dassonville“, „Keck“ und „Dijon“ werden ausführlich besprochen. Auch aktuelle Entwicklungen wie beispielsweise die Kücükdeveci-Entscheidung oder das Urteil des BVerfG in der Sache Mangold (Honeywell) werden aufgegriffen. Dabei beschränkt sich Herdegen auf die wesentlichen Punkte, was dem Anliegen entspricht, ein Buch für Studenten zu schreiben, das eine erste Orientierung im Europarecht bieten soll. Für eine Vorbereitung auf eine Schwerpunktklausur würde eine Lektüre der jeweiligen Ausführungen allein aber wohl nicht ausreichen. Positiv hervorzuheben ist, dass das Sachverzeichnis – bei Büchern in höherer Auflage häufig ein Schwachpunkt – auf den neuesten Stand gebracht wurde und eine schnelle Orientierung gerade auch über die Namen der EuGH-Fälle ermöglicht.
III. Gesamtbewertung
Der Band wird dem eigenen Anspruch voll gerecht und bietet für 22,90 Euro ein absolut faires Preis- / Leistungsverhältnis. Wer lediglich den Grundlagenstoff beherrschen will, ist mit dem Buch zumindest inhaltlich mehr als nur gut bedient. Das Design finde ich persönlich etwas unübersichtlich, aber das gilt generell für die Grundrisse-Reihe und ist Geschmackssache. Für ein vertieftes Studium im Schwerpunkt Europarecht oder auch in manchem zivilrechtlichen Schwerpunkt reicht der „Herdegen“ allein hingegen nicht aus. Hier muss man meines Erachtens auf spezialisiertere Werke zurückgreifen.

16.10.2011/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2011-10-16 20:18:482011-10-16 20:18:48Rezension: Herdegen, Europarecht, 13. Auflage 2011
Nicolas Hohn-Hein

BVerwG: Führerscheintourismus deutlich erschwert

Europarecht, Rechtsprechung, Verwaltungsrecht

In drei Verfahren (BVerwG 3 C 25.10, 28.10 und 9.11 – Urteile vom 25. August 2011) hat sich das BVerwG jüngst mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Anwendbarkeit der FeV (genauer § 28 FeV) bezüglich der Gültigkeit eines EU-ausländischen Führerscheins im Inland einen feststellenden Verwaltungsakt der zuständigen deutschen Behörde erfordert. Eine gute Gelegenheit, sich auch mit der allgemeinen Problematik des Führerscheintourismus im Überblick zu beschäftigen. Da das Urteil z.Z. noch nicht im Volltext vorliegt, wird auf die genaue Urteilsbegründung erst in einem weiteren Beitrag eingegangen werden.
Sachverhalt (vereinfacht)
Den drei Klägern war wegen diverser Straßenverkehrsdelikte die Fahrerlaubnis von den deutschen Führerscheinbehörden entzogen worden. Um dennoch ein Kfz steuern zu dürfen, erwerben sie bei einer Fahrschule in Tschechien eine tschechische Fahrerlaubnis. Da die deutschen Führerscheinbehörden meinen, die Kläger seien wegen § 28 FeV ohnehin nicht berechtigt, von dieser Gebrauch zu machen, wurden bei den Klägern Sperrvermerke (Sperre für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis für eine bestimmte Zeit; bei einem ausländischen Führerschein bewirkt die Eintragung  eine Aberkennung des Rechts, den Führerschein in D zu nutzen) eingetragen.
Die Betroffenen sind überrascht. Die Behörden hätten – gestützt auf die FeV -zumindest  einen entsprechenden Verwaltungsakt erlassen müssen. § 28 FeV könne nicht „einfach so“ zur Ungültigkeit der Führerscheine führen.

§ 28 Abs. 1 und 4 FeV  (Auszug):
Abs. 1: Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz … in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen – vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 – im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen.
(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWR- Fahrerlaubnis, […]
Nr. 2) die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, dass sie als Studierende oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben,[…]
Nr. 4) denen auf Grund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine Fahrerlaubnis erteilt werden darf,
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 kann die Behörde einen feststellenden Verwaltungsakt über die fehlende Berechtigung erlassen.

