OLG Hamm: Rechtsmangel, Wissenszurechnung, Unwirksamkeit eines Rücktritts, Vertragsstrafe
Das OLG Hamm hat mit Urteil vom 14.01.2016 – I-22 U 136/11 einen Sachverhalt entschieden, der 1:1 in einer schriftlichen Examensklausur abgefragt werden könnte – von der Abgrenzung eines Rechts- vom Sachmangel, über die Unwirksamkeit eines Rücktritts wegen Verjährung der zugrunde liegenden Ansprüche bis hin zur Wissenszurechnung bei Behörden. Wer die Problemkreise dieses Falls beherrscht, darf sich als gut vorbereitet bezeichnen. Empfohlen wird daher die Lektüre des gesamten Urteils.
I. Sachverhalt (beruhend auf beck-online)
Im Januar 2009 verkaufte die beklagte Stadt ihr rund 20.000 Quadratmeter großes ehemaliges Schlachthofgelände an einen privaten Investor. Teil des verkauften Grundstücks ist eine als „Schlachthofstraße“ bezeichnete Wegfläche, eine nach circa 20 bis 30 Metern mit einem Tor versehene Sackgasse. Nach dem Kaufvertrag hatte der Käufer ab dem 01.01.2010 30 Arbeitsplätze nachzuweisen und schuldete der Stadt eine Vertragsstrafe von 5.000 Euro pro nicht geschaffenem Arbeitsplatz.
Das Kaufobjekt wurde zum 01.02.2009 übergeben. Als ein Anlieger eines benachbarten Gewerbebetriebes die Schlachthofstraße weiterhin als Zuwegung zu seinem Betrieb und als Abstellfläche nutzen wollte, wurde bekannt, dass die Schlachthofstraße als öffentliche Straße gewidmet war. Als solche war sie auch in einer im Bauamt der Beklagten geführten Widmungskartei eingetragen. Die Widmung bestätigte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in einem vom Anlieger gegen die Stadt geführten verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Jahr 2014.
Bereits im Mai 2011 hatte die Käuferin gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Kaufvertrag erklärt, weil sie den als öffentliche Straße gewidmeten Grundstücksteil nicht nach ihren Vorstellungen nutzen und bebauen könne. In seinem ebenfalls im Mai 2011 erlassenen erstinstanzlichen Urteil sah das Landgericht Hagen die Vertragsstrafe in Höhe von 130.000 Euro für 26 nicht geschaffene Arbeitsplätze als verwirkt an. Im Mai 2013 erhielt die Beklagte von einer Bürgin 75.000 Euro als Teilzahlung auf die Vertragsstrafe.
Die Klägerin begehrte nun (vereinfacht) Rückzahlung von 75.000 Euro sowie die Feststellung das keine weitere Vertragsstrafe verwirkt werden kann.
II. Lösung: Rückzahlungsanspruch
Das OLG Hamm prüft einen Rückzahlungsanspruch aus i.V.m 1 BGB§§ 323 BGB wegen des erklärten Rücktritts. Dieser ist jedoch vorliegend nach § 218 BGB unwirksam, da der zugrunde liegende Gewährleistungsanspruch verjährt ist. Wichtig: Rücktritt = unwirksam; Forderung = verjährt 2,
a) Verwirkung der Vertragsstrafe, § 339 BGB: (+) durch fehlende Schaffung der Arbeitsplätze
b) Grundsätzlich bestehendes RücktrittsR: Wegen Widmung als öffentliche Straße liegt Rechtsmangel, § 435 BGB
Für das Examen ist es wichtig, an dieser Stelle eine Abgrenzung zum Sachmangel vorzunehmen:
Der Einordnung als Rechtsmangel steht nicht entgegen, dass nach ganz überwiegender, auch vom Senat geteilter Auffassung und ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Baulasten als Sachmangel eines Grundstücks bewertet werden. Eine solche öffentlich-rechtliche Baubeschränkung (vgl. § 83 BauO NW) stelle – so die Begründung – kein Recht eines Dritten im Sinne des Rechtsmangelbegriffs dar: Nach § 435 BGB ist der Verkäufer verpflichtet, dem Käufer den verkauften Gegenstand frei von Rechten zu verschaffen, die von Dritten gegen den Käufer geltend gemacht werden können. Hierunter fallen aber grundsätzlich nur diejenigen Baubeschränkungen, die ihre Grundlage in Privatrechten Dritter haben, nicht aber auch die, welche auf öffentlichem Recht beruhen.
