• Lerntipps
    • Examensvorbereitung
    • Fallbearbeitung und Methodik
    • Für die ersten Semester
    • Mündliche Prüfung
  • Examensreport
    • 2. Staatsexamen
    • Baden-Württemberg
    • Bayern
    • Berlin
    • Brandenburg
    • Bremen
    • Hamburg
    • Hessen
    • Lösungsskizzen
    • Mecklenburg-Vorpommern
    • Niedersachsen
    • Nordrhein-Westfalen
    • Rheinland-Pfalz
    • Saarland
    • Sachsen
    • Sachsen-Anhalt
    • Schleswig-Holstein
    • Thüringen
    • Zusammenfassung Examensreport
  • Interviewreihe
    • Alle Interviews
  • Rechtsgebiete
    • Strafrecht
      • Klassiker des BGHSt und RGSt
      • StPO
      • Strafrecht AT
      • Strafrecht BT
    • Zivilrecht
      • AGB-Recht
      • Arbeitsrecht
      • Arztrecht
      • Bereicherungsrecht
      • BGB AT
      • BGH-Klassiker
      • Deliktsrecht
      • Erbrecht
      • Familienrecht
      • Gesellschaftsrecht
      • Handelsrecht
      • Insolvenzrecht
      • IPR
      • Kaufrecht
      • Kreditsicherung
      • Mietrecht
      • Reiserecht
      • Sachenrecht
      • Schuldrecht
      • Verbraucherschutzrecht
      • Werkvertragsrecht
      • ZPO
    • Öffentliches Recht
      • BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker
      • Baurecht
      • Europarecht
      • Europarecht Klassiker
      • Kommunalrecht
      • Polizei- und Ordnungsrecht
      • Staatshaftung
      • Verfassungsrecht
      • Versammlungsrecht
      • Verwaltungsrecht
      • Völkerrrecht
  • Rechtsprechungsübersicht
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Karteikarten
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Suche
  • Menü Menü
Du bist hier: Startseite1 > Drittschutz

Schlagwortarchiv für: Drittschutz

Gastautor

Wie teuer ist eine Prügelei mit Heino Ferch? – Schadensersatz der Filmfirma

Deliktsrecht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Tagesgeschehen, Zivilrecht

Wir freuen uns heute einen Gastbeitrag von Maximilian Roser veröffentlichen zu können. Nach Studium und erstem Examen in Freiburg hat er im April diesen Jahres das zweite Examen in Baden-Württemberg abgeschlossen und bereitet sich derzeit auf seine Promotion vor. Der Autor befasst sich in seinem Artikel anhand allgemeiner Grundsätze mit einer spannenden deliktsrechtlichen Haftungsfrage.
Am Montag (09.05.2016) verurteilte das Landgericht München I als Berufungsgericht einen Mann zu einer Geldstrafe wegen Körperverletzung am Schauspieler Heino Ferch. Der Vorfall aus dem Jahre 2014, bei dem nach der Überzeugung des Gerichts der Angeklagte den Schauspieler in einem Münchner Club mit der Faust ins Gesicht schlug, ist damit strafrechtlich erledigt.
Zivilrechtlich hingegen gibt es noch offene Fragen und zwar weniger im Hinblick auf den unmittelbar geschädigten Schauspieler als vielmehr auf eine mit diesem zusammenarbeitende Produktionsfirma. Heino Ferch konnte aufgrund der Verletzung einen bereits geplanten Drehtermin bei dieser Firma nicht wahrnehmen. Die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung schreibt dazu in einem Bericht über das Strafverfahren:

„Der Produktionsfirma entstand dadurch ein Schaden in Höhe von rund 300.000 Euro, für den eine Versicherung aufkommen musste. Die Versicherung will sich das Geld nun bei Steve R. zurückholen.“
(Quelle: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/prozess-fussballer-nach-schlaegerei-mit-heino-ferch-zu-geldstrafe-verurteilt-1.2986320)

Geht das?
Diese aktuelle Thematik gibt Anlass dazu das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zu untersuchen und den vorliegenden Fall anhand der Rechtsprechung des BGH zu beurteilen.
I. Problem
Es handelt sich hierbei um den Problemkreis des mittelbar Geschädigten: Der mittelbar Geschädigte erleidet durch die unmittelbare Schädigung eines Dritten einen Vermögensschaden. Häufiger Fall ist, wie auch hier, dass der Dritte als Leistungserbringer ausfällt. Fraglich ist, ob auch dem mittelbar Geschädigten Ansprüche zustehen.
II. Grundsätze
Das deutsche Deliktsrecht ist von bestimmten Grundstrukturen geprägt (vgl. Nomos Handkommentar BGB Vor §§ 823-853). Dazu gehören:

