OLG Hamm: Zur Tierhalterhaftung beim Sturz über schlafenden Hund
Wir freuen uns, heute einen weiteren Gastbeitrag von Matthias Murr veröffentlichen zu können. Matthias hat in Marburg studiert und promoviert aktuell zu einem kapitalmarktrechtlichen Thema an der Universität Köln. Nebenbei ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Frankfurt am Main tätig.
In seinem jüngst veröffentlichten Urteil vom 15.02.2013 (19 U 96/12) hatte das OLG Hamm über Fragen der Tierhalterhaftung (§ 833 Satz 1 BGB) zu entscheiden.
I. Sachverhalt
Die Klägerin kaufte in einem Geschäft der Beklagten zu 2. ein, in dem auch die Beklagte zu 1. als Verkäuferin beschäftigt war. Als die Klägerin nach Beendigung ihres Einkaufs das Geschäft wieder verlassen wollte, stürzte sie über den im Eingangsbereich liegenden Hund der Verkäuferin. Durch den Sturz zog sich die Klägerin eine schwere Knieverletzung zu, wegen der sie die Beklagten nunmehr auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch nimmt. Der Hund der Verkäuferin verweilte regelmäßig mit Zustimmung der Beklagten zu 2. im Ladengeschäft. Am Tag des Unfalls hatte er sich eigenmächtig in den ca. 1,5 m von der Kasse entfernten Eingangsbereich begeben und sich dort so niedergelegt, dass er den Zugang zum Ladengeschäft weitgehend versperrte. Da er im Rücken der Klägerin lag, hatte diese ihn beim Verlassen des Geschäfts übersehen, wodurch es zu dem Sturz kam.
II. Vorbemerkung zur systematischen Einordnung der Tierhalterhaftung
Das Deliktsrecht ist zweispurig ausgestaltet. Den (auch für die Ausbildung) zentralen Anspruchsgrundlagen der §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 und 826 BGB liegt das Verschuldensprinzip zu Grunde. Daneben stehen zahlreiche (teilweise auch außerhalb des BGB geregelte) Tatbestände der sog. verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung. Außerhalb des BGB sind hier vor allem § 7 StVG, § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG, §§ 33 ff. LuftVG und §§ 25 ff. AtomG zu nennen. Die Gefährdungshaftung kommt immer dann zur Anwendung, wenn das Verschuldenserfordernis den Interessen des Geschädigten nicht ausreichend Rechnung trägt. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn eine unberechenbare Gefahrenquelle geschaffen wird. Auch bei der Tierhalterhaftung nach § 833 Satz 1 BGB handelt es sich um einen solchen Fall der (bürgerlich-rechtlichen) Gefährdungshaftung. Ein Verschulden des Tierhalters ist folglich nicht Voraussetzung für dessen Haftung aus § 833 Satz 1 BGB. Dem liegt die gesetzgeberische Annahme des grundsätzlich unberechenbaren und selbstständigen Verhaltens von Tieren zu Grunde, welches eine nicht vollends beherrschbare Gefahrenquelle eröffnet und den strengeren Haftungsmaßstab rechtfertigt.
III. Haftung der Beklagten zu 1. aus §§ 833 Satz 1, 249 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB
1. Tatbestandsvoraussetzungen
Das OLG Hamm bejaht in seiner Entscheidung einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1. aus Gefährdungshaftung (§§ 833 Satz 1, 249 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB). Es sieht sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 833 Satz 1 BGB (Hund = Tier, Beklagte = Tierhalter, Rechtsgutsverletzung, Kausalität und Realisierung der tierspezifischen Gefahr, keine Exkulpation nach § 833 Satz 2 BGB) als gegeben an. Längere Ausführungen macht das Gericht in diesem Zusammenhang lediglich zum Prüfungspunkt der tierspezifischen Gefahr.
