Das juristische Staatsexamen im Öffentlichen Recht aus der Perspektive des Prüfers – Teil 3/4
Der Verfasser ist u. a. seit 2013 als Korrektor für den Klausurenkurs bzw. für das schriftliche/gecoachte Probeexamen im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Universität Bonn sowie seit 2021 als nebenamtliches Prüfungsmitglied für das Erste und Zweite Juristische Staatsexamen bei dem Landesprüfungsamt für Juristen Rheinland-Pfalz tätig.
Fortsetzung des Artikels vom 17.02.2024.
Hinweise zur Prüfung der Begründetheit
In der Regel wird die Klausurbearbeitung mindestens eine Prüfung der Begründetheit eines Antrages oder einer Klage zum Inhalt haben, wobei nicht immer zwangsläufig schematisch exakt, dafür aber ausführlicher argumentiert werden muss, sodass an dieser Stelle die meisten Bewertungspunkte verteilt werden. Immerhin lassen sich auch für den schwerpunktmäßigen Prüfungsbereich der Begründetheit einige typische Examensfehler identifizieren, die es unbedingt zu vermeiden gilt.
Obersatz
Als Einleitung und Hinweis für die weitere Prüfung kommt dem Obersatz gerade an dieser Stelle eine große Bedeutung zu, weil damit dem Korrektor signalisiert werden sollte, was im weiteren Verlauf des Gutachtens geprüft wird. Für die Begründetheit sollte hier der rote Faden beginnen, an dem sich der Korrektor im weiteren Verlauf “entlanghangeln“ kann.
Rechtsgrundlagen
Die wenigen üblicherweise relevanten Rechtsgrundlagen sind Ausgangspunkt der Prüfung einer jeden Begründetheit. Kommen mehrere Rechtsgrundlagen in Betracht, ist im Vorfeld zu prüfen, welche davon im vorliegenden Fall anzuwenden ist, bevor die formelle und materielle Rechtmäßigkeit einer Maßnahme auf Grundlage eben dieser Rechtsgrundlage geprüft wird. Bei belastenden Maßnahmen ist immer ein Wort zum Rechtsstaatsprinzip und als Ausdruck davon zum Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verlieren. Bei der Anwendung von Rechtsgrundlagen zeigt sich vielfach, dass mit Blick auf die angewendeten Normen zum einen keine korrekte Trennung zwischen der Tatbestandsseite sowie der Rechtsfolgenseite stattfindet, und zum anderen zwischen den einzelnen Tatbestandvoraussetzungen nicht sauber differenziert wird und so folglich keine sachgerechte Subsumtion stattfinden kann.
Prüfungsmaßstab
Noch bevor die Rechtmäßigkeit einer irgendwie gearteten staatlichen Maßnahme geprüft wird, sollte nicht vergessen werden, dass gegebenenfalls zuerst noch der einzelne Prüfungsmaßstab klarzustellen ist, insbesondere bei verfassungsprozessualen Klausuren, z. B. der Hinweis bei der Urteilsverfassungsbeschwerde, dass das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist. Mindestens notwendige Stichworte zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO lauten: Eigenständige Interessenabwägung des Gerichts und summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache.
Definitionen
Ein absolutes Muss ist die sichere Kenntnis über die einschlägigen Definitionen oder die Bedeutung gerade von im Verfassungsrecht besonders relevanten Begriffen, denn sonst kann eine fundierte Subsumtion, auf die im Öffentlichen Recht besonderen Wert gelegt wird, nicht erfolgen. Beispielhaft dazu sei die Verhältnismäßigkeitsprüfung angeführt, denn hier ist zunächst zu definieren, wann eine Maßnahme verhältnismäßig ist und was unter den aufgeführten Merkmalen zu verstehen ist. Beispiel:
Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn diese zur Erreichung eines legitimen Zieles geeignet, erforderlich sowie angemessen ist. Als legitime Zwecke kommen […] in Betracht. […]. Die Geeignetheit verlangt die Förderung des gewünschten Erfolges und die Möglichkeit der Zweckerreichung. […]. Die Erforderlichkeit einer Maßnahme ist nicht gegeben, wenn der Behörde ein gleich wirksames, aber für den Adressaten weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht. […]. Angemessen ist eine Maßnahme, wenn diese den Adressaten bei einer Gesamtabwägung der kollidierenden Rechtsgüter nicht übermäßig oder unzumutbar belastet. […].
