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Schlagwortarchiv für: Wahlrechtsgrundsätze

Dr. Lena Bleckmann

Wahl-O-Mat verfassungswidrig – Entscheidung des VG Köln

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verwaltungsrecht

Nur wenige Tage vor der Europawahl in Deutschland am 26. Mai 2019 entschied das Verwaltungsgericht Köln, der allseits viel genutzte „Wahl-O-Mat“, der von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Verfügung gestellt wird, sei verfassungswidrig und dürfe daher vorerst nicht weiter betrieben werden.

Die Entscheidung gibt Anlass, die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO sowie den speziellen Anspruch politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 GG i.V.m. Art 3 GG zu wiederholen. Auch aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit kann von besonderer Prüfungsrelevanz der Entscheidung ausgegangen werden.
Was ist passiert?
Wie vor jeder größeren Wahl stellte die Bundeszentrale für politische Bildung auch zur Europawahl einen Wahl-O-Mat zur Verfügung. Hierbei kann der Nutzer zu insgesamt 38 Thesen Stellung beziehen und anschließend eine Gewichtung vornehmen, welche der Thesen ihm persönlich besonders wichtig sind. Sodann kann der Nutzer bis zu acht politische Parteien auswählen, mit denen seine Position verglichen werden soll. Das Ergebnis wird auf einer Übersichtsseite mit Zugang zu den detaillierten Antworten der einzelnen Parteien dargestellt.
Gegen dieses Anzeigeformat wendete sich nun die Partei Volt Deutschland. Diese ist seit März 2018 in Deutschland als Partei registriert und Teil der paneuropäischen Partei Volt Europa. Volt Deutschland ist – gerade im direkten Vergleich mit den etablierten Parteien – noch vergleichsweise unbekannt. Die Partei ist der Ansicht, die Auswahlmöglichkeiten und Anzeigepraxis benachteilige neue und kleine Parteien dadurch, dass lediglich acht Parteien in den direkten Vergleich miteinbezogen werden können. Es sei nicht einmal ein Vergleich mit allen zurzeit im Europaparlament vertretenen Parteien – 14 an der Zahl – möglich.
Wer sich mit mehr als acht Parteien vergleichen wolle, müsse den Vorgang mehrmals wiederholen und die jeweiligen Ergebnisse notieren. Hierunter litten in erster Linie kleinere Parteien, da Nutzer für eine schnelle Orientierung häufig nur die bereits bekannten Parteien auswählten, die auf der Anzeigeseite auch zuoberst angezeigt würden. Aufgrund der großen Bedeutung des Wahl-O-Mats für die politische Meinungsbildung begehrt Volt die Änderung dieses Anzeigeverfahrens. Nachdem die Bundeszentrale für politische Bildung selbst eine Änderung ablehnte, beantragte Volt am 15. Mai 2019 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Verwaltungsgericht Köln. (siehe zu den Gründen auch die Pressemitteilung von Volt Deutschland vom 15. Mai 2019).
Die Entscheidung des VG Köln
Das Verwaltungsgericht gab der Antragstellerin Recht: Kleinere Parteien seien durch den Anzeigemechanismus benachteiligt, wofür die Antragsgegnerin keine ausreichenden Rechtfertigungsgründe habe vorbringen können. In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es:
„Hierin sieht die Kammer eine faktische Benachteiligung kleinerer bzw. unbekannterer Parteien, zu denen auch die Antragstellerin gehöre. Dieser Anzeigemechanismus verletze jedenfalls mittelbar das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.“
Die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe seien nicht geeignet gewesen, die Verletzung der Chancengleichheit zu rechtfertigen. Der weitere Einwand der Antragsgegnerin, die Umsetzung der einstweiligen Anordnung sei technisch nicht möglich, sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden.“
(Siehe Pressemitteilung des VG Köln vom 20. Mai 2019)
 
Die Entscheidung in einer Klausur
Die Entscheidung bietet eine hervorragende Grundlage für eine Klausur im Verwaltungsrecht. Schwerpunkte dürften die Prüfung der Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sowie die Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG sein. Folgend soll ein Überblick über die wichtigsten Punkte gegeben werden. Es ist anzumerken, dass die Argumentation nicht unmittelbar der Pressemitteilung des Gerichts entnommen werden konnte, sodass in erster Linie auf die von den Parteien im Voraus vorgebrachten Argumente abgestellt wird.
Zulässigkeit
Im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist beim Prüfungspunkt „Statthafte Antragsart“ stets zu einem Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO abzugrenzen, das nur einschlägig ist, sofern sich der Antrag gegen einen adressat-belastenden Verwaltungsakt richtet. Ein solcher liegt nicht vor, sodass nur § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht kommt. Hier ist wiederum zwischen Sicherungs- und Regelungsanordnung abzugrenzen. Die Partei begehrt hier nicht nur eine bloße Zustandssicherung, sondern eine vorläufige Regelung in der Form, dass der Bundeszentrale für politische Bildung das Betreiben des Wahl-O-Mats in der jetzigen Form untersagt wird.
Im Rahmen der besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen ist die Antragsbefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog sauber herauszuarbeiten – sie liegt grundsätzlich vor, wenn der Antragsteller auch in der Hauptsache klagebefugt ist, was inzident zu prüfen ist. Hier scheint eine Verletzung von Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG nicht schlechterdings ausgeschlossen, sodass die Antragsbefugnis im Ergebnis zu bejahen ist. Bearbeiter können auch auf die Möglichkeit der Verletzung eines Anspruchs aus § 5 Abs. 1 PartG eingehen, der jedoch im Ergebnis nicht einschlägig sein dürfte, da Volt Deutschland nicht den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung begehrt.
Der richtige Antragsgegner entspricht ebenfalls dem Klagegegner in der Hauptsache. Eine Verpflichtungsklage in der Hauptsache scheidet aus, sodass sich der Klagegegner nicht aus § 78 VwGO analog, sondern aus dem Rechtsträgerprinzip als allgemeinem Prozessgrundsatz ergibt. Rechtsträger der Bundeszentrale für politische Bildung ist der Bund – mithin ist dieser auch im Rahmen des § 123 VwGO richtiger Antragsgegner.
Eine Antragsfrist ist nicht einzuhalten.
Siehe eine für ausführliche Prüfung der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die klausurmäßige Aufbereitung einer früheren Entscheidung des VG Köln zum Wahl-O-Mat: https://www.juraexamen.info/vg-koln-eilantrag-der-ddp-gegen-wahl-o-mat-abgelehnt/
 