  • Es gibt keine große deliktische Generalklausel (wie im französischen Recht), sondern drei kleine Generalklauseln: § 823 I BGB, § 823 II BGB, § 826 BGB
  • Primäre Vermögensschäden fallen nicht unter § 823 I BGB
  • Dem nur mittelbar Geschädigten steht im Regelfall kein Anspruch aus unerlaubter Handlung zu

Die letzten beiden Aspekte sollen eine grenzenlose Ausuferung der deliktischen Haftung vermeiden. Die Nichterstattung mittelbarer Schäden ergibt sich zudem systematisch aus einem Umkehrschluss zu §§ 844, 845 BGB, die nur für Ausnahmefälle Ansprüche mittelbar Geschädigter vorsehen.
III. Lösungsansatz: Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
Eine Lösung von Fällen mittelbarer Schädigung kann darin bestehen, dass, untechnisch gesprochen, aus mittelbar Geschädigten unmittelbar Geschädigte „werden“. Möglich ist dies über eine Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs als von der Rechtsprechung entwickeltes „sonstiges Recht“ iSd § 823 I BGB. In den Schutzbereich dieses Rechts fällt alles, „was in seiner Gesamtheit den Betrieb zur Entfaltung und Betätigung in der Wirtschaft befähigt und damit den wirtschaftlichen Wert des Betriebs als bestehender Einheit ausmacht“ (Palandt – Sprau, § 823).
Um eine uferlose Haftung für Vermögensschäden Gewerbetreibender über diesen Auffangtatbestand zu vermeiden, gibt es eine wesentliche Einschränkung: nur ein betriebsbezogener Eingriff kann eine Rechtsgutverletzung begründen. Im „Stromkabel-Fall“ führt der Bundesgerichtshof dazu aus (BGHZ 29, 65):

„Unmittelbare Eingriffe in das Recht am bestehenden Gewerbebetrieb, gegen welche § 823 I BGB Schutz gewährt, sind nur diejenigen, die irgendwie gegen den Betrieb als solchen gerichtet, also betriebsbezogen sind, und nicht vom Gewerbebetrieb ohne Weiteres ablösbare Rechte oder Rechtsgüter betreffen.“

In einem weiteren Fall hatte der Bundesgerichtshof darüber zu entscheiden, ob eine Eiskunstläuferin Schadensersatz vom Schädiger ihres Sportpartners verlangen kann, u.a. aufgrund des Ausfalls von Wettkämpfen. Der BGH verneint klar und anschaulich einen betriebsbezogenen Eingriff (Beschluss vom 10.12.2002 – VI ZR 171/02 – ):

„Von einem derart abgegrenzten Eingriff kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine Rede sein, wenn es zu Störungen im Betriebsablauf aufgrund eines schädigenden Ereignisses kommt, das in keinerlei Beziehung zu dem Betrieb steht, mag dadurch auch eine für das Funktionieren des Betriebs maßgebliche Person oder Sache betroffen sein. Insbesondere die Schädigung einer zum Betrieb gehörenden Person stellt danach keinen betriebsbezogenen Eingriff dar […] Wer durch verkehrswidriges Verhalten einen Verkehrsunfall verursacht, kann dabei sowohl eine beliebige Privatperson als auch einen wichtigen Mitarbeiter eines Betriebes verletzen. Die Verletzungshandlung kann jedermann treffen. Der Schädiger verletzt daher keine Verhaltenspflichten, die ihm gerade im Hinblick auf das besondere Schutzbedürfnis eines Gewerbebetriebs obliegen.“