Die Anerkennung von Führerscheinen innerhalb der EU
Mit Einführung der RL 91 439/EGW (fortgesetzt in RL 2006/126/EG) und deren Umsetzung in der FeV (letzte Fassung v. 17. Dezember, 2010 BGBl. I S. 1980) ist der allgemeine Grundsatz aufgestellt worden, dass ein Mitgliedsstaat eine Fahrerlaubnis, die in einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellt wurde, anerkennen muss. Dies soll insbesondere solchen Personen die Freizügigkeit erleichtern, die sich in einem anderen Mitgliedsstaat als demjenigen niederlassen, in dem sie die Fahrprüfung abgelegt haben (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. 2. 2009 – C-321/ 07 „Schwarz“, Rn. 74). Dieser Mechanismus greift in seiner Funktion das Herkunftslandprinzip wieder auf und bildet – mit nur wenigen Einschränkungen – den Kern der gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen innerhalb der EU. Voraussetzung soll sein, dass derjenige zum Zeitpunkt der Ausstellung seinen ordentlichen Wohnsitz im ausstellenden Mitgliedsstaat führt (sog. Wohnsitzprinzip), um Missbrauch zu vermeiden. Erst dann ist ein grenzüberschreitender Bezug gegeben, der die Anerkennung nach EU-Vorgaben in Gang setzt.
Bekämpfung des Führerscheintourismus
Der Begriff des Führerscheintourismus meint insbesondere solche Fälle, in denen Personen aus unterschiedlichen Gründen (Alkohol am Steuer, Drogen o.ä.) die deutsche Fahrerlaubnis entzogen wird. Zur Vermeidung einer MPU (= Medizinisch-psychologische Untersuchung) oder horrender Kosten für den Neuerwerb des Führerscheins weichen sie sodann ins Ausland (besonders beliebt: Polen oder Tschechien) aus, um dort eine Fahrerlaubnis zu erwerben, die von den deutschen Behörden nach den oben dargestellten Grundsätzen anzuerkennen ist. Ohne auf die verschiedenen, teilweise äußerst komplexen Einzelfallkonstellationen einzugehen, besteht das Grundproblem in der Regel darin, dass die deutschen Vorschriften, die – mit Blick auf die Verkehrssicherheit – einen Mindeststandard bei der (Neu-) Erteilung des Führerscheins fordern, schlichtweg auf diese Weise umgangen werden können.
Die Problematik liegt vor allem in der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Anerkennung versagt werden kann. Der Fall „Kremer“ (EuGH-Urteil v. 28.09.2006 – C-340/05) veranschaulicht diesen Punkt gut. Herr Kremer hatte 1999 nach Entziehung seiner deutschen Fahrerlaubnis in Belgien die Führerscheinprüfung absolviert und bestanden. Hierzu ließ er einen fiktiven Zweit-Wohnsitz in Belgien anmelden und auf dem Führerschein vermerken. Ein Sperrvermerk in Deutschland bestand zum Zeitpunkt der Ausstellung nicht. In Deutschland wurde er in der Folge mehrfach wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis rechtskräftig verurteilt, er hingegen berief sich auf Gemeinschaftsrecht und bekam vor dem EuGH recht. Deutschland musste den belgischen Führerschein anerkennen, obwohl es ersichtlich war, dass Herr Kremer keinen dauerhaften Wohnsitz in Belgien gehabt hatte. Belgien hatte den Führerschein jedoch ordnungsgemäß nach geltendem belgischen Recht ausgestellt. Das anerkennende Mitgliedsland war insofern machtlos, als dass der ausstellende Staat über das Vorliegen der Voraussetzungen der Richtlinie (und damit auch des umgesetzten nationalen Rechts in der FeV) zu bestimmen hatte (vgl. Brenner EuR 2010 292 ff). Dazu heißt es in der Urteilsbegründung im Fall Kremer:

Nach gefestigter Rechtsprechung sieht Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 91/439 die gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine ohne jede Formalität vor und erlegt den Mitgliedstaaten damit eine klare und unbedingte Verpflichtung auf, die keinen Ermessensspielraum in Bezug auf die Maßnahmen einräumt, die zu erlassen sind, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Daraus ergibt sich insbesondere, dass, wenn die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein gemäß Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 91/439 ausgestellt haben, die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt sind, die Beachtung der Ausstellungsbedingungen erneut zu prüfen (Beschluss Halbritter, Randnr. 34).

