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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Johannes Zhou veröffentlichen zu können. Der Autor ist Rechtsreferendar am Landgericht Frankfurt am Main.
Der BGH beschäftigt sich in seiner Entscheidung vom 7.2.2023 (VI ZR 87/22) mit dem im Jahr 2020 neu hinzugefügten § 19 I 1 StVG. Diese Vorschrift regelt die Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern, welche vor 2020 noch in § 7 I StVG geregelt war. Kernproblem des Falles ist die Frage, ob von einem ordnungsgemäß abgestellten PKW-Anhänger eine Betriebsgefahr ausgeht, für die der Halter des Anhängers einzustehen hat.
I. Der Sachverhalt
Der Kläger ist Gebäudeversicherer und verlangt von dem Beklagten – einem Haftpflichtversicherer – Schadensersatz aufgrund eines Unfallereignisses im Zusammenhang mit einem PKW-Anhänger.
Bei der Beklagten ist ein PKW-Anhänger versichert, den der Versicherungsnehmer am Unfalltag ordnungsgemäß am Straßenrand abstellte. Ein Dritter, der nicht Partei des Verfahrens ist, befuhr mit seinem Fahrzeug diese Straße und stieß mit dem ordnungsgemäß geparkten PKW-Anhänger zusammen. Der Anhänger rollte aufgrund des Zusammenstoßes nach vorne und beschädigte das Eingangstor eines Grundstücks sowie die Fassade des auf dem Grundstück stehenden Gebäudes. Der Kläger übernahm als Gebäudeversicherer die dem Gebäudeeigentümer angefallenen Kosten für die Reparatur des Eingangstores und der Fassade.
Daraufhin machte der Kläger Schadensersatz gegen den Haftpflichtversicherer, bei dem der PKW-Anhänger versichert ist, geltend. Während das AG Friedberg der Klage stattgab, lehnte das LG Gießen den Schadensersatzanspruch ab. Das LG Gießen begründete dies damit, dass der Schaden nicht beim Betrieb des PKW-Anhängers eingetreten sei. Der Anhänger sei nämlich durch einen anderen Verkehrsteilnehmer, der mit dem Anhänger zusammenstieß, in Bewegung gesetzt worden.
II. Die Entscheidung
Der BGH bejaht den geltend gemachten Schadensersatz nach § 7 I StVG a.F. bzw. § 19 I 1 StVG i.V.m. § 115 I 1 Nr. 1, § 86 VVG. § 19 I 1 regelt nach der amtlichen Normüberschrift die Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen.
§ 19 I 1 StVG: „Wird bei dem Betrieb eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, ist der Halter des Anhängers verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“
Nach Auffassung des BGH gehe auch von einem ordnungsgemäß abgestellten PKW-Anhänger eine Betriebsgefahr aus. Demnach sei der Schaden am Gebäude beim Betrieb des Anhängers eingetreten. Hierbei geht der BGH zunächst auf die für § 7 I StVG entwickelten Grundsätze bezüglich der Betriebsgefahr von Kraftfahrzeugen ein:
„[8] a) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zu Recht angenommen hat, ist das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ in Bezug auf Kraftfahrzeuge entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10 mwN).[9] Erforderlich ist dabei stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll; die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit grundsätzlich maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. Senatsurteile vom 3. Juli 1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, juris Rn. 12 ff.; vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10; vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 319/18, VersR 2021, 597 Rn. 7, jeweils mwN). Der Betrieb dauert dabei fort, solange der Fahrer das Fahrzeug im Verkehr belässt und die dadurch geschaffene Gefahrenlage fortbesteht (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10 mwN).“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)
Diese Grundsätze überträgt der BGH auf die Halterhaftung für PKW-Anhänger nach § 19 I 1 StVG. In dem Geschehen habe sich die aus der Konstruktion des Anhängers resultierende Gefahr einer unkontrollierten Bewegung durch Fremdkraft verwirklicht. Das Abstellen des Anhängers im öffentlichen Verkehrsraum beseitige diese Gefahr nicht. Vielmehr wirke die Betriebsgefahr fort.
Schließlich dringt die Beklagte auch nicht mit dem Einwand durch, dass ein Dritter durch seinen Zusammenstoß mit dem Anhänger für das Unfallgeschehen maßgeblich verantwortlich sei. Dieser Umstand sei lediglich für die Abwägung der Verursachungsbeiträge im Rahmen eines etwaigen Gesamtschuldnerinnenausgleichs der Schädiger gem. §§ 426 I, 254 I BGB von Bedeutung. Der Umstand habe aber keine Auswirkung auf den zuvor bejahten Zurechnungszusammenhang zwischen dem Gebäudeschaden und Betrieb des Anhängers.
III. Einordnung
Der Gesetzgeber hat die Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern im Jahr 2020 neu geregelt, indem er diese aus den §§ 7, 8, 12, 17 und 18 StVG a.F. ausgliederte und die neuen §§ 19, 19a StVG einfügt hat (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Jahnke, § 19 StVG Rn. 3). Anlass für die Gesetzesänderung war die alte Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08), wonach bei Unfällen mit PKW-Anhängern die beteiligten Halter von Zugfahrzeug und Anhänger im Innenverhältnis zu gleichen Teilen hafteten. Diese Haftungsverteilung entsprach laut Gesetzesbegründung in der Regel jedoch nicht der jeweils gesetzten Betriebsgefahr (BT-Drs. 19/17964, S. 1). Im Zuge der Neuregelung des § 19 StVG schaffte der Gesetzgeber daher § 19 IV 2 und 3 StVG. Danach haftet grundsätzlich der Halter des Zugfahrzeuges im Innenverhältnis.
IV. Bedeutung für das Examen
Die Entscheidung des BGH eignet sich gut für Examensklausuren, da mit § 19 I 1 StVG eine vergleichsweise neue Anspruchsgrundlage abgeprüft werden kann. Entscheidend ist aber, dass hier eine auf den ersten Blick unbekannte Norm mit bereits gelerntem Wissen zu § 7 I StVG bewältigt werden kann. Der Wortlaut des § 19 I 1 StVG entspricht dem des § 7 I StVG.
Die Entscheidung des BGH gibt zudem Anlass, sich mit zahlreichen examensrelevanten Problemen zu beschäftigen und diese zu wiederholen. Über die für § 7 I StVG entwickelten Grundsätze zum Tatbestandsmerkmal „beim Betrieb“ hinaus, sollte im Hinblick auf Systematik auch ein Blick auf andere Gefährdungstatbestände wie § 833 S. 1 BGB oder § 1 ProdHaftG geworfen werden (zum Grundwissen Lorenz, JuS 2021, 307).
Auch eine Wiederholung der Vorschrift zum Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB sowie der examensrelevanten Vorschriften des VVG kann nicht schaden. Nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVG kann ein Geschädigter auch unmittelbar gegen den Versicherer Schadensersatz geltend machen. Bei § 86 I 1 VVG handelt es sich um eine sog. Legalzession (cessio legis). Danach geht der Anspruch des Versicherungsnehmers auf den Versicherer über, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt. Welche weiteren Vorschriften ordnen einen gesetzlichen Forderungsübergang an? Zum Beispiel: §§ 268 III 1, 774 I 1 BGB, § 116 SGB X.
Im November 2022 (Az. VIII ZR 436/21) hatte sich der BGH mit einem sog. „sale and rent back“ Geschäftsmodell zu beschäftigen. Diese Konstellation eignet sich perfekt, um kauf- und mietrechtliche Aspekte miteinander zu kombinieren und dies in eine sachenrechtliche Prüfung einzubetten. Für Prüflinge ist insbesondere interessant, dass im folgenden Fall beliebte Themen des BGB AT, der Sittenwidrigkeit und dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip eine Rolle gespielt haben und dieser Fall zeigt wie diese in eine sachenrechtliche Prüfung eingebaut werden können
I. Der Sachverhalt
Die A betreibt ein Pfandleihhaus, wonach sie ein sog. „sale and rent back“ Geschäftsmodell nutzt. Dieses besteht darin, dass sie Kraftfahrzeuge kauft, aber deren Nutzung weiterhin den Verkäufern im Rahmen eines Mietverhältnisses überlässt. B sieht in diesem Modell die Möglichkeit an Geld zu gelangen und entscheidet sich somit sein Fahrzeug am 02.01.2018 zu einem Kaufpreis von 5.000 EUR (Händlereinkaufswert: 13.700 EUR) an A zu verkaufen.
A und B schlossen einen Kauf- und zusätzlich einen Mietvertrag.
Der Kaufvertrag enthielt in § 6 die folgende Regelung:
„a. Der Verkäufer beabsichtigt, das Fahrzeug von der Käuferin zur Nutzung zurückzumieten. […] Einzelheiten sind in einem gesonderten Mietvertrag geregelt.
- Der Verkäufer wurde zudem auf § 34 Absatz 4 Gewerbeordnung hingewiesen, der besagt, dass der gewerbsmäßige Ankauf beweglicher Sachen mit Gewährung eines Rückkaufsrechts verboten ist. Der Verkäufer bestätigt ausdrücklich, dass ihm während der Vertragsverhandlungen weder schriftlich noch mündlich zugesagt, noch der Eindruck vermittelt wurde, dass er das von ihm an die Käuferin verkaufte Fahrzeug durch einseitige Erklärung dieser gegenüber zurückkaufen könne.ʺ
In einem Mietvertrag regelten A und B, dass B das Fahrzeug vom 02.01.2018 bis zum 02.07.2018 (später eine Verlängerung auf den 01.04.2019) für einen monatlichen Mietzins in Höhe von 900,21 EUR weiternutzen durfte. Der Mietzins ermäßigte sich aufgrund der Übernahme der Kosten für Steuern, Versicherungen, Wartungen und Reparatur durch B auf einen monatlichen Betrag von 465,00 EUR. Zusätzlich wurde eine Bearbeitungsgebühr i.H.v. 99,00 EUR gefordert. Für den Fall der Beendigung des Mietverhältnisses wurde in § 13 des Mietvertrages eine Verwertung im Wege einer öffentlichen Versteigerung des Fahrzeuges vorgesehen. An dieser dürften sowohl der Verkäufer, B, und der Eigentümer A, teilnehmen. Für den Fall, dass ein Dritter den Zuschlag erhält, wird festgehalten, dass B einen Mehrerlös (Versteigerungserlös abzgl. der Kosten durch A) zusteht.
Die A zahlte an B die Bearbeitungsgebühr (99,00 EUR) sowie bis September 2018 Mieten (insg.: 4.455,00 EUR). Nachdem B die Miete für Oktober 2018 nicht zahlte, kündigte A mit Schreiben vom 12.10.2018 das Mietverhältnis und forderte den B zur Herausgabe des Fahrzeugs auf.
Daraufhin wurde das Fahrzeug am 25.11.2018 öffentlich von A selbst ersteigert und an ein Unternehmen C weiterveräußert.
Der Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs lag bei 16.000 EUR.
Der B forderte Schadenersatz in Höhe von 16.900 EUR (seiner Ansicht nach die Höhe des Wertes des Fahrzeugs) und die Rückzahlung der Bearbeitungsgebühr (99 EUR) sowie den Gesamtbetrag der Mieten in Höhe von 4.554,00 EUR einschließlich der Rechtshängigkeitszinsen.
II. Die Entscheidung (angelehnt an eine gutachterliche Prüfung)
A. Schadenersatzanspruch aus § 990 Abs. 1 S. 1, 989, 249, 251 Abs. 1 BGB
B könnte gegen A einen Schadenersatzanspruch aus § 990 Abs. 1 S. 1, 989, 249, 251 Abs. 1 BGB haben.
I. Vorliegen einer Vindikationslage im Zeitpunkt der schädigenden Handlung
Zunächst müsste im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses eine Vindikationslage vorgelegen haben. Dafür müsste B Eigentümer des Kraftfahrzeuges und A Besitzerin ohne Recht zum Besitz sein. Als schädigendes Ereignis kommt die Übereignung des Fahrzeuges von A an das Unternehmen C in Betracht (dazu später).
1. Eigentümerstellung des B
B war ausweislich des Sachverhalts zunächst Eigentümer des Kraftfahrzeuges.
a) Eigentumsverlust infolge der Übereignung von B an A gem. § 929 S. 1, 930 BGB
Der B könnte sein Eigentum jedoch infolge der Übereignung an A gem. § 929 S. 1, 930 BGB verloren haben.
aa) Dingliche Einigung
Während am Vorliegen einer dinglichen Einigung keine Zweifel bestehen, ist fraglich, ob diese auch wirksam ist. Die Unwirksamkeit könnte unter Durchbrechung des Trennungs- und Abstraktionsprinzip aus der Unwirksamkeit des Kaufvertrages resultieren.
In den Fällen, in denen im Rahmen der Unwirksamkeit des dinglichen Verfügungsgeschäfts die Unwirksamkeit des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfts eine Rolle spielt, müssen stets die Alarmglocken angehen und an das Trennungs- und Abstraktionsprinzip gedacht werden! Nach dem Trennungsprinzip sind das schuldrechtliche Verpflichtungs- und das dingliche Verfügungsgeschäft zwei verschiedene voneinander zu trennende Rechtsgeschäfte und das Abstraktionsprinzip besagt, dass die Unwirksamkeit eines Geschäfts sich grundsätzlich nicht auf die Wirksamkeit des anderen Geschäfts auswirkt. Diese Prinzipien können jedoch in Fällen der sog. „Fehleridentität“ durchbrochen werden, sodass die Unwirksamkeit des einen Geschäfts zugleich die Unwirksamkeit des anderen Geschäfts bewirkt.
Somit prüfte der BGH zunächst, ob das Verpflichtungsgeschäft unwirksam war und in einem zweiten Schritt, ob sich diese Unwirksamkeit auch auf das dingliche Verfügungsgeschäft auswirkte.
(1) Nichtigkeit des Kaufvertrages gem. § 138 Abs. 1 BGB
Der zwischen A und B geschlossene Kaufvertrag (schuldrechtliches Verpflichtungsgeschäft) könnte als wucherähnliches Geschäft sittenwidrig und damit gem. § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein.
Ein Rechtsgeschäft ist nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Subjektiv genügt es, wenn der Handelnde die Tatsachen kennt, aus denen die Sittenwidrigkeit folgt oder sich bewusst oder grob fahrlässig der Kenntnis erheblicher Tatsachen verschließt.
Eine Fallgruppe des § 138 Abs. 1 BGB ist das wucherähnliche Geschäft, welches vorliegt, wenn zwar nicht alle Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB erfüllt sind, aber dennoch zwischen Leistung und Gegenleistung objektiv ein auffälliges Missverhältnis besteht und außerdem mindestens ein weiterer Umstand hinzukommt, der den Vertrag bei Zusammenfassung der subjektiven und objektiven Merkmale als sittenwidrig erscheinen lässt. Ein solcher weiterer Umstand ist insbesondere dann anzunehmen, wenn eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten hervorgetreten ist, weil er etwa die wirtschaftlich schwächere Position des anderen Teils bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt oder sich zumindest leichtfertig der Erkenntnis verschlossen hat, dass sich der andere nur unter dem Zwang der Verhältnisse auf den für ihn ungünstigen Vertrag eingelassen hat. Eine verwerfliche Gesinnung wird beim Vorliegen eines besonders groben Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung, nämlich, wenn der Wert der Leistung annähend doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung, vermutet. Zur Feststellung kommt es auf die objektiven Werte der Leistungen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses und auf die vertraglichen Vereinbarungen an. Unerheblich ist, das was die Parteien sich nachfolgend einander gewährt haben.
Eine solches grobes Missverhältnis und somit ein wucherähnliches Geschäft nach § 138 Abs. 1 BGB liegt im vorliegenden Fall vor, da der Händlereinkaufswert des Fahrzeugs (13.700 EUR) den Kaufpreis des Fahrzeugs (5.000 EUR) um das 2,7-fache überstieg und somit die Grenze zur Vermutung der verwerflichen Gesinnung überschritten wurde.