Begründetheit – Insbesondere: Der Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit
Der Antrag ist begründet, wenn der Antragsteller Tatsachen glaubhaft macht, die einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund begründen und wenn die gewünschte gerichtliche Entscheidung nicht über das hinausgeht, was der Antragsteller im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verlangen kann.
Schwerpunkt der Prüfung ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Dieser kann sich aus einer Verletzung des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.
Der sachliche Geltungsbereich dieses Rechts beschränkt sich nicht auf die Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen, sondern auf deren Tätigkeit schlechthin (vgl. Maunz/Dürig/Klein GG Art. 21 Rn. 297). Das Recht ergibt sich nach dem BVerfG „aus der Bedeutung, die der Freiheit der Parteigründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche Demokratie zukommt“ (vgl. dazu. BVerfGE 85, 264 (297)). In der Klausur bietet es sich an, die Verletzung des Rechts anhand des bekannten Aufbaus für die Prüfung der Verletzung von Gleichheitsrechten zu prüfen.
Ungleichbehandlung
Alle Parteien müssen die gleichen Chancen auf das Gehört- und Gewähltwerden haben, um ihrem Mitwirkungsauftrag an der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG nachzukommen (vgl. Gröpl/Windhorst/von Coelln/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 21 Rn. 28). Der Staat soll keinen Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen.
Gerade im Zusammenhang mit Wahlen erlangt dieser Grundsatz besondere Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht führte hierzu aus:
„Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb ist in diesem Bereich – ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen(…).“ (BVerfGE 120, 82 (105)).
Das bedeutet: Die Anforderungen an die Gleichbehandlung der Parteien durch die öffentliche Gewalt sind durch die sich aus Art. 38 Abs. 1 GG ergebenden Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verschärft – der Staat darf nichts tun, um die unterschiedlichen Wettbewerbschancen der Parteien bei Wahlen zu beeinflussen (siehe dazu BVerfGE 85, 264 (297)).
Die Anzeigepraxis des Wahl-O-Mats, bei der nur die Übereinstimmung mit jeweils acht Parteien in einem Durchgang verglichen werden kann, könnte indes eine Beeinflussung der Wettbewerbschancen darstellen. Die meisten Nutzer werden lediglich einen Vergleich vornehmen und dabei ihre Position mit den Parteien vergleichen wollen, die ihm bereits bekannt sind. Die Positionen unbekannterer Parteien bleiben dem Nutzer so unbekannt, sodass diese nicht die gleiche Chance des Gehörtwerdens erlangen. Dies wird dadurch verstärkt, dass die etablierten Parteien auf der Auswahlseite ganz oben angezeigt werden. Diese Einschätzung ändert sich nicht dadurch, dass der Nutzer die Möglichkeit hat, mehrere Vergleichsvorgänge durchzuführen. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Speicherung der Ergebnisse gestaltet sich dieses Vorgehen äußerst umständlich und dürfte nur in Einzelfällen tatsächlich stattfinden.
Mithin liegt eine Ungleichbehandlung kleinerer Parteien vor.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
An dieser Stelle ist besonders zu betonen, dass es sich bei dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit um eine streng formale Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes handelt, sodass die Ungleichbehandlung von Parteien nur aus zwingenden Gründen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann (siehe dazu ausführlich Maunz/Dürig/Klein GG Art. 21 Rn. 306 ff.).
Die Rechtfertigungsgründe, die die Bundeszentrale für politische Bildung hierzu vorgebracht hat, sind im Einzelnen nicht bekannt. Das VG Köln beschränkt sich darauf festzustellen, „die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe seien nicht geeignet gewesen, die Verletzung der Chancengleichheit zu rechtfertigen. Der weitere Einwand der Antragsgegnerin, die Umsetzung der einstweiligen Anordnung sei technisch nicht möglich, sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden“(siehe Pressemitteilung des VG Köln vom 20. Mai 2019).
Volt Deutschland argumentierte insbesondere, dass dem Wahl-O-Mat vergleichbare Dienste gewährleisteten, dass die Positionen aller Parteien gleichermaßen zugänglich seien: „Denkbar wäre, dass den Nutzer*innen einfach alle 41 zur Wahl stehenden Parteien angezeigt werden. Das wäre wohl die fairste und beste Lösung, die auch bereits von anderen vergleichbaren Diensten genutzt wird“ (siehe Pressemitteilung von Volt Deutschland vom 15. Mai 2019).
Diese Argumentation scheint das VG Köln zu folgen. Ein zwingender Grund für die Ungleichbehandlung besteht nicht. Mithin ist das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG verletzt. Ein Anordnungsanspruch besteht.
Anordnungsgrund
Die besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich unproblematisch aus der unmittelbar bevorstehenden Europawahl.
Keine Vorwegnahme der Hauptsache
An dieser Stelle des Gutachtens sollte der Bearbeiter stets betonen, dass die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich nicht dazu führen soll, dass der Antragsteller bereits alles Erwünschte erreicht hat, sodass das Verfolgen der Hauptsache überflüssig würde. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dort zu machen, wo dem Antragsteller bei Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare Nachteile drohen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. So gestaltet es sich hier: Wenngleich die Partei mit der Abschaltung bzw. Änderung des Anzeigeformats des Wahl-O-Mats bereits alles erreicht hat, was sie erreichen wollte, so würden ihr bei einem Verweis auf das Abwarten der Hauptsache unzumutbare Wettbewerbsnachteile bei der anstehenden Europawahl drohen. Insoweit ist die Untersagung des Betreibens des Wahl-O-Mats in der jetzigen Form keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.
Summa und Ausblick
Eine Fallgestaltung wie die vorliegende bietet dem Klausursteller die Möglichkeit, Grundlagen des Verwaltungs- und Verfassungsrechts abzuprüfen und dem Bearbeiter im Rahmen der Prüfung des Anordnungsanspruchs Raum für eigene Überlegungen und Argumentation zu lassen. Fälle der Ungleichbehandlung von Parteien sind stets aktuell und ein beliebtes Prüfungsthema – sie sollten von Examenskandidaten keinesfalls vernachlässigt werden.
Insoweit ist auch auf die kürzlich ergangene Entscheidung des BVerfG zu einem Wahlwerbespot der NPD zu verweisen, siehe dazu: https://www.juraexamen.info/bverfg-keine-ausstrahlung-von-npd-wahlwerbespot/
Nachdem die Bundeszentrale für politische Bildung ursprünglich  angekündigt hatte, Beschwerde gegen den Beschluss des VG Köln einzulegen, haben sich die Beteiligten außergerichtlich geeinigt. Der Wahl-O-Mat ist nun wieder online. 