Unterstützend führt der BGH dabei aus, dass es nicht gerechtfertigt sei über das Institut des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs ein „Sonderrecht“ für Gewerbetreibende zu schaffen und andere mittelbar Geschädigte vom Schadenersatz auszunehmen.
IV. Subsumtion
Insbesondere im Lichte des Falles der Eiskunstläuferin dürfte hier ein Anspruch der Produktionsfirma am fehlenden betriebsbezogenen Eingriff scheitern. Die Körperverletzung in einem Nachtclub in München hätte grundsätzlich jedermann treffen können, sie weist keinen spezifischen Bezug zur schauspielerischen Tätigkeit und der Produktionsfirma auf. Der Umstand allein, dass es sich um eine vorsätzliche Schädigung des bekannten Schauspielers handelt, genügt nicht für die Betriebsbezogenheit. Das subjektive Element des Vorsatzes bezieht sich zunächst nur auf die Rechtsgutsverletzung des unmittelbar Geschädigten und kann daher nicht allein aufgrund von Billigkeit einen betriebsbezogenen Eingriff begründen. Der Schauspieler hätte zudem auch ein Vertragsverhältnis zu einer anderen Produktionsfirma haben können. Denkbar wäre ein betriebsbezogener Eingriff etwa bei folgendem hypothetischen Fall: Der Täter schlägt den Schauspieler auf dem Weg zu den Dreharbeiten nieder, um zu verhindern, dass der Schauspieler gerade für die vom Täter verhasste Produktionsfirma arbeitet.
Eine Körperverletzung, die sich zur Zeit des Oktoberfestes bei einem zufälligen Aufeinandertreffen in einem Nachtclub zuträgt, ist damit nicht vergleichbar.
V. Fazit
Unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs scheidet somit ein Schadensersatzanspruch der Produktionsfirma aus.
Eine Lösung über die Drittschadensliquidation scheitert bereits daran, dass der Schauspieler selbst einen Schaden erlitten hat und zudem keine der anerkannten Fallgruppen einschlägig ist.
Die Thematik ist aufgrund ihrer hohen praktischen Relevanz und der erforderlichen Einzelfallprüfung am konkreten Sachverhalt immer wieder Gegenstand im Examen.

13.05.2016/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2016-05-13 09:00:132016-05-13 09:00:13Wie teuer ist eine Prügelei mit Heino Ferch? – Schadensersatz der Filmfirma
Tom Stiebert

VG Frankfurt: Neues zum baurechtlichen Drittschutz: Landschaftsschutzverordnung schützt nicht Anwohnerrechte

Baurecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verwaltungsrecht

Fragen des Drittschutzes sind im Baurecht von erheblicher Bedeutung. Hier sollte zwingend die Rechtsprechung im Auge behalten werden. Einen sehr relevanten Fall hatte das VG Frankfurt am 4.5.2016 im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes zu entscheiden (Az. 8 L 1334/16.F).
I. Sachverhalt
Hier ging es Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Errichtung einer mobilen Flüchtlingsunterkunft in Holzrahmenbauweise als Anlage für soziale Zwecke – Unterbringung von maximal 672 Asylsuchenden, sowie Herstellen von drei Stellplätzen für einen Zeitraum von April 2016 bis 31.12.2018 am „Alten Flugplatz Bonames“ in Frankfurt.
Mehrere Anwohner hatten gegen die hierfür erteilte Baugenehmigung Widerspruch eingelegt und begehren nun die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Widersprüche gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO. (Hinweis: In Bundesländern ohne Vorverfahren (bspw. NRW – § 110 JustG NRW) würde es insofern um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gehen.
II. Lösungsüberblick
An dieser Stelle soll nicht auf die zahlreichen denkbaren Probleme des einstweiligen Rechtsschutzes eingegangen werden, sondern allein die Problematik der Antragsbefugnis erörtert werden. Zu speziellen Fragen des § 80 Abs. 5 VwGO und zur Wiederholung empfehlen wir unseren Beitrag.
Fraglich war hier, ob sich die Antragssteller auf die Verletzung eigener Rechte stützen können (§ 42 Abs. 2 VwGO). Der Antrag ist nur zulässig, wenn die Erteilung der Baugenehmigung gegen den Schutz des Nachbarn bezweckende Baurechtsnormen verstößt. Im Baurecht ist dies häufig sehr problematisch (siehe unsere umfangreiche Darstellung).
Zur Begründung ihres Begehrens stützten sich die Antragsteller im Wesentlichen auf naturschutzrechtliche Gesichtspunkte, insbesondere die Beeinträchtigung geschützter Arten und den Gewässerschutz. Außerdem sehen sie das auch im Außenbereich Geltung beanspruchende nachbarrechtliche Rücksichtnahmegebot verletzt.
Das VG lehnte teilweise eine Antragsbefugnis bereits deshalb ab, weil die Antragssteller bereits personell nicht in den Schutzbereich nachbarschützender Vorschriften fielen:

Die Unzulässigkeit für zwei Antragsteller folge bereits daraus, dass sie nicht Eigentümer eines in der Nähe des Vorhabens liegenden Grundstücks sind.

Aber auch im Übrigen fehlt es aus Sicht des VG an der Antragsbefugnis.

Bezüglich der übrigen Antragsteller folge die Unzulässigkeit des Eilrechtsschutzbegehrens daraus, dass sie in ihrer eigenen Wohnnutzung durch das Vorhaben nicht eingeschränkt werden. Zudem dienen Vorschriften der Landschaftsschutzverordnung nicht dem Schutz der individuellen Rechte der Anwohner.

