Jur:Next Urteil des Monats: Je älter der Arbeitnehmer, desto erhohlungsbedürftiger…
Wir freuen uns auch heute wieder einen Beitrag aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next veröffentlichen zu können. Nachfolgend wird ein examensrelevantes Urteil des Bundesarbeitsgerichts besprochen, das auf die Alterdiskriminierung von Arbeitnehmern eingeht.
BAG Urteil vom 21.10.2014 – 9 AZR 956/12: Urlaubsdauer, Staffelung nach dem Alter der Arbeitnehmer, Diskriminierung und Ungleichbehandlung
Fundstelle: Entscheidungsdatenbank des BAG (http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&Datum=2014-10&nr=17871&pos=16&anz=30)
Problemaufriss
Das Urteil des BAG stellt die immer wieder examensrelevante Thematik der Altersdiskriminierung in den Mittelpunkt. In der vorliegenden Entscheidung geht es um die Frage, ob ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern ab 58 Jahren freiwillig zwei zusätzliche Urlaubstage gewähren darf oder ob er dadurch andere, jüngere Arbeitnehmer diskriminiert. Relevant werden dabei Normen aus dem AGG sowie der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz.
Interessant und damit examensrelevant macht dieses Urteil, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters beim Urlaub anders zu behandeln ist als bei der Kündigungsfrist: Bei § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB war lange strittig, ob diese Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt ist oder nicht. Inzwischen hat der EuGH im Jahr 2010 (Urteil EuGH vom 19.01.2010 (Rechtssache C-555/07) entschieden, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB eine nicht gerechtfertigte Altersdiskriminierung darstellt. Die Norm verstößt gegen Europarecht und ist damit unwirksam. Solange der Gesetzgeber diesen Passus der Norm nicht streicht, darf die Norm nicht angewendet werden. Das BAG ist dieser Rechtsprechung uneingeschränkt gefolgt.
Anders verhält es sich jedoch in der hier vorliegenden Entscheidung des BAG. Eine Ungleichbehandlung wegen des Alters bei der Gewährung von freiwilligem Zusatzurlaub kann gerechtfertigt und damit zulässig sein.
Leitsatz:
„Gewährt ein Arbeitgeber älteren Arbeitnehmern jährlich mehr Urlaubstage als den jüngeren, kann diese unterschiedliche Behandlung wegen des Alters unter dem Gesichtspunkt des Schutzes älterer Beschäftigter nach § 10 Abs. 3 Nr. 1 AGG zulässig sein.“
Entscheidend ist daher, dass zwar eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vorliegt. Diese ist jedoch nach § 10 Satz 1, 2 und Satz 3 Nr. 1 AGG gerechtfertigt.
Die Rechtfertigung prüft das Gericht beinahe lehrbuchmäßig anhand einer Verhältnismäßigkeitsprüfung entsprechend dem Wortlaut der Norm in § 10 AGG:
Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein.“
Die Rechtfertigung nach § 10 AGG schlägt auch auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz durch. Eine Diskriminierung liegt daher im Ergebnis nicht vor.
Sachverhalt
Streitgegenstand ist die Höhe des jährlichen Urlaubsanspruchs der Klägerin.
Die Beklagte stellt Schuhe her. Die am 10. April 1960 geborene Klägerin ist seit 1. Juli 1994 dort als Produktionsmitarbeiterin beschäftigt.
Im Arbeitsvertrag vom 13. November 2000 ist vereinbart, dass der jährliche Urlaubsanspruch 34 Tage beträgt. Die Beklagte gewährt allen AN, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, 36 Arbeitstage Jahresurlaub. Die Klägerin wollte mit der Klage feststellen lassen, dass ihr ebenfalls 36 anstatt 34 Urlaubstage zustehen.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass die Urlaubsregelung altersdiskriminierend sei. Die Behauptung, ältere AN benötigen im Produktionsbetrieb längere Erholungsphasen, sei nicht belegt. Das BUrlG stelle bezüglich der Urlaubsdauer auch nicht auf physische Belastung oder das Alter des AN ab. Außerdem gebe es keinen Grund, warum ein gesteigertes Erholungsbedürfnis ausgerechnet mit 58 Jahren entstehen soll. Mit nur 2 zusätzlichen Urlaubstagen könne ein etwaiger erhöhter Erholungsbedarf ohnehin nicht ausgeglichen werden. Bei einem stetig steigenden Erholungsbedarf müsse auch der Urlaub gestaffelt werden. Auch andere AN, wie z.B. junge Eltern, hätten erhöhten Erholungsbedarf, bekämen aber keinen Zusatzurlaub. Daher müsse die Beklagte ihr zwei weitere Urlaubstage gewähren.
