Der „Emmely-Prozess“ – außerordentliche (Verdachts-)Kündigung wegen 1,30 € ?
Der Emmely-Prozess erregte in letzter Zeit die Gemüter und zwar nicht nur unter Juristen – sogar eine ganze Anne-Will-Talkshow wurde diesem Urteil des LAG Berlin-Brandenburg gewidmet. Das Urteil bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung des AG Berlin und damit die außerordentliche Kündigung einer Kassiererin bei Kaiser’s, welche (angeblich) Pfandbons im Wert von 1,30 € „unterschlagen“ hatte.
Die Prüfungsrelevanz dieser Entscheidung kann angesichts der ausführlichen gesellschaftspolitischen Debatte nicht hoch genug geschätzt werden, zumal die Kündigungsschutzklage und auch die Voraussetzungen für eine Verdachtskündigung noch zum Standardwissen im „Nebenfach“ Arbeitsrecht zählen dürften. Auch in der mündlichen Prüfung dürfte dieser Fall bald in beiden Staatsexamina aufkreuzen.
Deshalb soll im Folgenden der Sachverhalt und das Urteil hier zusammengefasst werden. Zugleich werden die Voraussetzungen für eine außerordentliche (Verdachts-)Kündigung und das Schema für die Kündigungsschutzklage dargestellt.
Der Sachverhalt:
(nach AG Berlin, Urt. v. 21.08.2008 – 2 Ca 3632/08, BB 2008, 1954 sowie in zweiter Instanz LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.02.2009 – 7 Sa 2017/08, DB 2009, 625)
Die Kassiererin E arbeitet seit über 30 Jahren bei der Supermarktkette Kaiser’s. Der Arbeitgeber hegt den Verdacht, dass E zwei Pfandbons widerrechtlich eingelöst hat und so insgesamt 1,30 € unterschlagen oder durch Vorlage an der Kasse einen Betrug begangen hat. Für diesen Verdacht sprechen eine Reihe von Indizien: Im Supermarkt waren zwei Kundenbons (diese sind im Gegensatz zu Mitarbeiterbons nicht vorher abgezeichnet) im Wert von 0,48 € und 0,82 € gefunden und im Kassenbüro deponiert worden. Diese waren später nach einem Einkauf der E nicht mehr auffindbar. Eine andere Angestellte bestätigt, dass E bei einem Einkauf zwei Bons eingelöst hatte, von denen einer 0.48 € betrug und nicht abgezeichnet war. Ein „E-Journal“, das alle eingelösten Bons dokumentiert, bestätigt diese Vorgänge und auch, dass zeitgleich ein Bon im Wert von 0,82 € eingelöst wurde. Der Arbeitgeber K entlässt E nach weiteren Nachforschungen und einer vorherigen Anhörung, bei der sich die Vorfälle nicht definitiv aufklären ließen. Er begründet dies damit, dass er E nicht mehr als Kassiererin vertrauen könne. Außerdem müsse man in Anbetracht des großen Schadensausmaßes, welches durch Diebstahl und Unterschlagung seitens der eigenen Mitarbeiter dem Unternehmen jährlich entsteht, rigoros durchgreifen und in solchen Fällen auch bei geringen Schäden null Toleranz zeigen. Die E zeigte sich im Rahmen der Anhörung und im weiteren Verfahren wenig kooperativ, zum Teil beschuldigte sie ohne irgendeinen Beweis andere Mitarbeiter oder behauptete, dass ihre Tochter ihr die Bons zugesteckt habe und ließ diese Anschuldigungen dann später wieder fallen. Auch sonst verstrickte sie sich teilweise in Widersprüche.
Die Voraussetzungen für eine außerordentliche (Verdachts-)Kündigung:
Eine außerordentliche Kündigung (§ 626 BGB) erfordert in materieller Hinsicht neben einer wirksamen Kündigungserklärung (insoweit ist die Schriftform gem. § 623 BGB zu beachten; weiterhin lassen sich BGB AT-Probleme einstricken) vor allem einen wichtigen Grund für die Kündigung. Schließlich ist die Ausschlussfrist nach § 626 II BGB zu beachten.