Auslegung
Vor allem im Öffentlichen Recht ist stellenweise eine an dem klassischen Auslegungskanon orientierte, methodische Herangehensweise gefragt, wie z. B. bei der Frage nach einem materiellen Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Aus diesem Grunde müssen die Methoden der grammatikalischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung verinnerlicht werden, denn die weitere Argumentation ist sinnvoll hierauf zu beziehen.
Analogien
Gerade im Hinblick auf Examensklausuren im Bereich des Öffentlichen Rechts können unbekannte Fallkonstellationen und -gestaltungen auftreten, die sich zum Teil nur mit dem Ziehen von vergleichbaren Wertungen oder mit dem Herstellen von Analogien zu regelmäßig bekannten Grundsätzen lösen lassen. Fundierte Ideen können hier Goldwert sein und den Korrektor veranlassen, ins “oberste Bewertungsregal“ zu greifen, da in solchen Fällen auch vieles vertretbar ist. Dennoch schadet es nicht, die Rechtsprechung sogar zu eher exotisch anmutenden Entscheidungen zumindest in groben Zügen zu kennen.
Schwerpunktsetzung
Insbesondere bei Klausuren im Öffentlichen Recht werden Examenskandidaten mit verschiedenen Begehren und Argumenten der beteiligten Personen sowie staatlichen Stellen konfrontiert, welche streng auseinanderzuhalten sind und vollständig im Gutachten wiederzufinden sein sollten. In der Regel lässt sich schon durch eine intensive Lektüre des Sachverhalts und aufgrund des dort ausgeführten Vorbringens der Beteiligten der Schwerpunkt der späteren gutachtlichen Prüfung entnehmen, während irrelevante oder gar irreführende Aussagen eher die Ausnahme bilden. Die dort ausgeführten Rechtsansichten sind zwar nicht eins zu eins zu übernehmen, doch können diese zumindest bei einer Abwägung wertvolle Hilfe leisten. Im Übrigen kommt es auf ein mittels Fallübung antrainiertes Gespür des Bearbeiters an, wo im Einzelnen die jeweiligen Klausurschwerpunkte innerhalb der gutachtlichen Prüfung an entsprechender Stelle zu verorten sind. Schwerpunktsetzung bedeutet damit, unproblematische Punkte kurz aber sachgerecht und vielerorts mit auswendig gelernten Formulierungen abzuhandeln, während die im Sachverhalt aufgeworfenen und noch unklaren Streitfragen ausführlich zu diskutieren sind, dabei allerdings einer eindeutigen Lösung zugeführt werden müssen. Sofern der Sachverhalt vermeintlich wichtige Informationen schuldig geblieben ist, verbietet sich aber eine Sachverhaltsüberdehnung bzw. Sachverhaltsquetschung. Gleichsam sollten bekannte Probleme nicht in die Lösung hineininterpretiert werden, nur um den Korrektor zu zeigen, dass man eben dieses Problem besonders gut beherrscht, obwohl es mit einer sachgerechten Lösung in diesem Falle nichts gemein hat. Keinesfalls schadet es, dem Korrektor eine Gewichtung zu verdeutlichen, etwa indem der Bearbeiter auf ein eher zu vernachlässigendes Problem und dessen geringe Relevanz hinweist, dieses aber ohne aufwendige Diskussion kurz und knapp löst. Diese Methodik findet der Korrektor gerade auch an manchen Stellen innerhalb der Musterlösung zu nicht zielführenden Meinungsstreitigkeiten, die lediglich akademischer Natur sind, vor. Hinsichtlich einer ausgewogenen Schwerpunktsetzung kann zuletzt recht sicher davon ausgegangen werden, dass die meisten Argumentationen auf der Rechtsfolgenseite an Stelle der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu führen sind.