Zugleich könnte jedoch diese Vermutung durch die Umstände der vertraglichen Vereinbarung zur Anmietung, etwaige Nachteile der A und die Regelungen zur Verwertung des Fahrzeugs nach Ablauf der Mietzeit widerlegt werden.
Der BGH führt aus, dass eine Widerlegung der Vermutung für die Fälle in Betracht kommen kann, wenn der außergewöhnliche niedrige Kaufpreis im Rahmen der Vertragsdurchführung durch weitere Zahlungen an den Verkäufer (hier: B) teilweise ausgeglichen wird. Ein solcher Fall liege vorliegend jedoch nicht vor, sondern im Mietverhältnis setze sich vielmehr das im Kaufvertrag begründete wirtschaftliche Ungleichgewicht zu Lasten des Klägers fort. Denn der B trug als Mieter – abweichend von der gesetzlichen Regelung § 535 Abs. 1 S. 2, 3 BGB – sämtliche mit der Nutzung des Kraftfahrzeugs verbundene Kosten, wie Versicherung, Steuern, Wartung und Reparatur.
Die Nachteile, die die Vermieterin (hier: A) dadurch erleiden könnte, dass der Mieter (B) das Fahrzeug beschädigen könnte, beschränken sich in dem Risiko der Durchsetzbarkeit der dann entstehenden Schadenersatzforderungen gegen den Mieter. Dieses Risiko ist jedoch nicht von dem Gewicht, welches die verwerfliche Gesinnung entkräften könnte.
Auch eine Verwertungsregelung, wonach der Mieter (B) den Mehrerlös bei einer Versteigerung erhält genügt zur Widerlegung der Vermutung nicht, denn diese Regelung greife nur bei einem Dritterwerb ein. Ein solchen Dritterwerb und somit der Auszahlung des Mehrerlöses kann jedoch die Vermieterin (A) durch den Selbsterwerb – wie vorliegend auch geschehen – verhindern.
Somit kann die Vermutung der verwerflichen Gesinnung nicht widerlegt werden und eine Annahme eines wucherähnlichen Geschäfts i.S.d § 138 Abs. 1 BGB bejaht werden.
(2) Durchbrechung des Trennungs- und Abstraktionsprinzips
Ob die Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts in Durchbrechung des Trennungs- und Abstraktionsprinzip auch zur Nichtigkeit des Verfügungsgeschäfts führt, hängt davon ab, ob ein Fall der Fehleridentität gegeben ist. Dies ist bei einer Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 2 BGB dann der Fall, wenn die Unsittlichkeit gerade auch im Vollzug des sittenwidrigen Vertrags liegt, wenn also mit dem dinglichen Rechtsvorgang sittenwidrige Zwecke verfolgt werden oder in ihm die Sittenwidrigkeit begründet ist.
Ein solcher Fall wurde vorliegend bejaht, da die sittenwidrige Benachteiligung des B sich nicht darin erschöpfte, eine Verpflichtung für einen deutlich zu geringem Kaufpreis zu übernehmen, sondern erst durch die Übertragung des Eigentums an dem Kraftfahrzeug wurde A in die Lage versetzt sich durch die mietweise Überlassung an B und die spätere Verwertung unrechtmäßige Vorteile zu Lasten des B sich zu verschaffen.
Somit erstreckt sich die Nichtigkeit des Kaufvertrags auch auf die Nichtigkeit des Verfügungsgeschäfts, sodass die dingliche Einigung wegen Verstoßes gegen § 138 Abs. 1 BGB unwirksam ist.
Aufgrund der Bejahung der Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB, lässt der BGH die Frage offen, ob die Unwirksamkeit des Vertrages ebenfalls aus § 134 BGB i.V.m § 34 Abs. 4 GewO wegen eines Verstoßes gegen das Verbotsgesetz des Rückkaufhandels folgen könnte. Hierbei verweist der BGH lediglich auf eine am selben Tag ergangene BGH-Entscheidung (16.11.2022 VIII ZR 221/21). Dadurch, dass die GewO kein Prüfungsstoff in NRW ist, wird wohl vom Prüfling eine vertiefte Kenntnis nicht verlangt werden können.
bb) Zwischenergebnis
Folglich hat B hat sein Eigentum am Fahrzeug nicht an A gem. §§ 929 S. 1, 930 BGB verloren.
b) Eigentumsverlust infolge des gutgläubigen Erwerbs an A
B könnte sein Eigentum jedoch an A im Rahmen der Versteigerung nach §§929 1, 932 BGB verloren haben. Der BGH geht mangels Eigentümerstellung der A direkt auf den gutgläubigen Erwerb ein.
Für den Eigentumserwerb fehlte es jedoch am guten Glauben der A gem. § 932 Abs. 2 BGB. Gem. § 932 Abs. 2 BGB ist der Erwerber nicht in gutem Glauben, wenn ihm bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer ist. Grob fahrlässige Unkenntnis ist anzunehmen, wenn die Kenntnis deshalb fehlt, weil ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wie etwa dann, wenn sich die unbekannt gebliebenen Umstände förmlich aufgedrängt haben und leicht zugängliche Informationsquellen nicht genutzt wurden.
Die grob fahrlässige Unkenntnis der A, dass die Übereignung von B an sie unwirksam war und damit auch nicht infolge einer Zuschlagserteilung in der Versteigerung Eigentümerin werden konnte, wird aufgrund ihrer – zuvor geprüften – verwerflichen Gesinnung bejaht.
Folglich hat B sein Eigentum nicht an A verloren.
2. Besitzer ohne Recht zum Besitz
Zum Zeitpunkt des Verkaufs des Fahrzeuges übte A unmittelbaren Besitz. Ein mögliches Recht zum Besitz, welches aus dem Mietvertrag folgen könnte, bestand jedoch nicht, da der Mietvertrag mit dem Kaufvertrag ein einheitliches Rechtsgeschäft darstellte und mithin eine Gesamtnichtigkeit nach § 139 BGB gegeben war.
Somit lag eine Vindikationslage zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses vor.
II. Das schädigende Ereignis
Zudem müsste ein schädigendes Ereignis vorliegen. Dieses ist nach § 989 BGB gegeben, wenn die Sache verschlechtert wird, untergeht oder aus einem anderen Grund vom Verpflichteten nicht herausgegeben werden kann. Dieses schädigende Ereignis bestand in der Übereignung von A an das Unternehmen C im Rahmen eines gutgläubigen Erwerbs nach §§ 929 S. 1, 932 BGB infolge dessen dem A eine Herausgabe nicht mehr möglich war.
III. Bösgläubigkeit, § 990 BGB
Zudem müsste A in Bezug auf sein fehlendes Recht zum Besitz bösgläubig sein.
Im Rahmen der Prüfung des §§ 989, 990 Abs. 1 S. 1 BGB ist der Bezugspunkt der Bösgläubigkeit das fehlende eigene Recht zum Besitz und nicht wie bei § 932 das Eigentumsrecht. Es gilt jedoch derselbe Maßstab wie § 932 Abs. 2 BGB mithin die positive Kenntnis oder zumindest grob fahrlässige Unkenntnis. Wie bereits ausgeführt ist der A infolge grober Fahrlässigkeit die Unwirksamkeit der Übereignung an sie unbekannt geblieben, sodass sie ebenfalls hinsichtlich ihres Besitzrechts von Anfang an bösgläubig war.
IV. Verschulden
Der A ist bei der Veräußerung des Fahrzeugs an das Unternehmen C zumindest Fahrlässigkeit vorzuwerfen, sodass sie schuldhaft gem. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276 BGB nicht mehr zur Herausgabe in der Lage ist.
V. Rechtsfolge
Als Rechtsfolge gilt nach §§ 990 Abs. 1, 989, 249 Abs. 1, 251 Abs. 1 BGB der Ersatz der Vermögensschäden, die dem Eigentümer daraus entstehen, dass der Besitzer die Sache nicht herausgeben kann. Hinsichtlich der Höhe wird der Wiederbeschaffungswert herangezogen, also den Betrag, der aufgebracht werden muss, um ein vergleichbares Fahrzeug zu erwerben. Dieser wurde zum Zeitpunkt der Versteigerung auf 16.000 EUR geschätzt. Zu beachten ist jedoch, dass der von A bereits gezahlte Kaufpreis in Höhe von 5.000 EUR abzuziehen ist, sodass der Schadenersatzanspruch sich auf 11.000 EUR beläuft.
VI. Ergebnis
B hat gegen A einen Schadenersatzanspruch aus §§ 990, 989, 249 I, 251 I BGB in Höhe von 11.000 EUR.
B. Bereicherungsrechtlicher Rückzahlungsanspruch der gezahlten Miete gem. §§ 812 I 1 Alt.1, 818 Abs. 2 BGB
B könnte gegen A einen Rückzahlungsanspruch der gezahlten Mieten in Höhe von 4.445 EUR sowie der Bearbeitungsgebühr in Höhe von 99 EUR gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB haben.
I. Etwas erlangt durch Leistung
Der A hat Eigentum und Besitz an dem gezahlten Geld bzw. einen Anspruch auf Gutschrift gegen seinen Zahlungsdienstleister erlangt. Dies erfolgte auch durch Leistung, da der B das Vermögen der A in Erfüllung seiner Mieterpflicht und damit bewusst und zweckgerichtet mehrte.
II. Ohne Rechtsgrund
Aufgrund der Nichtigkeit des Kaufvertrages, welcher mit dem Mietvertrag ein einheitliches Rechtsgeschäft bildet und mithin die Folge der Gesamtnichtigkeit gem. § 139 BGB hat, wurde das Eigentum und Besitz an dem Geld zwar durch Leistung, aber ohne Rechtsgrund erlangt.
III. Rechtsfolge
Als Rechtsfolge hat der Bereicherungsschuldner bei Unmöglichkeit der Herausgabe des Erlangten in Natur den Wertersatz gem. § 812 Abs. 2 BGB zu leisten.
IV. Ergebnis
Der B hat gegen A einen Rückzahlungsanspruch der gezahlten Mieten in Höhe von 4.445 EUR sowie der Bearbeitungsgebühr in Höhe von 99 EUR aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB
C. Anspruch auf Zahlung von Rechtshängigkeitszinsen
Zudem wird noch geprüft, dass der B Anspruch auf Zahlung von Rechtshängigkeitszinsen aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB, 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO hat, welcher gem. § 187 Abs. 1 BGB ab dem Folgetag der Klagezustellung bemessen wird.
In seiner Entscheidung vom 20.09.2022 – 18 U 538/22 befasste sich das OLG München mit einem immer wiederkehrenden Klassiker des Bereicherungsrechts: Die teleologische Reduktion des § 817 S. 2 BGB. Die Vorschrift des § 817 S. 2 BGB – auch „Kondiktionssperre“ genannt – regelt den Ausschluss des Bereicherungsanspruchs des Leistenden, dem ein gesetzes- bzw. sittenwidriges Verhalten anzulasten ist. Das heißt, wenn der Leistende schon den Boden der Rechtschaffenheit verlässt und sich durch sein Geschäft in den Bereich der Illegalität begibt, soll er nicht dann noch Rechtsschutz beanspruchen und das Geleistete nach den Vorschriften der §§ 812 ff. BGB zurückfordern können.
I. Sachverhalt
Der Kläger nahm als Spieler an Online-Glücksspielen teil, deren Anbieterin und gleichzeitig Beklagte des Rechtsstreits in Malta saß. Ebendort besaß die Beklagte eine maltesische Lizenz für die Durchführung derartiger Glücksspiele – in Deutschland, am Wohnsitz des Klägers, hingegen nicht. In dem fast zweijährigen Zeitraum zwischen Oktober 2018 und September 2020 führte die Teilnahme an den deutschsprachigen Glücksspielen zu Verlusten aufseiten des Klägers in Höhe von 18.175,00 Euro. Der Kläger litt an einer Spielsucht und war sich im Übrigen wohl nicht darüber bewusst, dass Glücksspiele wie diese in Deutschland einem gesetzlichen Verbot unterliegen. Das OLG München befasste sich als zweite Instanz mit der Frage, ob der Kläger die verspielte Summe zurückverlangen kann.
II. Rechtlichen Erwägungen
1. Anwendbarkeit des deutschen Sachenrechts
Gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b Rom-I-VO ist im entschiedenen Fall das deutsche Sachenrecht anwendbar: (1) Die Parteien schlossen einen Verbrauchervertrag, (2) der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers war in Deutschland und (3) entsprechend lit. b hat der Kläger sein Glücksspielgewerbe auf Deutschland ausgerichtet, war sein Angebot doch auch in deutscher Sprache abrufbar.
2. Tatbestandsvoraussetzungen des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
Sodann prüfte das Gericht die Tatbestandsvoraussetzungen eines bereicherungsrechtlichen Anspruchs des Klägers gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB. Der Anspruch steht dem Anspruchsteller dann zu, wenn der Anspruchsgegner etwas durch Leistung des Anspruchstellers und ohne Rechtsgrund erlangt hat.
a. Etwas erlangt durch Leistung
Im entschiedenen Fall erzielte die Klägerin durch den Einzug des Spielgeldes in Höhe von 18.175,00 Euro einen vermögenswerten Vorteil und hat mithin etwas erlangt. Diesen Vorteil erlangte die Beklagte durch eine zwecks Spielvertrags erbrachte Leistung des Klägers.
b. Ohne Rechtsgrund
Hinsichtlich des Rechtsgrundes stritten die Parteien:
aa. Nichtigkeit des Glücksspielvertrags gemäß § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV
Der Kläger berief sich auf die Nichtigkeit des Glücksspielvertrags gemäß § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV i.V.m. § 134 BGB. Der § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV verbietet das Veranstalten und das Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet, die nicht von S. 1 erfasst sind. Das OLG München schloss sich der Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts an, dass Sinn und Zweck der Norm die Suchtprävention und der Gesundheitsschutz seien. Daher sei die Vorschrift so zu verstehen, dass sie das Rechtsgeschäft des Onlineglücksspiels „als solches missbilligt“ (LG Traunstein, Urt. v. 20.12.2021 – 3 O 1549/21, BeckRS 2021, 58417 Rn. 23). § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV stelle folglich eine taugliche Verbotsnorm dar. Die Beklagte hatte für die durchgeführten Glücksspiele keine gültige Erlaubnis, sodass der Glücksspielvertrag zwischen der Beklagten und dem Kläger dem Verbot des § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV unterfällt und daher gem. § 134 BGB nichtig ist.
bb. Unionsrechtswidrigkeit der Verbotsnorm?
Die Beklagte hingegen stützte sich auf die Unionsrechtswidrigkeit der Verbotsnorm und ihre Unvereinbarkeit mit Art. 56 AEUV, welcher ein Verbot für Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs statuiert. Jene Rechtsfrage wurde jedoch nicht weiter relevant, da die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits in mehreren Urteilen einen etwaigen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit als gerechtfertigt ansah und einen Verstoß der deutschen Vorschrift gegen das Unionsrecht ablehnte (z.B. BGH, Urt. v. 22.7.2021 – I ZR 194/20; BVerwG, Urt. v. 26.10.2017 – 8 C 18/16).
c. Zwischenergebnis
Der Vertrag ist mithin gem. § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV i.V.m. § 134 BGB nichtig. Der Kläger erbrachte die zielgerichtete Leistung ohne Rechtsgrund. Der Tatbestand des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ist erfüllt.