Grundsätzlich sind Baulasten somit Sach- und keine Rechtsmängel! Anders aber hier:
Auch wenn es sich bei der Widmung als öffentliche Straße ebenfalls um eine auf dem öffentlichen Recht beruhende Beschränkung handelt, unterliegt sie einer anderen rechtlichen Bewertung als eine Baulast: Zu berücksichtigen ist nämlich, dass dem Eigentümer in der ersten Fallkonstellation kraft der bestehenden öffentlichrechtlichen Bindung in deren Umfang das Grundstückseigentum selbst entzogen werden kann: § 11 Abs. 1 StrWG NW sieht vor, dass der Träger der Straßenbaulast „das Eigentum an den der Straße dienenden Grundstücken erwerben soll“. Für den Fall, dass kein freihändiger Erwerb eines bereits für die Straße in Anspruch genommenen Grundstücks möglich ist, sehen §§ 11 Abs. 3 S. 1 StrWG NW, 2 Abs. 1 Nr. 1 EEG NW bzw. § 42 StrWG NW die Möglichkeit der Enteignung vor. Diese „Belastung“ eines Grundstücks mit einer Enteignungsmöglichkeit stellt insofern einen Rechtmangel dar, als der Verkäufer dem Käufer nur Eigentum ohne rechtlichen Bestand verschaffen konnte.
c) Nachträgliche Unwirksamkeit des Rücktritts nach §§ 218, 438 Abs. 4 BGB
Ein Rücktrittsrecht stand der Klägerin wegen des Rechtsmangels mithin zunächst zu. Allerdings ist der erklärte Rücktritt nachträglich unwirksam geworden durch die berechtigte Erhebung der Einrede der Verjährung durch die beklagte Stadt.
Zunächst ist die Verjährungsfrist zu bestimmen. Grundsätzlich gilt im Kaufrecht eine zweijährige Verjährungsfrist. Allerdings könnte hier eine längere Verjährungsfrist gelten, § 438 BGB. Zunächst klärt das OLG Hamm, ob eine Ausnahmevorschrift gegeben ist, etwa die dreizigjährige Verjährungsfrist nach § 438 Abs. 1 Nr. 1 BGB greift. Eine unmittelbare Anwendung scheitert am Wort, eine analoge Anwendung ist wegen der notwendigen Rechtsklarheit bei Verjährungsvorschriften und der fehlenden vergleichbaren Interessenlage abzulehnen.
Spannend sind die Ausführungen des OLG Hamm zur Anwendbarkeit der dreijährigen Verjährungsfrist des § 438 Abs. 3 S. 1 BGB wegen arglistigen Verschweigens des Mangels. Hier geht es um die Frage, ob eine Wissenszurechnung nach § 166 BGB stattfindet, schließlich war die Widmung der im Streit befindlichen Straße als öffentliche Straße bereits 1976 festgestellt, auf einer Karteikarte im damaligen Fachbereich 66/55 (Planen und Bauen) geführten Widmungskartei vermerkt und als gewidmete Straße in den Stadtplan aufgenommen. Zu den Voraussetzungen einer Wissenszurechnung für das OLG Hamm aus:
Der Bürger, der mit der Gemeinde einen wirtschaftlich bedeutsamen Vertrag schließe und ihr dabei im Zweifel sogar erhöhtes Vertrauen entgegenbringe, dürfe im Prinzip nicht schlechter gestellt werden, als wenn er es nur mit einer einzigen natürlichen Person zu tun hätte. In diesem Sinne sei als „Wissensvertreter“ zunächst jeder anzusehen, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen sei, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei angefallenen Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie gegebenenfalls weiterzuleiten; er brauche weder zum rechtsgeschäftlichen Vertreter noch zum „Wissensvertreter“ ausdrücklich bestellt zu sein. Der Geschäftsherr müsse sich seiner aber im rechtsgeschäftlichen Verkehr wie eines Vertreters bedient haben; habe der Wissensträger den Geschäftsherrn nur intern beraten, scheidet eine sinngemäße Anwendung von § aus. 1 BGB
Allerdings ist eine formale Betrachtung nicht angezeigt, sondern es muss eine wertende Gesamtschau vorgenommen werden. Die Wissenszurechnung beruht demnach weniger auf der Organstellung oder vergleichbaren Position des Wissensvermittlers, sondern auf dem Gedanken des Verkehrsschutzes und der daran geknüpften Pflicht zu ordnungsgemäßer Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation. Allerdings besteht keine Pflicht zum Austausch zwischen den verschiedenen Ämtern – so das OLG Hamm. Andernfalls entstünde eine Besserstellung bei Kontrahierung mit einer großen Behörde als mit einer einzelnen natürlichen Person. Daher nimmt das OLG Hamm eine Einzelfallbetrachtung vor:
So dürfe das als Wissen Zuzurechnende nicht zu einer Fiktion entarten, die juristische Personen oder andere am Rechtsverkehr teilnehmende Organisationen weit über jede menschliche Fähigkeit hinaus belasteten. Vielmehr müsse für denjenigen Menschen, für den die Zurechnung gelten soll, wenigstens eine reale Möglichkeit, aber auch ein Anlass bestanden haben, sich das Wissen aus dem eigenen Gedächtnis, aus Speichern oder von anderen Menschen zu beschaffen.
Eine Wissenszurechnung ist demnach lediglich anlassbezogen. Insoweit kann man 3 Fallgruppen entwickeln: die grundsätzliche Pflicht, wichtige Informationen zu speichern, in die Pflicht, Informationen weiterzuleiten an die Stellen, die es angeht, und in die Pflicht derjenigen Stellen, die es angeht, Informationen abzufragen.