Entscheidend war hier insbesondere, ob die Regelungen der Landschaftsschutzverordnung drittschützend sind. Dies war abzulehnen. Auch die Rechtsprechung in anderen Fällen bestätigt das. So hat das VG Sigmaringen bereits 2004 entsprechend geurteilt (4 K 1715/04):

Die Bestimmungen einer Landschaftsschutzverordnung nach § 22 NatSchG BW dienen grundsätzlich ausschließlich den in § 22 NatSchG BW genannten öffentlichen Interessen. Sie dienen insbesondere nicht den privaten Interessen der Grundstückseigentümer im Landschaftsschutzgebiet.

Nach § 22 NatSchG BW dienen Landschaftsschutzgebiete dem besonderen Schutz der Natur und der Landschaft. Sie werden mit dem Ziel eingerichtet, die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts zu erhalten, die Nutzungsfähigkeit der Naturgüter zu erhalten oder zu verbessern, die Vielfalt, Eigenart oder Schönheit der Natur und Landschaft zu erhalten oder um den besonderen Erholungswert von Natur und Landschaft für die Allgemeinheit zu erhalten, zu steigern oder wiederherzustellen.

Diese, der streitgegenständlichen Entscheidung zugrunde liegenden Bestimmungen dienen nach ihrem Wortlaut und Zweck ersichtlich ausschließlich dem öffentlichen Interesse am Erhalt einer intakten Natur und Landschaft. Sie sind daneben nicht auch zum Schutz des Antragstellers bestimmt. Eine Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts des Antragstellers ist daher ausgeschlossen, so dass es an einer Antragsbefugnis fehlt.

Insofern fehlt es an der Antragsbefugnis. Weder aus dem Gebot der Rücksichtnahme ergibt sich eine solche noch aus der Landschaftsschutzverordnung. Der Antrag war daher abzulehnen.

III. Bewertung und Examensrelevanz

Der Fall ist perfekt für eine mündliche Prüfung geeignet, bei der eine eigenständige Argumentation abverlangt wird. Kenntnisse der Grundlagen des Drittschutzes sind hier unentbehrlich. Aber auch in einer Klausur könnte dieser Teil der Prüfung sehr relevant werden. Der Fall sollte daher auf jeden Fall durchdacht werden.

09.05.2016/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-05-09 08:30:082016-05-09 08:30:08VG Frankfurt: Neues zum baurechtlichen Drittschutz: Landschaftsschutzverordnung schützt nicht Anwohnerrechte
Dr. Jan Winzen

VG Arnsberg: Borussia Dortmund Fahne darf weiter wehen

Baurecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite

Pünktlich zur neuen Bundesligasaison hat das VG Arnsberg mit Urteil vom 15.07.2013 (8 K 1679/12) die Klage zweier Grundstückseigentümer, gerichtet auf Beseitigung einer auf dem Nachbargrundstück aufgestellte Fahnenstange nebst BVB-Fahne, abgewiesen.
A. Sachverhalt
Der Nachbar hatte zur Fussball Weltmeisterschaft 2010 auf seinem Grundstück einen 5 m hohen Fahnenmast errichtet und die deutsche Flagge gehisst. Im April 2012 ersetzte er die Deutschland-Flagge durch eine 1×2 m große Flagge des Bundesligavereins Borussia Dortmund (BVB). Der Flaggenmast befindet sich im rückwärtigen Bereich des Grundstücks (Garten) in ca. 11,5 m Entfernung von dem Grundstück der Kläger. Der Bebauungsplan weist das streitgegenständliche Gebiet als reines Wohngebiet aus. Die Kläger verfügen hinter ihrem Haus über eine gepflasterte Terrassenanlage. Auf dieser ist ein Fischteich mit stetiger Wasserzu- und abfuhr und damit verbundenem Plätschern angelegt.
Nach erfolgloser Durchführung eines Vorverfahrens begehren die Kläger von der zuständigen Behörde (Beklagte) im Wege der Verpflichtungsklage den Erlass einer an den Nachbarn gerichteten Beseitigungsverfügung. Sie sind der Ansicht, bei der Fahne handele es sich um eine Werbeanlage für den BVB als börsennotiertes Unternehmen, die nicht der Nutzung der Wohngrundstücke diene und im Wohngebiet einen Störfaktor darstelle. Diese sei nicht nur von ihrer Terrasse, sondern auch aus ihrem Wohnzimmer heraus dauernd sichtbar. Außerdem entstünden durch das Schlagen der Fahne im Wind erhebliche Geräusche, die nicht zu akzeptieren seien.
B. Rechtliche Würdigung
Die zulässige Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) ist begründet, wenn den Klägern ein Anspruch auf Einschreiten gegen die Beklagte in Form der Beseitigungsanordnung bezogen auf die auf dem Nachbargrundstück aufgestellte Fahnenstange nebst BVB-Fahne zusteht.
I. Anspruchsgrundlage: § 61 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BauO NRW
Ein solcher Anspruch könnte sich aus § 61 Abs. 1 S. 1 und 2 BauO NRW ergeben.
Danach haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Errichtung, der Änderung, dem Abbruch, der Nutzung, der Nutzungsänderung sowie der Instandhaltung baulicher Anlagen sowie anderer Anlagen und Einrichtungen im Sinne des §§ 1 Abs. 1 S. 2 BauO NRW darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden. Sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
II. Prüfungsmaßstab bei Beseitigungsanordnung