Verfassungsrecht
Mit Blick auf die rechtsgebietsspezifischen Problemfelder lässt sich zunächst zum Verfassungsrecht beschreiben, dass verfassungsrechtliche Prinzipien im Grunde zu jeder Problemstellung im Staats- und Verfassungsrecht eine Rolle spielen dürften. Wer etwa die wesentlichen Inhalte zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genau kennt, dem fehlen häufig auch wertvolle Argumentationslinien, insbesondere zur Begründetheit eines Antrages. Oftmals geht aus der Erörterung etwa bei einer Verfassungsbeschwerde nicht genau hervor, was im Rahmen des Prüfungsumfanges des BVerfG, welcher im Übrigen nur bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde anzusprechen ist, unter der Verletzung spezifischen Verfassungsrechtes zu verstehen sein kann. Insofern gelingt auch die Subsumtion nicht zufriedenstellend. Zu prüfen sind im Rahmen der Begründetheit unbedingt nur die Grundrechte sowie die grundrechtsgleichen Rechte, die den Beschwerdeführer möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar betreffen könnten. Auf die Konnektivität der Beschwerdebefugnis sowie der Grundrechtsprüfung innerhalb der Begründetheit ist stets zu achten. Ebenso ist dies für die Benennung des Beschwerdegegenstandes im Fall einer Urteilsverfassungsbeschwerde zu verzeichnen, denn hier ist vielen Klausurbearbeitern oftmals unklar, dass es sich bei mehreren Exekutiv- und Judikativakten um einen einheitlichen Beschwerdegegenstand handelt, welche jedoch einzeln zu prüfen und an der Stelle des Eingriffs wieder zu thematisieren sind. Mit Blick auf den letzten Punkt ist hervorzuheben, dass die Subsumtion unter den klassischen Eingriffsbegriff leider nur selten gelingt, obwohl dieser immer wieder angeführt wird. Schwierigkeiten bereitet vielen Bearbeitern auch die Maßgabe, dass kollidierendes Verfassungsrecht im Rahmen schrankenlos gewährleisteter Grundrechte dennoch von einer einfach-gesetzlichen Regelung konkretisiert werden muss. Grundrechtskonkurrenzen werden leider nur von wenigen Klausurbearbeitern beherrscht, sodass man sich als Bearbeiter hier ganz besonders von seinen Mitstreitern absetzen kann. Beispielhaft sei hier nur das Verhältnis von Art. 5 GG zu Art. 8 GG angeführt. Ein Grundrecht mit einem spezielleren Schutzbereich verdrängt das Grundrecht, welches einen allgemeinen Schutzbereich bietet. Sofern ein Eingriff in den Schutzbereich eines speziellen Grundrechtes vorliegt, wird dadurch eine Sperrwirkung gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG entfaltet. Innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung vernachlässigen viele Bearbeiter oftmals, dass strikt zwischen der Normauslegungs- und der Normanwendungsebene zu unterscheiden ist. Auch die Begriffe „Wechselwirkungslehre“ und „praktische Konkordanz“ sind in diesem Zusammenhang nur selten bekannt. Dass die relevante Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgen muss, wird insbesondere von Anfängern nur allzu oft vergessen. In Anbetracht der Häufigkeit, mit der die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu leisten ist, ist es daher kaum verständlich, wenn diese nicht sicher beherrscht wird.
Europarecht
Zum Europarecht sollten wenigstens die Grundzüge dessen, wie beispielsweise die Wirkweise einer Richtlinie, die Voraussetzungen der gängigsten Klagearten und Grundfreiheiten sowie die Lissabon-Rechtsprechung, beherrscht werden. Es schadet auch nicht, einen Überblick über die jeweilige Struktur und die Inhalte des EU-Vertrages sowie der EU-Grundrechtecharta zu kennen. Besonders relevant wird das Europarecht allerdings deshalb, weil Einwirkung in andere Rechtsgebiete gerne geprüft werden, was sich exemplarisch bei den europarechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Rücknahme eines Bewilligungsbescheides zeigt, sodass das Europarecht selten isoliert zu betrachten ist, sondern auch in andere Rechtsgebiete, wie hier im Falle des allgemeinen Verwaltungsrechtes, einzuwirken vermag.
Staatshaftungsrecht
Das Staatshaftungsrecht ist ebenfalls zumindest in den Grundzügen zu beherrschen, was die Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs, des enteignenden und enteignungsgleichen Eingriffs, des Folgen-/Vollzugsbeseitigungsanspruchs, der öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag sowie der öffentlich-rechtlichen culpa in contrahendo einschließt, denn im Examen sind Fallkonstellationen zu eben diesen Ansprüchen nicht gänzlich unüblich, doch lassen sich gerade diese keinesfalls nur allein mit dem Gesetz lösen. Im Hinblick auf die Rechtsfolgen dieser Ansprüche muss zu den einzelnen Anspruchsgrundlagen unbedingt zwischen Schadensersatz und Entschädigung unterschieden werden.
