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Schlagwortarchiv für: Arbeitsrecht

Gastautor

Jur:Next Urteil des Monats: Je älter der Arbeitnehmer, desto erhohlungsbedürftiger…

Arbeitsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns auch heute wieder einen Beitrag aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next veröffentlichen zu können. Nachfolgend wird ein examensrelevantes Urteil des Bundesarbeitsgerichts besprochen, das auf die Alterdiskriminierung von Arbeitnehmern eingeht.

BAG Urteil vom 21.10.2014 – 9 AZR 956/12: Urlaubsdauer, Staffelung nach dem Alter der Arbeitnehmer, Diskriminierung und Ungleichbehandlung
Fundstelle: Entscheidungsdatenbank des BAG (https://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&Datum=2014-10&nr=17871&pos=16&anz=30)
 
Problemaufriss
Das Urteil des BAG stellt die immer wieder examensrelevante Thematik der Altersdiskriminierung in den Mittelpunkt. In der vorliegenden Entscheidung geht es um die Frage, ob ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern ab 58 Jahren freiwillig zwei zusätzliche Urlaubstage gewähren darf oder ob er dadurch andere, jüngere Arbeitnehmer diskriminiert. Relevant werden dabei Normen aus dem AGG sowie der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz.
Interessant und damit examensrelevant macht dieses Urteil, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters beim Urlaub anders zu behandeln ist als bei der Kündigungsfrist: Bei § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB war lange strittig, ob diese Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt ist oder nicht. Inzwischen hat der EuGH im Jahr 2010 (Urteil EuGH vom 19.01.2010 (Rechtssache C-555/07) entschieden, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB eine nicht gerechtfertigte Altersdiskriminierung darstellt. Die Norm verstößt gegen Europarecht und ist damit unwirksam. Solange der Gesetzgeber diesen Passus der Norm nicht streicht, darf die Norm nicht angewendet werden. Das BAG ist dieser Rechtsprechung uneingeschränkt gefolgt.
Anders verhält es sich jedoch in der hier vorliegenden Entscheidung des BAG. Eine Ungleichbehandlung wegen des Alters bei der Gewährung von freiwilligem Zusatzurlaub kann gerechtfertigt und damit zulässig sein.
Leitsatz:
„Gewährt ein Arbeitgeber älteren Arbeitnehmern jährlich mehr Urlaubstage als den jüngeren, kann diese unterschiedliche Behandlung wegen des Alters unter dem Gesichtspunkt des Schutzes älterer Beschäftigter nach § 10 Abs. 3 Nr. 1 AGG zulässig sein.“
Entscheidend ist daher, dass zwar eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vorliegt. Diese ist jedoch nach § 10 Satz 1, 2 und Satz 3 Nr. 1 AGG gerechtfertigt.
Die Rechtfertigung prüft das Gericht beinahe lehrbuchmäßig anhand einer Verhältnismäßigkeitsprüfung entsprechend dem Wortlaut der Norm in § 10 AGG:
Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein.“
Die Rechtfertigung nach § 10 AGG schlägt auch auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz durch. Eine Diskriminierung liegt daher im Ergebnis nicht vor.
Sachverhalt
Streitgegenstand ist die Höhe des jährlichen Urlaubsanspruchs der Klägerin.
Die Beklagte stellt Schuhe her. Die am 10. April 1960 geborene Klägerin ist seit 1. Juli 1994 dort als Produktionsmitarbeiterin beschäftigt.
Im Arbeitsvertrag vom 13. November 2000 ist vereinbart, dass der jährliche Urlaubsanspruch 34 Tage beträgt. Die Beklagte gewährt allen AN, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, 36 Arbeitstage Jahresurlaub. Die Klägerin wollte mit der Klage feststellen lassen, dass ihr ebenfalls 36 anstatt 34 Urlaubstage zustehen.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass die Urlaubsregelung altersdiskriminierend sei. Die Behauptung, ältere AN benötigen im Produktionsbetrieb längere Erholungsphasen, sei nicht belegt. Das BUrlG stelle bezüglich der Urlaubsdauer auch nicht auf physische Belastung oder das Alter des AN ab. Außerdem gebe es keinen Grund, warum ein gesteigertes Erholungsbedürfnis ausgerechnet mit 58 Jahren entstehen soll. Mit nur 2 zusätzlichen Urlaubstagen könne ein etwaiger erhöhter Erholungsbedarf ohnehin nicht ausgeglichen werden. Bei einem stetig steigenden Erholungsbedarf müsse auch der Urlaub gestaffelt werden. Auch andere AN, wie z.B. junge Eltern, hätten erhöhten Erholungsbedarf, bekämen aber keinen Zusatzurlaub. Daher müsse die Beklagte ihr zwei weitere Urlaubstage gewähren.
Die Beklagte beantragte Klageabweisung. Die Regelung sei nicht diskriminierend. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung benötigen ältere AN, gerade wenn sie körperlich anstrengende, ermüdende Arbeiten verrichten, längere Erholungsphasen. Zwei zusätzliche Urlaubstage seien angemessen.
Das Arbeitsgericht hat die Feststellungsklage abgewiesen, das LAG hat die Berufung der Klägerin zurück gewiesen. Beide Gerichte sahen keine Diskriminierung. Das BAG hat die Revision der Klägerin im Ergebnis ebenfalls zurück gewiesen.
Entscheidung des Gerichts
Das Gericht weist die zulässige Revision als unbegründet zurück, weil die Urlaubsregelung nicht gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam ist. Der Klägerin stehen nach §§ 1, 3 Abs. 1, 7 Abs.1 und Abs. 2 AGG nicht zwei weitere Urlaubstage zu. Der Urlaubsanspruch der Klägerin wird daher nicht „nach oben angepasst“.
Zwar liegt nach Ansicht des BAG auf der ersten Stufe eine Ungleichbehandlung wegen des Alters gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vor. Eine Person erfährt allein aufgrund ihres Alters eine andere, weniger günstige Behandlung als eine andere. Die Ungleichbehandlung ist auch unmittelbar, da zwischen der Benachteiligung und einem der in § 1 AGG genannten Gründe – hier dem Lebensalter – ein direkter Kausalzusammenhang besteht. Der Zusatzurlaub von zwei Tagen knüpft allein an die Vollendung des 58. Lebensjahres und damit das Lebensalter an.
Auf der zweiten Stufe bejaht das BAG jedoch eine Rechtfertigung nach § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG. Sinn und Zweck dieser Regelung ist u.a. der Schutz älterer AN. Hierbei hat der AG bei der Gewährung von freiwilligen Zusatzleistungen wie hier einen Gestaltungs- und Ermessenspielraum, der nur die Verhältnismäßigkeit nach § 10 S. 1 und 2 AGG („geeignet, erforderlich und angemessen“) einhalten muss. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH sowie dem EU-Recht.
Die Regelung der Beklagten dient allein dem Schutz älterer AN. Durch die zwei zusätzlichen Urlaubstage soll ihrem gesteigerten Erholungsbedürfnis Rechnung getragen werden. Das Gesetz normiert jedoch nicht, wann ein AN „älter“ und damit schutzbedürftiger ist. Fraglich ist daher, ab wann genau der AN aufgrund seines Alters des besonderen Schutzes bedarf.
Das BAG ist 2012 in einer anderen Entscheidung bereits davon ausgegangen, dass bei AN zwischen 50 und 60 ein altersbedingt gesteigertes Erholungsbedürfnis „eher nachvollziehbar“ sei (BAG 20.03.2012 – 9 AZR 529/10).
Die Vorinstanz ist entsprechend der h.M. davon ausgegangen, dass ein steigendes Erholungsbedürfnis im Alter per se ein belastbarer Erfahrungssatz sei. Dagegen wird u.a. die Individualität der Alterungsprozesse eingewandt. Nicht jeder AN ist pauschal ab einem bestimmten Alter erholungsbedürftiger oder kränklicher. Ferner unterscheide auch das BUrlG nicht nach dem Lebensalter. Der Gesetzgeber gehe also auch nicht von einem unterschiedlichen Erholungsbedürfnis aus.
Das BAG schließt sich der Ansicht der h.M. sowie der Vorinstanz an. Erfahrungssätze sind zulässige Hilfsmittel der Tatsacheninstanzen. Zwischen Alter und Krankheitsanfälligkeit gibt es einen Wirkungszusammenhang. Auf dieser Erkenntnis beruhen sämtliche privaten und öffentlichen Systeme der Kranken-, Renten- und Lebensversicherung.
Wenn ein solcher Erfahrungssatz nicht greift oder passt, müssten die Gerichte Sachverständige heranziehen. Hier sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz kein Sachverständigengutachten zu der Frage, dass das Erholungsbedürfnis im Betrieb der Beklagten mit zunehmendem Alter steigt, eingeholt hat.
Die Vorinstanz hatte nämlich überdies festgestellt, dass im Betrieb der Beklagten körperlich anstrengende Arbeiten zu verrichten waren. Bei körperlich anstrengenden Arbeiten gesteht sogar die Gegenmeinung zu, dass ein Zusammenhang zwischen Alter und Erholungsbedürftigkeit bzw. Krankheitsanfälligkeit besteht. Daher durfte das Gericht vom allgemeinen Erfahrungssatz, dass mit zunehmendem Alter bei körperlich anstrengenden Arbeiten das Erholungsbedürfnis steigt, ausgehen.
Das Argument auf die fehlende Altersstaffelung in § 3 BUrlG greift nach Ansicht des BAG nicht durch, weil hier nur das unterste Maß geregelt sei.
Die Regelung der Beklagten ist nach Ansicht des BAG auch geeignet, den Schutz älterer AN zu fördern. Die Geeignetheit ist nicht zu verneinen, nur weil der zusätzliche Urlaub von 2 Tagen den gesteigerten Erholungsbedarf nicht vollständig, sondern nur partiell ausgleicht. Es handelt sich hier um eine freiwillige Leistung des AG, bei der er einen Ermessensspielraum hat.
Die Regelung ist auch erforderlich und angemessen. Mildere Mittel sind nicht ersichtlich. Zwar könnte die Beklagte kostenneutral z.B. auch einen zusätzlichen Urlaubstag ab einer niedrigeren Altersgrenze (z.B. 40) gewähren. Es liegt jedoch im Gestaltungsermessen des AG, welche Regelung er hier zum Schutz älterer AN treffen möchte.
Das Argument, dass auch jüngere Menschen z.B. mit kleinen Kindern erhöhten Erholungsbedarf haben, hilft nicht. Denn es ist dem AG nicht zumutbar, für jeden AN individuell, nach seiner momentanen Lebenssituation, einen jeweiligen Urlaubsanspruch zu gewähren. Dies wäre nach Ansicht des BAG nicht mehr praktikabel. Der AG darf daher in einer typisierenden Betrachtung im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes den Schutz älterer AN fördern.
Auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ergibt nichts anderes. Die Klägerin hat auch daraus keinen Anspruch auf zwei weitere Urlaubstage. Denn wenn wie hier eine Rechtfertigung nach § 10 AGG vorliegt, muss dies auch auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz „durchschlagen“. Eine sachwidrige Ungleichbehandlung liegt daher auch hier nicht vor.
Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung des Gerichts überzeugt. Das BAG bejaht zwar eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters, nimmt aber eine Rechtfertigung zum Schutz älterer AN nach § 10 AGG an. Das BAG prüft die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nach dem AGG streng am Gesetzestext in Form einer ausführlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Alle Argumente der Klägerin, die eine Altersdiskriminierung stützen sollen, widerlegt das Gericht der Reihe nach in seiner Entscheidung.
Interessant ist auch die umstrittene Frage, wann ein Erfahrungssatz herangezogen werden darf und wann ein Sachverständigengutachten einzuholen ist. Auch diese Streitfrage legt das BAG lehrbuchmäßig dar.
Die Entscheidung zeichnet insgesamt eine sehr leichte Lesbarkeit aus. Die Urteilsbegründung ist aus sich heraus sehr gut verständlich. Daher kann diese Entscheidung gut beim Durcharbeiten des sehr examensrelevanten AGG herangezogen werden.
Examensrelevanz
Die Entscheidung hat Examensrelevanz. Zum einen, weil das AGG nach wie vor per se „prüfungsgefährlich“ ist. Zum anderen liegt hier im Unterschied zu § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB der Fall einer gerechtfertigten Ungleichbehandlung wegen des Alters vor. Bei der Gewährung von Zusatzurlaub kann wie im vorliegenden Fall eine Unterscheidung nach dem Alter erfolgen, ohne dass eine Altersdiskriminierung vorliegt. Bei der Berechnung der Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB liegt dagegen eine Altersdiskriminierung vor, die Norm muss daher unangewendet bleiben.
Allein diese Unterscheidung von Altersdiskriminierung bei Berechnung der Kündigungsfrist und Urlaub sowie die damit verbundene „Verwechslungsgefahr“ machen dieses Urteil des BAG examensrelevant.
 

02.03.2015/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2015-03-02 09:00:432015-03-02 09:00:43Jur:Next Urteil des Monats: Je älter der Arbeitnehmer, desto erhohlungsbedürftiger…
Maria Dimartino

Arbeitsvertrag- Anfechtung – Recht zur Lüge?