3. Eingreifen der Kondiktionssperre, § 817 S. 1 BGB?
Allerdings könnte der Rückforderungsanspruch gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen sein. Das Gesetz verlangt hierfür, dass „dem Leistenden gleichfalls ein solcher Verstoß [gegen das Gesetz und die guten Sitten] zur Last fällt“. In der Rechtsprechung bildete sich neben dem objektiven Kriterium auch ein subjektives heraus: So muss der Leistende objektiv einen gesetzlichen Verstoß begangen haben, sich aber auch in subjektiver Hinsicht zumindest der Einsicht in den Gesetzes- oder Sittenverstoß leichtfertig verschlossen haben (so auch das OLG München, Beschl. v. 20.09.2022 – 18 U 538/22, BeckRS 2022, 30008 Rn. 20).
Im entschiedenen Fall wurde die Verbotsnorm des § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV herangezogen. Ihrem Wortlaut nach verbietet sie das Veranstalten und das Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet. Der Adressat der Norm ist somit der Veranstalter des Glücksspiels, nicht aber der Konsument, sodass dem Spieler selbst ein Verstoß gegen die Norm nicht angelastet werden könne (so das LG Traunstein, Urt. v. 20.12.2021 – 3 O 1549/21, BeckRS 2021, 58417 Rn. 31). Ein möglicher Verstoß hätte sich weiterhin objektiv aus § 285 StGB ergeben können. Doch auch da konnte jedenfalls der subjektive Aspekt nicht festgestellt werden, da die darlegungs- und beweispflichtige Beklagte keinen Beweis diesbezüglich führte. Die Kondiktionssperre greift daher mangels Vorliegens der subjektiven Voraussetzungen nicht ein.
4. Teleologische Reduktion des § 817 S. 2 BGB
Das OLG München hielt zusätzlich – ohne dass es für den Fall entscheidend war – fest, dass in einer solchen Sachverhaltskonstellation eine teleologische Reduktion des § 817 S. 2 BGB geboten wäre. Im Zusammenhang mit § 817 S. 2 BGB ist diese grundsätzlich dann vorzunehmen, wenn durch die Kondiktionssperre der gesetzes- bzw. sittenwidrige Zustand aufrechterhalten oder gar gefördert wird. So dürfte die Kondiktionssperre in den Fällen nicht eingreifen, „in denen ein Ausschluss der Rückforderung nicht mit dem Zweck des Bereicherungsrechts vereinbar wäre […] [und] die Rechtswidrigkeit des Geschäfts auf Vorschriften beruht, die gerade den leistenden Teil schützen sollen“ (OLG München, Beschl. v. 20.09.2022 – 18 U 538/22, BeckRS 2022, 30008 Rn. 21). Damit sind zwei Gesichtspunkte zu beachten: Die Schutzrichtung des Verbotsgesetzes und die Vereinbarkeit der Kondiktionssperre im konkreten Fall mit dem Telos des Bereicherungsrechts.
Das Gericht warf einen systematischen Blick in den Staatsvertrag und argumentierte folgendermaßen (OLG München, Beschl. v. 20.09.2022 – 18 U 538/22, BeckRS 2022, 30008 Rn. 21): Die Vorschrift des § 1 GlüStV statuiert die Ziele des Staatsvertrags, die gemäß S. 2 insbesondere den glücksspielspezifischen Sucht-, Betrugs-, Manipulations- und Kriminalitätsgefährdungspotentialen Rechnung tragen sollen. Gesetzgeberischer Wille sei daher auch, die Spieler generell vor unerlaubtem Glücksspiel zu schützen. Würde die Kondiktionssperre nach einer geleisteten Transaktion seitens des Spielers nicht greifen, so würde der Anbieter von der Kondiktionssperre gar profitieren, da der gesamte Spieleinsatz ihm dauerhaft zugesichert wäre. Gleichzeitig würde der rechtswidrige Zustand fortbestehen und ein Anreiz für das illegale Geschäft geschaffen werden, könnten Anbieter solches weiterhin veranstalten und die Geldeinsätze aufgrund ihrer Kondiktionsfestigkeit einbehalten. Ein solches Ergebnis stehe aber mit dem Zweck des Bereicherungsrechts nicht im Einklang. Daher sei eine teleologische Reduktion des § 817 S. 2 BGB geboten – auch wenn der Spieler Kenntnis von der Illegalität des Glücksspiels hat. Der bereicherungsrechtliche Anspruch des Spielers unterliegt somit nicht der Kondiktionssperre.
5. Rechtsfolge
Eine Herausgabe des Geldes „in natura“ ist in einem solchen Fall nicht möglich, sodass dem Spieler der Wert des Erlangten gemäß § 818 Abs. 2 BGB zu ersetzen ist.
III. Einordnung der Entscheidung
Konsumenten von Online-Glücksspielen können sich über eine weitere verbraucherfreundliche Entscheidung freuen. Der Ansatz des OLG München vermag aber noch keine Leitentscheidung darzustellen, reiht er sich vielmehr in eine (sich der Klärung noch nicht nähernde) Diskussion um den Eingriff der Kondiktionssperre ein. Als Gegenpol zur aufgezeigten Entscheidung lässt sich beispielsweise die Beurteilung des LG Bonn, Urt. v. 30.11.2021 – 5 S 70/21 heranziehen, dessen Ansätze nur als Exempel für die noch uneinheitliche Rechtsprechung skizziert werden:
So kommt das LG Bonn zum gegenteiligen Ergebnis, dass die Kondiktionssperre des § 818 Abs. 2 BGB einschlägig ist. Die Beteiligung am unerlaubten Glücksspiel ist gemäß § 285 StGB strafbar, sodass jedenfalls jene strafrechtliche Vorschrift als Verbotsnorm herangezogen werden kann. Nun müsste der Spieler in Unkenntnis dieser Vorschrift gehandelt haben. Dabei ist – laut dem LG Bonn – insbesondere bei langjährigen Spielern durchaus zweifelhaft, ob sie tatsächlich von der Legalität des Online-Glücksspiels ausgehen und deswegen von den Konsequenzen des § 817 S. 2 BGB befreit sind. Das Gericht argumentiert, dass in den letzten 10 Jahren iGaming und Online-Glücksspiele stark an Relevanz zugenommen haben. Fragen um die Legalität des Glücksspiels waren in der überregionalen Presse und Berichterstattung nicht nur beiläufiger Gegenstand, sondern standen ständig im Mittelpunkt der Öffentlichkeit, sodass es „lebensfremd“ sei, einem erfahrenen Spieler Unkenntnis bzw. Verschlossenheit hinsichtlich der Illegalität zuzuschreiben (LG Bonn, Urt. v. 30.11.2021 – 5 S 70/21, BeckRS 2021, 44724 Rn. 24).
Auch nimmt das Bonner Gericht hinsichtlich der Intention des Gesetzgebers des GlüStV eine andere Interpretation vor. Es ordnet die Vorschrift des § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV nicht als eine dem Individualinteresse dienende Schutznorm ein, sondern versteht diese als eine ordnungsrechtliche Bestimmung, die sich lediglich an die Glücksspielaufsicht richtet, da sie in einem „Zusammenhang mit den Überwachungsbefugnissen der Glücksspielaufsicht in § 9 GlüStV“ (LG Bonn, Urt. v. 30.11.2021 – 5 S 70/21, BeckRS 2021, 44724 Rn. 32) steht (vgl. auch LG München II, Urt. v. 19.8.2021 – 9 O 5322/20). Die Vorschrift sei mithin keine taugliche Verbotsnorm i.S.d. § 817 S. 2 BGB.
Ferner handelt es sich nach Auffassung des LG Bonn um einen Verstoß gegen Treu und Glauben, wenn der Spieler zunächst „sehenden Auges und aus eigenem Handlungsantrieb heraus“ (LG Bonn, Urt. v. 30.11.2021 – 5 S 70/21, BeckRS 2021, 44724 Rn. 28) an Online-Glücksspielen teilnehmen kann, um sich dann im Falle von Verlusten das verspielte Geld auf gerichtlichem Wege zurückzuholen – für den Spieler bedeutet dieses rechtliches Ergebnis ein risikoloses Geschäft. Während das LG Bonn also eine Korrektur über § 242 BGB befürwortet, spricht sich das vorinstanzliche Gericht der besprochenen Entscheidung, das LG Traunstein, dagegen aus: § 242 BGB habe lediglich den Charakter einer „Auffangnorm“ (LG Traunstein, Urt. v. 20.21.2021 – 3 O 1549/21, BeckRS 2021, 58417 Rn. 38) und sei nicht heranzuziehen und rechtlich auszureizen, wenn es bereits speziellere Normen gibt, deren Voraussetzungen aber nicht vorliegen. Dabei übersieht letzteres Gericht womöglich, dass Funktion des § 242 BGB nicht ausschließlich die „Lückenfüllung“, sondern auch die Begrenzung vorhandenen Rechts ist (vgl. MüKoBGB/Schubert, 9. Aufl. 2022, § 242 Rn. 2). Stärker spielte aber in die Erwägungen des LG Traunstein noch hinein, dass der Kläger der besprochenen Entscheidung keine Kenntnis von der Illegalität des Glücksspiels hatte. Ihm könnte daher der Vorwurf der Treuwidrigkeit nicht angelastet werden – so „jedenfalls im Vergleich mit den Rechtsverstößen, die der Beklagten anzulasten sind“ (LG Traunstein, Urt. v. 20.21.2021 – 3 O 1549/21, BeckRS 2021, 58417 Rn. 38).
Wie man erkennen kann, ist eine plausible Argumentation in unterschiedliche Richtungen möglich. Ein höchstrichterliches Urteil hinsichtlich der behandelten Fragen steht weiterhin noch aus. Es bleibt somit gespannt abzuwarten, wie der BGH an diese Problematik herangeht.
Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Moritz Augel veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn.
Treibender Beat, bunt blinkende Animationen und der Satz: „Dieses Angebot gilt nur für Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort in Schleswig-Holstein“ – so sah Online-Glücksspielwerbung bis zum Inkrafttreten des neuen Glücksspielstaatsvertrags am 1. Juli 2021 aus. Dieser Satz entspringt einem Sonderweg, den Schleswig-Holstein im Jahr 2011 in Bezug auf das Online-Glücksspiel eingeschlagen hatte. Infolge geschickter Lobby-Arbeit und in der Hoffnung auf Einnahmen für den Landeshaushalt entschied sich die dortige Landesregierung dafür privaten Anbietern von Sportwetten und Glücksspiel Lizenzen anzubieten, die es ihnen erlaubten ihre Geschäfte nun auch online zu verfolgen. Im Rest Deutschlands sah man diesen Schritt skeptisch und so blieb Schleswig-Holstein bis ins Jahr 2021 das einzige Bundesland, in dem es den Anbietern erlaubt war Glücksspiel auch online zu betreiben. Doch nicht nur die Einwohner Schleswig-Holsteins konnten online zocken und so spielten bald munter Bürger aus ganz Deutschland und verloren so zum Teil große Summen. Dabei nahmen es die Anbieter häufig nicht all zu genau und verschlossen wohlwollend ihre Augen, wenn sich Spieler aus dem gesamten Bundesgebiet anmeldeten. Man hatte ja schließlich ausdrücklich darauf hingewiesen – die Werbung schaltete man dennoch bundesweit.
Ein Urteil des OLG Braunschweig (Urt. v. 23.2.2023 – 9 U 3/22) gewährt nun einem Spieler aus Niedersachsen Anspruch auf Rückzahlung der von ihm in den Jahren 2018 und 2019 verzockten Summe von über 45.000 € aus § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt BGB.
Nachfolgend soll die Entscheidung in Form einer gutachterlichen Prüfung dargestellt werden:
I. Der Spieler (S) könnte gegen das Glücksspiel-Unternehmen (G) einen Anspruch auf Rückzahlung der 45.000 € aus § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB haben.
1. Etwas erlangt
Erlangtes etwas ist jedwede Verbesserung der Vermögenslage des Bereicherungsschuldners (Wiese, Schulze BGB, 11. Aufl. 2021, § 812, Rn. 3). G hat Gutschriften (§ 675t BGB) in Höhe von insgesamt 45.000 € und damit einen vermögenswerten Vorteil erlangt.
2. Durch Leistung
Das Vermögen müsste ferner durch Leistung des Bereicherungsgläubigers gemehrt worden sein. Leistung ist jede bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens (Wiese, Schulze BGB, 11. Aufl. 2021, § 812, Rn. 5). S überwies in Etappen insgesamt 45.000 € um am Online-Glücksspiel teilnehmen zu können. Das Vermögen des G wurde damit durch Leistung gemehrt.
3. Ohne Rechtsgrund
Voraussetzung für die Leistungskondiktion ist ferner das Fehlen eines rechtlichen Grundes für die Bereicherung (Wiese, Schulze BGB, 11. Aufl. 2021, § 812, Rn. 7). Vorliegend könnte sich ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen aus dem zwischen S und G geschlossenen Vertrags über die Teilnahme am Online-Casino ergeben. Fraglich ist jedoch, ob dieser Vertrag wirksam zustande gekommen ist. Der Vertrag könnte jedoch wegen Verstoßes gegen den damals geltenden § 4 Abs. 4 Glücksspielstaatsvertrag gemäß § 134 BGB nichtig sein. Problematisch ist jedoch, dass sich das Verbot Online-Glücksspiele anzubieten allein an G richtet. Fraglich ist daher, ob auch ein einseitiger Gesetzesverstoß die Nichtigkeit nach § 134 BGB zur Folge hat.
„Gemäß § 4 Abs. 4 GlüStV 2012 ist das Veranstalten und Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet verboten. Die Beklagte hat dagegen verstoßen, indem sie ihr Angebot auch Spielern in Niedersachsen zugänglich gemacht hat. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage des Gesetzesverstoßes ist derjenige der Vornahme des Rechtsgeschäfts (BGH, Urt. v. 23.2.2012 – I ZR 136/10, juris, Rn. 22; Ellenberger, in: Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 134 Rn. 12 a m.w.N).“ (OLG Braunschweig, Urt. v. 23.2.2023 – 9 U 3/22, Rn. 65).
„In besonderen Fällen – wie hier – kann sich die Nichtigkeit allerdings auch aus einem einseitigen Verstoß ergeben, falls der Zweck des Verbotsgesetzes anders nicht zu erreichen ist und die rechtsgeschäftlich getroffene Regelung nicht hingenommen werden darf (BGH, Beschl. v. 13.9.2022 – XI ZR 515/21, juris, Rn. 11 m.w.N.). Eine solche Ausnahme liegt etwa vor, wenn der angestrebte Schutz des Vertragspartners die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts erfordert (BGH, Urt. vo. 17.5.1979 – III ZR 118/77, WM 1979, 1035) oder wenn der Erfüllungsanspruch auf eine unerlaubte Tätigkeit gerichtet ist (BGH, Urt. v. 25.6.1962 – VII ZR 120/61, BGHZ 37, 258, 262).“ (OLG Braunschweig, Urt. v. 23.2.2023 – 9 U 3/22, Rn. 89)
„Vorliegend will § 4 Abs. 4 GlüStV 2012 nicht nur den Abschluss eines Spielervertrags im Internet unterbinden, sondern die Folgen des dann durchgeführten Glücksspiels. Er dient der Suchtprävention und -bekämpfung, dem Spieler- und Jugendschutz, der Kriminalitätsprävention und der Vermeidung von Gefahren für die Integrität des Sports.“ (OLG Braunschweig, Urt. v. 23.2.2023 – 9 U 3/22, Rn. 93.)
Der Schutzcharakter des § 4 Abs. 4 des Glücksspielstaatsvertrags gebietet es daher den zwischen G und S geschlossenen Spielvertrag trotz des einseitigen Gesetzesverstoßes als insgesamt nach § 134 BGB nichtig anzusehen. Damit gibt es keinen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der 45.000 €.
Damit besteht grundsätzlich ein Anspruch des S gegen G auf Rückzahlung der 45.000 € aus § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB.