2. Zurechnungszusammenhang: Verwirklichung der tierspezifischen Gefahr
Voraussetzung für einen Anspruch aus § 833 Satz 1 BGB ist stets, dass sich in der Verletzung des Opfers gerade die tierspezifische Gefahr verwirklicht hat. Nur wenn dies der Fall ist, kommt eine verschuldensunabhängige Haftung des Tierhalters aus § 833 Satz 1 BGB in Betracht:
Es ist auf die tierimmanente Gefahr des Hundes zurückzuführen, dass die Klägerin unstreitig beim Verlassen des Ladenlokals über ihn stürzte und sich am rechten Knie verletzte. Bei der Rechtsgutsverletzung der Geschädigten hat sich gerade die dem Tier typischerweise anhaftende Gefahr verwirklicht, indem der Schaden auf der Unberechenbarkeit und Selbstständigkeit tierischen Verhaltens sowie der dadurch hervorgerufenen Gefährdung beruht. Dies ist nach der Rechtsprechung auch der Fall, wenn ein Tier ein gefährliches Verkehrshindernis bildet, weil es sich eigenmächtig ohne Rücksicht auf den Verkehr in den Verkehrsraum begeben hat und dort ruht. Ein solches unbekümmertes Verhalten entspricht der tierischen Natur; in ihm wirkt sich die Gefahr aus, die die Haltung des Tieres mit sich bringt und derentwegen die besondere Tierhalterhaftung geschaffen worden ist. Demgemäß ist nicht darauf abzustellen, dass der Hund regungslos auf dem Boden lag und schlief, sondern darauf, wie das Tier in seine Lage gelangt ist. Der Hund hat sich nicht etwa aufgrund irgendeiner Einwirkung durch einen Menschen, die ihm keine andere Freiheit ließ, sondern unstreitig frei und von selbst in den einzigen Zugang des Ladens begeben und schlafen gelegt, wobei er diese für den eröffneten Publikumsverkehr neuralgische Stelle aufgrund der Größenverhältnisse so gut wie versperrte.
3. Keine Exkulpation nach § 833 Satz 2 BGB
Im Anschluss an seine Ausführungen zur Realisierung der tierspezifischen Gefahr stellt das OLG Hamm fest, dass eine Exkulpation nach § 833 Satz 2 BGB nicht in Betracht kommt. Danach tritt die Haftung nach Satz 1 nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines dieser Tatbestandsmerkmale sieht das Gericht nicht. Der Hund diente weder dem Beruf, noch der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt der Beklagten zu 1. Es handelt sich vielmehr um ein nicht unter § 833 Satz 2 zu subsumierendes „Luxustier“.
III. Haftung der Beklagten zu 1. auch wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten
Des Weiteren bejaht das OLG Hamm unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherungspflichtverletzung aber auch einen verschuldensabhängigen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1. aus §§ 823 Abs. 1, 249 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB.
1. Bestehen einer Verkehrssicherungspflicht
Für die Prüfung ist zunächst zu erkennen, dass es an einer aktiv-schädigenden Handlung (Verletzungshandlung) der Beklagten fehlt. Der Umstand, dass sie ihren Hund nicht aus dem Eingangsbereich entfernte, ist rechtlich als Unterlassen zu bewerten. In Fällen des Unterlassens (genau wie bei mittelbaren Rechtsgutsverletzungen) liegt eine unerlaubte und damit rechtswidrige Handlung aber nur dann vor, wenn eine Pflicht zur Vermeidung oder Abwendung der konkreten Gefahr bestand. Nach allgemeiner deliktsrechtlicher Dogmatik entspringen Handlungspflichten aus einer Garantenstellung (Ingerenz, Vertrag, Gefahrengemeinschaft u.a.) oder aus Verkehrssicherungspflichten. Da eine Garantenstellung hier offensichtlich nicht vorlag, ist Stichwort für den Examenskandidaten nun also die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (siehe dazu etwa auch hier).
Das Gericht stellt zunächst allgemeine Erwägungen zu den Verkehrssicherungspflichten an und führt dabei aus, dass derjenige, der in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahrenlage schafft oder andauern lässt, die erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen zur Abwendung von Gefahren zu treffen hat, die bei der im Einzelfall gebotenen Sorgfalt nach dem typischen, am Ort zu vermutenden Verkehr zu erwarten sind.