 

24.05.2019/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2019-05-24 08:10:302019-05-24 08:10:30Wahl-O-Mat verfassungswidrig – Entscheidung des VG Köln
Gastautor

Oberbürgermeisterwahl in Köln

Aktuelles, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite

Wir freuen uns Euch einen Gastbeitrag von Sebastian Nellesen veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Wissenschaftsrecht und Medienrecht bei Professor Dr. Christian von Coelln, Universität zu Köln.
I. Einführung
Nennt Ihnen ein Prüfer in der mündlichen Examensprüfung das Stichwort „Oberbürgermeisterwahl in Köln“, sollte jeder Examenskandidat in der Lage sein in einigen Sätzen dieses öffentlich – auch überregional – diskutierte Thema darzustellen. Das Kommunalwahlrecht ist in Nordrhein-Westfalen zwar nach dem JAG NRW nicht Prüfungsstoff, doch muss aufgrund der Aktualität der Thematik mit einem solchen Einstieg gerechnet werden. Daher sollten zumindest der Sachverhalt und die zentralen rechtlichen Fragestellungen bekannt sein.
II. Sachverhalt
Die (Ober-) Bürgermeister der nordrhein-westfälischen Kommunen werden auf Grundlage von § 65 Abs. 1 S. 1 GO NRW von den Bürgern gewählt. Nach der aktuellen Fassung des § 65 Abs. 1 S. 1 GO NRW beträgt die Wahlperiode fünf Jahre, zwischen 2007 und 2013 waren es sechs Jahre. Diese, zwischenzeitlich von der Wahlperiode des Rates (diese ist in § 42 Abs. 1 S. 1 GO NRW auf fünf Jahre festgelegt) abweichende Amtszeit hatte zur Folge, dass die (Ober-) Bürgermeister- und Ratswahlen nicht mehr gemeinsam durchgeführt werden konnten. Die am 25. Mai 2014 in vielen nordrhein-westfälischen Kommunen gemeinsam durchgeführten Wahlen waren nur auf Grundlage freiwilliger, freilich vom Landesgesetzgeber mit Art. 5 § 5 des Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Demokratie unterstützten Rücktritte der amtierenden (Ober-) Bürgermeister möglich. Mit dem Gesetz zur Stärkung der kommunalen Demokratie sollten die Wahlen wieder zusammengeführt werden.
Nach Art. 5 § 1 Abs. 3 des Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Demokratie wurde der 13. September 2015 als Termin für die (Ober-)Bürgermeisterwahlen in Nordrhein-Westfahlen durch den Landesgesetzgeber festgelegt (ausgenommen sind selbstverständlich die Kommunen, in denen 2014 bereits mit dem Rat die (Ober-) Bürgermeister gewählt wurden). Ausnahmsweise erfolgte die Festlegung des Wahltermins damit durch den Landesgesetzgeber selbst und nicht – wie sonst – durch das Ministerium für Inneres bzw. die Aufsichtsbehörde gemäß § 14 Abs. 1 KWahlG NRW. Da es keine spezifische Wahlaufsichtsbehörde gibt, richtet sich die Zuständigkeit nämlich nach § 120 GO NRW.
Ende August 2015, nachdem die Briefwahlen bereits angelaufen und tausende Wahlscheine versendet worden waren, wurde die Gestaltung des Wahlzettels öffentlich kritisiert (vgl. z.B. hier). Anlass dieser Kritik war die von Anlage 17c zur KWahlO NRW (der Musterstimmzettel ist dieser Anlage zu § 75c KWahlO NRW enthalten, die selbst ihre Grundlage in § 51 KWahlG NRW findet) abweichende Gestaltung des Wahlzettels; speziell die deutlich größere Darstellung des Parteinamens gegenüber den Kandidatennamen. Insbesondere die Kölner CDU als Unterstützerin der sog. „Einzelbewerberin“ (vgl. § 15 Abs. 1 KWahlG NRW) Reker, die als unabhängige Kandidaten antritt, aber durch mehrere Parteien unterstützt wird,  sah darin eine Benachteiligung der Einzelbewerber.
Die Wahlleiterin ließ daraufhin den Stimmzettel von der Bezirksregierung als Kommunalaufsicht (§ 120 GO NRW) prüfen. Diese äußerte ebenfalls Zweifel an der Rechtmäßigkeit. Die Stadt teilte daraufhin zunächst mit, dass neue Stimmzettel gedruckt würden, die bereits – per Briefwahl – abgegebenen ca. 53.000 Stimmen aber gültig blieben. Die Bezirksregierung folgte dem nicht und informierte die Stadt, dass sie diese Vorgehensweise als nicht rechtskonform bewerte. Nach Absprachen zwischen Stadt und Bezirksregierung wurde schließlich mitgeteilt, dass der 13. September 2015 als Wahltermin nicht zu halten sei. Als neuer Wahltermin wurde der 18. Oktober 2015 bzw. für eine ggf. erforderliche Stichwahl der 8. November 2015 festgelegt (vgl. die Pressemitteilung der Stadt Köln).
III. Rechtliche Bewertung
Nach der Zusammenfassung des Sachverhalts wird von Ihnen in der Regel eine rechtliche Einschätzung verlangt werden. Anhand des vorliegenden Falls können vielfältige juristische Probleme erörtert werden.
Würde man den Sachverhalt anhand des „Kölschen Grundgesetzes“, insbesondere an Art. 2 „Et kütt wie et kütt“ und Art. 3 „Et hät noch immer jod jejange“, beurteilen, wären Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Stimmzettel sicher nicht angebracht. Vermutlich wird diese Einschätzung den Prüfern aber nicht genügen, sodass der Sachverhalt anhand der allgemein gültigen Gesetze beurteilt werden muss.
Es muss zwingend erkannt werden, dass hier das Recht auf Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Demokratieprinzip) und die Gleichheit der Wahl betroffen sind (nicht auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG abstellen, da sich dieser nur auf Bundestagswahlen bezieht; Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG ist ebenso nicht einschlägig, weil sich dieser nur auf die Vertretung, also den Gemeinderat bezieht; in der LVerf NRW sind die Wahlrechtsgrundsätze ausdrücklich nur für die Landtagswahlen in Art. 31 Abs. 1 LVerf NRW normiert; Art. 78 Abs. 1 a.E. LVerf NRW spricht nur von den „gewählten Organen“; hier ist daher § 65 Abs. 1 S. 1 GO NRW einschlägig). Diese beiden Grundsätze stehen in einem engen Zusammenhang und garantieren im Wahlverfahren eine strikte Gleichbehandlung aller Wahlbewerber, unabhängig davon, ob es sich um Partei- oder Einzelbewerber handelt. Wenn in der abweichenden Gestaltung des Stimmzettels eine staatliche Beeinflussung des Wählerwillens gesehen wird, ist zusätzlich der Grundsatz der freien Wahl einschlägig.
An diesen Grundlagen muss sich auch die Gestaltung des Stimmzettels orientieren. Zwar bestimmt § 75c S. 1 KWahlO NRW das das Muster in Anlage 17c zur KWahlO NRW „maßgebend“ ist, doch führt eine Abweichung vom Muster an sich noch nicht zu einer Beeinträchtigung der o.g. Grundsätze. Wären die Kandidatennamen auf dem ursprünglichen Stimmzettel in Köln in der gleichen Schriftgröße wie die Parteinamen abgedruckt gewesen, wäre zwar ebenfalls eine Abweichung vom Muster gegeben, die aber keinen Wahlrechtsgrundsatz beeinträchtigt hätte. Dies ist erst dann der Fall, wenn der Stimmzettel zu Lasten bzw. zu Gunsten bestimmter Kandidaten umgestaltet wird. Vergleicht man das Muster aus Anlage 17c zur KWahlO NRW mit dem in Köln zunächst verwendeten Stimmzettel, sind wesentliche Unterschiede zu Lasten der Einzelbewerber erkennbar. Kandidaten- und Parteiname sind in Anlage 17c zur KWahlO NRW in gleicher Schriftgröße abgebildet.
Zwar führt nicht jede Beeinträchtigung zu einer Verletzung (sonst wären z.B. Sperrklauseln nie zulässig), doch sind an eine Rechtfertigung hohe Anforderungen zu stellen. Hier ist kein Grund ersichtlich zu Lasten der Einzelbewerber von dem maßgebenden Musterstimmzettel in Anlage 17c zur KWahlO NRW abzuweichen, sodass ein Verstoß gegeben ist. Damit durften die Stimmzettel nicht verwendet werden. Die Entscheidung, neue Stimmzettel zu drucken, war daher grundsätzlich richtig, auch wenn Medienberichten zufolge 20.000 neu gedruckte Stimmzettel auf Grund falschen Datums vernichtet werden mussten, vgl. hier hier.
Fraglich war, wie mit den ca. 53.000 bereits abgegebenen Stimmen zu verfahren war. Zumindest andenken könnte man die Möglichkeit, diese mitzuzählen. Jedoch würde eine Wahl mit zwei verschiedenen Stimmzetteln nicht den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen und das Recht auf Chancengleichheit und die Gleichheit der Wahl erheblich verletzen. Daher war die Entscheidung richtig, auch die bereits abgegebenen Stimmen nicht mitzuzählen. Dies hätte im Übrigen auch für alle später abgegebenen Stimmen auf dem alten Wahlzettel gegolten. Selbst wenn der Wählerwille eindeutig zu erkennen ist, dürfen diese nicht berücksichtigt werden, da es sich formal nicht mehr um den richtigen Stimmzettel handelt.
Stadt und Bezirksregierung haben den Weg über eine Nachwahl gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 KWahlG NRW gewählt. Dieser Weg kommt in Betracht, da im gesamten Wahlgebiet der Stadt Köln die Wahl nicht durchgeführt werden konnte bzw. nur einige Briefwahlstimmen auf rechtwidrigen Stimmzetteln abgegeben wurden. Nach § 21 Abs. 2 S. 1 KWahlG NRW muss diese spätestens fünf Wochen nach dem Tag der ausgefallenen Wahl stattfinden. Diese Frist ist mit dem Termin 18. Oktober 2015 gewahrt. § 21 Abs. 3 KWahlG NRW bestimmt zudem, dass die Nachwahl auf denselben Grundlagen und nach denselben Vorschriften wie die ausgefallene Wahl stattfindet, sofern keine Ergänzung der Wahlvorschläge erforderlich ist. Daraus folgt, dass auch nur diejenigen wahlberechtigt sind, die auch am 13. September 2015 wahlberechtigt waren. Wer am Nachwahltermin das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist entgegen § 7 KWahlG NRW nicht wahlberechtigt.
Sollte es in Köln zu einer Stichwahl (§ 46c Abs. 2 KWahlG NRW) kommen, käme es zu der besonderen Situation, dass die Amtszeit des amtierenden Oberbürgermeisters der Stadt Köln am 20. Oktober 2015 endet, bevor ein Nachfolger bestimmt wäre. Dies würde zu einer Vakanz des Oberbürgermeisterpostens führen. Die Aufgaben des Oberbürgermeisters werden in diesem Fall durch die Vertreter wahrgenommen. Vertreter im Amt für interne Angelegenheiten ist der allgemeine Vertreter gemäß § 68 GO NRW, Vertreter nach außen (Leitung der Ratssitzungen und Repräsentation, vgl. § 67 GO NRW) die erste stellvertretende Oberbürgermeisterin. Es kommt damit zur Trennung der Aufgaben, so wie dies bis 1999 üblich war (die GO NRW sah bis dahin einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor bzw. Stadt- oder Gemeindedirektor und einen ehrenamtlichen (Ober-) Bürgermeister vor). Hieraus können sich Zuständigkeitsstreitigkeiten z.B. über die Frage ergeben, welchem von beiden Vertretern das Widerspruchs- und Beanstandungsrecht gemäß § 54 GO NRW zusteht.
IV. Fazit
Die Thematik beinhaltet viele juristische Fragestellungen, die als Einstieg ins mündliche Prüfungsgespräch genutzt werden können. Sie bietet die Möglichkeit Grundlagenwissen (Wahlrechtsgrundsätze und das Recht auf Chancengleichheit) in einem eher unbekannten Rechtsgebiet abzuprüfen. Zudem können Besonderheiten der aktuellen Fallkonstellation angesprochen werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Bewertung über den Prüfungsstoff nach dem JAG NRW hinausgehen.