Arbeitsrecht, Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schwerpunktbereich, Startseite, Verschiedenes, Zivilrecht

Sachverhalt (nach BAG v. 07.07.2011, 2AZR 396/10)
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Anfechtung und einer Kündigung. Die Klägerin ist seit 2007 bei der Beklagten angestellt. Die Beklagte beschäftigt 1500 Arbeitnehmer. Seit 1998 ist bei der Klägerin ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Bevor es zum damaligen Zeitpunkt zum Abschluss eines Arbeitsvertrages kam, wurde der Klägerin ein Personalfragebogen vorgelegt, in dem sie nach einer anerkannten Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung gefragt wurde. Diese Frage hatte die Klägerin wahrheitswidrig mit „Nein“ beantwortet. Im Jahre 2008 teilte die Klägerin der Beklagten ihre Schwerbehinderung mit. Zuvor hatte die Beklagte versucht sich durch Aufhebungsvertrag von der Klägerin zu trennen. Am selben Tag, an dem die Beklagte von der Schwerbehinderung der Klägerin erfuhr, stellte die Beklagte die Klägerin von der Erbringung ihrer Arbeitsleistung frei und forderte diese auf ihre persönlichen Sachen aus ihrem Büro zu entfernen und Arbeitsmittel herauszugeben. Des Weiteren wurden Zugangsberechtigungen zu E-Mails, EDV und Kundendatenbanken gesperrt. Am darauffolgenden Tag erklärte die Beklagte der Klägerin die Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung. Zudem kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis (hilfsweise außerordentlich), nachdem die Zustimmung des Integrationsamtes vorlag. Die Klägerin erhob innerhalb der Drei-Wochen-Frist Kündigungsschutzklage vor dem zuständigen Arbeitsgericht.
 
A. Zulässigkeit der Klage
Die Klage ist zulässig.
B. Begründetheit der Klage
I.  Wirksame Anfechtung, § 123 Abs. BGB
1. Arbeitsverhältnis, § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag (+)
2. Anfechtungserklärung, § 143 Abs. 1 BGB (+)
Die Beklagte hat gegenüber der Klägerin die Anfechtung erklärt.
 3. Anfechtungsgrund (-)
Es müsste außerdem ein Anfechtungsgrund vorliegen; in Betracht kommen vorliegend:

  • 119 Abs.1 Alt. 1 BGB Inhaltsirrtum
  • 119 Abs.1 Alt. 2 BGB Erklärungsirrtum
  • 119 Abs. 2 BGB Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaft einer Person oder Sache
  • 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB arglistige (widerrechtliche) Täuschung
  • 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB widerrechtliche Drohung

Anmerkung: Wegen der kurzen Anfechtungsfrist und Schadensersatzfolge des § 122 BGB wird man in der Praxis – soweit möglich – eine Anfechtung über § 123 BGB vorrangig geltend gemacht.
Arglistige Täuschung, § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB
In diesem Fall hat sich der Arbeitgeber auf eine arglistige Täuschung gem. § 123 Abs. 1 Alt. BGB berufen.
Problem: Zulässige Frage des Arbeitgebers?
Ob eine Frage unzulässig ist, wird danach bestimmt, welches Interesse überwiegt: das Interesse des Arbeitgebers an einer umfassenden Information oder das Interesse des Arbeitnehmers daran seine Privatsphäre zu schützen (allgemeines Persönlichkeitsrecht). Ist die Frage unzulässig, hat das zur Folge, dass die Rechtswidrigkeit der Täuschung entfällt – besser bekannt als das „Recht zur Lüge“. D.h. der Arbeitgeber darf zwar alles fragen, der Arbeitnehmer darf aber unzulässige Fragen wahrheitswidrig beantworten.
Hier die Frage nach der Schwerbehinderung: Ein grundsätzliches Fragerecht nach einer Schwerbehinderung, ohne dass für den Arbeitgeber Indizien vorliegen, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung aufgrund seiner Behinderung nicht erbringen werden kann, wird es unter Berücksichtigung des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) und dem neu in Kraft getretenen § 81 Abs. 2 SGB IX (betriebliches Eingliederungsmanagement) nicht geben.
Das Interesse des Arbeitgebers an der Frage nach einer Schwerbehinderung kann aber im konkreten Einzelfall durchaus überwiegen, z.B. bei der Vorbereitung von Kündigungen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens, vgl. BAG v. 16.2.2012, 6 AZR 553/10.
In diesem Fall wurde die Frage nicht entschieden, da die Beklagte behauptete, sie hätte die Klägerin auch bei Kenntnis eingestellt und es wäre auch ohne Täuschung zum Arbeitsvertragsabschluss gekommen. Es ginge der Beklagten vielmehr um die „Ehrlichkeit“ (wohl auch darum eine Entschädigungsklage nach § 15 AGG wegen Diskriminierung zu vermeiden).
Exkurs: Weitere Fragen, über die das BAG zu entscheiden hatte:

  • Frage nach Schwangerschaft (-), auch bei Schwangerschaftsvertretung
  • Gewerkschaftszugehörigkeit (-)
  • Vorstrafen (nur einschlägige +)
  • eingestellte Strafverfahren (-)
  • Religion und Parteizugehörigkeit (grds. (-), Ausnahme: Tendenzbetriebe bei entsprechender Stellenbesetzung)

Exkurs: Arbeitsrechtliche Besonderheiten bei Anfechtung
Grundsätzlich hat eine wirksame Anfechtung zur Folge, dass das angefochtene Rechtsgeschäft als von Anfang an nichtig anzusehen ist, vgl. § 142 Abs. 1 BGB. Diese Wirkung ist nicht ohne Weiteres auf das Arbeitsrecht zu übertragen. Hier muss den arbeitsrechtlichen Besonderheiten Genüge getan werden; beispielsweise der Tatsache, dass ein Arbeitnehmer die Arbeit bereits erbracht hat und eine Rückabwicklung nicht möglich ist, wenn der Rechtsgrund dafür rückwirkend entfällt. Soweit ein Arbeitsverhältnis also bereits in Vollzug gesetzt wurde, so wirkt eine wirksame Anfechtung nicht von Anfang an (ex tunc), sondern erst ab der wirksamen Anfechtung (ex nunc).
4. Frist
Die Frist zur Anfechtung ist auch noch nicht verstrichen, denn diese beginnt erst ab Kenntnis und muss innerhalb eines Jahres erfolgen, § 124 Abs. 1, Abs. 2 BGB.
5. Ergebnis
Die Anfechtung ist unwirksam. Das Arbeitsverhältnis ist nicht aufgrund einer Anfechtung aufgelöst.
 
 II. Außerordentliche Kündigung, § 626 BGB
 1. Vorherige Zustimmung des Integrationsamtes gem. §§ 2, 85 SGB IX (+)
Das Arbeitsverhältnis muss sechs Monate bestanden haben vgl. § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX.
2. Kündigungserklärung, §§ 623, 626 Abs. 1 und Abs. 2 BGB (+)
Die Kündigungserklärung erfolgte der Klägerin gegenüber schriftlich. Die außerordentliche Kündigung wurde innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nach § 626 Abs. 2 BGB erteilt.
 3. Wichtiger Grund gem. § 626 Abs. 1 BGB (-)
a) Sachverhalt grundsätzlich geeignet
Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigen Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. 

„Die Täuschung wirkte nicht in einer Weise nach, dass der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar gewesen wäre. Die Klägerin war mehr als eineinhalb Jahre im Arbeitsverhältnis tätig, ohne dass es Beanstandungen gegeben hätte.“ (BAG v. 07.07.2011, 2AZR 396/10)

Anmerkung: Anfechtung und Kündigung stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Beide Gestaltungsrechte stehen nebeneinander (vgl. BAG 28. 03.1974 – AZR 92/73).

„Die Anfechtung setzt zwar einen Grund voraus, der schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages vorgelegen hat, während die Kündigung dazu dient, ein durch nachträgliche Umstände belastetes oder sinnlos gewordenes Arbeitsverhältnis zu beenden. Denkbar ist aber, dass ein Anfechtungsgrund im zustande gekommenen Arbeitsverhältnis so stark nachwirkt, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar ist.“ (BAG v. 07.07.2011, 2AZR 396/10)

b) Interessenabwägung
Da kein Grund vorlag, kam es nicht zu einer weiteren Interessenabwägung der Arbeitgeber-/Arbeitnehmerinteressen (Kündigung/Erhalt des Arbeitsverhältnisses).
 4. Frist
Die Frist gem. § 626 Abs. 2 BGB von zwei Wochen wurde hier gewahrt. Anmerkung: Die Wahrung der Frist prüft man in der Praxis zuvor.
 5. Ergebnis
Die außerordentliche Kündigung ist unwirksam.
 
III. Ordentliche Kündigung, § 623 BGB
 1. Vorherige Zustimmung, § 2, § 85 SGB IX
Der Arbeitgeber benötigt zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen immer die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes, § 85 SGB IX. Soweit eine Zustimmung vorliegt, kann eine Kündigung ausgesprochen werden. Wird eine Kündigung ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen, ist diese unwirksam. Diese Zustimmung kann auch nicht nachgeholt werden. Keine Zustimmung wird benötigt, soweit das Arbeitsverhältnis durch Fristablauf oder Aufhebungsvertrag endet.
 2. Kündigungserklärung, § 623 BGB (+)
3. Zugang (+)
4. Soziale Rechtfertigung gem. § 1 Abs. 1 KSchG
Auf das Arbeitsverhältnis findet das Kündigungsschutzgesetz Anwendung:
a) Arbeitsverhältnis besteht länger als 6 Monate (Wartezeit)
b) Arbeitgeber beschäftigt mehr als fünf bzw. zehn Arbeitnehmer, § 23 Abs. 1 KSchG
Es liegt kein Kündigungsgrund gem. § 1 Abs. 1 KSchG (personenbedingt, verhaltensbedingt, betriebsbedingt) vor.
5. Ergebnis
Die ordentliche Kündigung ist unwirksam.
Anmerkung: Die Klägerin hatte zudem eine Klage auf Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG gegen die Beklagte erhoben. Diese wurde als unbegründet abgewiesen, da die Beklagte die Klägerin auch bei Kenntnis der Schwerbehinderung eingestellt hätte. Es ging ihr nur um „die Lüge an sich“ bei der Kündigung, den „Vertrauensbruch“.
 C. Fazit
Bei einer Anfechtung des Arbeitsvertrages sind bezüglich der Wirkung der Anfechtung bei Vollzug eines Arbeitsverhältnisses die arbeitsrechtlichen Besonderheiten zu beachten. Unter bestimmten Voraussetzungen benötigt der Arbeitgeber die Zustimmung eines Dritten, um wirksam kündigen zu dürfen, z.B. die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes bei Kündigung von Personen mit einer Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung.

18.12.2014/1 Kommentar/von Maria Dimartino
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Maria Dimartino https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Maria Dimartino2014-12-18 13:23:542014-12-18 13:23:54Arbeitsvertrag- Anfechtung – Recht zur Lüge?
Redaktion

RÜ: Entscheidung des Monats November 2013

Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns Euch heute die aktuelle „Entscheidung des Monats“ der Ausbildungszeitschrift „Rechtsprechungsübersicht“ (RÜ) unseres Kooperationspartners Alpmann Schmidt zum Download zur Verfügung stellen zu können.
Die darin besprochene Entscheidung des BAG, (Urt. v. 20.06.2013 – 6 AZR 805/11) betrifft im Schwerpunkt die Frage, unter welchen Voraussetzungen die ordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ hinreichend bestimmt ist. Daneben werden weitere typische und examensrelevante arbeitsrechtliche Fragen angesprochen (Anwendbarkeit des KSchG, betriebsbedingte Kündigung, Betriebsratsanhörung, Zuständigkeit des Insolvenzverwalters).
Die PDF-Datei könnt ihr hier herunterladen.

07.11.2013/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2013-11-07 14:00:512013-11-07 14:00:51RÜ: Entscheidung des Monats November 2013
Nicolas Hohn-Hein

ArbG Krefeld: Silvesterknaller im Dixi-Klo ist Kündigungsgrund

Arbeitsrecht, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Im Nachklang zum Jahreswechsel wollen wir noch kurz auf eine kuriose Entscheidung des Arbeitsgerichts Krefeld (Urteil v. 30.11.2012 – Az. 2 Ca 2010/12) hinweisen. Darin ging es darum, ob ein Kündigungsgrund gegeben ist, wenn ein Arbeitnehmer einen Kollegen, der gerade eine Baustellen-Toilette („Dixi-Klo“) benutzt, mit einem Silvesterknaller traktiert.
Für den Sachverhalt sei auf die offizielle Pressemitteilung verwiesen. Darin hieß es:

Der 41 Jahre alte Kläger war bereits seit 1997 bei der Beklagten als Gerüstbauer und Vorabeiter beschäftigt. Am 07.08.2012 brachte er auf einer Baustelle einen Feuerwerkskörper („Böller“) in einem Dixi-Klo zur Explosion, während sich dort sein Arbeitskollege aufhielt. Dabei ist zwischen den Parteien streitig, ob er den Böller von oben in die Toilettenkabine geworfen hat, wie es ihm die Beklagte vorwirft, oder ob er den Böller an der Tür des Klos angebracht hat, von wo er sich – von dem Kläger ungeplant – gelöst hat und dann in die Kabine hineingerutscht und dort zur Explosion gekommen ist, wie es der Kläger darstellt. Der in der Toilette befindliche Kollege des Klägers zog sich aufgrund der Explosion Verbrennungen am Oberschenkel, im Genitalbereich und an der Leiste zu und war in der Folge drei Wochen arbeitsunfähig. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers wegen dieses Vorfalls mit Schreiben vom 10.08.2012 fristlos.