Eine Darstellung in dieser Tiefe ist im Examen eher nicht notwendig, wird aber sicherlich honoriert. Letztlich ist eine Abwägung zwischen Verkehrsschutzgesichtspunkten und der Möglichkeit der internen Organisation vorzunehmen. Im vorliegenden Fall nimmt das OLG Hamm keine Wissenszurechnung an – was man sicherlich auch anders sehen kann.
Mangels Wissenszurechnung gilt die 2-jährige Verjährungsfrist, die bereits abgelaufen war. Der von der Klägerin erklärte Rücktritt ist mithin unwirksam geworden und der Anspruch auf Rückzahlung des geltend gemachten Betragesaus § 346 Abs. 1 BGB weggefallen.
Beruft sich der Schuldner auf die Verjährung des Hauptanspruchs, wird der zunächst wirksame Rücktritt bzw. die Minderung unwirksam und das ursprüngliche Vertragsverhältnis lebt wieder auf. Ansprüche aus dem Rücktritt gemäß §§ 346 f. fallen ersatzlos weg
III. Der Trick: Keinen Anspruch auf weitere Vertragsstrafenzahlung
Der wirklich Trick folgt in der Prüfung des nächsten Antrags. Die Klägerin wollte feststellen lassen, dass der Gemeinde kein weitergehender Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe besteht (vereinfacht/abgeändert zu didaktischen Zwecken). Nun könnte man auf den ersten Blick annehmen, dass ein solcher Anspruch besteht, schließlich ist der Rücktritt vom Vertrag wegen der Verjährung der Hauptforderung unwirksam. Allerdings gilt insoweit § 438 Abs. 4 S. 2 BGB analog:
Der Käufer kann trotz einer Unwirksamkeit des Rücktritts nach § 218 Abs. 1 die Zahlung des Kaufpreises insoweit verweigern, als er auf Grund des Rücktritts dazu berechtigt sein würde.
Gleiches muss dann vorliegend für die Vertragsstrafe gelten, die letztlich dem Primäranspruch zuzuordnen sind. Wenn also der Kläger die Kaufpreiszahlung verweigern könnte (trotz Unwirksamkeit des Rücktritts!), dann jedenfalls auch die hiermit verknüpfte Vertragsstrafe:
Die Verpflichtung zur Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem verkauften Grundstück wurde nämlich im Gegenzug zu einer Reduzierung des Kaufpreises für die Immobilie vereinbart, ist also letztlich Teil der vertraglich geschuldeten (Gegen-)Leistung der Klägerin. (…) Die Situation ist insoweit wertungsmäßig keine andere, als wenn die Parteien bei Vertragsschluss statt der Vertragsstrafe für den Fall der unzureichenden Schaffung von Arbeitsplätzen einen aufschiebend bedingten (§ ) weiteren Kaufpreisanspruch vereinbart hätten. 158 Abs. 1 BGB
IV. Fazit: Ein ganz heißer Examensfall
Der Titel sagt es schon: Ein ganz heißer Examensfall wurde vom OLG Hamm entschieden. Schwerpunkte, die nachgearbeitet werden sollten, sind:
- Vertragsstrafe
- Baulasten als Sach-/Rechtsmangel
- Unwirksamkeit eines Rücktritts, § 438 Abs. 4 BGB i.V.m. § 218 BGB
- Verjährung von Mängelgewährleistungsansprüchen
- Wissenszurechnung § 166 BGB (analog) bei Gesellschaften/Gemeinden etc.
- § 438 Abs. 4 S. 2 BGB als Ausnahmeregelung
„Nun könnte man auf den ersten Blick annehmen, dass ein solcher Anspruch NICHT besteht, schließlich ist der Rücktritt vom Vertrag wegen der Verjährung der Hauptforderung unwirksam. Allerdings gilt insoweit § 438 Abs. 4 S. 2 BGB analog:“
In dem Satz fehlt das nicht denke ich. Guter Aufsatz, danke 🙂
Danke für den Hinweis, ist allerdings ohne das nicht richtig:
Man könnte meinen die Gemeinde hätte diesen Anspruch wegen der Unwirksamkeit des Rücktritts (… dass ein solcher Anspruch besteht), weswegen eigentlich die Pflichten aus dem Vertragsverhältnis fortbestehen – auch die Vertragsstrafenzahlung. Da diese jedoch Substitut einer Hauptleistungspflicht ist, steht dem § 438 Abs. 4 S. 2 BGB entgegen.
Nur auf die Schnelle ohne tiefere Überlegungen:
Können evtl. noch Forderungsrechte auf Schadloshaltung und damit ebenso Rückzahlung etwa wegen cic in Betracht kommen, weil über den „Rechtsmangel“ schuldhaft nicht hinreichend aufgeklärt war o.ä?
Bei arglistiger Täuschung ist das vorvertragliche Regime ja nicht durch die §437 BGB gesperrt, von daher kann man das sicherlich ansprechen mMn.