II. Kondiktionssperre
Der Anspruch könnte jedoch gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen sein. Gemäß § 817 S. 2 BGB ist der Kondiktionsanspruch ausgeschlossen, wenn dem Leistenden gleichfalls ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten zur Last fällt (Wiese, Schulze BGB, 11. Aufl. 2021, § 817, Rn. 5). § 817 S. 2 BGB setzt voraus, dass der Leistende vorsätzlich, also bewusst verbotswidrig oder sittenwidrig gehandelt hat; dem steht es gleich, wenn er sich der Einsicht in das Verbotswidrige oder Sittenwidrige seines Handelns leichtfertig verschlossen hat (OLG Frankfurt, Beschl. v. 8.4.2022 – 23 U 55/21, Rn. 50). Dass es für den S, als Bürger Niedersachsens nicht erlaubt war an dem Glücksspiel teilzunehmen könnte sich ihm vorliegend aufgrund des Werbeslogans „Dieses Angebot gilt nur für Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort in Schleswig-Holstein“ aufgedrängt haben.
Auch wenn die Werbung für Online-Glücksspiele einen textlich dargestellten und/oder schnell gesprochenen Hinweis darauf zu enthalten pflegt(e), dass sich das Angebot nur an Spieler in Schleswig-Holstein richte, lässt sich daraus keine allgemeine Bekanntheit des generellen Verbots von Online-Glücksspielen außerhalb dieses Bundeslandes in Deutschland herleiten (OLG Braunschweig, Urt. v. 23.2.2023 – 9 U 3/22, Rn. 132).
Hinzu kommt, dass der Umstand, dass die Beklagte dem Kläger in der Folge nach ordnungsgemäßer Registrierung offenbar tatsächlich den begehrten Zugang zu dem Online-Spiel gewährte, geeignet war, etwaige Bedenken des Klägers gegen die Rechtmäßigkeit seines Spiels zu zerstreuen (OLG Braunschweig, Urt. v. 23.2.2023 – 9 U 3/22, Rn. 133.).
Der Anspruch des S ist daher nicht nach § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen.
S hat daher gegen G einen Anspruch auf Rückzahlung der 45.000 € aus § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB.
Ebenfalls diskutiert wird ein Zahlungsanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB. Dafür müsste es sich bei § 4 Abs. 4 des Glücksspielstaatsvertrags um ein Schutzgesetz handeln. Dies verneint das OLG Frankfurt m. Beschl. v. 8.4.2022 – 23 U 55/21, Rn. 18), während das OLG Köln, sowie das LG Konstanz die Frage bejahen und damit auch einen deliktischen Anspruch zuerkennen (LG Konstanz, Urt. v. 02.02.2022 – D 2 O 287/21, Rn. 46 f.).
Das Urteil des OLG Braunschweigs fügt sich in eine Reihe von Entscheidungen ein, in denen es den Spielern gelingt ihre Verluste zurückzufordern. (vgl. bspw. OLG München, Beschl. v. 20.9.2022 – 18 U 538/22; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 – I-19 U 51/22; OLG Frankfurt, Beschl. v. 8.4.2022 – 23 U 55/21; OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 – 10 U 736/22; LG Hamburg, Urt. v. 12.1.2022 – 319 O 85/21) Nun hat auch der BGH Gelegenheit zur Stellungnahme. Aktuell ist ein Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen VI ZR 99/23 anhängig. Ohne das Verfahren vorwegzunehmen, wäre es angesichts der klaren Tendenz der bisherigen Rechtsprechung eine Überraschung, wenn der BGH den Rückzahlungsanspruch verneinen würde.
Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.
Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe? Einstellen oder aburteilen? Liest man sich erst einmal in die Grundlagen des Jugendstrafrechts ein, fällt auf: Das Jugendstrafrecht hat als Sonderstrafrecht für junge Täter*innen ein ganz eigenes Rechtsfolgensystem. Dieses nachvollziehen zu können, erfordert eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem JGG. Das Jugendstrafrecht geht mit Strafe nämlich deutlich anders um als das Erwachsenenstrafrecht. Es stellt den Erziehungsgedanken in den Vordergrund und nimmt Abstand von negativer Generalprävention. § 5 JGG enthält ein in sich geschlossenes eigenständiges System von Rechtsfolgen. § 5 JGG gilt für Jugendliche und über § 105 Abs. 1 JGG in großen Teilen für Heranwachsende und normiert als mögliche Rechtsfolgen eine Trias aus Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmitteln (§§ 13- 16 JGG) und der Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). § 5 Abs. 1 JGG erfasst die reinen Erziehungsmaßnahmen, Abs. 2 die Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe). Wegen des unterschiedlichen Schwerpunktes in der Zielsetzung der Sanktionen sind die Rechtsfolgen des JGG gegenüber denen des Erwachsenenstrafrechts ein „aliud“ (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 5 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 5 Rn. 9). Gemäß § 8 JGG können die möglichen Sanktionen auch miteinander kombiniert werden.
I. Erziehungsmaßregeln
Fangen wir vorne an: Erziehungsmaßregeln können aus Anlass der Straftat angeordnet werden. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Erziehungsmaßregeln sind (1) die strafrechtliche Verantwortlichkeit, (2) Erziehungsbedürftigkeit, (3) Erziehungsfähigkeit und (4) Erziehungsbereitschaft. Ob sie angeordnet werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes. Entscheidend ist, dass die Erziehungsmaßregeln aus der Sicht des Gerichts nur erzieherische, positiv-präventive Zwecke verfolgen dürfen; Gesichtspunkte der Sühne und Vergeltung dürfen keine Rolle spielen (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 9 Rn. 7). Die Erziehungsmaßregeln stehen unter dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie sind nicht dafür bestimmt, das Unrecht der Tat auszugleichen, sondern werden nur aus Anlass der Tat angeordnet. Was genau Erziehungsmaßregeln sind, normiert § 9 JGG: Nr. 1 die Erteilung von Weisungen, Nr. 2 die Anordnung, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 in Anspruch zu nehmen. Diese Aufzählung ist erschöpfend und gilt gemäß § 105 Abs. 1 JGG auch für Heranwachsende. § 10 JGG definiert wiederum Weisungen als „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen“. Kommen die Jugendlichen oder Heranwachsenden Weisungen schuldhaft nicht nach, so kann gemäß § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung zuvor erfolgt war. Dieser Arrest wird in der Form des § 16 JGG angeordnet, ist also Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest. Die Erziehungsmaßregel „Hilfe zur Erziehung“ gemäß § 12 JGG wird in § 105 JGG nicht erwähnt und gilt daher nur für Jugendliche.
II. Ahndungsmittel
Reichen Erziehungsmaßregeln hingegen nicht aus, so hat das Gericht auf Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe) zurückzugreifen. Die Ahndungsmittel berücksichtigen neben dem Erziehungsgedanken ebenso die Sanktionszwecke der Sühne und Vergeltung.
III. Zuchtmittel
Auf der zweiten Stufe der Rechtsfolgentrias stehen nun die Zuchtmittel. Zuchtmittel haben nicht die Rechtswirkung einer Strafe. Die Verhängung von Zuchtmitteln setzt voraus, dass einerseits Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen, andererseits die einschneidendere Ahndungsform der Jugendstrafe nicht geboten ist (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 13 JGG Rn. 4; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 13 Rn. 7 ff.). § 13 Abs. 2 JGG enthält einen abschließenden Katalog von Zuchtmitteln: Die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen und den Jugendarrest. Die Verwarnung gemäß § 14 JGGgilt als mildestes Zuchtmittel. Sie kommt bei leichten Verfehlungen in Betracht. Die Verwarnung kann isoliert ausgesprochen oder mit anderen Maßnahmen kombiniert werden (§ 8 JGG). Die Ermahnung unterscheidet sich von der Verwarnung dadurch, dass sie kein Zuchtmittel ist, formlos erteilt wird und zur Einstellung des Verfahrens führt. Auflagen gemäß § 15 JGG dienen der Ahndung der Tat. Das mit den Auflagen angeordnete Verhalten ist eine echte tatbezogene Sühneleistung mit dem erzieherischen Zweck, den Jugendlichen und Heranwachsenden von weiteren Straftaten abzuhalten. Abs. 1 enthält dabei eine abschließende Regelung der im Jugendstrafrecht zulässigen Auflagen: Schadenswiedergutmachung, Entschuldigung, Arbeitsleistungen und Zahlung eines Geldbetrages. Bei schuldhafter Nichterfüllung von Auflagen kann das Gericht entsprechend § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest als Ungehorsamsarrest verhängen (§ 15 Abs. 3 JGG). Der Jugendarrest gemäß § 16 JGG ist Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 16 Rn. 27 ff.) und kann gegen Jugendliche sowie Heranwachsende verhängt werden. Jugendarrest ist kurzzeitiger Freiheitsentzug ohne Rechtswirkungen einer Strafe. Höchstmaß des Dauerarrestes ist ein Zeitraum von vier Wochen. Die oder der Verurteilte gilt nicht als vorbestraft.
IV. Jugendstrafe
In den §§ 17 ff. JGG finden sich die Vorschriften über die Jugendstrafe, dem letzten Glied der Rechtsfolgentrias. Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. Eine Jugendstrafe kann gegen Jugendliche und Heranwachsende verhängt werden. Voraussetzung für die Verhängung ist gemäß § 17 Abs. 2 JGG das Vorliegen einer „schädlichen Neigung“, die in der Tat hervorgetreten ist, das Nichtausreichen von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln zur Erziehung oder die Erforderlichkeit der Strafe aufgrund der Schwere der Schuld. Schädliche Neigungen liegen vor, „wenn bei dem Täter erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel zu beobachten sind, die ohne eine längere Gesamterziehung die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat angelegt waren und im Zeitpunkt des Urteils noch gegeben sind und deshalb weitere Straftaten befürchten lassen.“ Die besondere Schwere der Schuld ist regelmäßig nur bei Tötungsdelikten oder Delikten mit Todesfolge gegeben. § 18 JGG gibt als Dauer der Jugendstrafe als Mindestmaß 6 Monate, als Höchstmaß 10 Jahre an. Entgegen § 18 Abs. 1 JGG beträgt bei Heranwachsenden die Höchststrafe bis zu zehn Jahren, bei Mord und Vorliegen der besonderen Schwere der Schuld bis zu 15 Jahren (§ 105 Abs. 3 JGG). Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Dauer der Jugendstrafe nach der erforderlichen erzieherischen Einwirkung zu bemessen. § 18 Abs. 2 JGG steht damit im Kontrast zum Zumessungsprogramm des allgemeinen Strafrechts in § 46 StGB und bildet die Grundlage für eine eigenständige jugendstrafrechtliche Zumessungslehre.
V. Strafaussetzung zur Bewährung
Bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht regelmäßig die Vollstreckung der Strafe unter den Voraussetzungen des § 21 JGG zur Bewährung aus. Bei einer günstigen Prognose ist die Strafaussetzung zwingend vorgeschrieben. Voraussetzung für eine günstige Prognose ist die Erwartung, dass die oder der Jugendliche oder Heranwachsende künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird, und zwar aufgrund der Möglichkeiten in der Bewährungszeit und ohne die Einwirkung des Strafvollzuges. Die Strafaussetzung ist sowohl von einer günstigen Sozial- als auch von einer positiven Sanktionsprognose abhängig (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 21 JGG Rn. 8; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 21 Rn. 11ff.). Die Höchstgrenze der Strafaussetzung zur Bewährung beträgt zwei Jahre und richtet sich damit nach dem allgemeinen Strafrecht. Die Bewährungszeit darf gemäß § 22 JGG drei Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten. Auflagen und Weisungen nach § 23 JGG sind als flankierende Maßnahmen zu der Strafaussetzung auf Bewährung möglich.
VI. Vorabentscheidung gemäß § 27 JGG
§ 27 JGG normiert keine eigenständige Rechtsfolge des Jugendstrafrechts im strafrechtlichen Sinne. Die Vorschrift erlaubt nur in bestimmten Fällen die Aufspaltung der sonst vorgeschriebenen einheitlichen Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage. Hinsichtlich des Schuldspruchs trifft das Gericht eine rechtskraftfähige Vorabentscheidung, während die Rechtsfolgenbestimmung in Ob und Maß zunächst noch aufgeschoben und vom Bewährungsverlauf abhängig gemacht wird (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 27 Rn. 2). Inhaltlich regelt die Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz „in dubio pro reo“, die dazu führt, dass begründete Zweifel an dem Vorliegen einer schädlichen Neigung im notwendigen Umfang nicht dazu führen, von vornherein in dubio pro reo von einer Jugendstrafe abzusehen, sondern die Entscheidung darüber bis zur endgültigen Gewissheit aufzuschieben. Die Regelung des § 27 JGG soll den Jugendlichen und Heranwachsenden eine Chance bieten, in der Bewährungszeit (§ 28 JGG) zu zeigen, dass die festgestellten schädlichen Neigungen nicht den Umfang haben, den die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert. Die Entscheidung nach § 27 JGG wird in das Bundeszentralregister, nicht jedoch in das Führungszeugnis eingetragen. Die Eintragungen werden entfernt, wenn der Schuldspruch getilgt oder in eine Entscheidung einbezogen wird, die in das Erziehungsregister einzutragen ist. Wird die schädliche Neigung im erforderlichen Umfang festgestellt, ist gemäß § 30 Abs. 1 JGG eine Jugendstrafe zu verhängen. Wird diese hingegen nicht festgestellt, wird der Schuldspruch gemäß § 30 Abs. 2 getilgt (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 30 Rn. 18, 19).
VII. Aburteilung
Haben sich Jugendliche oder Heranwachsende wegen mehrerer Straftaten strafbar gemacht, setzt das Gericht gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 JGG nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest. Dabei dürfen die gesetzlichen Höchstgrenzen des Jugendarrestes und der Jugendstrafe nicht überschritten werden.
Wurden mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen begangen und werden diese gleichzeitig abgeurteilt, gilt gemäß § 32 S. 1 JGG einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die auch nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Liegt das Schwergewicht im allgemeinen Strafrecht, so ist dieses anzuwenden.
Welche dieser Sanktionsmittel schlussendlich verhängt werden, liegt im Ermessen des zuständigen Jugendgerichtes. Entscheidend sind neben der Schwere der Tat insbesondere die Reife der Jugendlichen und Heranwachsenden, die Vorschläge der Jugendgerichtshilfe sowie das Nachtatverhalten.
VIII. Einstellungsmöglichkeiten im JGG
Ähnlich wie im Erwachsenenstrafrecht gibt es aber auch im Jugendstrafrecht Einstellungsmöglichkeiten. Es muss also nicht immer jede Verfehlung vor Gericht landen oder auch durch Urteil entschieden werden. § 45 JGG ermöglicht ein Absehen von der Verfolgung. Die Staatsanwaltschaft kann ohne Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen. § 45 JGG ist eine der wesentlichen Grundlagen der Diversion im Jugendstrafverfahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 45 JGG Rn. 4). § 47 JGG ermöglicht die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht. Eingestellt werden kann, „wenn 1. die Voraussetzungen des § 153 der Strafprozeßordnung vorliegen, 2. eine erzieherische Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 2, die eine Entscheidung durch Urteil entbehrlich macht, bereits durchgeführt oder eingeleitet ist, 3. der Richter eine Entscheidung durch Urteil für entbehrlich hält und gegen den geständigen Jugendlichen eine in § 45 Abs. 3 Satz 1 bezeichnete Maßnahme anordnet oder 4. der Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist.“ Die Einstellung nach § 47 JGG bedarf gemäß Abs. 2 der Zustimmung der Staatsanwaltschaft, sofern nicht bereits der vorläufigen Einstellung zugestimmt wurde. Einer Zustimmung bedarf es ferner nicht, wenn die Einstellung im vereinfachten Jugendverfahren (§§ 76 ff. JGG) erfolgt und die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat.
