Keine Eigenbedarfskündigung zugunsten eines Cousins
Es ist wohl der Albtraum eines jeden Mieters: Der Vermieter kündigt die Wohnung wegen Eigenbedarf. Ob Eigenbedarf aber auch dann vorliegt, wenn die Kündigung erfolgt, damit der Cousin des Vermieters die Wohnung nutzen kann, hatte nun der BGH zu entschieden (BGH, Urteil vom 10.07.2024 – VIII ZR 276/23).
Das BGH-Urteil stellt unser Gastautor Micha Mackenbrock nachfolgend vor. Er hat an der Universität Bonn Rechtswissenschaften studiert und das erste Staatsexamen abgeschlossen. Nun ist er Mitarbeiter in einer mittelständigen Anwaltskanzlei und widmet sich seinem Promotionsvorhaben im Arbeitsrecht.
I. Der Sachverhalt
1. Die Ausgangslage
Der Beklagte ist seit 2009 Mieter einer Wohnung in Berlin. Die Klägerin ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Deren Gesellschafter sind zwei Cousins. 2014 erwarb die GbR das Eigentum an dem Gebäude, in welchem sich die vom Mieter bewohnte Wohnung befindet. 2021 sprach die GbR dann eine Kündigung wegen Eigenbedarf aus. Einer ihrer Gesellschafter wolle die Wohnung selbst nutzen.
2. Die Kündigung
Der Mieter hält die Kündigung für unwirksam und weigert sich, die Wohnung zu räumen. Er beruft sich auf die Kündigungsbeschränkung nach § 577a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 2 der Kündigungsschutzklausel-Verordnung des Landes Berlin. Gemäß diesen Bestimmungen darf eine Personengesellschaft, die erst nach der Vermietung Eigentümer einer Wohnung wurde, eine Kündigung aus berechtigtem Interesse nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 oder 3 BGB, wie etwa wegen Eigenbedarfs, frühestens zehn Jahre nach dem Erwerb aussprechen. Eine Ausnahme besteht nach § 577a Abs. 1a Satz 2 BGB jedoch, wenn die Gesellschafter beim Erwerb des Eigentums Familienmitglieder waren. In dem Fall ist eine Eigenbedarfskündigung schon früher zulässig.
Auf diese Ausnahme beruft sich die klagende GbR und verlangt die Räumung und Herausgabe der Wohnung nach §§ 546 Abs. 1, 985 BGB. Die Kündigung des Wohnraummietverhältnisses wegen Eigenbedarfs sei wirksam, denn Cousins seien Familienmitglieder im Sinne der Ausnahmevorschrift. Das würde erst recht gelten, wenn sich Cousins besonders nahe stehen, was hier der Fall sei.
II. Die Entscheidung des BGH
Der BGH meint, dass Cousins nicht als Familienangehörige im Sinne des § 577a Abs. 1a Satz 2 BGB anzusehen sein. Das gelte auch für § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Der Begriff „Familie“ sei sowohl im Sprachgebrauch unter Juristen, als auch unter Laien, unbestimmt und nicht einheitlich definiert. Auch der Gesetzgeber habe sich bei der Einfügung des § 577a BGB durch das Mietrechtsänderungsgesetz aus 2013 nicht zu dem Familienbegriff geäußert. Eine nähere Konkretisierung bleibe damit vollständig der Rechtsprechung überlassen.
1. Unbeachtlichkeit eines besonders engen Verhältnisses
Laut dem BGH könnten als Konkretisierung des Begriffs der Familienangehörigen die Regelungen über ein Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen (§ 383 ZPO, § 52 StPO) herangezogen werden. Das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen würde immer gelten – unabhängig davon, ob tatsächliche eine enge Beziehung und persönliche Bindung besteht. Demzufolge sei das enge Verhältnis der beiden Cousins auch im Rahmen der §§ 573 Abs. 2 Nr. 2, 577a Abs. 1a Satz 2 BGB nicht zu berücksichtigen.
2. Ohne Zeugnisverweigerungsrecht auch keine Familienangehörigkeit
Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 383 ZPO und § 52 StPO gilt für Ehepartner, Verlobte und für Verwandte und Schwager in gerade Linie, nicht aber für Cousins. Demnach könnten Cousins auch nicht als Familienmitglieder im Sinne von §§ 573 Abs. 2 Nr. 2, 577a Abs. 1a Satz 2 BGB gelten.
„Als Familienangehörige oder als Familie im Sinne von § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB und § 577a Abs. 1a Satz 2 BGB sind ausschließlich diejenigen Personen anzusehen, denen ein Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen gemäß § 383 ZPO, § 52 StPO zusteht“ (BGH, Urteil vom 10.07.2024 – VIII ZR 276/23, Rn. 34).