Die Beklagte beantragte Klageabweisung. Die Regelung sei nicht diskriminierend. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung benötigen ältere AN, gerade wenn sie körperlich anstrengende, ermüdende Arbeiten verrichten, längere Erholungsphasen. Zwei zusätzliche Urlaubstage seien angemessen.
Das Arbeitsgericht hat die Feststellungsklage abgewiesen, das LAG hat die Berufung der Klägerin zurück gewiesen. Beide Gerichte sahen keine Diskriminierung. Das BAG hat die Revision der Klägerin im Ergebnis ebenfalls zurück gewiesen.
Entscheidung des Gerichts
Das Gericht weist die zulässige Revision als unbegründet zurück, weil die Urlaubsregelung nicht gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam ist. Der Klägerin stehen nach §§ 1, 3 Abs. 1, 7 Abs.1 und Abs. 2 AGG nicht zwei weitere Urlaubstage zu. Der Urlaubsanspruch der Klägerin wird daher nicht „nach oben angepasst“.
Zwar liegt nach Ansicht des BAG auf der ersten Stufe eine Ungleichbehandlung wegen des Alters gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vor. Eine Person erfährt allein aufgrund ihres Alters eine andere, weniger günstige Behandlung als eine andere. Die Ungleichbehandlung ist auch unmittelbar, da zwischen der Benachteiligung und einem der in § 1 AGG genannten Gründe – hier dem Lebensalter – ein direkter Kausalzusammenhang besteht. Der Zusatzurlaub von zwei Tagen knüpft allein an die Vollendung des 58. Lebensjahres und damit das Lebensalter an.
Auf der zweiten Stufe bejaht das BAG jedoch eine Rechtfertigung nach § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG. Sinn und Zweck dieser Regelung ist u.a. der Schutz älterer AN. Hierbei hat der AG bei der Gewährung von freiwilligen Zusatzleistungen wie hier einen Gestaltungs- und Ermessenspielraum, der nur die Verhältnismäßigkeit nach § 10 S. 1 und 2 AGG („geeignet, erforderlich und angemessen“) einhalten muss. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH sowie dem EU-Recht.
Die Regelung der Beklagten dient allein dem Schutz älterer AN. Durch die zwei zusätzlichen Urlaubstage soll ihrem gesteigerten Erholungsbedürfnis Rechnung getragen werden. Das Gesetz normiert jedoch nicht, wann ein AN „älter“ und damit schutzbedürftiger ist. Fraglich ist daher, ab wann genau der AN aufgrund seines Alters des besonderen Schutzes bedarf.
Das BAG ist 2012 in einer anderen Entscheidung bereits davon ausgegangen, dass bei AN zwischen 50 und 60 ein altersbedingt gesteigertes Erholungsbedürfnis „eher nachvollziehbar“ sei (BAG 20.03.2012 – 9 AZR 529/10).
Die Vorinstanz ist entsprechend der h.M. davon ausgegangen, dass ein steigendes Erholungsbedürfnis im Alter per se ein belastbarer Erfahrungssatz sei. Dagegen wird u.a. die Individualität der Alterungsprozesse eingewandt. Nicht jeder AN ist pauschal ab einem bestimmten Alter erholungsbedürftiger oder kränklicher. Ferner unterscheide auch das BUrlG nicht nach dem Lebensalter. Der Gesetzgeber gehe also auch nicht von einem unterschiedlichen Erholungsbedürfnis aus.
Das BAG schließt sich der Ansicht der h.M. sowie der Vorinstanz an. Erfahrungssätze sind zulässige Hilfsmittel der Tatsacheninstanzen. Zwischen Alter und Krankheitsanfälligkeit gibt es einen Wirkungszusammenhang. Auf dieser Erkenntnis beruhen sämtliche privaten und öffentlichen Systeme der Kranken-, Renten- und Lebensversicherung.
Wenn ein solcher Erfahrungssatz nicht greift oder passt, müssten die Gerichte Sachverständige heranziehen. Hier sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz kein Sachverständigengutachten zu der Frage, dass das Erholungsbedürfnis im Betrieb der Beklagten mit zunehmendem Alter steigt, eingeholt hat.