In § 2 JGG ist klar normiert, dass der Erziehungsgedanke im Vordergrund zu stehen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Dieser Hintergedanke muss bei der Konfrontation mit dem Jugendstrafrecht auch stets beachtet werden. Nur mit diesem Hintergrund kann ein passender Umgang mit Jugendlichen und Heranwachsenden und die Prävention weiterer Taten erreicht werden. Dringend notwendig ist dafür die vertiefte Kenntnis des Sanktionssystems als „aliud“ zum Erwachsenenstrafrecht.
Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 hat das BVerfG entschieden, dass die Masernimpfpflicht nach § 20 IfSG verfassungsmäßig ist. Angesichts der noch ausstehenden Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Impfpflicht besitzt die Entscheidung nicht nur Bedeutung für Examenskandidaten, sondern eine weit darüberhinausgehende Relevanz für die Gesamtgesellschaft, womöglich auch mit nicht zu unterschätzender sozialer Sprengkraft. Ein Blick in die Entscheidungsgründe lohnt sich daher umso mehr.
Der hiesige Beitrag setzt sich mit der Entscheidung technisch auseinander und beinhaltet eine klausurmäßige Aufbereitung für Examenskandidaten, damit die Bausteine der Entscheidung im juristischen Gutachten auch an der richtigen Stelle verortet werden. Dort wo Ausführungen in der Klausurlösung nicht unbedingt erwartet werden können oder wo davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt hierzu keine Angaben macht oder machen kann, werden einige Passagen der Entscheidungsbegründung ausgelassen. Diese lassen sich natürlich hier aber noch einmal in der gesamten Länge nachlesen. Angesichts der Ausführlichkeit der Entscheidung wird hier auf eine Darstellung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verzichtet. Stattdessen wird sich auf eine Prüfung der Begründetheit konzentriert.
A. Der Sachverhalt
Die Beschwerdeführer richten sich gegen mehrere Regelungen des § 20 IfSG, im Einzelnen gegen § 20 Abs. 8 S. 1-3; Abs. 9 S. 1 und 6; Abs. 12 S. 1 und 3 sowie gegen Abs. 13 S. 1 IfSG.
Abs. 8 der Vorschrift regelt, dass Personen, die in einer bestimmten Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern, oder aber eine Immunität aufweisen müssen. Diese Pflicht gilt auch dann, wenn ausschließlich sogenannte Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die also mehrere Impfstoffkomponenten gegen verschiedene Krankheiten beinhalten. Für Personen, die in einer solchen Einrichtung tätig werden, gilt dies nach § 20 Abs. 9 ebenso. Kann eine betreute oder beschäftigte Person einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, darf sie nach § 20 Abs. 9 S. 6 und 7 weder in der Einrichtung tätig werden, noch dort betreut werden. Es handelt sich also um eine sogenannte mittelbare Impfpflicht, da kein unmittelbarer Impfzwang ausgeübt wird, sondern lediglich nachteilige Maßnahmen an die Nichtimpfung geknüpft werden. Zu einer Impfung selbst zwingt das Gesetz nicht unmittelbar. Der Nachweis ist nach Abs. 12 S. 1 dem zuständigen Gesundheitsamt vorzulegen, ist das Kind minderjährig, trifft diese Pflicht die Eltern (§ 20 Abs. 13 S. 1).
Die hiesigen Beschwerdeführer waren die Eltern mehrerer Kinder, die in einer solchen Gemeinschaftseinrichtung untergebracht werden sollten. Die minderjährigen Kinder sind nicht geimpft und verfügen auch über keine Immunität gegen Masern. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Entscheidung setzt sich damit ausschließlich mit der Impfpflicht für betreute Personen, nicht aber für Beschäftigte auseinander. Die Erwägungen des BVerfG lassen sich aber übertragen. Sollte der Klausursachverhalt auf die Beeinträchtigung der Grundrechte der dort Beschäftigten abzielen, kann daher ähnlich verfahren werden. Zu prüfen wäre dann eine Verletzung des Art. 12 GG neben einer Verletzung des Art. 2 GG.
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.
I. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
Zunächst könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorliegt.
1. Schutzbereich
Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:
„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers […]. Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind […]. Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen […].“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 78-79.
Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.
2. Eingriff
Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn durch zielgerichtetes staatliches Handeln in Form eines Rechtsaktes, welcher mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, unabhängig davon, ob die Wirkung final, unmittelbar, rechtlich erfolgt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, sofern die Grundrechtsbeeinträchtigung einer grundrechtsgebundenen Gewalt zugerechnet werden kann und nicht unerheblich ist. Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Eingriff vor:
„Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen […]. Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 81
Mithin liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor.
3. Rechtfertigung
Eine Verletzung des Grundrechts liegt nicht vor, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist, dies wäre der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.
a) Wahrung des Gesetzesvorbehalts
In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darf nach S. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, um ein solches handelt es sich bei den angegriffenen Regelungen des § 20 IfSG.
b) Formelle Verfassungsmäßigkeit
§ 20 IfSG müsste formell verfassungsmäßig sein.
aa) Zuständigkeit
Es handelt sich um ein Bundesgesetz, der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuständig, es handelt sich um eine Maßnahme gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren.
bb) Verfahren
Die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren wurden eingehalten.
cc) Wahrung des Zitiergebots
Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wurde für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in § 20 Abs. 4 GG gewahrt.
c) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz müsste materiell verfassungsmäßig sein.
aa) Verstoß gegen Art. 20 GG
Die Regelung des IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn sie nicht gegen die Grundsätze des Art. 20 GG verstößt. In Betracht kommt vorliegend ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes. Diese gebieten konkret, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. Zum einen ist der Gesetzgeber geboten die Fragen zu regeln, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, zum anderen die Regelungen, die für Staat und Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind.
„Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten […]. Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz […]. Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 96
Ein Verstoß kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt werden kann:
„§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen […]. Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt […].
So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocke […] und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. […] Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 98-100
Berücksichtigt man diese Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung, liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor. Dieses Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung ist auch für die nachfolgenden Ausführungen zu unterstellen, die Norm besitzt ausschließlich diesen Rechtsgehalt.
bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung
Die angegriffenen Normen müssten auch verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgt, die Regelung zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung angemessen ist, das heißt die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen steht.
(1) Legitimer Zweck
Der Gesetzgeber müsste einen legitimen Zweck verfolgen:
„Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen […]. Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. […] Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden […]. […] Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […].“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 106-107.
Die Impfpflicht verfolgt daher einen legitimen Zweck.
(2) Geeignetheit
Die gesetzliche Regelung müsste geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, das heißt sie müsste in der Lage sein, diesen Zweck zu fördern:
„Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen […] erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs […] Der Impfschutz wirkt lebenslang.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 114-115
Die Impfpflicht ist zur Zielerreichung geeignet.
(3) Erforderlichkeit
Dies gesetzliche Regelung müsste erforderlich sein, das heißt es dürften keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Zweckerreichung zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zu, die umso weiter reicht, je komplexer die zu regelnde Materie ist.
„Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher […] den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. […] Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. […] Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit […] Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen […]. Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 125-128
Die Impfpflicht ist daher zur Zielerreichung erforderlich.
(4) Angemessenheit
Die gesetzliche Regelung müsste angemessen sein, das heißt die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der verfolgten Zwecke stehen:
(aa) Eingriffsintensität
Fraglich ist, als wie gewichtig die Eingriffsintensität der Impfpflicht zu beurteilen ist.
„Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen […] nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden […]. Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich […]. […] Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten […]. Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. […] Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können […]. Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen […]. Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an […]. Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum […].“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 142-145
Die Eingriffe wiegen nicht besonders schwer.
(bb) Überwiegen die verfolgten Interessen diese Intensität?
Die verfolgten Interessen müssten diese Eingriffsintensität überwiegen.
„Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % […].
Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich […]. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. […]
Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen […]. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden.
Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 149-152
(cc) Zwischenergebnis
Die verfolgten Zwecke überwiegen damit das Gewicht des Eingriffs, die verfassungskonform ausgelegte Regelung ist angemessen.
(5) Zwischenergebnis
Die Regelung ist verhältnismäßig.
cc) Zwischenergebnis
Die Regelung ist materiell verfassungsmäßig.
4. Ergebnis
Die Regelung ist nach verfassungskonformer Auslegung sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig. Der Eingriff in das Grundrecht ist mithin gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer sind in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verletzt.
II. Verletzung von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG
Es könnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.
1. Schutzbereich
Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:
„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt […]. Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt […]. Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes ([…] handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 67-69
Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.
2. Eingriff
Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen:
„Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde.“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 74-75
Auch ein Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt mithin durch § 20 IfSG vor.
3. Rechtfertigung
Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht verfassungswidrig, wenn er gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.
a) formelle Verfassungsmäßigkeit
Hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Fraglich ist jedoch, ob auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Zitiergebot eingehalten wurde.
Dafür müsste es für Art. 6 Abs. 2 S. 1 jedoch überhaupt Anwendung finden.
„Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können […]. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt […]. Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich […].“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 92
Das Zitiergebot musste daher nicht gewahrt werden, es kann der Verfassungsmäßigkeit nicht entgegenstehen.
b) materielle Verfassungsmäßigkeit
Ein Verstoß gegen Art. 20 GG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Regelung nicht vor. Es handelt sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch verfassungsimmanente Schranken im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden kann. Eine Rechtfertigung des Eingriffs im Wege der praktischen Konkordanz setzt voraus, dass ein kollidierendes Verfassungsgut vorliegt und ein verhältnismäßiger Ausgleich der kollidierenden Güter gewählt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme zum Ausgleich geeignet, erforderlich und angemessen ist.
aa) Verfolgung des Schutzes eines anderen Verfassungsgutes.
In Gestalt der staatlichen Schutzpflicht verfolgt die gesetzliche Regelung den Schutz eines anderen Verfassungsgutes.
bb) Eignung
Die Maßnahme ist zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, siehe oben.
cc) Erforderlichkeit
Selbiges gilt für die Erforderlichkeit
dd) Angemessenheit
Der Interessenausgleich müsste angemessen erfolgt sein, dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des einen Verfassungsgutes nicht außer Verhältnis zum Gewicht des den Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgutes steht.
(1) Eingriffsgewicht
Fraglich ist, wie gewichtig der Eingriff ist.
„Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. […] Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann […]. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen […]. Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. […] (135) Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko […]. Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus […]. Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. […] Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. […]
Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern […] beeinträchtigt. […] Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. […] Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft […].“
BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 134-139
Der Eingriff ist daher nicht besonders schwerwiegend, aber auch nicht unerheblich.
(2) Ausgleich der Interessen
In Bezug auf den Interessenausgleich lässt sich weitestgehend nach oben verweisen, die dort angeführten Argumente lassen sich hier erneut platzieren.
ee) Zwischenergebnis
Die gesetzliche Regelung stellt einen angemessenen Ausgleich her, der Eingriff ist im Wege praktischer Konkordanz gerechtfertigt.
4. Ergebnis
Auch der Eingriff in das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist gerechtfertigt
III. Gesamtergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, die Beschwerdeführer sind nicht in ihren verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.
C. Eine kurze und abschließende Summa
Die wesentlichen Kernaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Impfpflicht für Masern ist zumutbar, auch wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nur die Kombinationsimpfstoffe verwendet werden dürfen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm vorliegen. Ein Impfstoff, der ausschließlich Wirkstoffe gegen Masern enthält, wäre jedoch ein milderes und gleichgeeignetes Mittel, sobald diese in Deutschland verfügbar sind, müssen diese verimpft werden. Letztlich sind sowohl Eingriffe in das Elternrecht, aber auch Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesichts der staatlichen Schutzpflicht für vulnerable Gruppen – also für Menschen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können – gerechtfertigt. Dies dürfte auch auf eine denkbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG zu übertragen sein. Auch mit Blick auf die Corona-Impfpflicht der in Gesundheitseinrichtungen tätigen Personen nach § 20a IfSG dürfte das BVerfG die entscheidenden Weichen gestellt haben.
Mit Entscheidung v. 28.6.2022 (Az. 6 StR 68/21) hat der BGH die bereits aus der „Gisela-Entscheidung“ bekannten Grundsätze zur Abgrenzung der straflosen Beihilfe zur strafbaren Tötung nach § 216 StGB weiter präzisiert. Dieses Problem ist ein echter Examensklassiker und immer wieder Gegenstand mündlicher und schriftlicher Prüfungen. Eine genaue Lektüre nicht nur dieses Beitrags, sondern auch der Entscheidungsgründe, die in Teilen wiedergegeben werden, kann sich daher bezahlt machen. Die neue Entscheidung des BGH soll zum Anlass genommen werden, die Problematik der Abgrenzung der straflosen Beihilfe von der strafbaren Tötung auf Verlangen noch einmal aufzubereiten. Auch sollen wertvolle Hinweise auf eine mögliche verfassungskonforme Auslegung infolge der Rechtsprechung des BVerfG zum grundrechtlichen Schutz der Selbsttötung. Eine klausurmäßige Aufbereitung der Probleme ist hier auffindbar.
I. Der Sachverhalt der Entscheidung
Der Sachverhalt, über den der sechste Senat des BGH zu entscheiden hatte, gestaltete sich wie folgt:
O wurde seit 2016 von der seiner Ehefrau T, einer ehemaligen Krankenschwester, betreut. Er hatte seit 1993 ein schweres chronisches Schmerzsyndrom entwickelt und war krankheitsbedingt berufsunfähig und in Rente. Er litt zudem unter zahlreichen Erkrankungen. Seine Schmerzen nahmen 2019 weiter zu und sein Zustand verschlechterte sich stetig, sodass er erwog, die Dienste eines Sterbehilfevereins in Anspruch zu nehmen. Nahezu wöchentlich äußerte er seinen Wunsch, sterben zu wollen. Er bat die T darauf hin, ihn ein paar Tage nicht zu pflegen und wegzufahren, damit er sich mit Tabletten das Leben nehmen wollte. Die T weigerte sich jedoch. Sein Leiden verschlimmerte sich weiter. Während eines gemeinsamen Kaffeetrinkens sagte O „Heute machen wir’s“, der T war klar, dass O sich das Leben nehmen wollte. Gegen 23:00 forderte O die T auf, ihm alle vorrätigen Tabletten zu geben, die O daraufhin selbständig einnahm. Dann forderte er die T auf, ihm alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu geben, was sie auch tat. O und T sprachen noch miteinander, bevor er einschlief, gegen 3:30 konnte T seinen Tod feststellen. Er starb an Unterzuckerung infolge des Insulins, die eingenommenen Tabletten waren ebenfalls zur Herbeiführung des Todes geeignet, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Ursächlich war damit die Gabe des Insulins.
II. Die Prüfung der Strafbarkeit der T
Täter des § 216 StGB ist nur, wer die Straftat auch selbst vornimmt. Es gelten die allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe. Auf eine erneute Darstellung der Abgrenzung zwischen subjektiver Theorie und Tatherrschaftslehre soll hier verzichtet werden. Denn auch der BGH ist zumindest im Kontext des § 216 StGB von seinem subjektiven Ansatz abgewichen und stellt prinzipiell ausschließlich darauf ab, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht (BGH NJW 1965, 699, 701) Gerade im Falle des einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmordes, wo grundsätzlich beide Suizidenten einen entsprechenden Willen gebildet haben, sei eine subjektive Abgrenzung fraglich (BGH NJW 1965, 699, 700).
In seiner jüngsten Entscheidung formuliert der BGH wie folgt:
„Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom andern bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor […]. Die Abgrenzung strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid kann dabei nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden. Geboten ist vielmehr eine normative Betrachtung.“
BGH, Beschl. v. 28.06.2022 – 6 StR 68/21 Rn. 14 f.
Der BGH verordnete die Tatherrschaft bei O selbst. T hingegen habe lediglich unterstützende Akte vorgenommen und sei demnach lediglich Gehilfin einer straflosen Beihilfe zum Suizid.
Dieses Ergebnis mag zunächst erstaunen, denn das Spritzen des Insulins hat ausschließlich T vorgenommen, bei genauer Betrachtung ist dies jedoch folgerichtig und nicht als Täterhandlung einzuordnen.