  • Die Beseitigung einer genehmigungsbedürftigen baulichen Anlage setzt voraus, dass die Anlage formell und materiell illegal ist, d.h. weder genehmigt worden noch zu irgend einem Zeitpunkt genehmigungsfähig gewesen ist.
  • Handelt es sich um eine nicht genehmigungsbedürftige baulichen Anlage, kommt es allein auf die materielle Illegalität an.
  • Verlangt – wie hier – ein Nachbar die Beseitigung einer baulichen Anlage im Wege des bauaufsichtlichen Einschreitens, reicht die bloße Rechtswidrigkeit der baulichen Anlage freilich nicht aus. Die Rechtswidrigkeit muss sich vielmehr aus einem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Rechts ergeben.
  • Siehe ausführlich zum Nachbarschutz im Baurecht hier.

III. Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften
Der Fahnenmast  nebst BVB Fahne (bei dem es sich um eine bauliche Anlage im Sinne des § 2 Abs. 1 BauO NRW handelt) müsste gegen nachbarschützende Vorschriften verstoßen.
1. Art der baulichen Nutzung
In dem Umstand, dass der Fahnenmast in einem reinen Wohngebiet (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 3 BauNVO)  errichtet wurde, könnte ein Verstoß gegen die (generell drittschützenden) bauplanungsrechtlichen Festsetzungen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung liegen.
Zur Erinnerung: Das BVerwG billigt jedem Grundstückseigentümer das Recht zu, sich innerhalb des von ihm bewohnten Baugebiets gegen jede artfremde Bebauung zur Wehr zu setzen, unabhängig davon, ob sie ihn tatsächlich beeinträchtigt (sog. Gebietserhaltungsanspruch).
Nach § 3 Abs. 2 BauNVO sind im reinen Wohngebiet nur Wohngebäude zulässig.
a) Fahnenmast kein Gewerbebetrieb
Zunächst handelt es sich bei der Fahnenstange nicht um einen im reinen Wohngebiet unzulässigen Gewerbebetrieb.

Bei der Fahnenstange handelt es sich selbst dann nicht um einen Gewerbebetrieb, wenn diese mit aufgezogener BVB-Fahne rechtlich als Werbeanlage qualifiziert würde. Ein Gewerbebetrieb im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO 1968 liegt hier nicht vor. „Gewerbebetrieb“ im Sinne des § 8 BauNVO ist ein gerichtlich in vollem Umfang überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff. Ein solches Gewerbe ist jede selbständige, auf Dauer und auf Gewinnerzielung angelegte Tätigkeit. Die Beigeladenen betreiben jedoch mit der am Fahnenmast gehissten Fahne von Borussia Dortmund ganz erkennbar keine selbstständige, auf Dauer und auf Gewinnerzielung angelegte Tätigkeit.

b) Fahnenmast keine Werbeanlage
Sodann kann der Einwand der Kläger, es handele sich bei dem Fahnenmast um eine im Wohngebiet unzulässige Werbeanlage, nicht durchgreifen. Zwar sind Werbeanlagen gemäß § 13 BauNVO in reinen Wohngebieten unzulässig. Selbst wenn es sich bei dem Fahnenmast vorliegend um eine Werbeanlage handeln sollte, kommt es aber nach Ansicht des Gerichts

nicht darauf an, dass gemäß § 13 BauO NRW Werbeanlagen in Wohngebieten unzulässig sind. Denn § 13 BauO NRW entfaltet bezogen auf die Kläger keine nachbarschützende Wirkung. Die darin enthaltenen Verunstaltungsvorschriften dienen dem allgemeinen Interesse an einer einwandfreien Einfügung des Bauwerks in seine Umgebung.

c) Fahnemast = zulässige Nebenanlage
Vielmehr handelt es sich nach Ansicht des Gerichts bei dem Fahnenmast um eine nach § 14 BauNVO zulässige Nebenanlage. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind außer den in den §§ 2 bis 13 genannten Anlagen auch untergeordnete Nebenanlagen und Einrichtungen zulässig, die dem Nutzungszweck der in dem Baugebiet gelegenen Grundstücke oder des Baugebiets selbst dienen und die seiner Eigenart nicht widersprechen.