Der Schädiger richtete sich im Wege der Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung mit der Begründung, dass der Umgangston auf dem Bau immer schon „ruppiger“ gewesen sei und „Scherze unter Kollegen“ zum Alltag gehörten. Solche Scherze – auch mit Feuerwerkskörpern – hätten schon des Öfteren als „Stimmungsaufheller“ gedient.
Dies sah das Arbeitsgericht anders. Ob der Böller von oben in die Toilettenkabine hineingeworfen oder aber an der Tür befestigt worden war, von wo er sich aus Versehen löste und dann in der Kabine explodierte, war für die Entscheidung unerheblich, denn nach Ansicht des Gerichts

[liegt] [i]n beiden Fällen […] ein tätlicher Angriff auf einen Arbeitskollegen vor, bei dem mit erheblichen Verletzungen des Kollegen zu rechnen war. Bereits darin liegt ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Dass der nicht sachgerechte Umgang mit Feuerwerkskörpern zu schweren Verletzungen führen kann, ist allgemein bekannt. Das gilt erst recht, wenn wie hier in einer Weise damit hantiert wird, dass dem Betroffenen keinerlei Reaktions- und Fluchtmöglichkeit eröffnet ist. Einer vorhergehenden Abmahnung bedurfte es angesichts der Umstände des Falles nicht.

Obwohl rechtlich nicht anspruchsvoll, könnte der Fall im Prüfungsgespräch des ersten oder zweiten Staatsexamens als „humorvoller“ Einstieg in weiterführende arbeitsrechtliche Fragestellungen dienen. Die allgemeinen Voraussetzungen einer Kündigungsschutzklage (mehr) und das Prüfungsschema zur verhaltensbedingten Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG (mehr) sollten bekannt sein.

03.01.2013/0 Kommentare/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2013-01-03 12:16:052013-01-03 12:16:05ArbG Krefeld: Silvesterknaller im Dixi-Klo ist Kündigungsgrund
Dr. Deniz Nikolaus

BAG: Zulässigkeit der verdeckten Videoüberwachung am Arbeitsplatz

Arbeitsrecht, Rechtsprechung, Referendariat, Schon gelesen?, Schwerpunktbereich, Startseite, Zivilrecht, Zivilrecht

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem Urteil vom 21.06.2012 – 2 AZR 153/11 Stellung zu der Frage genommen, unter welchen Voraussetzungen die heimliche Videoüberwachung des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz durch den Arbeitgeber zulässig ist. In den Entscheidungsgründen wird Stellung genommen erstens zu den Voraussetzungen eines Kündigungsgrundes, zweitens zu den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer heimlichen Videoüberwachung durch den Arbeitgeber und drittens zum Bestehen eines Beweisverwertungsverbotes bei einer Videoüberwachung im Hinblick auf § 6b Abs. 2 BDSG.

Die Frage der Zulässigkeit einer Videoüberwachung am Arbeitsplatz stellt sich in einer Klausur bei der Prüfung eines wirksamen Kündigungsgrundes. Wenn die Videoüberwachung unzulässig ist und das einzige Beweisstück für die Verfehlung darstellt, so darf der Arbeitgeber diese nicht im Prozess verwerten und die Kündigung ist unwirksam.

1. Sachverhalt

Die Klägerin arbeitete seit 1990 als Verkäuferin bei der Filiale des beklagten Einzelhandelsunternehmens. Da im Bereich „Tabakverkauf“ Inventurdifferenzen auftraten, ließ die Beklagte für drei Wochen mit Zustimmung des Betriebsrats eine verdeckte Videoüberwachung unter anderem im Kassenbereich durchführen. Die Aufzeichnungen ergaben, dass die Klägerin an zwei Tagen nach Geschäftsschluss Zigaretten entwendete. Nach Anhörung des Betriebsrates kündigte ihr die Beklagte. Hiergegen erhob die Klägerin rechtzeitig Klage und bestritt die ihr vorgeworfenen pflichtwidrigen Handlungen.

Vor dem BAG streiten die Parteien nunmehr über die Wirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung.

2. Verhaltensbedingte Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt

Das BAG hat festgestellt, dass im vorliegenden Fall die ordentliche Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt war.

[Zur Erinnerung: grundsätzlich ist bei einer ordentlichen Kündigung ein Kündigungsgrund entbehrlich. Anderes gilt aber, wenn die Voraussetzungen des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) erfüllt sind. Ist das KSchG anwendbar, muss die Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt sein. Hierunter fällt auch ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund. Bei der Prüfung der verhaltensbedingten Kündigung ist dann an erster Stelle abstrakt zu prüfen, ob das Verhalten des Arbeitnehmers grundsätzlich dazu geeignet ist, eine Kündigung auszusprechen. Auf zweiter Stufe folgt eine Interessenabwägung, in der die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls einbezogen werden müssen. Die Prüfung der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung folgt damit dem Prüfungsschema der außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB. Der wesentliche Unterschied zur außerordentlichen Kündigung ist, dass die Gründe bei der ordentlichen Kündigung nicht so schwer sein müssen. Da die außerordentliche Kündigung als „ultima-ratio“ Maßnahme zu verstehen ist, muss der wichtige Grund so schwer wiegen, dass dem Arbeitgeber noch nicht einmal das Abwarten der ordentlichen Kündigungsfrist zugemutet werden kann. Im Gegensatz dazu ist eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung schon dann sozial gerechtfertigt, wenn ein verständig urteilender Arbeitgeber bei Abwägung der wechselseitigen Interessen kündigen würde. Maßstab ist insoweit das Prognoseprinzip. Eine negative Prognose liegt vor, wenn die Vertragsstörung so geartet war, dass daraus geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde auch zukünftig seine Vertragsplichten nicht ordnungsgemäß erfüllen.]

Das BAG führte auf erster Stufe aus, dass die Klägerin durch die heimliche Wegnahme der Zigaretten am Arbeitsplatz eine rechtswidrige und vorsätzliche Handlung unmittelbar gegen das Vermögen der Arbeitgeberin begangen habe. Sie habe in schwerwiegender Weise die schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB verletzt und das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht. Ein solches Verhalten sei daher grundsätzlich geeignet, eine Kündigung auszusprechen. Dieses Verhalten sei sogar dann zum Ausspruch einer Kündigung geeignet, wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder zu einem geringfügigen Schaden geführt hat. Maßgebend sei der mit der Pflichtverletzung verbundene Vertrauensbruch (dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, wie auch im Fall „Emmely“ – BAG, 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 Rn. 27-  wo die Klägerin in unzulässiger Weise Leergutbons im Wert von 0,48 Euro und 0,82 Euro einlöste, siehe hierzu auch hier).

Auf zweiter Stufe stellte der Senat fest, dass das Verhalten der Klägerin auch unter Berücksichtigung einer Interessenabwägung dazu geeignet war, die Kündigung auszusprechen. Die Klägerin habe heimlich und vorsätzlich das in sie gesetzte Vertrauen als Verkäuferin zu einer Schädigung des Vermögens der Beklagten missbraucht. Eine Wiederherstellung des Vertrauens sei auch angesichts der unbeanstandeten Betriebszugehörigkeit der Klägerin von 18 Jahren und des geringen Wertes der entwendeten Gegenstände nicht zu erwarten. Dem Senat kommt es vorliegend entscheidend darauf an, wie die schädigende Handlung durchgeführt wurde. Er führt aus:

„Für den Grad des Verschuldens und die Möglichkeit einer Wiederherstellung des Vertrauens macht es objektiv einen Unterschied, ob es sich bei einer Pflichtverletzung um ein Verhalten handelt, das insgesamt auf Heimlichkeit angelegt ist – […} – oder nicht.“

Weil das Verhalten der Klägerin „auf Heimlichkeit angelegt“ war, wertete das BAG die Interessen der Beklagten am Ausspruch der Kündigung als höherrangig.

Exkurs: Mit dieser Entscheidung hält der Senat an seiner im Fall „Emmely“ (BAG, 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09) eingeschlagenen Linie fest. Hiernach sind rechtswidrige Handlungen gegen das Vermögen des Arbeitgebers nur abstrakt auf erster Stufe geeignet, eine Kündigung auszusprechen. Auf zweiter Stufe muss trotz der schweren Verfehlung eine Interessenabwägung vorgenommen werden. Siehe dazu hier.

3. Voraussetzungen für eine heimlichen Videoüberwachung durch den Arbeitgeber

Der Senat hat die Frage, ob den Videoaufzeichnungen ein prozessuales Verwertungsverbot wegen einer Verletzung des allgemeinem Persönlichkeitsrecht der Klägerin aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entgegenstand, nicht abschließend beantwortet. Hinsichtlich dieser Frage hat der Senat den Fall zurück an das Landesarbeitsgericht verwiesen. Dennoch wurden Ausführungen zu den Kriterien einer zulässigen Videoüberwachung gemacht.

Im Rahmen der Zulässigkeit einer heimlichen Videoüberwachung ist danach grundsätzlich zu prüfen, ob die Verwertung von heimlich beschafften persönlichen Daten mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen vereinbar ist. Es ist also eine Abwägung zwischen den Interessen an einer funktionstüchtigen Rechtspflege und dem Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (siehe hierzu Palandt, § 823 BGB Rn. 112) vorzunehmen. Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers können durch die Wahrnehmung überwiegender schutzwürdiger Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt sein. Das BAG hat sich – einer früheren Entscheidung folgend (BAG, 27. März 2003, 2 AZR 51/02) – auf Kriterien berufen, nach denen eine heimliche Videoüberwachung durch den Arbeitgeber gerechtfertigt (und deshalb zulässig) ist. Dies ist der Fall, wenn:

  • der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers besteht
  • weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachts ergebnislos ausgeschöpft sind, die verdeckte Videoüberwachung damit praktisch das einzige verbleibende Mittel darstellt und
  • sie insgesamt nicht unverhältnismäßig ist.

Diese Kriterien hat das BAG dahingehend ergänzt, dass der Verdacht sich gegen einen zumindest räumlich und funktional abgrenzbaren Kreis von Arbeitnehmern richten muss. Auch darf der Verdacht keine allgemeine Mutmaßung darstellen, es könnten Straftaten begangen werden. Er muss sich jedoch nicht notwendig nur gegen einen einzelnen, bestimmten Arbeitnehmer richten. Im Hinblick auf die Möglichkeit einer weiteren Einschränkung des Kreises der Verdächtigen müssen weniger einschneidende Mittel als eine verdeckte Videoüberwachung zuvor ausgeschöpft worden sein.

Aufgrund der Zurückweisung muss das Landesarbeitsgericht nun feststellen, ob die von der Beklagten vorgetragene Inventurdifferenz tatsächlich vorgelegen hat. Auch muss geklärt werden, auf welche Tatsache sich der Verdacht gründete, dass Mitarbeiterdiebstähle erheblichen Einfluss auf die behauptete Inventurdifferenten gehabt hätten und welcher eingrenzbare Kreis von Mitarbeitern von diesem Verdacht betroffen war. Auch muss beurteilt werden, ob nicht weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung in Betracht gekommen wären.

4. Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum, § 6b Abs. 2 BDSG

Darüber hinaus stellte das BAG ausdrücklich fest, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht schon aus einer Verletzung des Gebots des § 6b Abs. 2 BDSG folgt. Siehe zu Videoauszeichnung im öffentlich zugänglichen Raum bereits hier.

Zwar schreibt § 6b Abs. 2 BDSG vor, dass bei der Beobachtung von öffentlich zugänglichen Räumen der Umstand der Beobachtung und die verantwortliche Stelle durch geeignete Maßnahmen erkennbar zu machen sind. Hieraus könne aber nicht gefolgert werden, dass die verdeckte Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Räumen ausnahmslos unzulässig sei. Vielmehr will das BAG die Rechtmäßigkeit der Videoüberwachung ausschließlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen. Das Kennzeichnungsgebot sei weder nach verfassungskonformer Auslegung im Lichte der grundrechtlich geschützten Interessen des Arbeitgebers aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG  noch nach der Gesetzesbegründung Voraussetzung für die materiell rechtliche Zulässigkeit der Videoüberwachung.