RL 2006/126/EG novellierte kurz darauf u.a. § 28 FeV dahingehend, dass der anerkennende Mitgliedsstaat zumindest im Wege der Amtshilfe die ausländischen Behörden fortan darum bitten kann, Auskünfte über die Wohnsitzsituation des Betroffenen zu erteilen (§ 28 Abs. 4 S.1 Nr .2 FeV – „…vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen…„). Ein weitergehendes Prüfungsrecht besteht nicht, da die Entscheidung, ob die Voraussetzungen der nationalen Bestimmungen erfüllt sind, bei der ausländischen Behörde liegen. Hingegen hat man sich  in Art. 11 Abs. 4 der RL 2006/126/EG der Problematik des Sperrvermerks angenommen und entsprechend in der FeV umgesetzt. Besteht nämlich ein Sperrvermerk in dem ausstellenden Land (z.B. wegen einer Entziehung des Führerscheins), müssen auch die deutschen Behörden eine Anerkennung ablehnen. Damit wurde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung eingeschränkt (vgl. Begründung in BBat Drucksache 851/08).
Auf den vorliegenden Fall bezogen, war die Ablehnung der Anerkennung an sich unproblematisch. Kläger 1 hatte seinen deutschen Wohnsitz auf seinem tschechischen Führerschein vermerken lassen. Über Kläger 2 lagen der deutschen Behörde gesicherte Informationen im Sinne von § 28 Abs.4 S.1 Nr. 2 FeV vor, dass er seinen ordentlichen Wohnsitz zum Zeitpunkt der Ausstellung nicht in Tschechien hatte. Bei Kläger 3 war bereits vor der Ausstellung ein Sperrvermerk in Deutschland eingetragen gewesen (§ 28 Abs.4 S.1 Nr.4 FeV).
Entscheidung des BverwG: Keine weitere Behördenentscheidung notwendig
In der Pressemitteilung des BverwG heißt es

Bereits aufgrund dieser Regelungen (§ 28 Abs.4 S.1 Nr.2 und 4 FeV, Anm. D. Verf.) kam den Fahrerlaubnissen vom Zeitpunkt ihrer Erteilung an keine Wirksamkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu. Das Erfordernis einer behördlichen Einzelfallentscheidung ergibt sich weder aus § 28 FeV selbst noch aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Auch die hier anzuwendende 2. EU-Führerscheinrichtlinie hinderte den deutschen Verordnungsgeber nicht, seine Befugnis zur Ausgestaltung des Fahrerlaubnisrechts in der Weise auszuüben, dass er – im Rahmen der vom Europäischen Gerichtshof gebilligten Ausnahmen vom unionsrechtlichen Grundsatz der Anerkennung einer ausländischen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis – die Nichtgeltung einer ausländischen Fahrerlaubnis in Deutschland durch eine abstrakt-generelle Regelung anordnet.