Der Fahnenmast mit Fahne stellt sich seiner Dimension nach gegenüber dem Wohngebäude als untergeordnet dar. Er dient dem Nutzungszweck des Wohnens, weil er eine nach außen dokumentierte Verbundenheit der Bewohner des Grundstücks mit bestimmten Ereignissen, Hobbys oder ähnlichem dokumentiert. Als solcher ist er auch nur dort sinnvoll, wo sich die Personen regelmäßig aufhält, um hier den nach außen sichtbaren gewünschten Bezug zu erreichen. An einer anderen Stelle aufgebaut und aufgezogen kann dieser Zweck nicht erreicht werden, weil dann der nötige Bezug der gemäß Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes geschützten Meinungsfreiheit sinngemäß dergestalt „Der Fußballverein BVB ist derjenige, dem meine sportliche Verbundenheit und Unterstützung gilt“ nicht hergestellt werden kann. Das ist aber typischerweise beim Wohnhaus der Fall, weil hier ein ersichtlicher Bezug zwischen dem persönlichen Lebensbereich des Vereinsfans und seiner äußeren Meinungsbekundung besteht.

d) Maß der baulichen Nutzung?
Dass der Fahnenmast angesichts seiner Höhe möglicherweise außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen liegt, ist schon deshalb hier nicht beachtlich, weil den Festsetzungen des Bebauungsplans über das Maß der baulichen Nutzung nach hM keine drittschützende Wirkung zugunsten des Nachbarn zukommt. Sie dienen ausschließlich dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung. Gleichwohl verweist das Gericht hilfsweise auch noch auf § 23 Abs. 5 BauNVO, wonach bauliche Nebenanlagen gegebenenfalls auch außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche zulässig sind.

Als bauliche Nebenanlage ist die Anlage gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO auch gegebenenfalls außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche zulässig. Im Übrigen entfalten Regelungen über die überbaubaren Grundstücksflächen auch keine nachbarschützende Wirkung zugunsten der Kläger.

2. § 15 Abs. 1 Satz 2 NauNVO i.V.m. dem Gebot der Rücksichtnahme
Abschließend prüft das Gericht einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Drittschutz folgt allerdings nach heute überwiegender Meinung nicht aus dem Rücksichtnahmegebot selbst, sondern stets aus einer einfach-gesetzlichen Norm als dessen Ausprägung. Dass das Gericht vorliegend insoweit prüft, ob von dem Fahnenmast für die Kläger keine für diese unzumutbaren Beeinträchtigungen ausgehen, deutet auf die materielle Prüfung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO als einfachgesetzliche Ausprägung des Rücksichtnahmegebots hin.
Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme (objektiv-rechtlich) begründet, hängt – nach st. Rspr. des BVerwG – wesentlich von den jeweiligen Umständen ab.

Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen.

Gemessen daran ergibt sich ein Anspruch der Kläger auf Beseitigung des Fahnenmasts auch nicht aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO i.V.m. demRücksichtsnahmegebot. Weder der Umstand, dass die BVB-Fahne gerade bei Nässe und starkem Wind nicht unerhebliche Geräusche verursacht, noch der Blick auf die flatternde Fahne begründen nach der Abwägung des Gerichts eine unzumutbare Beeinträchtigung der Kläger. Zu Lasten der Kläger berücksichtigt das Gericht dabei auch, dass auch ihr Grundstück angesichts des plätschernden Teichs nicht immissionsneutral ausgestaltet ist.