Das Vorliegen des wichtigen Grundes wird dabei nach ständiger Rechtsprechung des BAG und der wohl hL in zwei Schritten geprüft: Zunächst ist zu fragen, ob der maßgebende Sachverhalt bzw. das dem Arbeitnehmer vorgeworfene Verhalten „an sich“, also generell dazu geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen. Danach ist eine umfassende Interessenabwägung des Einzefalls vorzunehmen, wobei vor allem die Schwere der Pflichtverletzung, der Verschuldensgrad, die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Alter des Arbeitnehmers, die Stellung des Arbeitnehmers im Unternehmen, etc. zu berücksichtigen sind. Bei der Interessenabwägung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, die außerordentliche Kündigung darf demnach nur ultima ratio sein, d. h. es dürfen keine milderen Mittel als zumutbare Handlungsalternative zur Verfügung stehen.
Alle Voraussetzungen und somit auch den wichtigen Grund muss der Arbeitgeber beweisen. Dies ist aber mitunter sehr schwer. Gleichwohl kann das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien so nachhaltig erschüttert sein, dass eine Fortführung der Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. In einem solchen Fall kann eine sog. Verdachtskündigung greifen. Zwar ist es richtig, dass bei einer Verdachtskündigung letztlich der die Kündigung tragende Vorwurf nicht hinreichend seitens des Arbeitgebers bewiesen werden konnte. Andererseits genügt aber auch nicht jeder vage Verdacht; vielmehr muss ein „dringender“ Verdacht vorliegen, der sich auf objektive Tatsachen und nicht bloße Unterstellungen des Arbeitgebers stützen muss. Weiterhin muss es sich um einen schwerwiegenden Verdacht handeln, so dass allein dieser das Vertrauensverhältnis derart beeinträchtigt, dass eine weitere Zusammenarbeit dem Arbeitgeber nicht mehr zugemutet werden kann. Eine Straftat kann dabei nach der Rspr. stets einen solchen Fall darstellen, auch wenn letztlich nur geringe Schäden entstanden sind. Weiterhin erfordert eine wirksame Verdachtskündigung, dass der Arbeitgeber alle zumutbaren Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, um den Sachverhalt bestmöglich aufzuklären. Insbesondere muss er dem Arbeitnehmer im Rahmen einer Anhörung die Chance geben, seinen Standpunkt darzulegen und den im Raum stehenden Verdacht zu entkräften. Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, stellt der Verdacht einen wichtigen Grund dar, eine Kündigung ist dann möglich.
Im Emmely-Fall war der übliche Vorgang (Anhörung etc.) beachtet worden. Eine Straftatsverdacht stellt auch „an sich“ einen wichtigen Grund dar (s.o.). Vor allem wird man angesichts der zahlreichen Indizien auch von einem dringenden Verdacht ausgehen können. Somit kam es im Fall maßgeblich auf die umfassende Interessenabwägung an. Insoweit betont das LAG Berlin-Brandenburg:
„In diese Interessenabwägung sind auf Seiten des Arbeitnehmers regelmäßig die Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter einzubeziehen. Auf Seiten des Arbeitgebers sind u.a. die Funktion des Arbeitnehmers im Betrieb und die Frage der Fortdauer des für das Arbeitsverhältnis notwendigen Vertrauensverhältnisses zu berücksichtigen. Auch generalpräventive Gesichtspunkte können auf Seiten des Arbeitgebers Gewicht erlangen. […] Dabei kann auch auf das Verhalten des Arbeitnehmers nach der Tatbegehung abgestellt werden, ob er beispielsweise die Tat einräumt, oder aber bei den Aufklärungsmaßnahmen des Arbeitgebers weitere Täuschungshandlungen begeht. Auf den Einzelfall bezogen war hier in der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass die Klägerin im Rahmen der arbeitgeberseitigen Aufklärung den Sachverhalt beharrlich geleugnet, den Verdacht haltlos auf andere Mitarbeiter abzuwälzen versucht hat und sich im Prozess entgegen § 138 ZPO zu maßgeblichem Sachvortrag wahrheitswidrig eingelassen hat. Dadurch war der Vertrauensverlust irreparabel geworden.“
Viele Politiker der Regierungsparteien haben sich auf den Fall bezogen und kritisieren die Rechtsprechung, als wären sie nicht Gesetzgeber.
Das Komitee „Solidarität mit Emmely“ hat nun eine Petition gegen Verdachtskündigungen und für eine Bagatellgrenze bei Kündigungen beim Bundestag eingereicht, damit die Damen und Herren im Bundestag zeigen können, wie sie diesen Missständen abhelfen. Nachzulesen unter https://1euro30.de