Die Führerscheine waren damit schon bei Betreten des deutschen Hoheitsgebietes und damit kraft Gesetztes ungültig, § 21 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis) wäre in strafrechtlicher Hinsicht unmittelbar erfüllt. Eine weitere Behördenentscheidung ist damit nicht notwendig. Das Erfordernis einer solchen könnte sich mit Verweis auf § 28 Abs. 4 S. 2 FeV verneinen lassen: Die Norm ordnet an, dass es im Ermessen („kann“) der Behörde steht, ob sie die fehlende Berechtigung mittels Verwaltungsakt formell feststellt, insbesondere wenn zu Beginn des Inkrafttretens Unklarheit über das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen besteht (vgl. auch BRat Drucksache 851/08).
Ferner ist § 28 Abs.1 FeV allgemein so angelegt, dass es keinen formalen Rechtsakts bedarf, um dem ausländischen Führerschein zur Gültigkeit in Deutschland zu verhelfen. Dies spricht dafür, dass in einem Fall des Absatz 4 der Betroffene im umgekehrten Fall konsequenterweise damit rechnen muss, dass seine Fahrerlaubnis von Anfang an keinen Bestand hat. Das Prinzip der bedingungslosen Anerkennung und damit auch der Vertrauensschutz beim Betroffenen stoßen hier wortwörtlich an ihre Grenzen.
Darüber hinaus bleibt abzuwarten, wie das BBerwG seine Entscheidung im Einzelnen begründet. Man kann insbesondere gespannt sein, welche verfassungsrechtlichen Grundsätze hier bemüht werden.
Fazit
Ein kleiner Abstecher in die Thematik des Führerscheintourismus ist ein netter Aufhänger für die Prüfung weiterer europarechtliche Fragen. Spezialwissen kann an dieser Stelle wohl nicht verlangt werden. In der Klausur oder mündlichen Prüfung bräuchte man wohl wenigstens einen Auszug aus der FeV, die in den gängigen Gesetzesmaterialien nicht abgedruckt ist. Man sollte sich merken, dass die deutschen Behörden vor allem dann nicht den EU-ausländischen Führerschein anerkennen müssen, wenn bei Ausstellung bereits eine Sperre in Deutschland bestand oder der Betroffene keinen ordentlichen  Wohnsitz im ausstellenden Mitgliedsland hatte.
Weiterführende Links:
Überblick über die teilweise uneinheitliche deutsche Rechtssprechung zumThema hier
Pressemitteilung des BverfG hier
Detaillierter Artikel auch bei LTO 
 

09.09.2011/0 Kommentare/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2011-09-09 09:42:452011-09-09 09:42:45BVerwG: Führerscheintourismus deutlich erschwert
Redaktion

Sachverhalt der Examensklausur im Europarecht – April 2011 – 1. Staatsexamen Berlin Brandenburg

Berlin, Brandenburg, Examensreport

Wir danken Nastassia für die Zusendung eines Gedächtnisprotokolls von der Examensklausur im Europarecht im April 2011 im 1. Staatsexamen in Berlin / Brandenburg. Die Klausur wurde von Studenten der Europa-Universität Viadrina anstelle der 3. Zivilrechtsklausur geschrieben.
Angelehnt war die Klausur an die EuGH-Entscheidung zum Glücksspielmonopol.
Mitgliedstaat (MS) M hatte Gesetze zum Betrieb von Glücksspielen erlassen (waren mit abgedruckt), welche unter anderem vorsahen, dass für die Veranstaltung von Glücksspielen von der zuständigen Behörde Konzessionen verteilt wurden. Vorraussetzung für den Erhalt einer solchen Konzession ist, dass es sich um eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Inland handelt und diese über ein Mindestkapital iHv 25.000 € verfügt. Das Betreiben von Glücksspielen ohne Konzession ist unter Strafe gestellt. Es gibt insgesamt 12 Konzessionen zu verteilen, welche allesamt der XY-AG zugeteilt wurden.
A ist Staatsangehöriger des MS D und hielt die Regelungen in M schon immer für diskriminierend. Er ist weder im Besitz einer Konzession, noch hat er eine solche je beantragt. Er betreibt in M drei Spielcasinos.
A wird daraufhin verurteilt.
Er legt gegen dieses Urteil zulässige Revision ein. Das zuständige Revisionsgericht ist sich nach dem Vortrag des A und des zuständigen Staatsanwaltes nicht sicher, ob die Regelungen in MS M bezüglich der Glücksspiele mit dem europäischen Recht vereinbar sind und möchte daher den EuGH dazu befragen.
Aufgabe: Formulieren sie die Vorlagefrage(n) und legen sie gutachterlich dar, wie der EuGH entscheiden wird.

30.04.2011/1 Kommentar/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2011-04-30 08:54:562011-04-30 08:54:56Sachverhalt der Examensklausur im Europarecht – April 2011 – 1. Staatsexamen Berlin Brandenburg
Seite 1 von 212

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