21.09.2015/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2015-09-21 07:30:452015-09-21 07:30:45Oberbürgermeisterwahl in Köln
Dr. Christoph Werkmeister

BVerfG zum Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht

Das BVerfG entschied heute einen äußerst examensrelevanten Problemkreis (Az. 2 BvC 1/11). Es ging in der Sache darum, ob im Ausland lebende Deutsche wahlberechtigt sind. Gemäß § 12 Abs. 2 des Bundeswahlgesetzes (BWG) in seiner gegenwärtigen Fassung sind solche Deutsche nur dann wahlberechtigt, wenn sie vor ihrem Fortzug in das Ausland mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gewohnt haben oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Diese Regelung erklärte das BVerfG für verfassungswidrig.
Historie
Das Sesshaftigkeitserfordernis hatte der Gesetzgeber in der Vergangenheit schrittweise gelockert. Die Wahlberechtigung von Auslandsdeutschen setzte zunächst zusätzlich zum Erfordernis des früheren dreimonatigen Aufenthalts voraus, dass seit ihrem Fortzug nicht mehr als zehn Jahre verstrichen waren. Später verzichtete der Gesetzgeber auf diese Fortzugsfrist. Er blieb indes bei dem in Frage stehenden Dreimonatserfordernisses.
Entscheidung des BVerfG
Das BVerfG hat entschieden, dass die Ausgestaltung der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen durch § 12 Abs. 2 S. 1 BWG mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unvereinbar und damit nichtig sei. Der Entscheidung des BVerfG liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:

Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbürgt die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsbürger. Er ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl des Deutschen Bundestages zu verstehen. Daher bleibt dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der aktiven und passiven Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen. Differenzierungen können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind. Zu den möglichen Rechtfertigungsgründen zählt insbesondere das mit demokratischen Wahlen verfolgte Ziel, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern. So kann ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht.
Nach diesen Maßstäben verletzt § 12 Abs. 2 S. 1 BWG den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Die Vorschrift bewirkt eine Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Auslandsdeutschen, da sie diejenigen Auslandsdeutschen, die das Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllen, das aktive Wahlrecht versagt. Diese Ungleichbehandlung ist nicht durch einen zureichenden Grund legitimiert. Es ist zwar verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber bei der Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht voll verwirklicht, weil nach seiner Einschätzung die Fähigkeit, am politischen Willensbildungs- und Meinungsprozess mitzuwirken, ein Mindestmaß an persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in Deutschland erfordert. Die Anknüpfung der Wahlberechtigung allein an den früheren dreimonatigen Daueraufenthalt im Bundesgebiet verstößt aber gegen das Gebot den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und die Kommunikationsfunktion der Wahl zu einem schonenden Ausgleich zu bringen.
Zum einen kann das gesetzgeberische Ziel, die für die Wahlteilnahme vorauszusetzende Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern, allein mit dem Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts in Deutschland nicht erreicht werden. Denn danach ist einer nicht zu vernachlässigenden Zahl von Auslandsdeutschen die Teilnahme an der Wahl gestattet, die entweder eine solche Vertrautheit gar nicht erlangen konnten, weil sie zum Zeitpunkt ihres Aufenthalts in Deutschland aufgrund ihres Alters noch gar nicht die Reife und Einsichtsfähigkeit hierzu hatten, oder aber die Bundesrepublik Deutschland vor so langer Zeit verlassen haben, dass ihre seinerzeit erworbenen Erfahrungen den aktuellen politischen Verhältnissen nicht mehr entsprechen. Zudem ist das Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts zwar geeignet deutsche Staatsangehörige ohne jede weitere Beziehung zu Deutschland von der Wahlteilnahme auszuschließen zugleich bewirkt es aber, dass Deutsche an den Wahlen zum Deutschen Bundestag nicht teilnehmen können, die typischerweise mit den politischen Verhältnissen vertraut und von ihnen betroffen sind, wie z. B. Auslandsdeutsche, die als „Grenzgänger“ ihre Berufstätigkeit in Deutschland ausüben.
Die Regelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG kann schließlich auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass andernfalls eine Häufung der Wahlberechtigten in bestimmten Wahlkreisen oder eine nennenswerte Änderung der Wählerstruktur eintreten würde. Es lässt sich bereits nicht feststellen, dass durch die Anknüpfung an einen früheren dreimonatigen Aufenthalt in der „Wegzugsgemeinde“ eine gleichmäßige Verteilung der wahlberechtigten Auslandsdeutschen auf die Wahlkreise zuverlässig gesichert wäre. Die Anknüpfung der Wahlberechtigung an einen vorherigen Aufenthalt im Bundesgebiet ist auch nicht erforderlich, um die Entstehung ungleichgroßer Wahlkreise zu verhindern, weil nicht ersichtlich ist, dass dieses Ziel mit anderen, weniger eingreifenden Zuordnungskriterien nicht ebenso zuverlässig erreicht werden könnte.

Die Richterin Lübbe-Wolff gab hierzu ein abweichendes – in meinen Augen weniger überzeugendes – Sondervotum ab. Wer sich dafür interessiert, dem seien Rz. 65 ff. der Entscheidung im Volltext ans Herz gelegt. Insbesondere in anstehenden mündlichen Prüfungen ist mit der Problematik zu rechnen, so dass hierfür eine umfassende Recherche sinnvoll erscheint.

07.08.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-08-07 16:01:452012-08-07 16:01:45BVerfG zum Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche
Zaid Mansour

BVerwG hebt Urteil des OVG Bautzen zur Oberbürgermeisterwahl in Bischofswerda auf

Kommunalrecht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 05.07.2012–Az. 8 B 24.12 den Rechtsstreit hinsichtlich der Gültigkeit der Oberbürgermeisterwahl in Bischofswerda wegen eines Verfahrensfehlers an das OVG Bautzen zurück verwiesen.
Zum Sachverhalt:

Der Kläger hatte mit seiner Wahlanfechtung unter anderem geltend gemacht, der amtierende Oberbürgermeister habe vor der Wahl auf einem örtlichen Feuerwehrfest geäußert, der damals verheiratete und mit Ehefrau und Kind zusammen lebende Mitbewerber sei „schwul“. Diese Bezeichnung wurde auf einem Flugblatt wiederholt, das der damalige Ortsvorsitzende der Partei des Oberbürgermeisters anlässlich einer Podiumsdiskussion zur Vorstellung der Wahlbewerber verteilte. Der Landkreis Bautzen wies den Einspruch des Klägers gegen die Gültigkeit der Wahl zurück. Das Verwaltungsgericht Dresden wies die dagegen erhobene Klage ab. Im Berufungsverfahren vor dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht hatte der Kläger Erfolg.

Nach Ansicht der Bundesverwaltungsrichter hatte das OVG Bautzen die Verfahrensbeteiligten in ihrem Recht auf rechtliches Gehör verletzt. Das Berufungsgericht hatte, entgegen der herrschenden Rechtsprechung und der von den Verfahrensbeteiligten vertretenen Auffassungen, einen Wahlfehler mit der Begründung bejaht, dass auch Private (in diesem Fall der Ortsvorsitzende der Partei des Oberbürgermeisters) an den Grundsatz der Freiheit der Wahl unmittelbar gebunden seien. Es sei Privaten also nicht gestattet im Wahlkampf unrichtige oder jedenfalls nicht nachweislich richtige und den Wählerwillen potentiell beeinflussende Tatsachenbehauptungen zu tätigen. Die vom OVG Bautzen vertretene Auffassung war in Ermangelung eines entsprechenden richterlichen Hinweises für die Verfahrensbeteiligten unvorhersehbar bzw. überraschend. Ohne einen entsprechenden richterlichen Hinweis konnten die Beteiligten zu dieser Rechtsauffassung und somit zu entscheidungserheblichen rechtlichen Aspekten nicht hinreichend Stellung nehmen.
In der Pressemitteilung heißt es weiter:

Amtsträger sind auch im Wahlkampf an die Wahlrechtsgrundsätze und die Grundrechte gebunden. Sie dürfen die Wähler nicht täuschen und müssen das Persönlichkeitsrecht der Bewerber und das Diskriminierungsverbot achten. Sie dürfen deshalb einem Bewerber keine, von diesem nicht offenbarte, sexuelle Orientierung zuschreiben. Private unterliegen dagegen nicht den verfassungsrechtlichen Bindungen. So stellt die private Verbreitung von Täuschungen und Lügen grundsätzlich auch dann keinen Wahlfehler dar, wenn diese sittlich zu missbilligen sind. Ob solche Äußerungen als Beleidigung, üble Nachrede oder gar Verleumdung strafbar sind, ist keine Frage des Wahlrechts.

Die Wahlrechtsgrundsätze und damit zusammenhängende Problemkonstellationen waren in jüngster Zeit häufig Gegenstand öffentlicher Diskussionen und gerichtlicher Entscheidungen (siehe hier), so dass davon ausgegangen werden muss, dass diese Thematik in nächster Zeit auch in Examensklausuren und mündliche Prüfungen Einzug erhält. Examenskandidaten ist daher dringend zu empfehlen sich mit den wesentlichen Gesichtspunkten des Wahlrechts zu beschäftigen.

11.06.2012/0 Kommentare/von Zaid Mansour
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Zaid Mansour https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Zaid Mansour2012-06-11 11:55:312012-06-11 11:55:31BVerwG hebt Urteil des OVG Bautzen zur Oberbürgermeisterwahl in Bischofswerda auf
Dr. Christoph Werkmeister

Ex-Verfassungsrichter Papier zur Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen

Aktuelles, Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Beck-aktuell berichtet über Äußerungen des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier. Der Jurist sprach sich in diesem Kontext gegen die Forderung seines Vorgängers Roman Herzog aus, die Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen zu verschärfen.