Insofern ist den Klägern, was auch die Beigeladenen einräumen, zuzugeben, dass die Fahne, gerade bei Nässe verbunden mit starkem Wind nicht unerhebliche Geräusche verursacht (…) Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beigeladenen sowohl schriftsätzlich als auch mündlich im Rahmen des Erörterungstermins glaubhaft versichert haben, die jeweiligen Fahnen bei stürmischer Wetterlage und starkem Wind auch aus eigenem Interesse einzuholen. Sofern sie dies gelegentlich aufgrund vorübergehender Abwesenheit verabsäumen, gehen die von der Fahne ausgehenden Beeinträchtigungen nach Auffassung der Kammer jedoch nicht über das im nachbarlichen Austauschverhältnis zumutbare Maß hinaus und verpflichten die Beklagte insbesondere nicht, im bauordnungsrechtlichen Verfahren die Beseitigung anzuordnen.
(…)
Im diesem Zusammenhang ist insbesondere auch von Bedeutung, dass die Fahnenstange in einer Entfernung von über 10 Metern zum Grundstück der Kläger hin angebracht sind. Sofern diese darauf verweisen, die Fahne tauche immer wieder in ihrem Blickwinkel auf, wenn sie im Wohnzimmer in ihren Sitzmöbeln säßen und dadurch sei insbesondere auch ein ungestörtes Fernsehen nicht möglich, stellt das Flattern der Fahne in Richtung des Grundstücks der Kläger keine gegen öffentlich-rechtliche Bestimmungen verstoßende, für diese unzumutbare und nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung dar. Zunächst weht der Wind im T. nicht ständig mit hoher Windstärke und wenn er weht, geschieht dies auch nicht immer aus westlicher Richtung, so dass die Fahne in Richtung des Grundstücks der Kläger flattert. Es handelt sich daher bei dem Flattern um eine nur gelegentlich auftretende Einwirkung auf das Grundstück der Kläger. Auch bei Wohngrundstücken müssen aber gewisse, gelegentlich auftretende und von Nachbargrundstücken ausgehende Beeinträchtigungen hingenommen werden, sofern diese – wie hier – mit der Wohnnutzung in Zusammenhang stehen. Dazu gehören neben Lebensäußerungen der Bewohner auch bei der Gartennutzung etwa auch gelegentliche Geräusche, die bei der Gartenpflege, zum Beispiel durch Rasenmäher, entstehen. Über solche gelegentliche Beeinträchtigungen gehen die von dem Fahnenmast verursachten Immissionen auf dem Grundstück der Kläger aber selbst ihrem eigenen Vorbringen zufolge nicht hinaus.
(…)
Dabei berücksichtigt das Gericht auch, dass auch der rückwärtige Grundstücksbereich der Kläger keineswegs vollkommen immissionsneutral gestaltet ist. Dort haben diese nämlich einen Teich angelegt, der durch dauernden Wasserzu- und -abfluss ein stetig plätscherndes Geräusch erzeugt, das auch auf den Nachbargrundstücken – insbesondere nachts – wahrnehmbar sein dürfte.

Im Ergebnis ist die Klage daher mangels eines Verstoßes des Fahnenmasts gegen nachbarschützende Vorschriften unbegründet.
C. Fazit
Ein Fall mit populärem Bezug ohne größere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten. Gerade deshalb aber als Aufhänger für ein baurechtliches Prüfungsgespräch nicht uninteressant. Die Genehmigungsfreiheit der baulichen Anlage wird in den Entscheidungsgründen übrigens gar nicht angesprochen, dürfte sich aber entsprechend des Vortrags der Beklagten im Vorverfahren aus § 65 Abs. 1 Nr. 22 BauO NRW ergeben. Im Rahmen der Abwägung muss man argumentieren. Da die von der Fahne ausgehenden Immissionen nicht über das Maß der Beeinträchtigung anderer im Nachbarschaftverhältnis üblicher Immissionen (Rasenmähen) hinausgehen und die Nachbarn außerdem glaubhaft ihre Bereitschaft bekundet haben, die Fahne einzuholen, wenn mit außergewöhnlichen starken Immissionen zu rechnen ist (Sturm, Gewitter), fällt die Abwägung hier zu Lasten der Kläger aus. Dies könnte natürlich im Einzelfall auch anders sein.
Für die Assessorklausur ist zu beachten, dass die Nachbarn durch das Gericht beigeladen wurden. Da sie keinen Antrag gestellt haben und deshalb keinem Kostenrisiko ausgesetzt waren (§ 154 Abs. 3 VwGO), sind etwaige aussergerichtliche Kosten für sie auch nicht erstattungsfähig (§ 162 Abs. 3 VwGO). Das ist im Kostentenor deutlich zu machen („Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen“).
Sehr instruktiv zum baurechtlichen Nachbarschutz ist im Übrigen der zweitplatzierte Beitrag aus unserem Aufsatzwettberwerb des vergangenen Jahres.
 