Allgemeines Verwaltungsrecht
Das Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts ist geprägt von Prinzipien, die in die übrigen verwaltungsrechtlichen Rechtsgebiete hineinspielen, angefangen mit der Lehre vom Verwaltungsakt. Wissenslücken in diesem Bereich wirken sich fatal auf die Bewertung aus und kommen der Missachtung des Abstraktionsprinzips im Zivilrecht gleich. Ein souveräner Umgang mit den Themen zu der VA-Qualität einer Maßnahme, den Nebenbestimmungen, der actus-contrarius-Theorie, der Bekanntgabe oder der Rücknahme bzw. dem Widerruf eines VAs sind unablässig für das Gelingen einer Klausur im Verwaltungsrecht. Zu empfehlen ist eine wiederholte Gesetzeslektüre, um wenigstens eine gesicherte Normkenntnis vorweisen zu können, denn aus der systematischen Anwendung des Gesetzes heraus, lässt sich schon einiges für die Fallbearbeitung gewinnen. Dies zeigt sich etwa auch bei der immer wieder in Klausuren anzutreffenden Fristberechnung, die mittlerweile scheinbar kaum noch von Klausurbearbeitern im Ersten Staatsexamen beherrscht wird, was den Korrektor schockiert und mit völligem Unverständnis bei der Korrektur zurücklässt, obwohl dies eigentlich “im Schlaf“ beherrscht werden sollte.
Besonderes Verwaltungsrecht
Unsicherheiten und erhebliche Wissenslücken zeigen sich insbesondere im Kommunalrecht, da dieses Teilrechtsgebiet relativ selten in Klausuren abgeprüft wird. “Auf Lücke“-Lernen ist riskant und lässt sich in der Klausur gegebenenfalls nur mit einer aufmerksamen Studie der kommunalrechtlichen Regelungen überwinden, die bestenfalls nicht erst in der Klausur zum ersten Mal in Augenschein genommen werden sollten. Oftmals bieten sich vertiefte Kenntnisse gerade im Kommunalrecht an, Analogien zu ziehen, um unbekannte Fallkonstellationen zu exotischen Rechtsgebieten einer sachgerechten Lösung zuzuführen. Jedoch darf man Vergleiche nicht übereifrig bemühen. Beispielsweise ist die Abwägungsfehlerlehre im Bauplanungsrecht nicht mit der allgemeinen Ermessensfehlerlehre zu verwechseln, auch wenn sich hier gewisse Ähnlichkeiten zeigen. Überhaupt ist im Bereich des Baurechtes stets sauber zu differenzieren, vor allem zwischen dem Bauordnungs- und Bauplanungsrecht. Immer wieder zeigen sich auch Schwächen im Bereich der Vollstreckungsvoraussetzungen, obwohl die im Prinzip völlig schematischen Voraussetzungen des Normal- und des Sofortvollzuges sicher auswendig beherrscht werden sollten. Probleme im Zusammenhang etwa mit der Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides sind die mangelnde vollständige Normzitierung im Obersatz sowie Unsicherheiten hinsichtlich des verschachtelten Prüfungsaufbaus. Die Thematik rund um den Kostenbescheid bietet sich auch an, um darauf hinzuweisen, dass den Ermächtigungsgrundlagen im Gefahrenabwehrrecht eine kaum zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Die jeweils korrekte Rechtsgrundlage für eingreifende gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen muss hinreichend dargelegt werden, was eine gesicherte Kenntnis von der Materie voraussetzt. Ebenso muss die Abgrenzung von Ersatzvornahme und unmittelbarer Ausführung ausführlich bekannt sein, da Fallkonstellationen zu dieser Thematik nicht selten sind. Die Polizeifestigkeit der Versammlung wird leider häufig missachtet. Aus dem abschließenden Charakter des Versammlungsrechts als speziellem Gefahrenabwehrrecht folgt im Umkehrschluss, dass versammlungsbezogene Eingriffe allein auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes und nicht auf der Grundlage des Polizeirechts zulässig sind. Der spezielle Schutz öffentlicher Versammlungen findet dabei seine Rechtfertigung in der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen, weshalb entsprechende Freiheitsausübungen einem privilegierenden Sonderrecht unterstellt werden.
Zur Fortsetzung, siehe den Artikel vom 01.03.2024.
Wie sieht es mit Prüfung von Begründetheit im einstweiligen Rechtschutz aus o.ä.?