Wir stellen in Deutschland seit längerem eine verbreitete Politikverdrossenheit fest», sagte Papier. Auch wenn der Name der Piratenpartei «nicht gerade auf Ernsthaftigkeit hindeutet», sei es «eine durchaus gesunde Entwicklung, wenn neue Parteien dazukommen und andere ausscheiden», sagte Papier. Die Piraten seien eine politische Partei im rechtlichen Sinne, die sich eines starken Zulaufs an Wählern erfreue. Das Recht schreibe nicht vor, wie komplex und umfangreich ein Parteiprogramm sein müsse – über die Güte eines Parteiprogramms entscheide der Wähler. Aber: «Eine Partei, die langfristig Erfolg haben will, wird um eine tragfähige Programmatik nicht herumkommen», sagte Papier, der inzwischen Staatsrecht an der Münchner Universität lehrt. «Eine Partei, die nur vom Protestpotenzial lebt, wird nicht von Dauer sein.

Über die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Fünf-Prozent-Klausel im Wahlrecht haben wir bereits mehrfach in verschiedensten Zusammenhängen berichtet. Da das Thema durch die Entwicklung der Piratenpartei und die kürzliche Stellungnahme von Papier wieder an Aktualität gewinnt, sei deshalb – insbesondere mit Blick auf anstehende mündliche Prüfungen – auf die einschlägigen Beitrage verwiesen (siehe hier und hier).

20.05.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-05-20 15:51:202012-05-20 15:51:20Ex-Verfassungsrichter Papier zur Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen
Dr. Christoph Werkmeister

VerfGH RLP zur Zulässigkeit von Zählsoftware bei Wahlen

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht

Der rheinlandpfälzische Verfassungsgerichtshof hatte mit Beschluss vom 20.05.2011 (Az. VGH B 4/11) über die wahlrechtliche Zulässigkeit des Einsatzes von computergesteuerten Zählsystemen zu entscheiden. Die Entscheidung behandelte naturgemäß nur landesspezifisches Verfassungsrecht. Gleichwohl sind die vom Gericht angestellten Erwägungen mutatis mutandis auf Bundeswahlen übertragbar. Da die Entscheidung in der aktuellen Ausgabe der NVWZ abgedruckt war und eine bislang noch nicht vom BVerfG entschiedene Problematik behandelt, erscheint es gut denkbar, dass sich ein Klausurersteller für das erste Staatsexamen sich von dieser landesverfassungsrechtlichen Entscheidung inspirieren lässt.
Sachverhalt (verkürzt)
Es fand am 07.06.2009 eine Stadtratswahl in Frankenthal statt, bei der zur Abgabe der Stimmen Stimmzettel in Papierform und Wahlurnen verwendet wurden. Zur Erfassung und Zählung der abgegebenen Stimmen verlas ein Wahlhelfer nach Entnahme der Stimmzettel aus der Wahlurne am Ende des Wahltags unter Aufsicht die auf dem jeweiligen Stimmzettel abgegebenen Stimmen, während ein anderer Wahlhelfer unter Aufsicht die verlesene Stimmenzahl in einen Computer eingab, in dem ein Stimmzählrogramm installiert war. Das Programm ordnete die Wählerstimmen entsprechend der manuellen Eingabe jeweils dem Wahlvorschlag und dem Bewerber zu. Darüber hinaus sollte es auch sicherstellen, dass entsprechend der gesetzlichen landesrechtlichen Regelungen nicht mehr als drei Stimmen pro Bewerber berücksichtigt werden. Hierbei zeigte das Programm die auf einem Stimmzettel für einen Bewerber abgegebenen Stimmen und die für diesen Bewerber berücksichtigten Stimmen in unterschiedlichen Farben auf dem Bildschirm des Computers an.
Ein wahlberechtigter Gemeindebürger erhob nach der öffentlichen Bekanntgabe des Wahlergebnisses Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl. Er bezweifelte die Richtigkeit der Stimmenauszählung und hielt sie auch insoweit für rechtswidrig, als sie nicht für jedermann überprüfbar gewesen sei.
Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl
Nach Urteil des BVerfG vom 3. März 2009 (Az. 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07) gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 i.V.m. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen (sog. Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl).
Jeder Bürger muss die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen können. Ein Wahlverfahren, in dem der Wähler nicht zuverlässig nachvollziehen kann, ob seine Stimme unverfälscht erfasst und in die Ermittlung des Wahlergebnisses einbezogen wird und wie die insgesamt abgegebenen Stimmen zugeordnet und gezählt werden, schließt zentrale Verfahrensbestandteile der Wahl von der öffentlichen Kontrolle aus und genügt daher nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 123, 39)
Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass der Einsatz der o.g. Software nicht gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl verstößt. Bei „echten“ rechnergesteuerten Wahlgeräten erfolgen die Abgabe und Zählung der Stimmen im Gegensatz zum hier skizzierten Fall ohne Stimmzettel und Wahlurnen. Die Stimmen der Wähler werden in solch einem Fall elektronisch erfasst und das Wahlergebnis elektronisch ermittelt. Solche Wahlgeräte sind nach der Rechtsprechung des BVerfG vor allem im Hinblick auf ihre Manipulierbarkeit und Fehleranfälligkeit nur unter sehr engen Voraussetzungen verfassungsrechtlich zulässig.
Manipulierbarkeit und Fehleranfälligkeit bestehen nach Auffassung des rheinlandpfälzischen Gerichts bei dem Einsatz von Computern, die allein zur Zählung der Stimmen bei der Verwendung von Stimmzetteln und Wahlurnen zur Abgabe der Stimme eingesetzt werden, nicht in gleichem Maße wie bei den vorgenannten „echten“ Wahlgeräten. Dem eingesetzten Computer und dem Stimmzettelerfassungsprogramm komme vielmehr nur die Bedeutung eines Taschenrechners zu, der lediglich über die Sonderfunktion verfügt, entsprechende landesrechtliche gesetzliche Zählvorgaben zu berücksichtigen. Als Kernargument brachte das Gericht hierzu noch vor, dass die Verwendung von Stimmzetteln und Wahlurnen gegenüber „echten“ Wahlgeräten einen deutlich höheren Schutz gegen Manipulationen und Fehlern des Computerprogramms biete, da die Zählung der Stimmen durch den Rechner sowohl durch Stichproben als auch beim Auftreten von Zweifeln durch eine manuelle Nachzählung aller Stimmen kontrolliert werden könne.
Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes
Neben einer Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Wahl diskutierte das Gericht auch noch, ob durch den Einsatz eines Zählprogramms ein Verstoß gegen die im Rechtsstaatsprinzip verankerte Wesentlichkeitstheorie vorliege (auf Bundesebene ergibt sich das Rechtsstaatsprinzip i.ü. aus Art. 20 Abs. 1, Abs. 3 GG). Dies wäre dann der Fall, wenn der Einsatz der Zählsoftware eine wesentliche grundrechtsrelevante Entscheidung darstellt und dennoch ohne entsprechendes Parlamentsgesetz umgesetzt würde.
Vorliegend wurden das Zählverfahren und entsprechende Vorgaben nämlich lediglich in einer Rechtsverordnung geregelt. Das Gericht führte hierzu aus, dass der im Rechtsstaatsprinzip und im Demokratiegebot wurzelnde Parlamentsvorbehalt gebietet, dass in grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden.
Im Hinblick auf die Frage, ob der Einsatz der Zählgeräte eine solche wesentliche Entscheidung darstellt, wurde die o.g. Argumentation erneut fruchtbar gemacht. Es wurde also auch in diesem Kontext festgestellt, dass der Einsatz einer Zählsoftware nicht wesensgleich mit der Einführung einer kompletten elektronischen Wahl ist. Der Einsatz der Software war damit noch nicht so grundrechtsintensiv, dass hierdurch der Parlamentsvorbehalt ausgelöst würde. Demnach verstieß eine bloß untergesetzliche Kodifikation des Zählverfahrens auch nicht gegen die aus dem Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Wesentlichkeitstheorie.
Weiterführende Literatur zum Thema
Zur verfassungsrechtlichen Problematik des Einsatzes von elektronischen Wahlgeräten vgl. Will, CR 2008, 540; ders., NVwZ 2009, 700; Sachs, JuS 2009,746.