Die Privilegierung von Familienangehörigen in den §§ 573 Abs. 2 Nr. 2, 577a Abs. 1a Satz 2 BGB soll dem Umstand Rechnung tragen, dass innerhalb einer Familie aufgrund enger Verwandtschaft üblicherweise ein persönliches Verhältnis von Verbundenheit und gegenseitiger Solidarität besteht, welches eine Kündigung zugunsten von Familienmitgliedern rechtfertigt. Die gesetzliche Privilegierung von Familienangehörigen beruht auf der Annahme einer typischerweise vorliegenden besonderen persönlichen Nähe, die aus der familiären Beziehung resultiert. Daher sei kein zusätzliches, tatsächliches Näheverhältnis erforderlich. Damit scheide aber auch eine Ausweitung des geschützten Personenkreises aufgrund einer individuellen besonderen persönlichen Bindung aus, da das Gesetz bewusst auf einer typisierenden Betrachtungsweise abstellt.
Beispielsweise besteht das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 ZPO, § 52 StPO auch dann, wenn Bruder und Schwester eine tiefe Abneigung füreinander hegen. Denn das Gesetz stellt darauf ab, dass typischerweise eine besonders enge Bindung zwischen Geschwistern vorliegt. Cousins hingegen haben typischerweise keine besonders enge Bindung, welche etwa mit der Bindung zwischen Ehepartnern, Geschwistern oder Eltern zu ihren Kindern verglichen werden könnte. Wenn das im Einzelfall einmal anders ist, ist das im Rahmen des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 383 ZPO, § 52 StPO nicht zu berücksichtigen. Das gleiche gilt für den Familienbegriff aus den §§ 573 Abs. 2 Nr. 2, 577a Abs. 1a Satz 2 BGB.
„Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber im Rahmen des von ihm verfolgten Regelungsziels das subjektive Kriterium einer im Einzelfall vorliegenden besonderen Nähebeziehung als Merkmal für die Bestimmung des von dem Begriff Familie umfassten Personenkreises für bedeutsam gehalten haben könnte, bestehen (…) nicht. Von daher gesehen ist auch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber (…) bei Verwandten für die Gewährung der Privilegierung eine Differenzierung zwischen engen Verwandten, die unabhängig von dem tatsächlichen Vorliegen einer persönlichen Nähebeziehung privilegiert werden sollten, und entfernteren Verwandten, die nur bei bestehender besonderer persönlicher Verbundenheit von der Privilegierung umfasst sein sollten, vor Augen hatte“ (BGH, Urteil vom 10.07.2024 – VIII ZR 276/23, Rn. 40).
3. Anwendbarkeit der Regelungen im Mietrecht
Der BGH führt aus, dass eine Definition des Familienbegriffs im BGB fehle. Der Gesetzgeber hat den Begriff im BGB auch nicht näher umrissen. Jedoch habe er eine solche Bewertung im Rahmen des Zeugnisverweigerungsrechts aus persönlichen Gründen getroffen. Das Zeugnisverweigerungsrecht beruhe, ebenso wie die Privilegierung in den §§ 573 Abs. 2 Nr. 2, 577a Abs. 1a Satz 2 BGB, auf einer typischerweise vorliegenden persönlichen Nähebeziehung. Somit seien die Wertungen aus § 383 ZPO und § 52 StPO im Rahmen der Eigenbedarfskündigung heranzuziehen.
4. Ergebnis
Da die beiden Cousins nicht als Familienmitglieder im Sinne von § 577a Abs. 1a Satz 2 BGB anzusehen seien, gilt weiterhin § 577a Abs. 1, 1a Satz 1, Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 2 der Kündigungsschutzklausel-Verordnung des Landes Berlin. Eine Eigenbedarfskündigung durch die GbR kann somit erst nach Ablauf von zehn Jahren nach Eigentumserwerb erfolgen. Ein Räumungs- beziehungsweise Herausgabeanspruch nach §§ 546 Abs. 1 BGB, 985 BGB gegenüber dem Mieter besteht somit nicht.
II. Fazit
Das Urteil des BGH ist nachvollziehbar. Die generalisierende Betrachtung für die Eigenbedarfskündigung verschafft Mietern Rechtssicherheit und Planbarkeit. Auch werden dadurch die Gerichte entlastet, denn sie müssen sich nicht damit beschäftigen, ob in Einzelfällen eine persönliche Nähebeziehung vorliegt.
Könnte gekündigt werden, wenn ein Gesellschafterteil vorläufig an ein Elternteil übertragen wird und später wieder zurückübertragen wird?