„[Denn] Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich [O] in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls „als Zombie zurückkehren“. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein [O] bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulinspritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass [O] sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. […].
BGH, Beschl. v. 28.06.2022 – 6 StR 68/21 Rn. 16.
In anderen Worten: Die Tatsache, dass sowohl der Suizident als auch die betreuende Person aktive Handlungen vornehmen ist unerheblich, sofern es sich um einen Gesamtplan handelt und über diesen Gesamtplan allein der Suizident die Tatherrschaft innehat.
III. Keine Strafbarkeit durch Unterlassen
Wird der Suizident bewusstlos oder schläft ein, kommt es vorliegend zu keinem Tatherrschaftswechsel und damit zu einer Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB. Denn trotz kraft der hier bestehenden Ehe zu bejahenden Garantenstellung der T für den O, liegt keine Garantenpflicht für das Leben ihres Mannes vor. Ein frei und selbstbestimmt gefasster Sterbewille führt zur Suspendierung der Garantenpflicht. Es gilt dasselbe wie für ärztliche Garantenpflichten, zu denen sich der BGH bereits mit seinen beiden Entscheidungen vom 3.7.2019 – 5 StR 132/18; 5 StR 393/18 geäußert hatte. Die Besprechung durch Juraexamen.info lässt sich hier abrufen.
IV. Exkurs: Verfassungskonforme Auslegung des § 216?
In seiner Entscheidung reißt der BGH zudem die Problematik an, ob durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB auch eine Neubewertung der Verfassungsmäßigkeit des § 216 StGB angezeigt ist. Zur Erinnerung: Das BVerfG hat in seiner Entscheidung (BVerfGE 153, 182) aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch die grundrechtlich geschützte Freiheit abgeleitet, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung dieser Selbsttötung auch auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Wenn die betroffene Person zur Wahrnehmung dieses Freiheitsrechts auch auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, schützt das APR auch vor einer Beschränkung gegenüber Dritten, die eine solche Unterstützung anbieten (Rn. 213). Strafrechtliche Normen dürften nach Auffassung des BVerfG nicht dazu führen, dass diese freie Entscheidung letztlich unmöglich gemacht wird, anderenfalls wird der verfassungsrechtliche Schutz dieser Freiheit nicht mehr gewährleistet (Rn. 273).
Eine Vergleichbarkeit der Konstellationen ist nicht von der Hand zu weisen, denn auch hier wird die Möglichkeit des Sterbewilligen, auf die Unterstützung Dritter zurückzugreifen, durch die Strafandrohung des § 216 StGB beschränkt. Dies sieht auch der 6. Senat des BGH so. Nach den Angaben in der o.g. Entscheidung hält er es für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB stets einer verfassungskonformen Auslegung bedürfe. Es seien jedenfalls die Fälle vom Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen. Dies sei der Fall, wenn sie darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt.
Wie genau eine solch verfassungskonforme Auslegung auszusehen hat und an welchem Merkmal des § 216 Abs. 1 StGB hier anzuknüpfen sein sollte, lässt der BGH offen. Für Studierende stellt sich daher die schwierige Frage, an welcher Stelle dieses Problem verortet werden sollte. Denkbar ist die Anwendung des § 34 StGB unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen. Der Wunsch des Suizidenten müsste intern gegen sein Rechtsgut „Leben“ abgewogen werden. Sofern der Suizidwunsch selbstbestimmt und frei von Willensmängeln bestand, müsste eine entsprechende Abwägung von „Tod“ gegen „Leben“ ausnahmsweise zulässig sein.
V. Wann liegen die Voraussetzungen für eine solche verfassungskonforme Auslegung vor?
Nicht geklärt ist hingegen, wann es einer Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung umzusetzen. In der Kommentarliteratur wird teils eine solch faktische Unmöglichkeit ausgeschlossen, sie könne nahezu nie vorliegen. Denn so sei vorstellbar, dass durch eine technische Einrichtung, durch die der Suizident mittels eines Augenzwinkerns eine Maschine in Gang setzen könne, auch ein an Armen und Beinen gelähmter Suizident selbständig töten könne. Sofern eine solche Einrichtung verfügbar sei, werde bis zur Verfügungstellung lediglich die Lebenszeit verlängert, dies sei auch aus verfassungsrechtlichen Gründen hinzunehmen (zu alldem Schneider, MüKoStGB, 4. Auflage 2021, § 216 StGB Rn. 60 mwN). Sofern der Sachverhalt auf eine solche Möglichkeit aber nicht ausdrücklich hinweist und er zugleich die körperliche Unfähigkeit zur Selbsttötung betont, liegt nahe, dass der Klausurersteller auf eine solch verfassungskonforme Einschränkung hinauswollte. Das genaue Lesen des Klausursachverhalts ist hier besonders essentiell. Gleichwohl ist damit natürlich nur Examenskandidaten, nicht aber der Praxis geholfen.
A. Allgemeine Einführung
Gegenstand des heutigen Grundlagenbeitrags ist der Straftatbestand „Erschleichen von Leistungen“ gemäß § 265a StGB. Die Studierenden zwar im zweiten Semester bereits begegnete, wahrscheinlich aber in Vergessenheit geratene Norm, soll – auch angesichts aktueller Diskussionen – klausurtypisch aufbereitet werden.
In der Praxis erfolgt jedoch in regelmäßigen Abständen die durchaus lebhafte Diskussion, inwiefern das tatbestandlich erfasst Verhalten, insbesondere in Bezug auf das „Schwarzfahren“, einer Entkriminalisierung bedarf.
So hatte die Fraktion DIE LINKE im Jahr 2016 im Deutschen Bundestag beantragt,
„den Tatbestand der Leistungserschleichung aus § 265a StGB so abzuändern, dass die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein auch im Wiederholungsfall nicht als Straftat geahndet wird. Auch eine Ahndung als Betrug gemäß § 263 StGB ist auszuschließen.“[1]
Selbst Jan Böhmermann nahm sich zuletzt in seiner Satire-Fernsehshow „ZDF Magazin Royale“ vom 3. Dezember 2021 der Strafbarkeit des Fahrens ohne Fahrschein an.[2]
Gegenstand der Diskussionen ist dabei häufig die Frage, ob es an der Erforderlichkeit einer Strafe fehle. Die betroffenen Leistungserbringer hätten bereits ausreichende Möglichkeiten, zivilrechtlich gegen Leistungserschleicher vorzugehen, ebenso bestehe die Möglichkeit, durch technisch präventive Einrichtungen wie Zugangssperren o.ä. – so aus einigen Städten bekannt – die unbefugte Nutzung der Beförderungsmittel zu verhindern.[3]
Geschütztes Rechtsgut des § 265a StGB ist das Vermögen des Leistungserbringers.[4] Es handelt sich um ein Erfolgsdelikt, tatbestandlicher Erfolg ist das Erschleichen der vermögenswerten Leistung selbst, sowie um ein Dauerdelikt, welches mit Beginn der Leistungserbringung vollendet und mit der vollständigen Erbringung beendet ist.[5]
Die Norm fungiert als Auffangtatbestand insbesondere gegenüber § 263 StGB, denn in den heute typischen Fällen der Leistungserschleichung – so auch beim „Schwarzfahren“ – fehlt es aufgrund des reduzierten Personaleinsatzes an zu täuschenden natürlichen Personen.[6] Eine betrugsnahe Auslegung ist daher naheliegend.[7]
B. Prüfungsschema:
Die Prüfung des § 265a StGB gestaltet sich wie folgt:
I. Objektiver Tatbestand
1. Taugliches Tatobjekt: Entgeltliche Leistung
a) Eines Automaten
b) Eines öffentlichen Zwecken dienenden Kommunikationsnetzwerks
c) Beförderung durch ein Verkehrsmittel
d) Zutritt zu einer Veranstaltung oder Einrichtung
e) Entgeltlichkeit
2. Tathandlung: Erschleichen
II. Subjektiver Tatbestand
III. Rechtswidrigkeit und Schuld
IV. Strafantrag, § 265a StGB
C. Objektiver Tatbestand
Die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes erfordert die Erschleichung einer entgeltlichen Leistung, wobei diese Leistung in vier verschiedenen tatbestandlichen Varianten durch den Leistenden erbracht werden kann. Erfasst wird die Leistung eines Automaten (Var. 1), die eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes (Var. 2), die Beförderung durch ein Verkehrsmittel (Var. 3) sowie den Zutritt zu Veranstaltungen oder Einrichtungen (Var. 4).
Statistisch am häufigsten erfolgt dabei die Beförderungserschleichung in Form des klassischen „Schwarzfahrens“. Im Jahr 2020 wurden deutschlandweit 179.267 Fälle wegen Verstoßes gegen § 265a StGB erfasst, davon waren 177.037 Fälle Beförderungserschleichungen.[8]
I. Leistung eines Automaten
Ein Automat ist grundsätzlich ein Gerät, welches nach menschlicher Bedienung selbsttätig aufgrund eines (mechanischen oder elektronischen) Steuerungssystems Funktionen erfüllt.[9]
Notwendig ist, dass der Automat die Leistung selbst(tätig) erbringt – nicht erfasst werden daher Automaten, die lediglich zur Unterstützung von menschlichem Personal genutzt werden, oder bei denen die Leistungserbringung erst später erfolgt.[10] Als aus diesem Grund nicht erfasste Beispiele zu nennen sind Fahrkartenautomaten, Pfandautomaten, Parkscheinautomaten. Die Leistung für welche das Entgelt erhoben wird (Beförderung, Anspruch auf Pfandgeld, Parkmöglichkeit) werden nicht durch den Automaten gewährt, sondern nur vermittelt.[11]
Problematisch ist, welche Automatenarten erfasst werden. Differenziert wird zwischen sog. Leistungsautomaten und sog. Warenautomaten.
Leistungsautomaten sind Automaten, bei welchen das Entgelt für die selbsttätig erbrachte Leistung gezahlt wird (Bsp.: Musikbox, Spielautomat, Münztelefon, Münzfernglas), dagegen wird bei sog. Warenautomaten das Entgelt für eine Ware bezahlt, die der Automat wiederum freigibt (Bsp.: Getränkeautomat, Zigarettenautomat, Fahrscheinautomat).[12]
Nach überwiegender Auffassung werden nur die zuvor beschriebenen Leistungsautomaten, nicht jedoch Warenautomaten vom Tatbestand erfasst.[13] Hierfür wird angeführt, dass die Entnahme der Waren regelmäßig von §§ 242, 246 StGB tatbestandlich erfasst werde, sodass es der Auffangfunktion der Norm nicht bedürfe.[14] Ebenso würden auch die anderen Varianten nur unkörperliche Leistungen erfassen.[15] Dem kann entgegengehalten werden, dass der Wortlaut der Norm durchaus offen ist und der Erfassung von Warenautomaten nicht entgegensteht. Ferner bestehe bereits mit der gesetzlichen Subsidiaritätsklausel in § 265a Abs. 1 2. Hs. StGB ein Instrument, um dem Auffangcharakter des § 265a StGB gerecht zu werden, eine Einschränkung bereits auf Tatbestandsebene sei nicht erforderlich.[16] Auch lasse sich nicht trennscharf zwischen Leistungs- und Warenautomaten abgrenzen. Ein Wechselautomat gebe zwar Geld heraus, zivilrechtlich handele es sich jedoch um einen Tauschvertrag, sodass der Leistungscharakter im Vordergrund steht.[17] So gebe auch eine Waschanlage, um den Leistungsvorgang „Waschen“ zu erbringen, Wasser und Seife als Gegenstände ab.[18]
Klausurtaktisch ist es einerlei, welcher Ansicht gefolgt wird, auf der Ebene der Konkurrenzen wird § 265a StGB bei Warenautomaten regelmäßig von konkurrierenden Delikten wie § 242 StGB und § 246 StGB verdrängt.
II. Leistung eines öffentlichen Zwecken dienendes Telekommunikationsnetzwerk
Telekommunikationsnetze sind alle Datenübertragungssysteme im Fernmeldebereich (Breitbandnetz, Kabelnetz, also insbesondere Internet und Telefon).[19]
Der Öffentlichkeit dient dieses, wenn es für die Allgemeinheit errichtet wurde.[20] Irrelevant ist, ob der konkrete Netzzugang nur gegen Entgelt nutzbar ist (Pay-TV-Abo, auch dieses wird über das Internet betrieben, welches allen offensteht).[21] Nicht erfasst werden aber interne Netze, die selbst ohne Entgeltleistung nicht der Nutzung zugänglich sind (Betriebsinterne Netze).[22]
III. Beförderung durch ein Verkehrsmittel
Der Begriff des Verkehrsmittels erfasst nicht nur den öffentlichen Nahverkehr als Massenverkehr, sondern auch Individualverkehr wie z.B. Taxen, wobei im Bereich des Individualverkehrs regelmäßig eine Betrugsstrafbarkeit gemäß § 263 StGB vorliegen wird.[23]
Beförderung meint jede Form des Transports.[24]
IV. Zutritt zu Veranstaltungen oder Einrichtungen
Veranstaltungen werden definiert als ein einmaliges oder zeitlich begrenztes Geschehen, dass sich räumlich gegenständlich von seiner Umwelt abgrenzt (Konzerte, Theater, Sportereignisse).[25] Einrichtungen dagegen sind auf eine gewisse Dauer angelegte, einem bestimmten Zweck dienende Personen- oder Sachgesamtheiten (Museen, Bibliotheken, Zoos, Parkhäuser).[26]
V. Entgeltlichkeit
Erforderlich ist weiterhin, dass die jeweilige Leistung entgeltlich ist. Auch, wenn sich dieses objektive Tatbestandsmerkmal nicht explizit im Wortlaut finden lässt, ist dieses aus dem bezweckten Schutz fremder Vermögensinteressen sowie dem subjektiven Absichtserfordernis des Täters, das Entgelt nicht zu entrichten, abzuleiten.[27]
Der Begriff des Entgelts wird in § 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB definiert. Entgelt ist danach jede in einem Vermögenswert bestehende Gegenleistung. Erforderlich ist also, dass die Leistung, die der jeweilige Automat freigibt, entgeltlich ist, also nur gegen einen vermögenswerten Vorteil erworben werden kann.
Damit fallen bereits Geldwechselautomaten aus dem Tatbestand heraus, die das Geld lediglich wechseln, sofern sie hierfür keine Gebühr nehmen.[28] Selbiges gilt für Schließfächer, die nach Benutzung das eingeworfene Münzstück ausspucken.[29]
Nicht notwendig ist, dass das Entgelt direkt am Tatobjekt (Automaten, Telekommunikationsnetz, Verkehrsmittel, Einrichtung, Veranstaltung) entrichtet wird. Ausreichend ist, wenn dieses gegenüber einer anderen Person oder in einer anderen Einrichtung gezahlt wird.[30] Erforderlich und geradezu entscheidend ist jedoch, dass das Entgelt als Gegenleistung für die erbrachte Leistung entrichtet wird.
So stellt der Rundfunkbeitrag keine Gegenleistung für die Möglichkeit des Fernsehens oder Radio Hörens dar, sodass das „Schwarzsehen“ und „Schwarzhören“ tatbestandlich mangels entgeltlicher Leistung nicht erfasst werden.[31]
Unproblematisch bejaht werden kann dieses Merkmal dagegen bei der Beförderungserschleichung, denn nahezu jedes öffentliche Verkehrsmittel darf nur gegen (vorherige) Entrichtung des Ticketpreises genutzt werden.
