Eine Studie der deutschen Antidiskriminierungsstelle des Bundes “Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz” aus dem Jahr 2015 kommt zu dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der Befragten schon einmal sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt war. Ein erschreckender Befund, doch was genau hat das AGG damit zu tun? Dieser Frage widmet sich unser Gastautor Moritz Augel. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz hat gem. § 1 AGG das Ziel Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Zahlreiche Phänomene, in denen das AGG thematisiert wird, wie etwa die Ablehnung der Einstellung von Menschen mit Behinderung, die Kündigung einer Muslima, weil sie ein Kopftuch trägt, oder Altershöchstgrenzen für den Berufseinstieg, etwa bei der Feuerwehr, sind vielen bekannt. Wohl die wenigsten jedoch assoziieren das AGG mit sexuellen Belästigungen.
Ein Fall der sexuellen Belästigung im Rahmen einer Betriebsfeier, über den kürzlich das Arbeitsgericht Siegburg (Urt. v. 24.7.2024 – 3 Ca 387/24) zu entscheiden hatte, gibt Anlass einen Blick auf § 3 Abs. 4 AGG zu werfen.
I. Tatbestand des § 3 Abs. 4 AGG:
Eine sexuelle Belästigung ist eine Benachteiligung in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.
Sexuelle Belästigung kann viele Formen haben und das AGG erfasst diese Weite: Sowohl körperliche Berührungen – etwa Streicheln, Tätscheln oder Küssen – als auch verbale Belästigungen – etwa in Form von zweideutigen Kommentaren, anzüglichen Bemerkungen oder gar Aufforderungen zu sexuellen Handlungen – stellen eine sexuelle Belästigung dar. Auch non-verbale Belästigungen in Form von anzüglichen Blicken, Gesten oder Hinterherpfeifen sind vom Tatbestand erfasst (vgl. Blattner, DB 2019, 487 (488)).
Stets muss ein „sexuell bestimmtes Verhalten“ vorliegen. Das bedeutet, dass ein Sexualbezug gegeben sein muss, also das Geschlechtliche des Menschen in den Vordergrund gestellt wird, wobei ein großzügiger Maßstab anzulegen ist. Der Gesetzgeber hat insoweit in Betracht kommende Tatbestandsalternativen beispielhaft (mithin nicht abschließend) aufgezählt (Horcher, BeckOK BGB, § 3 AGG, Rn. 71).
Das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit erfordert nicht, dass die Betroffenen ihre ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht haben. Vielmehr genügt es, wenn die Unerwünschtheit objektiv erkennbar war (vgl. BAG, Urt. v. 9.6.2011 – 2 AZR 323/10). Auch erfordert das „Bewirken“ kein vorsätzliches Handeln. Es genügt der bloße Eintritt der Belästigung (BAG, Urt. v. 9. 6. 2011 − 2 AZR 323/10).
Wesentlicher Unterschied zur „einfachen Belästigung“ in § 3 Abs. 3 AGG ist, dass das von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen und Beleidigungen gekennzeichnete Umfeld nicht Voraussetzung, sondern lediglich unwiderlegbares Indiz einer die Würde verletzenden Verhaltensweise ist, so dass eine einmalige Handlung den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllen kann (vgl. BAG Urt. v. 20.5.2021 – 2 AZR 596/20).
II. Pflichten des Arbeitgebers:
1. Vorbeugende Maßnahmen
Der Arbeitgeber muss seine Beschäftigten vor Benachteiligungen und sexuellen Belästigungen schützen. Dies ergibt sich nicht nur aus § 12 Abs. 1 AGG iVm § 3 Abs. 4 AGG, sondern folgt bereits aus den allgemeinen Schutz- und Fürsorgepflichten, die jeden Arbeitgeber aufgrund des Arbeitsvertrags treffen (Benkert, NJW-Spezial 2018, 690 (690)). Die allgemeinen Schutz- und Fürsorgepflichten gelten jedoch auch gegenüber der beschuldigten Person, sodass es keine Vorverurteilung geben darf (Benkert, NJW-Spezial 2018, 690 (690)).
Allerdings fordert § 12 Abs. 1 AGG, dass der Arbeitgeber organisatorisch darauf hinwirkt, dass solche Belästigungen unterbleiben. Kommt es gleichwohl zu einer sexuellen Belästigung, muss sich der Arbeitgeber die Frage gefallen lassen, ob seine bisherigen Maßnahmen ausreichend waren. Insbesondere dann, wenn es bereits in der Vergangenheit zu ähnlichen Vorfällen gekommen ist. Eine nicht pflichtgemäße Reaktion kann dazu führen, dass er sich gegebenenfalls selbst schadensersatzpflichtig macht (§ 15 AGG) (vgl. Benkert, NJW-Spezial 2018, 690 (690)).
2. Maßnahmen im Falle eines Verstoßes
Der Arbeitgeber hat im Falle eines Verstoßes die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung zu ergreifen. Ausdrücklich nennt das Gericht auch die Möglichkeit der Kündigung (§ 12 Abs. 3 AGG). Wie sich aus der vollständigen Aufzählung: „Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung“ ergibt, gilt jedoch auch hier das Ultima-ratio Prinzip (vgl. Benkert, NJW-Spezial 2018, 690 (690)).
III. Rechtsfolgen einer sexuellen Belästigung:
Eine sexuelle Belästigung iSv § 3 Abs. 4 AGG stellt nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar. Sie ist „an sich“ als wichtiger Grund iSv § 626 Abs. 1 BGB geeignet und kann damit eine fristlose Kündigung begründen (vgl. BAG, Urt. v. 29.6.2017 – 2 AZR 302/16).
Wiederholung: Schema des § 626 Abs. 1 BGB.
Folgerichtig führte daher der Klaps auf den Po, sowie das Festhalten einer Kollegin gegen ihren erkennbaren Willen, trotz vorheriger Abmahnung wegen unflätigen Verhaltens, in dem eingangs geschilderten Fall des Arbeitsgericht Siegburg zur fristlosen Kündigung, die erstinstanzlich für rechtmäßig erklärt wurde.
Dies gilt im Übrigen auch, wenn die sexuelle Belästigung außerhalb der Arbeitszeit erfolgt, sofern dies negative Auswirkungen auf den Betrieb oder einen Bezug zum Arbeitsverhältnis hat (LAG Niedersachsen, Urt. v. 28.2.2024 – 2 Sa 375/23) (vertiefend zum Erfordernis des Bezugs zum Beschäftigungsverhältnis: Horcher, BeckOK BGB, § 3 AGG, Rn. 74). Ebenfalls kann bereits der Verdacht einer erheblichen sexuellen Belästigung unter den allgemeinen Voraussetzungen einer Verdachtskündigung eine Entlassung rechtfertigen (BAG Urt. v. 26.9.2013 – 8 AZR 1026/12).
Jedoch sind stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Bei erstmaligen und einmaligen Entgleisungen ist auch der Ausspruch einer Abmahnung in Betracht zu ziehen (BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13). Hingegen bedarf es einer solchen Abmahnung nicht, wenn das Verhalten besonders schwer wiegt, etwa weil es gegenüber einer hierarchisch nachgeordneten Mitarbeiterin erfolgt und es wiederholt zu Vorfällen dieser Art kam (LAG Köln, Urt. v. 2.3.2018 – 6 Sa 952/17).