Voraussetzung für derartige Vorkehrungen sei es, dass sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Somit hätte die Beklagte zu 1., so das Gericht, jedenfalls eingreifen müssen, wenn sie konkreten Anlass dafür hatte, dass es durch die Anwesenheit ihres Hundes im Geschäft zu einer Gefährdung anderer kommen könnte. Danach ist von einer Verkehrssicherungspflicht im Hinblick auf die Entfernung des Hundes vom Kassenbereich auszugehen.
2. Schuldhafte Verletzung der Verkehrssicherungspflicht
Das OLG Hamm nimmt nun Bezug auf den konkreten Sachverhalt und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Beklagte zu 1. den oben genannten konkreten Anlass zur Annahme einer möglichen Gefährdung anderer hatte. Das Unterlassen von Vorkehrungsmaßnahmen begründet, so das Gericht, demnach den Fahrlässigkeits-Vorwurf (§ 276 Abs. 2 BGB) gegenüber der Beklagten:
Danach habe die Beklagte zu 1., als sie mehrere Minuten die Klägerin an der Kasse bediente, bemerkt, dass der Hund neben der Kassentheke, wo er sich bis dahin befand, aufstand und wegging. Sie habe deshalb –zutreffend- damit gerechnet, dass er sich, wie schon gewohnt und ihr bekannt, auf seinem Lieblingsplatz auf der Matte im einzigen Ladenzugang ablegte. Damit lag er in Gehrichtung zum Ausgang unstreitig nur etw 1,5 m- für einen Erwachsenen kaum zwei Schritte- unmittelbar im Rücken der Klägerin, die bezahlte und das Lokal verlassen würde. Es war deshalb nicht nur objektiv vorhersehbar, sondern für die Beklagte zu 1. zu erkennen, dass die Klägerin, die erkennbar den Hund dort nicht bemerkt hatte, ihn beim Hinausgehen übersehen und über ihn stürzen konnte. Die Beklagte zu 1. hätte sie deshalb davor warnen bzw. den Hund wegschaffen müssen. Dass die Beklagte dies unstreitig nicht tat, begründet bei der gegebenen Sachlage den Vorwurf der Fahrlässigkeit, weil sie außer Acht gelassen hat, was von einem Verständigen in ihrer Lage und mit ihrer Kenntnis zu erwarten war.
IV. Haftung der Beklagten zu 2. aus §§ 433, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1, 249 Abs. 1, 253 Abs.2 BGB
Im Anschluss an die Haftung der Beklagten zu 1. widmet sich das OLG Hamm noch der Beklagten zu 2. Es führt hierzu aus, die Beklagte zu 1. sei als ihre Erfüllungsgehilfin i.S. v. § 278 Satz 1 Alt. 2 BGB anzusehen. Mithin sei ihr die oben bezeichnete schuldhafte Pflichtverletzung zuzurechnen.
Eine Zurechnung der Pflichtverletzung des Erfüllungsgehilfen an den Geschäftsherrn erfolgt nur dann nicht, wenn der Erfüllungsgehilfe die Pflichtverletzung lediglich bei Gelegenheit der Vertragserfüllung begeht, ohne dass ein sachlicher Zusammenhang mit den ihm obliegenden Aufgaben besteht. Einen solchen Fall sieht das OLG Hamm vorliegend jedoch nicht gegeben. Bereits die Tatsache, dass die Beklagte zu 2. die Mitnahme des Hundes schon seit längerer Zeit gestatte, führe zur Zurechnung der Pflichtverletzung.
Die Verkehrssicherung stellt eine Nebenpflicht aus dem Kaufvertrag gemäß § 241 Abs. 2 BGB dar. Das OLG Hamm weist darauf hin, dass sich die vertraglichen Verkehrssicherungspflichten mit den zu § 823 BGB entwickelten Fallgruppen decken (siehe dazu auch bereits hier). Aufgrund der Zurechnung der Pflichtverletzung hat die Beklagte zu 2., so das OLG Hamm, folglich ihre vertraglichen Nebenpflichten verletzt, sodass ein Anspruch der Klägerin aus §§ 433, 241 Abs. 2, 280 Abs.1, 249 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB besteht.