Selbiges gilt für den Zutritt zu einer Einrichtung oder Veranstaltung. Interessante Konstellation ist hier jedoch der Zutritt zu einem Parkhaus. Da der Zutritt selbst hier nicht entgeltpflichtig ist, sondern erst das Verlassen des Parkhauses, kann sich der Zutritt zum Parkhaus mangels eines zu zahlenden Entgelts nicht tatbestandlich erschlichen werden.[32] Auch das spätere Umgehen der Schranke zur Ausfahrt ist tatbestandlich nicht erfasst, da das Entgelt nicht für das Hochfahren der Schranke, sondern für die Parkmöglichkeit geleistet wird.[33]
Hier gilt daher für die Klausur: Eine präzise Differenzierung und eine Betrachtung unter Berücksichtigung einer Anschauung des täglichen Lebens vermag zu einer deutlich überdurchschnittlichen Note zu führen.
VI. Tathandlung: Erschleichen
Nachdem die tauglichen Tatobjekte bereits ausführlich erläutert wurden, muss sich nun zwingend der Tathandlung Erschleichen zugewendet werden.
Ein Erschleichen setzt jedenfalls ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus. Mithin hat ein Einverständnis keine rechtfertigende, sondern bereits tatbestandsausschließende Wirkung.[34] Zudem erfordert der Wortsinn, dass nicht gewalttätig vorgegangen wird.[35]
Allgemein wird unter einem Erschleichen das Erlangen der Leistung unter Überwindung oder Umgehung einer den entgegenstehenden Willen des Leistenden sichernden Vorkehrung verstanden.[36] Aufgrund der inhaltlichen Nähe zum Betrugstatbestand muss die Überwindung oder Umgehung täuschungsähnlich erfolgen.[37]
Tatbestandlich erfasst sind damit:
– Einwerfen von Falschgeld in einen Automaten[38]
– Verwendung von nicht autorisierten Karten zur Entschlüsselung von Pay-TV[39]
– Nutzung gefälschter Handy-Chip-Karten[40]
Bei der Zutrittserschleichung finden sich regelmäßig zumindest automatisierte Kontrollen, sodass auch hier insbesondere das Übersteigen einer Absperrung oder die Benutzung eines Notausgangs oder anderen unbenutzten Eingangs tatbestandlich erfasst sind.[41]
Tatbestandlich nicht erfasst ist:
– Das bloße Ausnutzen eines Gerätedefekts[42]
– Die unberechtigte Inanspruchnahme bei ordnungsgemäßer Bedienung, wie z.B. das Bedienen eines Glücksspielautomaten in Kenntnis des Programms[43]
– Störanrufe mangels Umgehung einer Sicherheitsvorkehrung[44]
Problematisch – und zentraler Problempunkt des § 265a StGB – ist, ob von diesem Verständnis im Rahmen der Beförderungserschleichung abgewichen werden soll.
Nach einer vorwiegend in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung soll es bereits ausreichen, wenn der Täter die Leistung in Anspruch nimmt und sich dabei mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt – unerheblich ist die Überwindung oder Umgehung eines Hindernisses.[45]
Nach Auffassung des BGH sprechen die folgenden Argumente für ein solch weites Verständnis:
„Der Wortlaut der Norm setzt weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Nach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der „Erschleichung” lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege [..]. Er enthält allenfalls ein „täuschungsähnliches” Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss.
[…] Da das Tatbestandsmerkmal schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung eine weitere Auslegung zulässt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung widersprechende Verhalten zu verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt […].
Die Vorschrift des § 265a StGB geht, soweit sie das „Schwarzfahren” unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. 6. 1935 zurück (RGBl. I, 839, 842). Sie sollte vor allem die Lücke schließen, die sich bei der Erschleichung von Massenleistungen bezüglich der Anwendung des § 263 StGB ergaben […].
Die im Jahre 1935 eingeführte Vorschrift des § 265a StGB entsprach fast wörtlich dem § 347 StGB (Erschleichen freien Zutritts) des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, in dessen Begründung es u.a. heißt: „Erschleichen ist nicht gleichbedeutend mit Einschleichen. Auch wer offen durch die Sperre geht, sich dabei aber so benimmt, als habe er das Eintrittsgeld entrichtet, erschleicht den Eintritt. Auch ein bloß passives Verhalten kann den Tatbestand des Erschleichens erfüllen; so fällt auch der Fahrgast einer Straßenbahn unter die Strafdrohung, der sich entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht um die Erlangung eines Fahrscheins kümmert” (Materialien zur Strafrechtsreform, 4. Bd., Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927 mit Begr. und 2 Anlagen [Reichstagsvorlage], 1954 [Nachdruck], S. 178, 179; Die Strafrechtsnovellen v. 28. 6. 1935 und die amtl. Begründungen, Amtl. Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 10, S. 41).
Die Vorschrift sollte also gerade diejenigen Fälle erfassen, in denen es unklar bleibt, ob der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht. Der gesetzgeberische Wille ist nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil sich die bei Schaffung des Gesetzes bestehenden Verhältnisse insoweit geändert haben, als heute, auch zu Gunsten einer kostengünstigeren Tarifgestaltung, auf Fahrscheinkontrollen weitgehend verzichtet wird […].“.[46]
Der Rechtsprechung entgegengehalten wird insbesondere, dass ein solcher Wortsinn nicht zwingend sei, vielmehr setze ein Erschleichen ein Ergaunern, Heimlichkeit oder List voraus, wovon bei der bloßen Inanspruchnahme der Leistung nicht ausgegangen werden könne.[47] Ferner könne es keinen Anschein der Ordnungsmäßigkeit geben, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder Fahrgast einen Fahrschein mit sich führe. Insofern fehle es bereits an einer Verkehrsanschauung, wie sich ein ordnungsgemäßer Fahrgast verhalte.[48] Im Übrigen werde die Nähe zum Betrug so überdehnt, denn § 263 StGB schütze nicht bereits vor der unberechtigten Inanspruchnahme der Leistung, sondern vor Angriffen gegen die Entscheidungsfreiheit.[49]
Weiterhin bleibt unklar, wann und in welcher Form der Anschein der Ordnungsmäßigkeit durchbrochen werden kann. So reiche nach Auffassung des OLG Hamm selbst das vorherige Senden eines Briefes mit der Ankündigung der Schwarzfahrt an den Verkehrsbetrieb nicht aus, vielmehr sei der Anschein der Ordnungsmäßigkeit gegenüber den eingesetzten Kontrolleuren selbst maßgeblich.[50] Dies erscheint mit Blick auf die Tatsache, dass der Schutz des Vermögens der Leistungserbringer – also der Verkehrsbetriebe – geschützt werden soll, nicht konsistent.
Allerdings soll auch das Anbringen eines Aufnähers oder Kärtchens mit dem Text „Ich fahre umsonst“ an der Kleidung nicht ausreichen, um den Anschein der Ordnungsmäßigkeit zu durchbrechen.[51] Hierdurch würde der Täter nicht in offener und unmissverständlicher Art und Weise zum Ausdruck bringen, den Fahrpreis nicht zu entrichten.[52] Ein solcher Hinweis könne auch als bloße Provokation oder als ein Eintreten für freies Fahren in Bus und Bahn in Form einer politischen Stellungnahme verstanden werden.[53]
Zuletzt wird in systematischer Hinsicht gegen die Auffassung der Rechtsprechung angeführt, dass in allen anderen Varianten ein Erschleichen abgelehnt wird, wenn keine Zugangsbarriere besteht.[54] Dagegen hält der BGH, dass die übrigen Leistungen im Gegensatz zur Beförderung nur auf spezielle Anforderung hin erbracht werden, die Beförderungsleistung aber auch ohne ein konkretes Anfordern bereits vorhanden ist.[55]
Damit fordern weite Teile der Literatur auch innerhalb der Beförderungserschleichung ein Überwinden oder Umgehen präventiver Kontrollen oder sonstiger Vorrichtungen tatbestandlich zu prüfen.[56]
Der zuvor dargestellte Streit kann in der Klausur beliebig entschieden werden. Allerdings sollte, sofern der Sachverhalt Anhaltspunkte dafür liefert, dass der Klausurersteller eine Subsumtion zur Problematik des „offenen und unmissverständlichen zum Ausdruck bringen“ bezwecket, sich zwar argumentativ mit beiden Positionen auseinandergesetzt werden, im Ergebnis jedoch der Rechtsprechung gefolgt werden. Dies gilt erst Recht im Zweiten Staatsexamen.
D. Subjektiver Tatbestand
In subjektiver Hinsicht muss der gesamte objektive Tatbestand zunächst vom Vorsatz umfasst sein, hierfür genügt dolus eventualis.[57] Glaubt der Täter, er habe eine Fahrkarte dabei, handelt er nicht vorsätzlich.[58]
Weiterhin muss der Täter ausweislich des Wortlautes mit der Absicht handeln, dass Entgelt nicht zu entrichten. Hierfür bedarf es eines zielgerichteten Willens des Täters.[59] Entscheidend ist in Klausuren oftmals, dass der Vorsatz gerade zum Zeitpunkt der Tathandlung vorliegen muss (sog. Koinzidenzprinzip). Wer bereits ausreichend zur Bejahung der Absicht ist es jedoch, wenn die Entgeltvermeidung nicht das alleinige Ziel des Täters ist, sondern lediglich notwendiges Zwischenziel, um das eigentliche Ziel zu erreichen.[60]
E. Weiteres
Mit Erbringen der tatbestandlichen Leistung ist die Erschleichung vollendet, hierfür genügt der Beginn der Leistungserbringung.[61] Beendet ist die Tat mit dem Ende der Leistungserbringung.[62] Nicht erforderlich ist, dass der Täter die Leistung selbst entgegennimmt oder beansprucht, auch die Leistungserschleichung für Dritte ist ohne Weiteres erfasst.[63]
Die Strafbarkeit des Versuches ist – aufgrund der Eigenschaft des Deliktes als Vergehen – ausdrücklich in § 265a Abs. 2 StGB normiert.
265a Abs. 1 StGB enthält eine Subsidiaritätsklausel, sodass das Erschleichen von Leistungen formell subsidiär gegenüber ebenfalls verwirklichten Delikten ist, sofern die Tat dort mit schwererer Strafe bedroht ist. Die Subsidiaritätsklausel ist wörtlich zwar nicht beschränkt, nach teilweise vertretener Ansicht ist die Vorschrift jedoch nur gegenüber Delikten mit derselben Angriffsrichtung subsidiär, so etwa zu Vermögens- und Eigentumsdelikten wie z.B. §§ 263, 242, 263a StGB, nicht aber zu §§ 123, 146, 147, 267 StGB, denn Sinn und Zweck ist die Schließung von Strafbarkeitslücken insbesondere in Bezug auf § 263 StGB.[64] Zu anderen Delikten mit abweichender Angriffsrichtung soll daher Tateinheit möglich sein.[65] Andere vertreten, dass die Vorschrift gegenüber sämtlichen schwereren Delikten subsidiär ist.[66]
F. Summa
Der vorangegangene Grundlagenbeitrag zeigt, Diskussionen rund um die Strafwürdigkeit des tatbestandlich erfassten Verhaltens, insbesondere rund um die Beförderungserschleichung, sind durchaus begründet. Durch die weitreichende Position der Rechtsprechung – die sich jedoch aufgrund der vorgebrachten Argumente durchaus auch in der aktuellen Diskussion sehr gut vertreten lässt – wird nahezu jede Inanspruchnahme eines Beförderungsmittels ohne Fahrschein pönalisiert.
Allerdings darf nicht vergessen werden, auch abseits der Beförderungserschleichung besitzt die Norm einen – wenn auch praktisch nur geringen – Anwendungsbereich, der in der Klausur durchaus höher ausfallen kann.
Insgesamt betrachtet hält sich die Examensrelevanz des § 265a StGB in Grenzen, entscheidet das zuvor vermittelte Wissen regelmäßig nur über das Bestehen. Wird über den Klausurschwerpunkt hinaus jedoch auch der § 265a StGB sauber geprüft, sind gute Noten garantiert.
[1] BT-Drs. 18/7374, S. 1.
[2] ZDF Magazin Royal, abrufbar unter: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html; ab Minute 11:20, letzter Abruf v. 23.12.2021.
[3] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 11 ff.; Hefendehl, JA 2011, 401, 406; Stolle, StudZR 2006, 27, 38.
[4] BayObLG, Urt. v. 18.7.1985 – RReg. 5 St 112/85, NJW 1986, 1504.
[5] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 4.
[6] Mitsch, NZV 2019, 70.
[7] Mitsch, NZV 2019, 70.
[8] Polizeiliche Kriminalstatistik 2020 Bund; abrufbar unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2020/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen.html?nn=145506, letzter Abruf v. 23.12.2021.
[9] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 3.
[10] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 4.
[11] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 26.
[12] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Hellmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 18.
[13] U.a. BGH, Urt. v. 22.4.1952 – 2 StR 101/52, MDR 1952, 563; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1999 – 5 Ss 291/98 – 71/98 I, NJW 2000, 158.
[14] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 19.
[15] Kudlich, JuS 2001, 20, 21.
[16] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 33.
[17] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 37; Kudlich, JuS 2001, 20, 22.
[18] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 6.
[19] Lackner/Kühl/ Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 3.
[20] RG, Urt. v. 10.12.1896 – 3777/96, RGSt 29, 244 f.
[21] BeckOK StGB/Valerius, Stand 1.11.2021, § 265a StGB Rn. 13.
[22] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 7.
[23] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 59.
[24] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 6.
[25] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 9.
[26] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 7; Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 9.
[27] BeckOK StGB/Valerius, Stand 1.11.2021, § 265a StGB Rn. 10.
[28] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1999 – 5 Ss 291/98 – 71/98 II, NJW 2000, 158.
[29] Hichrichs, ZJS 2013, 407, 416.
[30] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 23, 89.
[31] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 30.
[32] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 92.
[33] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 7; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 92.
[34] Etter, CR 1988, 1021, 2022.
[35] BVerfG, Beschl. v. 9.2.1998 – 2 BvR 1907/97, NJW 1998, 1135, 1136.
[36] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 10.
[37] Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 6a.
[38] BGH, Beschl. v. 23.4.1985 – 1 StR 164/85, BeckRS 1985, 05500.
[39] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 146.
[40] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 146.
[41] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 19.
[42] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 138; Fischer, NJW 1988, 1828, 1829.
[43] LG Freiburg, Beschl. v. 17.4.1990 – IV Qs 33/90, NStZ 1990, 343.
[44] Schönke/Schröder/Perron, 10. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 10.
[45] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211; OLG Hamburg, Urt. v. 18.12.1990 – 2a Ss 119/90, NStZ 1991, 587; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.10.1991 – 130/91 I, NStZ 1992, 84; OLG Stuttgart, Urt. v. 10.03.1989 – 1 Ss 635/88, NJW 1990, 924; letztlich bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 9.2.1998 – 2 BvR 1907-97, NJW 1998, 1135.
[46] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211, Rn. 12 ff.
[47] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 162.
[48] Exner, JuS 2009, 990, 992 f.; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 165.
[49] Exner, JuS 2009, 990, 993.
[50] OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2011 – 5 RVs 1/11, NStZ 3022, 206, 207.
[51] OLG Frankfurt, Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16, BeckRS 2016, 112425.
[52] OLG Frankfurt, Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16, BeckRS 2016, 112425 Rn. 9.
[53] KG, Beschl. v. 2.3.2011 – (4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2011, 2600.
[54] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 172.
[55] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211, Rn. 21.
[56] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 177; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 37; Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 6a; Albrecht, NStZ 1988, 222, 224.
[57] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 45.
[58] OLG Koblenz, Beschl. v. 11.10.1999 – 2 Ss 250/99, NJW 2000, 86, 87.
[59] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 46.
[60] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 192.
[61] BayObLG, Beschl. v. 4.7.2001 – 5 St RR 169/01, BeckRS 2001, 30190872.
[62] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 205.
[63] MüKo StGB/Hefendehl,3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 200.
[64] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 14.
[65] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn 21.
[66] Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 8; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 213.
