BVerfG: Nachträgliche Klarstellung durch Gesetzgeber als echte Rückwirkung
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten Rechtssprechung, die Annahme einer verfassungswidrigen echten Rückwirkung weiter konkretisiert. Wie wir bereits früher berichteten, ist das Rückwirkungsverbot immer von besonderer Examensrelevanz, sodass sich eine nähere Betrachtung des Urteils lohnt. Insbesondere das Sondervotum des Richter Masing liefert einige exemplarische Argumentationshilfen, die gut im Examen verwendet werden können.
1. Was ist echte Rückwirkung
Unter echter Rückwirkung versteht das BVerfG die nachträgliche Regelung eines bereits abgeschlossenen Sachverhalts. Diese ist gerade im Hinblick auf das Vertrauen des Bürgers in das geltende Recht grundsätzlich rechtswidrig, vgl. Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG.
2. Zugrunde liegender Sachverhalt
In seiner aktuellen Entscheidung befasste sich das BVerfG mit der Frage, ob § 43 Abs. 18 KAGG rechtswidrig sei. Dieser regelt die rückwirkende Anwendung des § 40 I 2 KAGG, wonach Erträge aus der Veräußerung von Bezugsrechten auf Freianteile an Kapitalgesellschaften nicht steuerfrei sind, soweit sie Kapitalerträge i.S.d. § 20 EStG sind. § 43 Abs. 18 KAGG ist allerdings durch den Gesetzgeber nachträglich eingefügt worden, um klarzustellen, dass § 8b Abs. 3 KStG auch auf Kapitalanlagegesellschaften bezieht.
3. Gründe der Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht sah in der nachträglichen Einfügung eine unzulässige echte Rückwirkung, da dieser ein konstitutiver Regelungscharakter beizumessen ist. Konstitutiv ist eine Regelung nach Ansicht des BVerfG dann, wenn
die geänderte Norm in ihrer ursprünglichen Fassung von den Gerichten in einem Sinn ausgelegt werden konnte, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte.
Da die Anwendung des § 8b Abs. 3 KStG durchaus von Gerichten angenommen worden konnte, sieht das BVerfG hier eine konstitutive Regelung.
Derartige Regelungen mit Rückwirkungscharakter sind, wie Eingangs erwägt grundsätzlich nicht zulässig. Ausnahmen können nur engen Voraussetzungen gemacht werden (auch hierzu unser Artikel). Einen Klärungsbedarf könnte der Gesetzgeber aber alleine schon aufgrund der Auslegungsfähigkeit und –bedürftigkeit des Rechts begründen. Dies hält das BVerfG aber deshalb für rechtswidrig, da dem Gesetzgeber so im „Nachhinein politische Opportunitätserwägungen“ ermöglicht werden, was dem Vertrauensschutz des Bürgers auf geltendes Recht zuwiderlaufen würde.
Ferner ergibt sich nach Ansicht des BVerfG ein solcher Zugriff auf die Vergangenheit aus dem Demokratieprinzip, da jede vom Parlament getroffene Entscheidung über eine eigene in der jeweiligen Zeit geltenden, demokratischen Legitimation verfügt, die durch nachträgliche Änderungen verwässert, wenn nicht sogar „ausgeschaltet“ werden.
a. Verworrene Rechtslage
Als taugliche Ausnahme des Rückwirkungsverbots wird vor allem auf Unklarheit bzw. Verworrenheit der bestehenden Rechtslage angesehen. Eine solche wurde durch das BVerfG allerdings nicht angenommen. Weder die uneinheitliche Rechtsprechung der Finanzgerichte noch die generelle Auslegungsbedürftigkeit einer Norm führen zu einer verworrenen Rechtslage, da sich sonst nie ein schutzwürdiges Vertrauen gegen rückwirkende Änderungen entwickeln könnte.
b. Systemwidrigkeit/Unbilligkeit
Als weitere anerkannte Ausnahme wird die Systemwidrigkeit bzw. Unbilligkeit einer Norm angesehen. Da eine zwingende, also von Verfassung wegen notwendige, Regelung der Auslegungsvarianten nicht geboten ist, wird die Systemwidrigkeit durch das BVerfG abgelehnt.