08.02.2012/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2012-02-08 10:24:042012-02-08 10:24:04VerfGH RLP zur Zulässigkeit von Zählsoftware bei Wahlen
Dr. Christoph Werkmeister

OVG Münster: Ratswahl in Dortmund muss wiederholt werden

Kommunalrecht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung

Das OVG Münster entschied am 15.12.2011 (Az. 15 A 876/11), dass die Wahl des Gemeinderats der Stadt Dortmund wiederholt werden muss, weil  Amtsträger der Stadt im Wahlkampf die Haushaltslage der Stadt „geschönt“ dargestellt und damit den Wählern  wahlkampfrelevante Informationen vorenthalten haben.
Der Sachverhalt
Zum Sachverhalt und Verfahrensgang kann die Pressemitteilung des OVG zitiert werden:

Im Kommunalwahlkampf 2009 wurde die Finanzsituation der Stadt Dortmund im Haushaltsjahr 2009 thematisiert. Die Vorsitzende der FDP-Fraktion erkundigte sich am 14.08.2009 bei der Stadtverwaltung über die Haushaltsentwicklung in Dortmund. Noch vor der Kommunalwahl gaben der damalige Oberbürgermeister und die damalige Kämmerin mit Schreiben vom 26.08.2009 Auskunft: Es sei derzeit nicht erkennbar, dass man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht auskommen werde. Der Vorjahresvergleich lasse noch keine Auffälligkeiten erkennen. Tatsächlich hatten der ehemalige Oberbürgermeister und die damalige Kämmerin bereits am 11.08.2009 wegen ungedeckter Mehraufwendungen von zumindest 23,4 Mio Euro eine Haushaltssperre verabredet, die am 01.09.2009, also einen Tag nach der Kommunalwahl, wirksam werden sollte.
Wegen der als „Haushaltslüge“ bezeichneten Information beschloss der Rat der Stadt Dortmund auf Verlangen der Bezirksregierung Arnsberg, die Kommunalwahl wiederholen zu lassen. Die Ratswahl wurde jedoch nicht wiederholt. Stattdessen klagten 10 der 37 gewählten SPD-Ratsmitglieder gegen den Beschluss des Rates über die Wiederholung der Wahl. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gab der Klage im März 2011 statt, weil nicht davon auszugehen sei, dass der Wahlausgang durch eine ordnungs- und pflichtwidrige Amtshandlung beeinflusst worden sei. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts legte die Stadt Dortmund Berufung ein. Dieser Berufung hat das Oberverwaltungsgericht nunmehr stattgegeben und die Klage der 10 SPD-Ratsmitglieder abgewiesen, so dass es bei dem Ratsbeschluss über die Wiederholung der Ratswahl verbleibt.
Zur Begründung hieß es in der mündlichen Urteilsbegründung: Die Auskunft des ehemaligen Oberbürgermeisters und der ehemaligen Kämmerin im Vorfeld der Kommunalwahl 2009 sei ein gesetzwidriger, die Entscheidung der Wähler möglicherweise beeinflussender Wahlfehler. Dieser habe die Ungültigkeit der Ratswahl und deren Wiederholung zur Folge. Ein zur Wahlwiederholung führender Wahlfehler könne nach ständiger Rechtsprechung auch darin liegen, dass den Wählern von Amtsträgern wahlkampfrelevante Fehlinformationen gegeben würden. Denn es sei verfassungsrechtlich geboten, dass sich der Wähler über Ziele und Verhalten der Wahlbewerber frei von Manipulationen oder Desinformationen Kenntnis verschaffen könne. Dabei sei rechtlich nicht erheblich, ob die Wahlbeeinflussung beabsichtigt oder bezweckt gewesen sei. Entscheidend sei allein, dass das fragliche Verhalten objektiv geeignet sei, den Wählerwillen zu beeinflussen. Dies sei hier hinsichtlich der Auskunftserteilung vom 26.08.2009 betreffend die Finanzlage der Stadt Dortmund der Fall gewesen. Amtsträger, die im Wahlkampf auf Anfrage eines Mandatsträgers die Haushaltslage als unauffällig darstellten, obwohl sie unmittelbar zuvor eine Haushaltssperre beschlossen und deren Vorbereitung in Auftrag gegeben hätten, handelten desinformierend und damit wahlrechtswidrig. Die festgestellte Desinformation könne auch für die Wahl des Rates von entscheidendem Einfluss gewesen sein. Eine zutreffende Darstellung der Haushaltslage hätte dazu geführt, dass in Dortmund eine vertiefte und kritische Diskussion über die Haushaltslage geführt worden wäre. Bei lebensnaher Betrachtung hätten nicht nur vereinzelte Wähler den ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, deren ehemalige Kämmerin und die sie tragende Partei für die problematische Haushaltslage verantwortlich gemacht und möglicherweise eine andere Wahlentscheidung getroffen.