Die Vorinstanz hatte nämlich überdies festgestellt, dass im Betrieb der Beklagten körperlich anstrengende Arbeiten zu verrichten waren. Bei körperlich anstrengenden Arbeiten gesteht sogar die Gegenmeinung zu, dass ein Zusammenhang zwischen Alter und Erholungsbedürftigkeit bzw. Krankheitsanfälligkeit besteht. Daher durfte das Gericht vom allgemeinen Erfahrungssatz, dass mit zunehmendem Alter bei körperlich anstrengenden Arbeiten das Erholungsbedürfnis steigt, ausgehen.
Das Argument auf die fehlende Altersstaffelung in § 3 BUrlG greift nach Ansicht des BAG nicht durch, weil hier nur das unterste Maß geregelt sei.
Die Regelung der Beklagten ist nach Ansicht des BAG auch geeignet, den Schutz älterer AN zu fördern. Die Geeignetheit ist nicht zu verneinen, nur weil der zusätzliche Urlaub von 2 Tagen den gesteigerten Erholungsbedarf nicht vollständig, sondern nur partiell ausgleicht. Es handelt sich hier um eine freiwillige Leistung des AG, bei der er einen Ermessensspielraum hat.
Die Regelung ist auch erforderlich und angemessen. Mildere Mittel sind nicht ersichtlich. Zwar könnte die Beklagte kostenneutral z.B. auch einen zusätzlichen Urlaubstag ab einer niedrigeren Altersgrenze (z.B. 40) gewähren. Es liegt jedoch im Gestaltungsermessen des AG, welche Regelung er hier zum Schutz älterer AN treffen möchte.
Das Argument, dass auch jüngere Menschen z.B. mit kleinen Kindern erhöhten Erholungsbedarf haben, hilft nicht. Denn es ist dem AG nicht zumutbar, für jeden AN individuell, nach seiner momentanen Lebenssituation, einen jeweiligen Urlaubsanspruch zu gewähren. Dies wäre nach Ansicht des BAG nicht mehr praktikabel. Der AG darf daher in einer typisierenden Betrachtung im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes den Schutz älterer AN fördern.
Auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ergibt nichts anderes. Die Klägerin hat auch daraus keinen Anspruch auf zwei weitere Urlaubstage. Denn wenn wie hier eine Rechtfertigung nach § 10 AGG vorliegt, muss dies auch auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz „durchschlagen“. Eine sachwidrige Ungleichbehandlung liegt daher auch hier nicht vor.
Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung des Gerichts überzeugt. Das BAG bejaht zwar eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters, nimmt aber eine Rechtfertigung zum Schutz älterer AN nach § 10 AGG an. Das BAG prüft die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nach dem AGG streng am Gesetzestext in Form einer ausführlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Alle Argumente der Klägerin, die eine Altersdiskriminierung stützen sollen, widerlegt das Gericht der Reihe nach in seiner Entscheidung.
Interessant ist auch die umstrittene Frage, wann ein Erfahrungssatz herangezogen werden darf und wann ein Sachverständigengutachten einzuholen ist. Auch diese Streitfrage legt das BAG lehrbuchmäßig dar.
Die Entscheidung zeichnet insgesamt eine sehr leichte Lesbarkeit aus. Die Urteilsbegründung ist aus sich heraus sehr gut verständlich. Daher kann diese Entscheidung gut beim Durcharbeiten des sehr examensrelevanten AGG herangezogen werden.
Examensrelevanz
Die Entscheidung hat Examensrelevanz. Zum einen, weil das AGG nach wie vor per se „prüfungsgefährlich“ ist. Zum anderen liegt hier im Unterschied zu § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB der Fall einer gerechtfertigten Ungleichbehandlung wegen des Alters vor. Bei der Gewährung von Zusatzurlaub kann wie im vorliegenden Fall eine Unterscheidung nach dem Alter erfolgen, ohne dass eine Altersdiskriminierung vorliegt. Bei der Berechnung der Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB liegt dagegen eine Altersdiskriminierung vor, die Norm muss daher unangewendet bleiben.
Allein diese Unterscheidung von Altersdiskriminierung bei Berechnung der Kündigungsfrist und Urlaub sowie die damit verbundene „Verwechslungsgefahr“ machen dieses Urteil des BAG examensrelevant.
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