4. Folgen für die Rechtsprechung
Interessant sind auch die differenzierten Folgen für die Rechtsprechung:
Die Fachgerichte haben die hiervon betroffenen Streitfälle nach der alten Rechtslage durch Auslegung zu entscheiden. Die höchstrichterliche Klärung durch den BFH kann vorliegend ergeben, dass die Norm so zu verstehen ist, wie es der Gesetzgeber nachträglich „klarstellen“ wollte.
5. Abweichendes Sondervotum
Besonders hingewiesen sei an dieser Stelle auf das ergangene Sondervotum. Es bietet schöne Argumentationsstränge, mit der die eine oder andere Entscheidung in der Klausur schön untermauert werden kann.
Richter Masing stützt seine abweichende Meinung insbesondere auf den Sinn und Zweck des Rückwirkungsverbotes. Es schützt lediglich das Vertrauen einzelner auf das geltende Recht, ist also ein Instrument der „subjektiven Freiheitssicherung.“
Das BVerfG hat aber in seiner Begründung lediglich systemtheoretische Erwägungen angestellt. An keiner Stelle finden sich Ausführungen, die ein Vertrauen auf die alte Rechtslage begründen. Somit stützt sich die Entscheidung nur auf das „Vertrauen in einen Vorrang der Rechtsprechung“, mithin auf die Gewaltenteilung.
Ferner hält er auch funktionelle Argumente dagegen. Seiner Ansicht nach ließe eine einfache Änderung durch die Gesetzgebung auf einen Schlag Klarheit geschaffen werden, die sonst nur auf dem kosten- und zeitaufwendigen Weg durch die Instanzen erreicht werden könne.
Außerdem sollte seiner Meinung nach dem Gesetzgeber vor dem Hintergrund immer komplexer werdenden Anforderungen ein Nachbesserungsrecht zugebilligt werden.
Zuletzt führt er ein gewichtiges Argument an: Wenn nur solche (schweren) Fehler in der Gesetzgebung nachträglich durch den Gesetzgeber selbst korrigiert werden dürfen, die zur Verworrenheit bzw. Systemwidrigkeit einer Norm führen, müssten solche, weniger schwer wiegenden Fehler, doch erst Recht der gesetzgeberischen Nachbesserungskompetenz unterliegen. Genau dies wird durch das Urteil allerdings ausgeschlossen.
6. Stellungnahme
Die genau Lektüre des Urteils sowie der Grundlagen der unechten bzw. echten Rückwirkung ist dringend zum empfehlen, da hier Argumentationskompetenz aufgebaut werden kann. Deshalb lohnt es sich auch, einen Blick auf mögliche Gegenargumente gegen das Sondervotum zu werfen:
Erst eine funktionelle Gewaltenteilung ermöglicht überhaupt erst Vertrauensschutz, sodass bei allen verfassungsrechtlichen Erwägungen der Gewaltenteilung eine herausragende Rolle beigemessen werden sollte.
Gegen die funktionalen Argumente kann auf die bestehenden Ausnahmen verwiesen werden, die dem Gesetzgeber bereits einen Spielraum einräumen.
Bezüglich der Nachbesserungskompetenz bezüglich weniger schwer wiegenden Fehlern kann erwidert werden, dass eine Erweiterung der Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot zu seiner Verwässerung führen würde, wenn sich die Gesetzgebung ständig selbst dazu entschließt, vermeintliche Fehler zu korrigieren. Lediglich eine Art Evidenzkontrolle wird ihr zugebilligt, um den Bürger vor gesetzgeberischer Willkür zu schützen. Nur so kann tatsächlicher Vertrauensschutz gewährleistet werden.
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