[Das BAG hat auch klar gestellt, dass sich ein Beweisverwertungsverbot nicht aus dem am 01.09.2009 in Kraft getretenen § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG ergebe, weil die Videoaufzeichnung im vorliegenden Fall aus dem Jahr 2008 stammte. In einer Klausur neueren Datums sollte jedoch auf diese Norm eingegangen werden. Danach ist eine personenbezogene Datenerhebung zur Aufdeckung von Straftaten nur dann zulässig wenn:

„tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht begründen, dass der Betroffene im Beschäftigungsverhältnis eine Straftat begangen hat, die Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung zur Aufdeckung erforderlich ist und das schutzwürdige Interesse des Beschäftigten an dem Ausschluss der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung nicht überwiegt, insbesondere Art und Ausmaß im Hinblick auf den Anlass nicht unverhältnismäßig sind.“

Diese Regelung erscheint enger als die des § 6b Abs. 2 BDSG.  Es bleibt abzuwarten, ob das BAG die Voraussetzungen der Videoüberwachung aufgrund dieser Vorschrift verschärfen wird. Aufschlussreich zur Auslegung des § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG ist der in Kürze erscheinende Beitrag in der EzA von Thüsing/Pötters, Anmerkung zu BAG v. 21.6.2012 – 2 AZR 153/11.]

5. Fazit

Die Entscheidung des BAG bestätigt die kündigungsschutzrechtlichen Maßstäbe bei einer verhaltensbedingten Kündigung, die im Fall einer rechtswidrigen Handlung gegen das Vermögen des Arbeitgebers gelten. Der Senat hält an seiner im Fall „Emmely“ eingeschlagenen Linie fest, wonach bei rechtswidrigen Handlungen gegen das Vermögen des Arbeitgebers auf zweiter Stufe trotz der schweren Verfehlung eine Interessenabwägung vorzunehmen ist.

Im Hinblick auf die heimliche Videoüberwachung hat sich das BAG auf Kriterien berufen, die eine Überwachung zulässig machen. Zwar ist eine heimliche Videoüberwachung nicht grundsätzlich unzulässig, jedoch sind die Kriterien aufgrund des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers sehr scharf, so dass nur in seltenen Fällen eine Videoüberwachung als zulässig zu beurteilen ist. Daneben wurde klargestellt, dass § 6b Abs. 2 BDSG einer heimlichen Videoüberwachung am Arbeitsplatz nicht entgegensteht. Vielmehr will das BAG die Rechtmäßigkeit der Videoüberwachung ausschließlich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen.

Es bleibt abzuwarten, welchen Einfluss der § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG auf die Rechtsprechung des BAG in diesem Zusammenhang haben wird.

19.10.2012/1 Kommentar/von Dr. Deniz Nikolaus
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Deniz Nikolaus https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Deniz Nikolaus2012-10-19 15:03:532012-10-19 15:03:53BAG: Zulässigkeit der verdeckten Videoüberwachung am Arbeitsplatz
Nicolas Hohn-Hein

BAG: § 670 BGB analog – Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich Mitverschulden bei betrieblich veranlasster Tätigkeit liegt beim Arbeitnehmer

Arbeitsrecht

In einer neueren Entscheidung des BAG vom 28.10.2010 (8 AZR 647/09 – lesenswert!) geht es um die Haftungsmodalitäten bei sog. „betrieblich veranlassten Tätigkeiten“ und den Aufwendungsersatzanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber nach § 670 BGB analog. Zu letzterem stellt sich die Frage, inwiefern sich der Arbeitnehmer ein Mitverschulden nach § 254 BGB anrechnen lassen muss und wer die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt. Die Grundsätze zur betrieblich veranlassten Tätigkeit gehören zum examensrelevanten Arbeitsrecht und sollten zumindest in Grundzügen beherrscht werden.
Sachverhalt (vereinfacht)
A ist Verkäufer bei der Firma B für Schiffs- und Industriebedarf. Üblicherweise werden Transportfahrten der Waren durch Lagermitarbeiter der B mittels dafür vorgesehener, firmeneigener Transportfahrzeugen durchgeführt. In der Vergangenheit kam es jedoch häufiger vor, dass kleinere Transportfahrten, die auf dem Weg zwischen Arbeitsplatz und Wohnort der Verkäufer lagen, von diesen übernommen und als Arbeitszeit vergütet wurden. Hierbei kam jeweils der private PKW des jeweiligen Verkäufers zum Einsatz.
Dementsprechend soll A am 9. Mai 2007 einige Kleinteile bei einem Kunden abholen. A fährt mit seinem privaten PKW los. An einer Ampel kommt es zu einem Auffahrunfall, bei dem das Fahrzeug des A einen Totalschaden erleidet. Ein Versicherung besteht nicht. Der genaue Unfallhergang kann nicht mehr festgestellt werden. Insbesondere bleibt unklar, wer für den Unfall verantwortlich war. Eine Begutachtung der Unfallstelle durch einen Sachverständigen erfolgte nicht, da A und der Unfallgegner sogleich Namen und Adressen austauschen und schließlich nach Hause fahren. Die Polizei wird nicht eingeschaltet. A gibt lediglich an, er habe „nicht mehr rechtzeitig bremsen können“, als das vorausfahrende Fahrzeug (aufgrund eines Dritten, unbekannt bleibenden Verkehrsteilnehmers) „abrupt“ vor ihm angehalten habe. Er und der Unfallgegner seien „im dichten Feierabendverkehr“ gefahren und hätten Geschwindigkeiten von „40 bis 45 km/h“ jeweils nicht überschritten. Weitere Angaben kann A nicht machen. Das beschädigte Fahrzeug verkauft er an einen Autohändler.
A verlangt nunmehr von B den Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts des Fahrzeugs, sowie eine Nutzungsausfallentschädigung. Immerhin habe es sich um eine Dienstfahrt gehandelt, die – was zutrifft – mit seinem Vorgesetzten abgesprochen war. Anhaltspunkte, die auf eine besonders schweres Fehlverhalten des A bezüglich des Unfalls hinwiesen, seien wegen des von ihm geschilderten Unfallherganges nicht naheliegend. B weist lediglich daraufhin, dass schon der Totalschaden für ein erhebliches Fehlverhalten des A spreche. A sei „selbst schuld“, B müsse nichts zahlen. Kann A von B Ersatz verlangen?
Entsprechende Anwendung des § 670 BGB bei Arbeitsverhältnissen
Der BGH geht zunächst auf die Frage ein, wann ein Anspruch nach § 670 BGB analog in Betracht kommt.

Nach § 670 BGB kann der Beauftragte vom Auftraggeber Ersatz von Aufwendungen verlangen, die er zum Zwecke der Ausführung des Auftrages gemacht hat und die er den Umständen nach für erforderlich halten durfte. Ein Arbeitnehmer hat in entsprechender Anwendung des § 670 BGB Anspruch auf Ersatz von Schäden, die ihm bei Erbringung der Arbeitsleistung ohne Verschulden des Arbeitgebers entstehen. Voraussetzung der Ersatzfähigkeit des Eigenschadens ist, dass dieser nicht dem Lebensbereich des Arbeitnehmers, sondern dem Betätigungsbereich des Arbeitgebers zuzurechnen ist und der Arbeitnehmer ihn nicht selbst tragen muss, weil er dafür eine besondere Vergütung erhält […].
Sachschäden des Arbeitnehmers, mit denen nach Art und Natur des Betriebs oder der Arbeit nicht zu rechnen ist, insbesondere Schäden, die notwendig oder regelmäßig entstehen, sind arbeitsadäquat und im Arbeitsverhältnis keine Aufwendungen iSd. § 670 BGB. Handelt es sich dagegen um außergewöhnliche Sachschäden, mit denen der Arbeitnehmer nach der Art des Betriebs oder der Arbeit nicht ohne weiteres zu rechnen hat, so liegt eine Aufwendung nach § 670 BGB vor. Ein Verkehrsunfall bei der Auslieferung oder Abholung von Waren für den Arbeitgeber beruht zwar auf der dem Fahrer übertragenen und damit betrieblich veranlassten Tätigkeit, gehört aber nicht zu den üblichen Begleiterscheinungen dieser Tätigkeit und ist mithin nicht arbeitsadäquat.
In entsprechender Anwendung des § 670 BGB muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer an dessen Fahrzeug entstandene Unfallschäden ersetzen, wenn das Fahrzeug mit Billigung des Arbeitgebers in dessen Betätigungsbereich eingesetzt wurde. Um einen Einsatz im Betätigungsbereich des Arbeitgebers handelt es sich, wenn ohne den Einsatz des Arbeitnehmerfahrzeugs der Arbeitgeber ein eigenes Fahrzeug einsetzen und damit dessen Unfallgefahr tragen müsste. Das Landesarbeitsgericht hat die Frage, ob eine Veranlassung für die Fahrt am 9. Mai 2007 seitens der Beklagten vorgelegen hat, dahinstehen lassen. Die betriebliche Veranlassung ergibt sich allerdings bereits aus dem unstreitigen Parteivorbringen. Der Kläger hat seinen Pkw im Betätigungsbereich der Beklagten eingesetzt, weil diese ohne diesen Einsatz ein eigenes Fahrzeug benötigt hätte und damit das Unfallrisiko hätte tragen müssen. […] Da die Beklagte den Kläger beauftragt hatte, die Teile mit einem Kraftfahrzeug bei dem Kunden bzw. Auftragnehmer abzuholen und der Kläger hierfür seinen eigenen Pkw benutzt hat, hat er diesen im Betätigungsbereich der Beklagten eingesetzt. Ob dies neben dem Interesse der Beklagten auch seinem eigenen Interesse gedient hat, ist unbeachtlich. Die Benutzung seines eigenen Fahrzeugs erfolgte mit Billigung der Beklagten. Im Betrieb der Beklagten war es – wie das Landesarbeitsgericht festgestellt hat – üblich, dass Mitarbeiter mit ihren Privatfahrzeugen Gegenstände zu Kunden bringen und/oder dort abholen. […]Auch der Umstand, dass die Beklagte Fahrtzeiten für Auslieferungs- oder Abholfahrten mit Privat-Pkws als Arbeitszeiten vergütet hat, lässt auf die grundsätzliche Billigung der Nutzung von Privatwagen schließen. Deshalb hätte die Beklagte eine konkrete gegenteilige Weisung behaupten müssen, wenn sie eine Billigung der vom Kläger durchgeführten Fahrt mit seinem Fahrzeug zu dem Kunden am 9. Mai 2007 in Abrede stellen will.

Mithaftung des Arbeitnehmers bei betrieblich veranlasster Tätigkeit
Die von der Rechtssprechung entwickelte Abstufung der Haftung des Arbeitnehmers im Rahmen einer betrieblich veranlassten Tätigkeit gilt auch bei der Frage des Mitverschuldens des Arbeitnehmers bei § 670 BGB in analoger Anwendung.

Ein Anspruch des Arbeitnehmers aus dem Rechtsgedanken des § 670 BGB auf Aufwendungsersatz scheidet dann aus, wenn der Arbeitnehmer infolge einer schuldhaften Handlungsweise sein Vorgehen den Umständen nach nicht für erforderlich halten durfte. Bei der Bewertung, wann und ggf. in welchem Umfange Verschulden des Arbeitnehmers den Ersatzanspruch ausschließt oder mindert, kommen die Grundsätze über den innerbetrieblichen Schadensausgleich zur Anwendung. In Anwendung des Rechtsgedankens des § 254 BGB bedeutet dies, dass im Falle leichtester Fahrlässigkeit eine Mithaftung des Arbeitnehmers entfällt.Bei normaler Schuld des Arbeitnehmers (mittlere Fahrlässigkeit) ist der Schaden grundsätzlich anteilig unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalles nach Billigkeitsgrundsätzen und Zumutbarkeitsgesichtspunkten zu verteilen und bei grob fahrlässiger Schadensverursachung ist der Ersatzanspruch des Arbeitnehmers grundsätzlich ganz ausgeschlossen.

Darlegungs- und Beweislast für Grad des Verschuldens regelmäßig beim Arbeitnehmer
Der BGH befasst sich mit den Voraussetzungen eines Aufwendungsersatzanspruchs und stellt fest, dass dieser nicht verlangt werden kann, wenn der Arbeitnehmer bei der Geschäftsbesorgung grob fahrlässig gehandelt hat. Im Rahmen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs reicht es folglich aus, wenn der Arbeitnehmer nachweist, dass ggf. lediglich leichte Fahrlässigkeit gegeben war, um einen unbeschränkten Ersatzanspruch geltend machen zu können.