Petra Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2009C.F.Müller, Heidelberg, XXI, 284 Seiten, € 23,50, ISBN 978-3-8114-9704-7
Autorin
Petra-Buck-Heeb, die Autorin des besprochenen Buches, ist ordentliche Professorin für Zivilrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Leibniz Universität Hannover. Ein Schriftenverzeichnis findet sich unter https://www.jura.uni-hannover.de/buck-heeb/?c=bibliographie.php.
Buch
Das Buch „Kapitalmarktrecht“ aus der bekannten Schwerpunkte-Reihe ist als Lehrbuch konzipiert, das sich vor allem an Studenten im Schwerpunktbereich wendet. Die Neuauflage berücksichtigt die neueste Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur.
Nach einer Erläuterung der Begriffe Kapitalmarkt und Kapitalmarktrecht befasst sich die Autorin mit der Marktorganisation und der Zulassung zum Markt, den Zulassungsfolgepflichten (Insiderrecht, §§ 14, 15, 15a WpHG; Marktmissbrauch, § 20a WpHG; Beteiligungsmitteilung §§ 21 ff. WpHG etc.) sowie den Verhaltenspflichten für Wertpapierdienstleistungsunternehmen. Eine Darstellung der kapitalmarktrechtlichen Randgebiete WpÜG (27 Seiten) und InvG (9 Seiten) rundet die Erörterung des materiellen Rechts ab. Die Autorin geht zudem auf die Kapitalmarktaufsicht (Verwaltungsrecht) sowie das KapMuG (Prozessrecht) ein.
Würdigung
Das Buch gibt einen aktuellen und vollständigen Überblick über das in ständigem Fluss befindliche Kapitalmarktrecht. Erfreulich ist, dass auch Randgebiete wie das WpÜG und das InvG recht ausführlich behandelt werden – die entsprechenden Darstellungen im Konkurrenzprodukt aus dem Hause C.H.Beck (Grunewald, Einführung in das Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2009) fallen mit nur zwölf Seiten recht dünn aus. Alleinstellungsmerkmal der Schwerpunkte-Reihe ist insoweit auch die Behandlung von KapMuG und Kapitalmarktaufsicht.
Ein Wermutstropfen bleibt: Streckenweise gibt das Lehrbuch lediglich das Gesetz wieder, ohne auf problematische Punkte einzugehen (z.B. S. 40 f. zu Multilateralen Handelssystemen und S. 46 f. zum Systematischen Internalisierer). Nicht passieren darf es auch, dass das Marktmanipulationsverbot nach § 20a WpHG als „originär deutsches Recht“ bezeichnet wird (Rn. 35). Zwar war das Marktmanipulationsverbot ursprünglich schon in § 88 BörsG a.F. enthalten, es geht in seiner heutigen Fassung aber auf Art. 1 Nr. 2 und Art. 5 RL 2003/6/EG zurück.
Gleichwohl ist das Buch insgesamt für den Einstieg in das Kapitalmarktrecht zu empfehlen. Für die Schwerpunktklausur bedarf es ohnehin der Vertiefung mittels Urteilen, Kommentaren und Aufsätzen – deren Vertiefungsgrad vermag aber wohl kein Lehrbuch zu erreichen.
Der 8. Zivilsenat hat sich am 14.1.2009 (VIII ZR 70/08, NJW 2009, 1660 = ZIP 2009, 376 = WM 2009, 524 = ZGS 2009, 186) zu der Frage geäußert, wie die Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung bei § 439 Abs. 3 BGB zu definieren ist.
Sachverhalt
Der Käufer hatte von einem Baustoffhändler Bodenfliesen gekauft und diese selber eingebaut. Die Fliesen waren mangelhaft. Daraufhin verlangte der Käufer Nacherfüllung sowie Übernahme der für den Austausch der Fliesen erforderlichen Kosten. Der Beklagte erhob die Einrede nach § 439 Abs. 3 BGB. Das OLG Frankfurt (ZGS 2008, 315) verurteilte den Beklagten auf Übernahme der Kosten für die neuen Fliesen sowie die Kosten des Ausbaus und der Entsorgung der alten Fliesen.
Entscheidung
Der BGH lässt erkennen, dass er einem Anspruch des Käufers auf Ausbau der Fliesen (und dementsprechend auch Schadensersatzansprüche aus §§ 280, 281 BGB) ablehnend gegenüber steht, hält insoweit allerdings eine Vorabentscheidung des EuGH (Art. 234 Abs. 3 EG) darüber für erforderlich, ob die Ablehnung eines solchen Anspruches mit der RL 1999/44/EG vereinbar ist.
Weiter lässt der BGH die Entscheidung, ob der Ausbau geschuldet ist, offen, weil dem Anspruch die Einrede nach § 439 Abs. 3 BGB entgegenstehe. Als Faustregel gilt nach Auffassung des BGH, dass eine absolute Unverhältnimäßigkeit der Nacherfüllung gegeben ist, wenn die Kosten der Nacherfüllung 150% des Werts der Sache im mangelfreien Zustand oder 200% des mangelbedingten Minderwerts übersteigen würden. Diese Faustregel ersetze freilich nicht eine Wertung im Einzelfall.
Allerdings stellt sich dem BGH sodann das Problem, dass die RL 1999/44/EG die Einrede scheinbar nur dann gewährt, wenn die Nacherfüllung im Verhältnis zu der anderen Art der Nacherfüllung unverhältnismäßig wäre (relative Unverhältnismäßigkeit). Deshalb legt er dem EuGH als zweite Frage vor, ob § 439 Abs. 3 BGB mit der RL 1999/44/EG vereinbar ist.
Bewertung
Das Urteil ist äußerst examensrelevant, weil es nicht nur eine der streitigsten Fragen des neuen Schuldrechts behandelt, nämlich den Ersatz der Kosten für den Ausbau einer mangelhaften Sache, sondern weil auch die Europarechtskonformität des deutschen Umsetzungsrechts in Frage steht. Der deutsche Gesetzgeber könnte danach binnen kurzer Zeit gezwungen sein, das neue Kaufrecht aufgrund der Rechtsprechung des EuGH erneut zu ändern (s. zuletzt die Änderung des § 474 BGB infolge der EuGH-Rechtsprechung in der Rs. „Quelle“). Jeder Examenskandidat muss dieses Urteil und die damit verbundenen Rechtsfragen kennen! Solange der EuGH nicht entschieden hat, atmet hier allerdings alles große Unsicherheit.
S. auch: Unberath/Cziupka, JZ 2009, 313; Lorenz, NJW 2009, 1633 und AG Schorndorf, 25. Februar 2009, Az: 2 C 818/08.
Limited, S.A.R.L. und BV sind Euch kein Begriff? Nicht wirklich schlimm – im schriftlichen Staatsteil des Examens. Im Schwerpunkt und der Mündlichen kann es da schon anders aussehen. Limited, S.A.R.L. und BV Rechtsformen von EG-Staaten, die der GmbH ähneln. Seit den Urteilen des EuGH in den Rs. Centros, Überseering und Inspire Art tummeln sie sich auch in Deutschland und jagen der GmbH Marktanteile ab.
Der Anfang: Daily Mail
Wir schrieben das Jahr 1988, der Eiserne Vorhang steht noch – auch für Wegzugswillige Gesellschaften aus Europa. Die britische Zeitung „Daily Mail“ will dem drückenden Steuersatz der Queen entfliehen und ihren Verwaltungssitz von der Insel auf den Kontinent verlegen.
Die britischen Finanzbehörden sehen das gar nicht gern und untersagen den Wegzug. Natürlich kommt es zum Rechtsstreit – und dieser gelangt zum EuGH. Luxemburg kommt zu dem Schluss, dass „die Artikel 52 und 58 EWG-Vertrag [jetzt Artt. 43, 48 EG], beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet ist und in diesem ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nicht das Recht [gewähren], den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.“ Mitgliedstaaten konnten also nationalen Gesellschaften den WEGZUG untersagen.
Die Trilogie: Centros, Überseering, Inspire Art
Jahre später gründet das dänische Ehepaar Bryde eine Limited mit Sitz in London als Briefkastenfirma. Der tatsächliche Verwaltungssitz der Gesellschaft soll in Dänemark liegen, wo aber nur eine Zweigniederlassung der Centros Ltd. registriert werden soll. Das Ganze dient dazu, die dänischen Vorschriften über das Stammkapital einer dänischen GmbH zu umgehen (eine Ltd. kann schon mit 1 Pfund Stammkapital gegründet werden). Es kommt, wie es kommen muss: Das dänische Registergericht verweigert die Eintragung der Zweigniederlassung, weil die Umgehung des dänischen Gesellschaftsrechts rechtsmissbräuchlich sei. 1999 kommt die Sache zum EuGH, und dieser befindet:
„Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmässig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, verstösst gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag [jetzt Artt. 43, 48 EG], wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese Auslegung schließt jedoch nicht aus, daß die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats alle geeigneten Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl – gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde – gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten.“
Demnach war das Vorgehen der Eheleute Bryde grundsätzlich zulässig, den nationalen Gerichten blieb nur die Möglichkeit, betrügerisches Verhalten zu verhindern, wozu die bloße Umgehung von Kapitalaufbringungsvorschriften nicht zählen sollte. Der ZUZUG von Auslandsgesellschaften konnte also nur unter engen Voraussetzungen untersagt werden. Das Urteil war ein Paukenschlag, denn das Gesellschaftsrecht war zu diesem Zeitpunkt nicht in dem Maße harmonisiert, dass die Niederlassung einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat selbstverständlich gewesen wäre. Im Gegenteil: In den meisten Mitgliedstaaten und so auch in Deutschland herrschte die sog. Sitztheorie, eine Gesellschaft wurde nach dem recht des Staates beurteilt, in dem sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hatte. Zog etwa eine britische Ltd. nach Deutschland, fehlte es dieser für eine Anerkennung als GmbH an den Errichtungsvoraussetzungen der §§ 2 ff. GmbHG, sie wurde als GbR behandelt – mit der Folge einer persönlichen Haftung der Gesellschafter entsprechend § 128 HGB (dazu BGHZ 146, 341 – ARGE Weißes Roß).
Kaum hatte sich die erste Aufregung gelegt, folgte im Jahr 2002 schon der zweite Paukenschlag – diesmal war Deutschland betroffen: Die Überseering BV (eine GmbH niederländischen Rechts) verlegte ihren Verwaltungssitz nach Düsseldorf. Dort klagt sie aus einem Werkvertrag gegen einen Schuldner, doch das deutsche Gericht verweigert die BV die Parteifähigkeit (§ 50 ZPO), weil sie nach deutschem Recht nicht rechtsfähig sei. Dazu meint der EuGH:
„Es stellt eine mit den Artikeln 43 EG und 48 EG grundsätzlich nicht vereinbare Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, wenn ein Mitgliedstaat sich u. a. deshalb weigert, die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, anzuerkennen, weil die Gesellschaft im Anschluss an den Erwerb sämtlicher Geschäftsanteile durch in seinem Hoheitsgebiet wohnende eigene Staatsangehörige, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt haben soll, mit der Folge, dass die Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat nicht zu dem Zweck parteifähig ist, ihre Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu machen, es sei denn, dass sie sich nach dem Recht dieses Aufnahmestaats neu gründet.“
Insoweit ergaben sich kaum Neuerungen zur Rechtsprechung aus dem Centros-Urteil. Deutschland hatte den ZUZUG einer mitgliedstaatlichen Gesellschaft untersagt, das war mit Centros nicht vereinbar. Neu und daher interessant waren hingegen die Aussagen zur zulässigen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit:
„In dieser Hinsicht lässt es sich zwar nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des Gemeinwohls, wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter, der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, unter bestimmten Umständen und unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können, solche Ziele können es jedoch nicht rechtfertigen, dass einer Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß gegründet worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit abgesprochen wird. Eine solche Maßnahme kommt nämlich der Negierung der den Gesellschaften in den Artikeln 43 EG und 48 EG zuerkannten Niederlassungsfreiheit gleich, so dass sie gegen diese Vorschriften verstößt.“
Der EuGH benennt hier erstmals die Kriterien, nach denen sich eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen lässt. In der Sache handelt es sich um den etwa aus der Rs. Keck oder Gebhard bekannten Vier-Stufen-Test, gemünzt auf die Niederlassungsfreiheit. Infolge der Überseering-Entscheidung war der BGH gezwungen, für Gesellschaften aus der EG die Sitztheorie aufzugeben und die Gründungstheorie anzuerkennen. Für Gesellschaften z.B. aus der Schweiz gilt nach wie vor die Sitztheorie (BGH, Urt. v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, BGHZ 178, 192 – Trabrennbahn).
Die Mitgliedstaaten reagierten. Zwar anerkannten sie, dass sie verpflichtet waren, Zweigniederlassungen von Scheinauslandsgesellschaften einzutragen. Man versuchte aber, diese den heimischen Gesellschaften gleichzustellen. Die Niederlande erließen ein Gesetz, nach dem die für eine BV geltenden Kapitalaufbringungsvorschriften auch für eine Scheinauslandsgesellschaft gelten sollten. Betroffen davon war eine Ltd. mit dem wohlklingenden Namen „Inspire Art“. Inspiriert von seinen vorherigen Urteilen, befand der EuGH im Jahr 2003, nachdem die Ltd. sich gerichtlich gegen die Gleichstellung mit einer BV gewehrt hatte:
„Die Artikel 43 EG und 48 EG stehen einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die die Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer Zweitniederlassung in diesem Staat durch eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgesehen sind. Die Gründe, aus denen die Gesellschaft in dem anderen Mitgliedstaat errichtet wurde, sowie der Umstand, dass sie ihre Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich im Mitgliedstaat der Niederlassung ausübt, nehmen ihr nicht das Recht, sich auf die durch den Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit zu berufen, es sei denn, im konkreten Fall wird ein Missbrauch nachgewiesen.“
Demnach wäre es also unzulässig, wenn Deutschland das Kapitalerfordernis nach § 5 GmbHG auch auf eine Ltd. erstrecken würde, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland hat. Umstritten ist, ob das deutsche Mitbestimmungsrecht auf Scheinauslandsgesellschaften Anwendung finden kann oder nicht (dazu etwa Thüsing, ZIP 2004, 381).
Centros Reloaded: SEVIC Systems, Cartesio & Co.
Der EuGH hat seine Rechtsprechung zu den Artt. 43, 48 EG seitdem in einer Reihe von Urteilen bestätigt und konkretisiert. Genannt seien etwa die Entscheidungen SEVIC Systems, Deutsche Shell sowie jüngst Cartesio. Man darf dem EuGH bescheinigen, dass er den Wettbewerb der (gesellschafts-)Rechtsformen in Europa angefacht hat, dadurch aber auch zu einer weiteren Integration des Binnenmarktes beigetragen hat.
Der europäische Gesetzgeber hat inzwischen Schritte unternommen, die Mobilität von Gesellschaften in Europa zu erhöhen: Mit der SE und der SCE stehen inzwischen zwei Rechtsformen zur Verfügung, die ihren Sitz (auch Satzungssitz) ohne Formwechsel in jeden Mitgliedstaat verlegen können. Zudem besteht seit einigen Jahren infolge einer Richtlinie die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Verschmelzung von Gesellschaften. Mit der SPE steht ein europäischer „GmbH-Konkurrent“ schon in den Startlöchern.
Rechtsprechung: EuGH, Urt. v. 9. 3. 1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros; EuGH, Urt. v. 5. 11. 2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering; EuGH, Urt. v. 30. 9. 2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art.
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– https://en.wikipedia.org/wiki/Speedreading
– https://de.wikipedia.org/wiki/Schnelllesen
– https://www.focus.de/schule/lernen/lernatlas/kennen-koennen-lesetechnik_aid_263547.html
– https://www.focus.de/schule/lernen/lernatlas/tid-9043/powerreading_aid_262846.html
– https://www.verlag-gruening.de/downloads/Leseprobe.pdf
– https://www.verlag-gruening.de/downloads/Leseprobe_VR.pdf