V. Kein Mitverschulden der Klägerin gemäß § 254 Abs. 1 BGB.
Das Gericht schließt seine Entscheidung mit der Frage ab, ob der Klägerin ein Mitverschulden nach § 254 Abs. 1 BGB anzulasten ist. Dieses würde sich als rechtsvernichtende Einwendung auf alle oben bejahten Ansprüche anspruchsmindernd auswirken. Hierzu stellt das Gericht jedoch fest, dass die Klägerin vorliegend kein Mitverschulden trifft, da sie die Sorgfalt gewahrt habe, die ein ordentlicher und verständiger Mensch in der Situation zu beobachten hatte, um eigenen Schaden zu vermeiden. Aufgrund der räumlichen Enge und des zeitlichen Ablaufs habe die Klägerin den Hund nicht wahrnehmen können. Eine Pflicht ohne Anhaltspunkt sofort den vor sich liegenden Boden auf etwaige Hindernisse zu kontrollieren bestehe nicht.
VI. Fazit
Die Entscheidung des OLG Hamm reiht sich in eine Vielzahl von Entscheidungen zur Tierhalterhaftung ein (siehe etwa hier, hier und hier). Sie eignet sich gut als Teil einer Examensklausur oder aber auch für das mündliche Prüfungsgespräch. Das zentrale Problem des Falles stellt die Frage der Realisierung der tierspezifischen Gefahr im Rahmen der Haftung nach § 833 BGB dar. Dieses sollte unbedingt gesehen und ausführlich dargestellt werden. Darüber hinaus sollte im Rahmen der Prüfung des § 823 Abs. 1 BGB die Verkehrssicherungspflicht wegen Schaffung einer Gefahrenquelle ordentlich herausgearbeitet und der vorliegende Sachverhalt darunter subsumiert werden. Bei der Prüfung der Haftung der Beklagten zu 2. kann dann beim Prüfungspunkt der vertraglichen Nebenpflichten auf die obigen Ausführungen zu den Verkehrssicherungspflichten verwiesen und das Gutachten so sauber abgerundet werden. Das Mitverschulden sollte im Rahmen der Prüfung des ersten Anspruchs angesprochen werden. Bei den nachfolgend zu prüfenden Ansprüchen kann dann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.
Nicht geprüft hat das OLG Hamm in seiner Entscheidung eine mögliche Haftung der Beklagten zu 2. aus § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB. Anders als § 278 BGB stellt § 831 BGB keine Zurechnungsnorm, sondern eine eigene Anspruchsgrundlage dar. Der Sachverhalt enthält keine Angaben darüber, ob der Beklagten zu 2. bereits bei der Einstellung der Beklagten zu 1. ein Auswahlverschulden angelastet werden kann, welches eine Exkulpation nach § 833 Abs. 1 S. 2 BGB verhindern würde. Über den gesetzlichen Wortlaut hinaus wird jedoch von der Rechtsprechung eine Verpflichtung zur fortwährenden Überwachung des Verrichtungsgehilfen anerkannt. Diese Überwachungspflicht führt zu einer Reaktionspflicht, wenn sich Anhaltspunkte für die Ungeeignetheit oder Unzuverlässigkeit des Gehilfen ergeben. In einer Klausur fürs erste Examen wäre diese Frage anhand weiterer Sachverhaltsangaben zu erörtern.
Schöner Beitrag, verständlich geschrieben. Das Urteil wurde gut eingearbeitet, die Verweise auf andere Beiträge sind ebenfalls hilfreich.
Der Fall lässt sich weiterentwickeln: Hat der Arbeitgeber gegen die Arbeitnehmerin einen Regressanspruch aus § 426 Abs. 2 BGB? Nur, wenn die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung NICHT eingreifen, die auch bei einem solchen Regressanspruch zu Anwendung kommen (z.B. HWK/Krause, 5. Aufl. 2012, § 619a BGB Rn. 62 m.w.N.). Zu problematisieren wäre hier, ob eine „betrieblich veranlasste Tätigkeit“ vorlag oder ob das Mitbringen des Hundes reines Privatvergnügen war. Zu Lasten des Arbeitgebers wäre in jedem Fall die Duldung zu berücksichtigen.