Auch im Schrifttum ist es annähernd einhellige Auffassung, dass der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für diejenigen Umstände trägt, die eine grob fahrlässige Schadensverursachung ausschließen, wenn er die volle Erstattung eines erlittenen Schadens verlangt. Begründet wird dies damit, dass eine erforderliche Aufwendung iSv. § 670 BGB nur unter Ausschluss eines bestimmte Verschuldens vorliegen könne. Da mithin für einen unbeschränkten Aufwendungsersatzanspruch Voraussetzung sei, dass der Arbeitnehmer den Schaden nicht grob fahrlässig herbeigeführt habe, treffe diesen auch die Darlegungslast für Umstände, die eine grob fahrlässige Schadensverursachung ausschließen. Die Darlegungslast folge der Regel, dass derjenige die Umstände darzulegen hat, der sich auf deren Vorliegen oder Nichtvorliegen beruft.
In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in der Literatur hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest.Zu [den Tatbestandsvoraussetzungen von § 670 BGB] zählt, wenn der Arbeitnehmer vollen Ersatz seiner Aufwendungen verlangt, unter Berücksichtigung der Haftungsregeln für den innerbetrieblichen Schadensausgleich, dass seine Aufwendungen nur dann als in vollem Umfange erforderlich zu betrachten sind, wenn sich der Arbeitnehmer nicht schuldhaft (vgl. § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB), sondern allenfalls leicht fahrlässig verhalten hat. Damit muss nach den allgemeinen prozessualen Darlegungs- und Beweislastregeln, die verlangen, dass der Anspruchssteller alle Tatbestandsvoraussetzungen für seinen geltend gemachten Anspruch darlegt und ggf. beweist, der Arbeitnehmer, der vollen Aufwendungsersatz entsprechend § 670 BGB verlangt, zunächst darlegen, dass er den Schaden nicht schuldhaft, dh. vorsätzlich oder normal fahrlässig, sondern allenfalls leicht fahrlässig verursacht hat.

Dies hat A hier vorliegend nicht getan. Die Vorinstanz hatte dazu schon ausgeführt:

Er trägt vor, der Autofahrer könne im innerstädtischen Verkehr die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs nur sporadisch durch einen Blick auf den Tacho überprüfen. Es habe sich um ‚gefühlte Geschwindigkeitʼ gehandelt.Der Kläger hat jedoch keine Tatsachen dazu vorgetragen, wie er an den Wert zwischen 10 und 15 km/h Aufprallgeschwindigkeit gelangt ist. Messungen haben nicht stattgefunden. Der Unfall wurde nicht polizeilich aufgenommen. Die behauptete Ausgangsgeschwindigkeit, die der Kläger pauschal und ohne Beweisantritt mit 40 bis 45 km/h angibt, die Länge des Bremsweges, aus der sich Rückschlüsse auf die Auffahrgeschwindigkeit hätten ziehen lassen, wären aber von erheblicher Bedeutung gewesen, um den Verschuldensgrad bewerten zu können. Da der Kläger den Sicherheitsabstand zu seinem Vordermann nicht einhielt, hätte es entsprechender Darlegung bedurft, wie groß denn der Abstand gewesen sein soll. Dazu hat der Kläger aber keinerlei Umstände vorgetragen.

Kein Wertungswiederspruch zu Fällen, in denen ein Arbeitnehmer einen Firmenwagen beschädigt
Fraglich könnte sein, ob die Beschädigung eines Firmenwagens durch einen Arbeitnehmer hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast für diesen günstiger ist, sodass derjenige, der seinen privaten PKW zum Einsatz bringe, benachteiligt wäre. Dies wird vom BGH hier verneint.

Der Einwand des Klägers, es stelle einen Wertungswiderspruch dar, dem Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für eine nicht grob fahrlässige Verursachung eines Schadens im Falle der betrieblich veranlassten Beschädigung des eigenen Pkws aufzuerlegen, während der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für den Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers trägt, wenn dieser bei der gleichen Tätigkeit einen Firmenwagen beschädigt, greift zumindest vorliegend nicht durch. Auch im Rahmen eines arbeitgeberseitigen Schadensersatzanspruchs wegen der Beschädigung eines Firmenwagens ist eine abgestufte Darlegungslast hinsichtlich der Umstände, die zur Beschädigung geführt haben, zu beachten. Das heißt, auch dann hätte sich der Kläger zunächst zu den konkreten Umständen des Schadensfalles erklären müssen, da an die Darlegungslast des Arbeitgebers keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen, wenn das schädigende Ereignis näher am Arbeitnehmer als am Arbeitgeber gelegen hat. Auch nach diesen Grundsätzen hätte der Kläger darlegen müssen, wie es zu dem Auffahrunfall gekommen ist, damit für die Beklagte die Möglichkeit bestanden hätte, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass Fahrlässigkeit der Kläger den Unfall verschuldet hat.

Fazit
A hat keinen Aufwendungsersatzanspruch gemäß § 670 BGB analog. Die Entscheidung könnte den Anstoß dazu geben, die Grundsätze zur betrieblich veranlassten Tätigkeit bzw. dem innerbetrieblichen Schadensausgleich abzuprüfen. Die analoge Anwendung des § 670 BGB auf Arbeitsverhältnisse sollte man sich merken.

28.04.2011/1 Kommentar/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2011-04-28 10:01:162011-04-28 10:01:16BAG: § 670 BGB analog – Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich Mitverschulden bei betrieblich veranlasster Tätigkeit liegt beim Arbeitnehmer
Nicolas Hohn-Hein

Arbeitsrecht: Hohe Anforderungen an außerordentliche Kündigung bei Veröffentlichung eines (Büro-) Romans durch den Arbeitnehmer

Arbeitsrecht, Zivilrecht

Eine aktuelle Entscheidung des Arbeitsgerichts Herford (Az. 2 Ca 1394/10 – Urteil vom 18.02.2011) beschäftigt sich mit der Frage, ob einem Arbeitnehmer gekündigt werden kann, wenn dieser einen Roman veröffentlicht, der starke Bezüge zum Büro-Alltag des Autors aufweist. Der Fall wird im Folgenden anhand des typischen Aufbaus einer Kündigungsschutzklage dargestellt entsprechend einer möglichen Fallstellung in einer Examensklausur.
Sachverhalt
K ist Angestellter der Küchenmöbel-Firma B. Ende Oktober 2010 hatte K ein Buch mit dem Titel „Wer die Hölle fürchtet, kennt das Büro nicht“ veröffentlicht. Darin beschreibt der fiktive Ich-Erzähler „Jockel Beck“ seine Erfahrungen als Angestellter in einem ebenfalls fiktiven Unternehmen, das zumindest ähnliche Unternehmensstrukturen wie die der B aufweist. Die Erlebnisse und Gespräche des Erzählers mit den Angehörigen des Unternehmens, sowie deren besonderen Eigenheiten sind Gegenstand zahlreicher satirisch überspitzter Darstellungen und sollen den Leser unterhalten. Die Geschäftsleitung der B erfährt am 29.10.2010 von dem Roman und dessen Inhalt.
Der Vorgesetzte (V) ist erbost und kündigt dem K – nach erfolgter Anhörung und mit Zustimmung des Betriebsrats am 08.11.2010 – fristlos mit Schreiben vom 10.11.2010, welches ihm noch am selben Tag zugeht. Als Begründung heißt es später, das Buch sei unmittelbar eine reale Beschreibung seines Büroalltags. Zahlreiche Angestellte würden eindeutig lächerlich gemacht und diskriminiert. Bezüglich einer bestimmten Mitarbeiterin – im Betrieb von Kollegen und im Buch als „Fatma“ bezeichnet – ließe sich eine der Romanfiguren eins zu eins übertragen. Im Übrigen habe K durch sein Werk für erhebliche Unruhe und Aufregung in der Belegschaft gesorgt. Man befürchte einen regelrechten „Aufstand“ unter einigen Mitarbeitern im betrieblichen Umfeld des K, wenn dieser auch weiterhin weiterbeschäftigt werden würde. Konkrete Anhaltspunkt habe man hierfür nicht, jedoch spreche die „allgemeine Stimmunglage“ stark dafür. Viele Angestellte fühlten sich in ihren Gefühlen verletzt. Im Ergebnis seien die Darstellungen des Klägers in dem Buch als ausländerfeindlich, ehrverletzend, beleidigend und sexistisch einzustufen. Nicht nur der Wiederherstellung des Betriebsklimas, sondern auch der Abwendung einer Rufschädigung des Unternehmens sei es geschuldet, dem K eine Weiterbeschäftigung zu versagen.
K kann die ganze Aufregung nicht verstehen. In dem Buch werde explizit im Vorwort darauf hingewiesen, dass sämtliche beschriebene Personen, deren Namen und die jeweiligen Situationen frei erfunden und damit nicht identifizierbar seien. Es handele sich gerade nicht um ein Sachbuch mit einem realen Hintergrund. Überdies habe K das Buch in seiner Freizeit verfasst, sodass schon kein ausreichender Bezug zu seiner Stellung als Arbeitnehmer bestehe. Außerdem stimme die Beschreibung der besagten Angestellten mit der realen Person nicht überein. Es gebe zwar in der Tat eine Angestellte, die in seinem Büroalltag despektierlich „Fatma“ genannt werde, für diese Äußerungen sei K jedoch nicht verantwortlich. Was den Betriebsfrieden angehe, so habe V gezielt „Stimmung“ gegen K gemacht, indem dieser – was zutrifft – mit Auszügen aus dem Buch durch den Betrieb gelaufen sei und die Angestellten dazu befragt hat, ob sie sich in dem Roman wiederfinden und ggf. beleidigt fühlten. Insgesamt beruft sich K auf sein Grundrecht aus Art.5 Abs.3 GG.
K legt fristgemäß Kündigungsschutzklage bei dem zuständigen Arbeitsgericht ein. Von der Zulässigkeit der Klage ist auszugehen. Hat die Klage des K Erfolg?
Der folgende Lösungsvorschlag erhebt keinen Anspruch auf inhaltliche Vollständigkeit.
Lösungvorschlag
Die Kündigungsschutzklage des K müsste begründet sein.
I. Zugang einer schriftlichen Kündigung, § 623 BGB.
Dem K ist am 10.11.2011 ein Schreiben der B zugegangen (§ 130 Abs.1 BGB), in dem zum Ausdruck kommt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen K und B enden soll. Damit ist eine schriftliche Kündigung gegeben. (Der Arbeitnehmerstatus des Betroffenen nach § 5 ArbGG ist in der Regel unproblematisch)
II. Keine Präklusion, §§ 4, 7 KSchG
Da K noch am Folgetag nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage beim zuständigen Gericht erhoben hat, ist die Wirksamkeitsfiktion gemäß §§ 4, 7 KSchG nicht eingetreten.
III. Wirksamkeit der Kündigung nach den allgemeinen Regeln des BGB
Ferner müssten die allgemeinen Regeln des BGB über die Wirksamkeit von Willenserklärungen eingehalten worden sein. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Sachverhalt ist hiervon vorliegend auszugehen. (Andere Unwirksamkeitsgründe: Stellvertretung, Bedingungsfeindlichkeit, Geschäftsfähigkeit etc.)
IV. Sonderkündigungsschutz
Der Betrieb der B verfügt über einen Betriebsrat. Nach §§ 102, 103 Abs.1 BetrVG ist der Betriebsrat vor Aussprache einer außerordentlichen Kündigung anzuhören und seine Zustimmung einzuholen. Ansonsten wäre die Kündigung unwirksam und B müsste einen entsprechenden Antrag nach § 103 Abs.2 BetrVG beim Arbeitsgericht stellen. Hier wurde der Betriebsrat rechtzeitig am 08.11.2010 angehört und dessen Zustimmung abgewartet. Die Voraussetzungen für die Beteiligung des Betriebsrats sind damit erfüllt. (Andere Schutzmöglichkeiten: MuSchG, AGG, BEEG, § 613a IV 1 BGB, §§ 85, 91 SGB IX)
V. Materielle Voraussetzungen der Kündigung
(Die weitere Prüfung richtet sich danach, ob es sich um eine ordentliche oder außerordentliche, fristlose Kündigung handelt. Hier: Außerordentliche fristlose Kündigung nach § 626 BGB)
1. Zwei-Wochen-Frist nach § 626 Abs.2 BGB
Die zweiwöchige Kündigungsfrist müsste eingehalten worden sein. Die Geschäftsleitung hat am 29.10.2010 von dem Buch und dessen Inhalt Kenntnis erlangt. Gemäß § 187 Abs.1 BGB beginnt die Frist am darauf folgenden Tag, dem 30.10.2010. Fristende ist damit der Ablauf des 12.11.2010 um 23:59, § 188 Abs.2 BGB (siehe auch unten in den Kommentaren). Vorliegend ist dem K das Schreiben am 10.11.2010 und damit noch innerhalb der Frist zugegangen.
2. „Wichtiger Grundes“ nach § 626 Abs.1 BGB
Damit die außerordentliche fristlose Kündigung wirksam ist, ist ein „wichtiger Grund“ gemäß § 626 Abs.1 BGB erforderlich. Es müssen daher Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Ein bestimmter Sachverhalt muss zunächst objektiv geeignet sein, die Beendigung des Dienstverhältnisses zu begründen. Sodann ist zu klären, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (Zwei-Schritt-Prüfung).
a) Grund: Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Angestellten
Ein Kündigungsgrund könnte darin liegen, dass K das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG verletzt haben könnte. Das wäre der Fall, wenn der Betroffene erkennbar Gegenstand einer medialen Darstellung gemacht wird.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten Esra-Fall (ein autobiographischer Liebesroman von Maxim Biller) ist bei der Abwägung mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG auf die mögliche Erkennbarkeit der realen Person in der Gestalt des im Roman fiktionalen Protagonisten abzustellen. Erst wenn bei solchen Biographien ohne wesentliche Abweichung von der Wirklichkeit eine Darstellung einer real existierenden Person erzielt wird, liegt ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht vor. Dabei ist zu beachten, dass die Kunstfreiheit das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit positiv mit einschließt – so ausdrücklich das BVerfG).
Für den Fall, dass Persönlichkeitsrechte betroffen sind, ist zu fragen, ob der hohe Stellenwert der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten im Wege der Wechselwirkung möglicherweise rechtfertigt. Hierbei hat das Bundesverfassungsgericht eine kunstspezifische Betrachtungsweise angelegt, um einen etwaigen Wirklichkeitsbezug des Romans zu ermitteln. Das Bundesverfassungsgericht vermutet dabei zugunsten des Autors eine Fiktionalität des Werkes. Etwas anderes gilt erst dann, wenn der Romanautor einen Faktizitätsanspruch selbst erhebt; […]
Kann dabei ein objektiv besonnener und verständiger Leser erkennen, dass sich der Romantext nicht in einer reportagenhaften Schilderung einer realexistierenden Person und von realen Ereignissen erschöpft, sondern vielmehr auf einer dahinterliegenden Ebene spielt, so können Persönlichkeitsrechte nach der oben benannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht betroffen sein.