Rechtliche Problematik
Rechtlich problematisch war in diesem examensrelevanten Fall die Regelung des § 40 Abs. 1 lit b KWahlG NRW. Nach dieser Regelung ist eine Wahl für ungültig zu erklären und eine Wiederholungswahl anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass bei der Vorbereitung der Wahl oder der Wahlhandlung Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind, die im jeweils vorliegenden Einzelfall auf das Wahlergebnis im Wahlbezirk von entscheidendem Einfluss gewesen sein können.
Eine „Unregelmäßigkeit der Wahl“ in diesem Sinne liegt dann vor, wenn Umstände vorliegen, die dem Schutzzweck der wahlrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze zuwiderlaufen. Der Wahlfehler erfordert einen Verstoß gegen wahlrechtliche Bestimmungen oder sonstige wahlbezogene Normen. Es genügt aber auch ein Verstoß gegen nicht allein wahlrechtliche Bestimmungen, die jedoch im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Wahl oder der Wahlhandlung anzuwenden waren und unter Verstoß gegen Wahlrechtsgrundsätze angewandt wurden. Eine gesetzwidrige Wahlbeeinflussung liegt insbesondere dann vor, wenn amtliche Stellen gegen das aus den Wahlrechtsgrundsätzen der freien Wahl und der Gleichheit der Wahl folgende Neutralitätsgebot verstoßen haben. Diese Vorgabe ergibt sich für Gemeindewahlen unmittelbar aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG. Der Schwenk zu den Wahlrechtsprinzipien bedeutet für den Prüfling, dass er an dieser Stelle seine allgemeinen verfassungsrechtlichen Kenntnisse zu Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ausspielen kann und muss.
Wie nach dem ersten Semester des Studiums der Rechtswissenschaften bekannt sein sollte, beinhaltet der Grundsatz der Freiheit der Wahl die Vorgabe, dass der Wähler in einem freien und offenen Prozess der Meinungsbildung ohne jede unzulässige Beeinflussung von staatlicher, kommunaler oder nichtstaatlicher Seite zu seiner Wahlentscheidung finden muss. Staatliche und gemeindliche Organen sind nach Art. 20 Abs. 3 GG als vollziehende Gewalt dem Gebot der Freiheit der Wahl unterworfen. Ihnen ist damit untersagt, sich in amtlicher Funktion vor Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie als Amtsträger zu unterstützen oder zu bekämpfen. Nur Wahlen, die ohne Verstoß gegen das Gebot strikter staatlicher und gemeindlicher Neutralität und ohne Verletzung der Integrität der Willensbildung des Volkes und der Wahlbürger erfolgt sind, können demokratische Legitimation verleihen. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl fordert die Chancengleichheit der Wahlbewerber; diese kann verletzt werden, wenn etwa Amtsträger in einen Kommunalwahlkampf in amtlicher Funktion zugunsten oder zulasten eines Bewerbers eingreifen.
Hierzu gilt es zu sagen, dass eine amtliche Wahlbeeinflussung im o.g. Sinne nicht nur dann vorliegt, wenn von amtlicher Stelle durch Wahlwerbung für einen bestimmten Kandidaten oder eine Partei auf den Wählerwillen Einfluss genommen wird, sondern auch dann, wenn diese durch Fehlinformation oder Unterdrücken von Tatsachen über wahlrelevante Themen geschieht. Genau eine solche Fehlinformation sah das OVG Münster im Fall der Dortmunder Gemeinderatswahl als gegeben an. Im Rahmen einer juristischen Prüfung käme es hier entscheidend auf die Entscheidung des Sachverhalts an. Sofern etwa im ersten Examen ein Hinweis auf die Unwahrheit einer Tatsache bzw. auf eine Verschleierung hingewiesen wäre, so müsste man einen Wahlfehler annehmen. Im zweiten Examen müsste gewürdigt werden, inwiefern die vorhandenden Beweise darauf schließen lassen, dass es sich tatsächlich um eine Verschleierung handelt. Im Falle eines non liquet wäre dann nach allgemeinen Beweislastregeln zulasten der Wahlgegner und damit gegen das Vorliegen eines Wahlfehlers zu entscheiden.

20.12.2011/8 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2011-12-20 10:13:112011-12-20 10:13:11OVG Münster: Ratswahl in Dortmund muss wiederholt werden
Dr. Christoph Werkmeister

Wählen per Internet als Lösung für die niedrige Wahlbeteiligung?

Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Niedrige Wahlbeteiligung
Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl an diesem Sonntag ist auf einen historischen Tiefstand gefallen. Nach Angaben des ZDF belief sich die Wahlbeteiligung auf lediglich 71,2%. Damit machten nochmals deutlich weniger Deutsche von ihrem Wahlrecht Gebrauch als bei der vorangegangenen Bundestagswahl.
2005 wurde bereits mit 77,7% die bis dahin niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl verzeichnet. Insgesamt waren diesmal mehr als 62 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.
Meines Erachtens besteht ein Grund für die niedrige Wahlbeteiligung darin, dass viele Leute schlichtweg zu faul sind, den Weg zum Wahllokal anzutreten, um ihre Stimme abzugeben. Ein Entgegenwirken zugunsten einer höheren Wahlbeteiligung könnte demnach durch eine elektronische Wahl über eine Internetplattform bewirkt werden.
Internetwahl noch nicht in Sicht
Bundeswahlleiter Roderich Egeler hat jedoch als Reaktion auf die niedrige Wahlbeteiligung darauf hingewiesen, dass eine Stimmabgabe vom heimischen Computer aus bei Wahlen in Deutschland weiterhin nicht in Sicht ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte im März 2009 den Einsatz solcher Geräte zwar für grundsätzlich zulässig erklärt. Die elektronische Auszählung der Stimmen sei vom Wähler aber bei den bisher eingesetzten Geräten nicht hinreichend kontrollierbar.
Die Wahlcomputerentscheidung des BVerfG
Nach dem Urteil des Zweiten Senats des BVerfG vom 3. März 2009 (Az. 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07) gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen.
Zudem müssen beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können.
Es wurden somit vom BVerfG hohe Anforderungen an ein elektronisches Wahlsystem gestellt. Nichtsdestotrotz sind solche Hürden überwindbar. Im heutigen Zeitalter ist es definitiv machbar, eine transparente, für den Bürger nachzuvollziehende Internetplattform zu errichten. Insofern halte ich die Aussage des Bundeswahlleiters für verfehlt und plädiere deswegen dafür, dass Initiativen zugunsten der Entwicklung eines solchen Systems ins Leben gerufen werden.
Examensrelevanz
Angesichts der noch jungen Bundestagswahl dürften je nach Prüfer die Wahlrechtsgrundsätze nach Art. 38 GG in seinen spezifischen Ausprägungen beliebter Prüfungsstoff sein. Auch die Vorgaben nach dem BundeswahlG, insbesondere Überhangmandate und deren Verfassungswidrigkeit (Thema: negatives Stimmgewicht), sollten bekannt sein.
Das Wahlcomputerurteil und dessen Einbettung in die sonst weniger relevante Wahlprüfungsschwerde vor dem BVerfG bieten sich zudem auch für Klausuren aus dem Ö-Recht an. Hierzu gilt es zu sagen, dass das Wahlprüfungsverfahren sich vom Schema her nicht sonderlich von einer abstrakten Normenkontrolle unterscheidet; die Vorgaben, die es zu beachten gilt, ergeben sich nach einem kurzen Blick in Art. 41 (Abs. 2) GG und das Wahlprüfungsgesetz.

28.09.2009/3 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2009-09-28 14:22:132009-09-28 14:22:13Wählen per Internet als Lösung für die niedrige Wahlbeteiligung?

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