Gerade einem Satire-Roman ist es zu eigen, dass er Sachverhalte überspitzt und bewusst übertrieben darstellt und den Leser auf bestimmte Themen hinweist, indem er ihn zum Lachen bringt. Ob sie dem guten Geschmack entspricht, ist aufgrund von Art. 5 Abs.3 GG nicht Gegenstand der Beurteilung.
Im vorliegenden Fall hat K im Vorwort des Buches ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Roman um eine reine Fiktion handelt.

Es fehlt eine substantielle Darlegung, dass die der Romanfigur (als Ich-Erzähler) zuzuschreibenden Verhaltensauffälligkeiten (incl. der vermeintlichen Erfüllung von Straftatbeständen) irgendeinen tatsächlichen Bezug und Wahrheitsgehalt zu real existierenden Personen im Betrieb der Beklagten hat. Nach der Logik der Beklagten hätten dann noch zahlreiche weitere Kündigung angedacht werden müssen. Aber die Beklagte erkennt dieses Dilemma im Kernpunkt selbst, als sie in ihrer Begründung der Kündigung die Vermischung von Realität und Fantasie immer wieder selbst feststellt.Weiterhin lassen reicht eine allgemeine Ähnlichkeit mit dem Unternehmen der B nicht aus, um einen entsprechenden direkten Bezug herzustellen.Die Beklagte übersieht, dass sich die im Buch aufgegriffenen Betriebsstrukturen auch in anderen Betrieben wieder finden lassen: Geschäftsführer, Betriebsrat, Buchhaltungsabteilung, Verkaufsabteilung, Einkaufsabteillung usw. sind den meisten Firmenstrukturen immanent. In vielen Firmen werden sich auch Mitarbeiter anderer Nationalitäten als der Deutschen finden lassen; es wird auch des Öfteren Mitarbeiter mit Haarzöpfen geben.

Auch reichen nur teilweise Übereinstimmungen zu realen Personen nicht aus. Vielmehr muss die Romanfigur im Ganzen der realen Person entsprechen. Sowohl innere, als auch äußere Merkmale müssen sich dabei im Roman niedergeschlagen haben. Dies ist bei der als „Fatma“ betitlten Mitarbeiterin aber nicht erkennbar geworden.

Wie bereits oben darauf hingewiesen ist der Umstand, dass Teile der Arbeitnehmerschaft der Beklagten Romanfiguren auf das äußere Erscheinungsbild und in einem Fall zusätzlich auf die Nationalität reduzieren, ohne die Gesamtperson und Handlungen aus der Realität dabei im Auge zu behalten, ist ein Defizit im Ausgangspunkt zur Aussprache und Vorbereitung der außerordentlichen Kündigung vom 10.11.2010. Nach Art der „Rosinen-Theorie“ werden nur solche vermeintliche Übereinstimmungen aus dem Buch mit der Lebenswirklichkeit herausgepickt, die für sich einen ersten Rückschluss auf eine mögliche Person im Betrieb zulassen. Dabei wird beklagtenseitig das äußere Erscheinungsbild der Person von dem inneren Erscheinungsbild (Charakter, Psyche, usw.) völlig losgelöst beurteilt. Statt ein Gesamtbild der im Roman dargestellten Persönlichkeiten wahrzunehmen, wird auf ein paar krass ins Auge springender Einzelheiten reduziert. Erst diese Reduzierung und die anschließende, darauf basierende Gleichschaltung von Romanfigur zu möglicherweise real existierenden Personen kann das Vorgehen der Kollegen und der Beklagten erklären, rechtfertig aber keine außerordentliche Kündigung.

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Angestellten wurde folglich nicht verletzt. Ein entsprechender Kündigungsgrund ist nicht gegeben.
b) Grund: Nebenpflichtverletzung des K
K könnte eine Nebenpflicht nach § 241 Abs.2 BGB verletzt haben, indem nach der Romanveröffentlichung zu „Unruhen“ unter der Belegschaft gekommen ist.

Üblicher Weise werden unter dem Begriff Betriebsfrieden Störungen eines Arbeitnehmers gezählt, der Arbeitskollegen zu oppositionellen Verhalten gegen den Arbeitgeber, zum Vertragsbruch etc. aufwiegelt und versucht, bewusst den Betriebsfrieden zu stören. In einer solchen Situation wäre die Rücksichtnahmepflicht aus dem Arbeitsvertrag verletzt. Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitskollegen verpflichtet. Er hat die Privatsphäre von Arbeitgeber und Arbeitskollegen zu beachten. Private Konflikte dürfen nicht in den Betrieb übertragen werden. Wird der Betriebsfrieden durch aktive Handlungen gestört, die das friedliche Zusammenarbeiten der Arbeitnehmerschaft untereinander und mit dem Arbeitgeber erschüttern oder nachhaltig beeinträchtigen und nachteilige betriebliche Auswirkungen etwa durch eine Störung des Betriebsablaufs haben, kann eine verhaltensbedingte, ordentliche Kündigung gerechtfertigt sein.
Voraussetzung ist allerdings auch hier, dass das Verhalten dem Arbeitnehmer als Vertragspflichtverletzung vorwerfbar ist. Auch dürfen die Grundrechte des Arbeitnehmers insbesondere seine Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG nicht unverhältnismäßig beschränkt werden. Eine außerordentliche Kündigung kommt wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erst bei schwerwiegenden Störungen des Betriebsfriedens oder des Arbeitsablaufs in Betracht. Im Übrigen trifft den Arbeitgeber bei Streitigkeiten unter Arbeitnehmern, die einen geordneten Betriebsablauf gefährden können, eine besondere Vermittlungspflicht.

Folglich fehlt es auch in dieser Hinsicht an einem wichtigen Grund nach § 626 Abs.1 BGB.
c) Grund: sog. Druck-Kündigung
Es könnte ein Fall der Druck-Kündigung vorliegen, wenn sich der Arbeitgeber gezwungen sieht, einem bestimmten Arbeitnehmer zu kündigen, da ansonsten mit erheblichen Konsequenzen seitens der Belegschaft, des Betriebsrats oder Kunden des Arbeitgebers (Kündigung, Verweigerung der Zusammenarbeit, Abbruch der Geschäftsbeziehungen) zu rechnen wäre. Hierbei wird zwischen der unechten Druck-Kündigung und der (echten) Druckkündigung aus betriebsbedingten Gründen unterschieden. Während bei der ersten Variante das Entlassungsbegehren objektiv aus verhaltens- oder personenbedingten Gründen nach § 1 Abs.2 S.1 KSchG gerechtfertigt ist, basiert die betriebsbedingte Druck-Kündigung auf außer- oder innerbetrieblichen Umständen.
Eine unechte Druckkündigung kommt hier nicht in Betracht, da im Verhalten oder in der Person des K keine Pflichtverletzungen zu erkennen sind (s.o.). K kann sich dahingehend auf sein Recht aus Art. 5 Abs.3 GG berufen.
Es könnte sich jedoch um eine betriebsbedingte Druck-Kündigung handeln.

Die Fälle einer betriebsbedingten Druck-Kündigung sind dagegen selten und werden teilweise sogar ganz abgelehnt. […] Letzteres vor allem vor dem Hintergrund, dass das Recht nicht dem Unrecht weichen muss. Die Frage die sich bei betriebsbedingten Druck-Kündigungen auftut ist, ob bei rechtswidrigen Drohungen es dem Arbeitgeber zumutbar sein kann, den Eintritt erheblicher Schäden zu riskieren, wenn ein milderes Mittel als die Kündigung fehlt.[…] Weitere Voraussetzungen einer betriebsbedingten Druck-Kündigung ist, dass der Arbeitgeber sich zunächst schützend vor den betroffenen Arbeitnehmer stellt und alle zumutbaren Mittel einsetzt, um die Belegschaft und die Person, von denen der Druck ausgeht, von ihrer Drohung abzubringen. Konkrete Darlegungen hierzu lassen die Betriebsratsanhörung und der Prozessvortrag vermissen.
Sollten hinter dem (Druck-)Kündigungsbegehren gar diskriminierende Motive des Arbeitnehmers stehen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die ihm gem. § 12 AGG gegenüber Arbeitnehmern und nach § 19 AGG gegenüber Geschäftspartnern zustehenden Abwehrmöglichkeiten auszuschöpfen. Nur wenn trotz allem ein bestimmtes angedrohtes Verhalten nicht zu verhindern ist und dem Arbeitgeber dadurch schwere wirtschaftliche Beeinträchtigungen drohen würden, kann die Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Dabei muss die Kündigung nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit das Einzige in Betracht kommende Mittel sein, um etwaige Schäden abzuwenden.
[…]Die Berufung des Beklagten darauf, dass nach Aussage aller Abteilungsleiter es im Fall einer Fortführung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger zu einem „Aufstand“ kommen würde, ist kein ausreichender Sachvortrag für die Annahme, dass eine außerordentliche Druck-Kündigung unumgänglich gewesen ist am 10.11.2010.

Ergebnis: Ein wichtiger Grund gemäß § 626 Abs.1 BGB ist nicht gegeben. Die außerordentliche fristlose Kündigung der B ist damit unwirksam. Die Klage des K ist begründet. (Zur Möglichkeit einer Umdeutung der fristlosen Kündigung in eine ordentliche Kündigung, siehe unten)
Fazit
Die Kündigungsschutzklage sollte man kennen. Sobald der gängige Aufbau einmal verinnerlicht wurde, wird der Schwerpunkt der Prüfung regelmäßig in der Behandlung der möglichen Kündigungsgründe liegen. Dabei handelt es sich meist um eine Abwägungsentscheidung, die stets in zwei Schritten zu prüfen ist: Ist der Kündigungsgrund objektiv geeignet, eine vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen? Wenn ja, gilt dies auch für den konkreten Einzelfall unter Abwägung der jeweiligen Interessen der Vertragspartner? Geht die außerordentliche fristlose Kündigung nicht durch, sollte man die Möglichkeit einer Umdeutung (§ 140 BGB) in eine vorsorgliche fristwahrende ordentliche Kündigung im Hinterkopf behalten. Dies wird in der Regel möglich und von der Zustimmung des Betriebsrats – wenn vorhanden – gedeckt sein (da ein „minus“ zur außerordentlichen fristlosen Kündigung; umgekehrt dagegen nicht, vgl. auch HK-ArbR/Braasch § 626 Rz. 43f).
Um den Rahmen des Beitrags nicht zu sprengen und da die Umdeutungsmöglichkeit in der Entscheidung nicht in Erscheinung tritt, wurde von einer Prüfung abgesehen. Nach allgemeiner Ansicht darf das Arbeitsgericht eine solche Umdeutung jedenfalls nicht von Amts wegen vornehmen. In der Regel werden entsprechende Hinweise im Sachverhalt anzutreffen sein.
Der Fall eignet sich gut für eine Examensklausur, da typische Probleme des Arbeitsrechts mit grundrechtlichen Überlegungen (APR, Kunstfreiheit) verknüpft werden.

08.04.2011/2 Kommentare/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2011-04-08 00:00:522011-04-08 00:00:52Arbeitsrecht: Hohe Anforderungen an außerordentliche Kündigung bei Veröffentlichung eines (Büro-) Romans durch den Arbeitnehmer
Dr. Gerrit Forst

Arbeitnehmerdatenschutz: Blutentnahme bei Bewerbern?

Arbeitsrecht, Zivilrecht

Daimler soll Bewerbern um einen Arbeitsplatz Blut entnommen haben. Das hat der NDR herausgefunden. Zu dumm nur, dass der NDR dasselbe macht. Bei dem öffentlich-rechtlichen Sender führt man zur Begründung an, man müsse prüfen, ob der Arbeitnehmer der Arbeitszeitbelastung gewachsen sei.
Blutprobenentnahmen bei Arbeitsplatzbewerbern müssen sich an einer Phalanx von Gesetzen messen lassen: Der EG-Datenschutzrichtlinie, den Artt. 1 und 2 GG, dem BDSG, dem GenDG, dem BetrVG und mancherlei anderen Vorschriften.
Solange es nur um die Blutprobe als solche geht, muss der zukünftige Arbeitgeber das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)  sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Artt. 1, 2 Abs. 1 GG) achten, die über die zivilistischen Generalklauseln auch im vorvertraglichen Schuldverhältnis gelten. Für den Arbeitgeber streiten die Grundrechte aus Artt. 12, 14 GG. Beide Grundrechtspositionen sind gegeneinander abzuwägen oder – mit Konrad Hesse – in praktische Konkordanz zu bringen. Zieht man die Rechtsprechung zum Fragerecht des Arbeitgebers bei der Einstellung als Parallele heran, wird man ein Recht zur Blutprobennentnahme nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen anerkennen können. Etwa dann, wenn die Gefahr einer beschäftigungsrelevanten HIV/AIDS-Erkrankung besteht (Bsp.: Chirurg), Drogenkonsum wegen der Gefährlichkeit der Arbeit unbedingt unterbunden werden muss (Bsp.: Umgang mit Waffen oder Sprengstoff, schweren Maschinen – dazu ArbG Hamburg, 27 Ca 136/06, LAGE § 75 BetrVG 2001 Nr 4) oder die körperliche Belastung so groß ist, dass sie eine Gefahr für den Arbeitnehmer darstellen kann (Bsp.: Bergbau, Stahlhütte). Hiervon kann auch durch Betriebsvereinbarung nicht abgewichen werden, vgl. § 75 Abs. 2 BetrVG.
Sollen mit der Blutprobe weitergehende Informationen erlangt werden oder diese verarbeitet werden, gelten strengere Maßstäbe. Personenbezogene Daten eines Beschäftigten dürfen nach § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG  für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung des Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung erforderlich ist. Was ist“erforderlich“? Auch hier bedarf es einer Rechtsgüterabgwägung im Einzelfall (Forst, RDV 2009, 204 ff.), bei der die Interessen des Arbeitnehmers in aller Regel überwiegen werden.
Darf der zukünftige Arbeitgeber vor der Einstellung einen Gentest durchführen? Nein. § 19 GenDG verbietet (ab dem 1.2.2010) die Genomanalsyse durch den Arbeitgeber vor der Einstellung (dazu Wiese, BB 2009, 2198). Nach der Einstellung ermöglicht § 20 GenDG eine Genomanalyse unter sehr engen Voraussetzungen, wenn dies aus Gründen der Arbeitssicherheit zwingend erforderlich ist (s. zu den Maßstäben oben).
Was also sagt man dem NDR? In § 3 Arbeitszeitgesetz schauen: „Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.“ Das sollte keinen Journalisten umhauen.
S. auch:
Arbeitnehmerdatenschutz: Neuer § 32 BDSG tritt am 1.9.2009 in Kraft
Arbeitnehmerdatenschutz: Videoüberwachung am Arbeitsplatz
Nachtrag:
Ausführlich demnächst Forst, RDV 2010 (Heft 1 oder 2, im Druck)

27 Ca 136/06
04.11.2009/0 Kommentare/von Dr. Gerrit Forst
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Gerrit Forst https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Gerrit Forst2009-11-04 15:08:172009-11-04 15:08:17Arbeitnehmerdatenschutz: Blutentnahme bei Bewerbern?
Dr. Gerrit Forst

Arbeitnehmerdatenschutz: Videoüberwachung am Arbeitsplatz

Arbeitsrecht, Zivilrecht

Lidl soll seine Arbeitnehmer per Videokamera ausgespäht haben. Damit hat der Arbeitnehmerdatenschutz einen aktuellen Aufhänger, der sich im Schwerpunkt und in der mündlichen Prüfung bemerkbar machen kann.  Die Videoüberwachung von Arbeitnehmern hat schon mehrfach das BAG beschäftigt, zuletzt im August 2008.
Gesetzliche Grundlagen
Maßgeblich für die Zulässigkeit der Videoüberwachung ist zunächst die EG-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG. Diese ist allerdings „technologieneutral“ verfasst, so dass sich für die Videoüberwachung keine Besonderheiten ergeben. Die Richtlinie wurde in Deutschland mit dem BDSG umgesetzt.
Im Datenschutzrecht geht es häufig darum, widerstreitende Grundrechtspositionen in praktische Konkordanz zu bringen (dadurch lässt sich auch die Grundrechtsdogmatik sehr gut anhand diese Themas abprüfen). Dabei  geraten regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer sowie das Eigentumsrecht und die Berufsausübungsfreiheit des Arbeitgebers in Konflikt. In Fällen, die das BAG zu entscheiden hatte, waren zudem Briefsendungen abhanden gekommen, so dass das Gericht auch das Postgeheimnis der Postkunden in die Abwägung mit einbeziehen musste.
Auf einfachgesetzlicher Ebene regeln § 6b BDSG und §§ 32, 38 BDSG die Videoüberwachung. Dabei ist die Unterscheidung zwischen der Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum und im nicht öffentlich zugänglichen Raum grundlegend.
Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum
§ 6b BDSG erfasst die Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum, er gilt auch für Arbeitsplätze, sofern diese im öffentlich zugänglichen Raum belegen sind. Öffentlich zugänglich ist ein Raum, wenn er durch den Berechtigten einem unbestimmten oder nur nach allgemeinen Merkmalen bestimmten Personenkreis zur tatsächlichen Nutzung eröffnet worden (gewidmet) ist. Erfasst sind beispielsweise Bahnhöfe, Banken, Bibliotheken, Einzelhandelsgeschäfte, Friseursalons, Fußgängerzonen, Kaufhäuser, Kinos, Museen, Parkplätze, Parks, Restaurants, Tankstellen, Spielhallen, Stadien sowie Straßen und Wege. Eine Videoüberwachung ist hier zulässig, soweit sie zur Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen, zur Wahrnehmung des Hausrechts oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen. Nach § 6b Abs. 2 BDSG ist die Videoüberwachung kenntlich zu machen, so dass eine heimliche Videoüberwachung im öffentlich zugänglichen Raum stets rechtswidrig ist.
Videoüberwachung im nicht öffentlich zugänglichen Raum
Im nicht öffentlich zugänglichen Raum will das BAG die Rechtmäßigkeit der Videoüberwachung ausschließlich (!) am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen (BB 2008, 2743, 2746, 2747) und nicht auf die §§ 32, 28 BDSG abstellen. Damit käme es zu einer unmittelbaren Grundrechtswirkung zwischen Privaten, die ganz überwiegend abgelehnt wird. Richtig ist es, auf die §§ 32, 28 BDSG abzustellen. § 32 BDSG ist lex specialis für den Arbeitnehmerdatenschutz. Daneben kann nach Auffassung der Bundesregierung § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG Anwendung finden (BT-Drucks. 16/13657, S. 34 f.). Praktisch bedeutsam ist vor allem die heimliche Videoüberwachung von Arbeitnehmern zur Feststellung von Straftaten, die eine Kündigung rechtfertigen. Sedes materiae hierzu ist § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG. Dieser kodifiziert nach Auffassung der Bundesregierung die Rechtsprechung des BAG in den Fällen NZA 2003, 1193 und BB 2008, 2743 (BT-Drucks. 16/13657, S. 35). Danach ist die heimliche Videoüberwachung eines Arbeitnehmers zulässig, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers besteht, weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachts ausgeschöpft sind, die verdeckte Videoüberwachung praktisch das einzig verbleibende Mittel darstellt und insgesamt nicht unverhältnismäßig ist.
Betriebsrat ist zu beteiligen
Zu beachten ist, dass der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG der Einführung einer Videoüberwachung im Betrieb zustimmen muss. Bei einer Regelung durch Betriebsvereinbarung haben die Parteien das APR der Arbeitnehmer nach § 75 Abs. 2 BetrVG zu beachten (dazu BAG NZA 2004, 1281; NJOZ 2005, 2708; BB 2008, 2743).
Rechtsfolgen unzulässiger Videoüberwachung
Beachtet der Arbeitgeber diese Grundsätze nicht, besteht im Kündigungsschutzprozess ein Beweisverwertungsverbot für die Videoaufzeichnung (str.). Ferner können dem Arbeitnehmer Abwehr- und Unterlassungsansprüche nach §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB analog i.V.m. §§ 6b, 28, 32 BDSG zustehen. Zudem besteht die Gefahr einer Verwirklichung des Straftatbestandes des § 201a StGB.
Rechtsprechung: BAG, NZA 2003, 1193; NZA 2004, 1281; NJOZ 2005, 2708; BB 2008, 2743.
Literatur: Forst, RDV 2009, 204 ff.
S. auch:
Arbeitnehmerdatenschutz: Neuer § 32 BDSG tritt am 1.9.2009 in Kraft
§ 32 BDSG tritt heute in Kraft

Arbeitnehmerdatenschutz: Blutentnahme bei Bewerbern?

22.07.2009/4 Kommentare/von Dr. Gerrit Forst
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Gerrit Forst https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Gerrit Forst2009-07-22 08:26:092009-07-22 08:26:09Arbeitnehmerdatenschutz: Videoüberwachung am Arbeitsplatz
Dr. Stephan Pötters

Weihnachtsgeld auch in schlechten Zeiten? Das BAG gibt seine Rspr zur negativen betrieblichen Übung auf!

Arbeitsrecht, BGB AT, Schuldrecht, Zivilrecht

Das BAG hat mit einer Entscheidung vom 18.3.2009 (10 AZR 281/08) seine ständige Rspr zur gegenläufigen/negativen betrieblichen Übung aufgegeben. Damit dürfte das ein oder andere Weihanchtsgeld auch in den Krisenjahren sicher sein.
Was ist eigentlich eine „betriebliche Übung“?
Zunächst einmal soll hier kurz das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung erklärt werden. Das Entstehen von Ansprüchen aus betrieblicher Übung setzt einen Umstandsfaktor (vorbehaltslose Gewährung einer Leistung) und einen Zeitfaktor (regelmäßige Wiederholung) voraus. So entsteht beim Weihnachtsgeld nach stRspr des BAG ein Anspruch aus betrieblicher Übung dann, wenn der Arbeitgeber drei Jahre hintereinander ohne Vorbehalt zahlt.
Die dogmatische Grundlage für die betriebliche Übung ist umstritten. Insofern stehen sich zwei wesentliche Positionen gegenüber: die Vertrauenstheorie und die Vertragstheorie. Nach der erstgenannten Ansicht basiert die betriebliche Übung auf einem vom Arbeitgeber gesetzten Vertrauenstatbestand. Nach der Vertragstheorie hingegen handelt es sich um eine stillschweigende Änderung der Arbeitsvertrags. Das konkludente Angebot des Arbeitgebers sei in der mehrfachen vorbehaltlosen Gewährung der Leistung zu sehen, wobei er gem. § 151 BGB auf den Zugang der Annahme verzichte. Der Arbeitnehmer würde durch die Entgegennahme des Vorteils seine Zustimmung signalisieren.
Und was war eine „gegenläufige/negative betriebliche Übung“?
Nach der bisherigen Rspr. konnte der Arbeitgeber den Anspruch des Arbeitnehmers aus der betrieblichen Übung durch eine gegenläufige betriebliche Übung beseitigen. So urteilte das BAG in einem Fall vom 26.3.1997 – 10 AZR 612/96:
„Gibt der Arbeitgeber über einen Zeitraum von drei Jahren zu erkennen, daß er eine betriebliche Übung anders zu handhaben gedenkt als bisher (hier: Gratifikationszahlung nur noch unter einem Freiwilligkeitsvorbehalt), so wird die alte betriebliche Übung einvernehmlich entsprechend geändert, wenn die Arbeitnehmer der neuen Handhabung über diesen Zeitraum von drei Jahren hinweg nicht widersprechen.“
Diese Rechtsprechung wurde zurecht von der Literatur kritisiert, denn zumindest wenn man der Vertragstheorie folgt, lassen sich eigentlich keine entsprechenden „gegenläufigen“ Willenserklärungen ausmachen. Es ist schwerlich möglich, in der Entgegennahme des Vorteils durch den Arbeitnehmer und seinem Schweigen eine Zustimmung zu erblicken.
Begründung des BAG für Rechtsprechungswandel: § 308 Nr. 5 BGB
Das BAG hat seine Rspr. nun aufgegeben: „Erklärt ein Arbeitgeber unmissverständlich, dass die bisherige betriebliche Übung einer vorbehaltlosen Weihnachtsgeldzahlung
beendet werden und durch eine Leistung ersetzt werden soll, auf die in Zukunft kein Rechtsanspruch mehr besteht, kann nach dem
Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts am 1. 1. 2002 nach § 308 Nr. 5 BGB eine dreimalige
widerspruchslose Entgegennahme der Zahlung durch den Arbeitnehmer nicht mehr den Verlust des Anspruchs auf das
Weihnachtsgeld bewirken“
Dem Schweigen des Arbeitnehmers kann somit in Zukunft keine Erklärung mehr entnommen werden. Es bleibt damit bei der Grundregel, dass Schweigen rechtlich unerheblich ist (Schweigen als sog. rechtliches nullum). Der Verweis des BAG auf die Vorschrift des § 308 Nr. 5 BGB ist wohl erfolgt, um einen offenen Rechtsprechungswandel zu vermeiden.
Künftig sollten Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer also explizit auf etwaige Folgen ihres Schweigen aufmerksam machen. Die sinnvollste Lösung wäre wohl – gerade in Krisenzeiten – eine einvernehmliche Lösung mit dem Arbeitnehmer zu erzielen und diesen zu einem Verzicht zu bewegen. Denkbar ist auch eine Änderungskündigung.

20.07.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-07-20 15:39:222009-07-20 15:39:22Weihnachtsgeld auch in schlechten Zeiten? Das BAG gibt seine Rspr zur negativen betrieblichen Übung auf!
Dr. Gerrit Forst

Arbeitnehmerdatenschutz: Neuer § 32 BDSG tritt am 1.9.2009 in Kraft

Arbeitsrecht, Zivilrecht

Nach den (echten und vermeintlichen) Datenskandalen bei Deutscher Bahn, Lidl und Telekom hat der Gesetzgeber den Arbeitnehmerdatenschutz auf die politische Agenda gesetzt. Fraktionsvorschläge aus dem Bundestag, die noch in dieser Legislaturperiode eine umfassende Kodifizierung des Arbeitnehmerdatenschutzes erreichen wollten, haben sich aber vorläufig nicht durchgesetzt.

Vielmehr hat die Bundesregierung einen Vorschlag für einen neuen § 32 BDSG unterbreitet (BT-Drucks. 16/13657, S. 34 ff.), der am 3.7.2009 die parlamentarische Hürde genommen hat. Der neue § 32 BDSG tritt zum 1.9.2009 in Kraft. Die Neuregelung lautet:

§ 32 BDSG – Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses

(1) Personenbezogene Daten eines Beschäftigten dürfen für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung des Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung erforderlich ist. Zur Aufdeckung von Straftaten dürfen personenbezogene Daten eines Beschäftigten nur dann erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn zu dokumentierende tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht begründen, dass der Betroffene im Beschäftigungsverhältnis eine Straftat begangen hat, die Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung zur Aufdeckung erforderlich ist und das schutzwürdige Interesse des Beschäftigten an dem Ausschluss der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung nicht überwiegt, insbesondere Art und Ausmaß im Hinblick auf den Anlass nicht unverhältnismäßig sind.

(2) Absatz 1 ist auch anzuwenden, wenn personenbezogene Daten erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, ohne dass sie automatisiert verarbeitet oder in oder aus einer nicht automatisierten Datei verarbeitet, genutzt oder für die Verarbeitung oder Nutzung in einer solchen Datei erhoben werden.

(3) Die Beteiligungsrechte der Interessenvertretung der Beschäftigten bleibt unberührt.

Was ist neu?

Nach der Regierungsbegründung (BT-Drucks. 16/13657, S. 34 f.) ändert sich gegenüber der bisherigen Rectslage wenig. Zwar stellt § 32 BDSG eine Spezialregelung zu den §§ 28 ff. BDSG dar, die aber lediglich das geltende Richterrecht kodifiziert. Im einzelnen gilt:

§ 32 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BDSG = BAG NZA 1984, 321; NZA 1985, 57; NZA 1996, 637,

§ 32 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BDSG = BAG DB 1987, 1048; NZA 1996, 637,

§ 32 Abs. 1 S. 2 BDSG = BAG NZA 2003, 1193; NZA 2008, 1187,

§ 32 Abs. 2 BDSG = BAG DB 1987, 2571; NZA 2006, 269.

In der Literatur ( Deutsch/Diller, DB 2009, 1462 f. ) wird bemängelt, dass unklar ist, wann eine Datenerhebung i.S.d. § 32 Abs.1 S.1 BDSG „erforderlich“ ist. Richtigerweise wird man das Merkmal ähnlich dem bisher geltenden § 28 Abs. 1 Nr. 1 BDSG zu verstehen haben. Weiter fehlt eine Regelung zur Datenweitergabe an Dritte (etwa im Konzern). Da nicht anzunehmen ist, dass diese fortan gänzlich verboten sein soll, wird man die Regelungend es BDSG hierzu analog anwenden müssen.

S. auch:

Arbeitnehmerdatenschutz: Videoüberwachung am Arbeitsplatz

§ 32 BDSG tritt heute in Kraft

Arbeitnehmerdatenschutz: Blutentnahme bei Bewerbern?

11.07.2009/1 Kommentar/von Dr. Gerrit Forst
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Gerrit Forst https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Gerrit Forst2009-07-11 11:21:312009-07-11 11:21:31Arbeitnehmerdatenschutz: Neuer § 32 BDSG tritt am 1.9.2009 in Kraft
Samuel Ju

Der „Emmely-Prozess“ – außerordentliche (Verdachts-)Kündigung wegen 1,30 € ?

Arbeitsrecht

Der Emmely-Prozess erregte in letzter Zeit die Gemüter und zwar nicht nur unter Juristen – sogar eine ganze Anne-Will-Talkshow wurde diesem Urteil des LAG Berlin-Brandenburg gewidmet. Das Urteil bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung des AG Berlin und damit die außerordentliche Kündigung einer Kassiererin bei Kaiser’s, welche (angeblich) Pfandbons im Wert von 1,30 € „unterschlagen“ hatte.
Die Prüfungsrelevanz dieser Entscheidung kann angesichts der ausführlichen gesellschaftspolitischen Debatte nicht hoch genug geschätzt werden, zumal die Kündigungsschutzklage und auch die Voraussetzungen für eine Verdachtskündigung noch zum Standardwissen im „Nebenfach“ Arbeitsrecht zählen dürften. Auch in der mündlichen Prüfung dürfte dieser Fall bald in beiden Staatsexamina aufkreuzen.
Deshalb soll im Folgenden der Sachverhalt und das Urteil hier zusammengefasst werden. Zugleich werden die Voraussetzungen für eine außerordentliche (Verdachts-)Kündigung und das Schema für die Kündigungsschutzklage dargestellt.
Der Sachverhalt:
(nach AG Berlin, Urt. v. 21.08.2008 – 2 Ca 3632/08, BB 2008, 1954 sowie in zweiter Instanz LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.02.2009 – 7 Sa 2017/08, DB 2009, 625)
Die Kassiererin E arbeitet seit über 30 Jahren bei der Supermarktkette Kaiser’s. Der Arbeitgeber hegt den Verdacht, dass E zwei Pfandbons widerrechtlich eingelöst hat und so insgesamt 1,30 € unterschlagen oder durch Vorlage an der Kasse einen Betrug begangen hat. Für diesen Verdacht sprechen eine Reihe von Indizien: Im Supermarkt waren zwei Kundenbons (diese sind im Gegensatz zu Mitarbeiterbons nicht vorher abgezeichnet) im Wert von 0,48 € und 0,82 € gefunden und im Kassenbüro deponiert worden. Diese waren später nach einem Einkauf der E nicht mehr auffindbar. Eine andere Angestellte bestätigt, dass E bei einem Einkauf zwei Bons eingelöst hatte, von denen einer 0.48 € betrug und nicht abgezeichnet war. Ein „E-Journal“, das alle eingelösten Bons dokumentiert, bestätigt diese Vorgänge und auch, dass zeitgleich ein Bon im Wert von 0,82 € eingelöst wurde. Der Arbeitgeber K entlässt E nach weiteren Nachforschungen und einer vorherigen Anhörung, bei der sich die Vorfälle nicht definitiv aufklären ließen. Er begründet dies damit, dass er E nicht mehr als Kassiererin vertrauen könne. Außerdem müsse man in Anbetracht des großen Schadensausmaßes, welches durch Diebstahl und Unterschlagung seitens der eigenen Mitarbeiter dem Unternehmen jährlich entsteht, rigoros durchgreifen und in solchen Fällen auch bei geringen Schäden null Toleranz zeigen. Die E zeigte sich im Rahmen der Anhörung und im weiteren Verfahren wenig kooperativ, zum Teil beschuldigte sie ohne irgendeinen Beweis andere Mitarbeiter  oder behauptete, dass ihre Tochter ihr die Bons zugesteckt habe und ließ diese Anschuldigungen dann später wieder fallen. Auch sonst verstrickte sie sich teilweise in Widersprüche.
Die Voraussetzungen für eine außerordentliche (Verdachts-)Kündigung:
Eine außerordentliche Kündigung (§ 626 BGB) erfordert in materieller Hinsicht neben einer wirksamen Kündigungserklärung (insoweit ist die Schriftform gem. § 623 BGB zu beachten; weiterhin lassen sich BGB AT-Probleme einstricken) vor allem einen wichtigen Grund für die Kündigung. Schließlich ist die Ausschlussfrist nach § 626 II BGB zu beachten.
Das Vorliegen des wichtigen Grundes wird dabei nach ständiger Rechtsprechung des BAG und der wohl hL in zwei Schritten geprüft: Zunächst ist zu fragen, ob der maßgebende Sachverhalt bzw. das dem Arbeitnehmer vorgeworfene Verhalten „an sich“, also generell dazu geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen. Danach ist eine umfassende Interessenabwägung des Einzefalls vorzunehmen, wobei vor allem die Schwere der Pflichtverletzung, der Verschuldensgrad, die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Alter des Arbeitnehmers, die Stellung des Arbeitnehmers im Unternehmen, etc. zu berücksichtigen sind. Bei der Interessenabwägung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, die außerordentliche Kündigung darf demnach nur ultima ratio sein, d. h. es dürfen keine milderen Mittel als zumutbare Handlungsalternative zur Verfügung stehen.
Alle Voraussetzungen und somit auch den wichtigen Grund muss der Arbeitgeber beweisen. Dies ist aber mitunter sehr schwer. Gleichwohl kann das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien so nachhaltig erschüttert sein, dass eine Fortführung der Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. In einem solchen Fall kann eine sog. Verdachtskündigung greifen. Zwar ist es richtig, dass bei einer Verdachtskündigung letztlich der die Kündigung tragende Vorwurf nicht hinreichend seitens des Arbeitgebers bewiesen werden konnte. Andererseits genügt aber auch nicht jeder vage Verdacht; vielmehr muss ein „dringender“ Verdacht vorliegen, der sich auf objektive Tatsachen und nicht bloße Unterstellungen des Arbeitgebers stützen muss. Weiterhin muss es sich um einen schwerwiegenden Verdacht handeln, so dass allein dieser das Vertrauensverhältnis derart beeinträchtigt, dass eine weitere Zusammenarbeit dem Arbeitgeber nicht mehr zugemutet werden kann. Eine Straftat kann dabei nach der Rspr. stets einen solchen Fall darstellen, auch wenn letztlich nur geringe Schäden entstanden sind. Weiterhin erfordert eine wirksame Verdachtskündigung, dass der Arbeitgeber alle zumutbaren Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, um den Sachverhalt bestmöglich aufzuklären. Insbesondere muss er dem Arbeitnehmer im Rahmen einer Anhörung die Chance geben, seinen Standpunkt darzulegen und den im Raum stehenden Verdacht zu entkräften. Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, stellt der Verdacht einen wichtigen Grund dar, eine Kündigung ist dann möglich.
Im Emmely-Fall war der übliche Vorgang (Anhörung etc.) beachtet worden. Eine Straftatsverdacht stellt auch „an sich“ einen wichtigen Grund dar (s.o.). Vor allem wird man angesichts der zahlreichen Indizien auch von einem dringenden Verdacht ausgehen können. Somit kam es im Fall maßgeblich auf die umfassende Interessenabwägung an. Insoweit betont das LAG Berlin-Brandenburg:
„In diese Interessenabwägung sind auf Seiten des Arbeitnehmers regelmäßig die Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter einzubeziehen. Auf Seiten des Arbeitgebers sind u.a. die Funktion des Arbeitnehmers im Betrieb und die Frage der Fortdauer des für das Arbeitsverhältnis notwendigen Vertrauensverhältnisses zu berücksichtigen. Auch generalpräventive Gesichtspunkte können auf Seiten des Arbeitgebers Gewicht erlangen. […] Dabei kann auch auf das Verhalten des Arbeitnehmers nach der Tatbegehung abgestellt werden, ob er beispielsweise die Tat einräumt, oder aber bei den Aufklärungsmaßnahmen des Arbeitgebers weitere Täuschungshandlungen begeht. Auf den Einzelfall bezogen war hier in der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass die Klägerin im Rahmen der arbeitgeberseitigen Aufklärung den Sachverhalt beharrlich geleugnet, den Verdacht haltlos auf andere Mitarbeiter abzuwälzen versucht hat und sich im Prozess entgegen § 138 ZPO zu maßgeblichem Sachvortrag wahrheitswidrig eingelassen hat. Dadurch war der Vertrauensverlust irreparabel geworden.“

21.04.2009/1 Kommentar/von Samuel Ju
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Samuel Ju https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Samuel Ju2009-04-21 22:31:372009-04-21 22:31:37Der „Emmely-Prozess“ – außerordentliche (Verdachts-)Kündigung wegen 1,30 € ?
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