 

28.07.2013/1 Kommentar/von Dr. Jan Winzen
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Jan Winzen https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Jan Winzen2013-07-28 09:00:282013-07-28 09:00:28VG Arnsberg: Borussia Dortmund Fahne darf weiter wehen
Dr. Jan Winzen

Einstweiliger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren Teil 2 – Der Antrag nach § 80 a Abs. 3 VwGO

Baurecht, Fallbearbeitung und Methodik, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Nachdem Gegenstand des ersten Teils unserer Reihe zum verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO  war (hier), beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit den Besonderheiten des Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO.
§ 80 a Abs. 3 VwGO betrifft den vorläufigen Rechtsschutz bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung (zur Erinnerung: Unter einem Verwaltungsakt mit Drittwirkung versteht man einen Verwaltungsakt, der einen Bürger begünstigt, zugleich aber auch einen anderen in seinen Rechten belastet). § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO ordnet an, dass Widerspruch und Anfechtungsklage auch insoweit aufschiebende Wirkung haben und verweist dabei auf § 80 a VwGO.
Zum Hintergrund: Die Regelung des § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO entstammt genau wie § 80 a VwGO dem vierten Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 01.01.1991. Viele Autoren sahen (und sehen) darin nur eine Klarstellung, da die betroffenen Fälle bereits von § 80 VwGO erfasst gewesen sein sollen (allen voran Schoch, etwa in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80 a, Rn. 2). Einige Gerichte gingen davon aus, dass Eilrechtsschutz gegen Verwaltungsakte mit Drittwirkung zuvor nur über § 123 Abs. 1 VwGO zu erlangen war (so etwa ausdrücklich der 4. Senat des VGH Kassel in einem Beschluss vom 09.06.1992 – 4 TH 2512/91 Rz. 7 – juris).
Überragende Bedeutung in der Ausbildung hat § 80 a Abs. 3 VwGO im Baurecht. Im Schulfall setzt sich der Antragsteller gegen den Vollzug der seinem Nachbarn erteilten Baugenehmigung zur Wehr.
Achtung: In der Praxis führt allerdings eine Ausweitung der Genehmigungsfreiheit im Baurecht (vgl. etwa § 65 BauO NRW und § 55 iVm Anlage 2 der hessischen BauO) indessen gerade hier zu einer Zurückdrängung der Bedeutung des Eilantrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO. Denn ohne den Verwaltungsakt (der Baugenehmigung) fehlt die wichtigste Voraussetzung für die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO. Eilrechtsschutz kommt dann nur über § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht.
1.) Vorbemerkung zur Prüfung eines Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO
Die Prüfung des Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO orientiert sich weitgehend an der des § 80 Abs. 5 VwGO.
2.) Andere Interessenlage
Dem Antrag nach § 80 a Abs. 3 VwGO liegt jedoch eine andere Interessenlage zugrunde als dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Während es dort um das Über-/Unterordnungsverhältnis Staat/Bürger geht und die aufschiebende Wirkung gewissermaßen das Gegengewicht zu der hoheitlichen Verwaltungsmacht darstellt, betrifft § 80 a Abs. 3 VwGo ein Gleichordnungsverhältnis. Dementsprechend ist auch der Anordnung des § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO (aufschiebende Wirkung grundsätzlich auch bei Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsakte mit Drittwirkung) keine gesetzgeberische Grundentscheidung für ein Überwiegen des Suspensivinteresses des Bürgers zu entnehmen. Als bloß verfahrensrechtliche Regelung weist die Norm dem Begünstigten des Verwaltungsaktes vielmehr eine Art „Initiativlast“ zu, die aufschiebende Wirkung durch einen Antrag bei der Behörde oder bei Gericht zu überwinden.
Kommt schon im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO der Herausarbeitung des Begehrens des Antragstellers eine besondere Bedeutung zu, so gilt dies erst Recht für das Verfahren nach § 80 a Abs. 3 VwGO (dazu sogleich). Nahezu alle Schwierigkeiten der Prüfung eines Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO ergeben sich aus der unübersichtlichen Verweisungstechnik des § 80 a VwGO.
3.) Das behördliche Verfahren der Abs. 1 und 2 
Ausgangspunkt für das Verständnis der Normstruktur ist das behördliche Aussetzungsverfahren nach § 80 a Abs. 1 und Abs. 2 VwGO. Der gerichtliche Eilrechtsschutz knüpft nämlich gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 1 VwGO hieran an:

Das Gericht kann auf Antrag Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen.

Die Kenntnis der Handlungsmöglichkeiten der Behörde ist deshalb für die Beherrschung des gerichtlichen Eilrechtsschutzes von besonderer Bedeutung. Dieser sieht für bestimmte Verfahrenssituationen unterschiedliche Anträge vor. Einer Klausur zum gerichtlichen Eilrechtsschutz nach § 80 a Abs. 3 VwGO liegt regelmäßig eine der folgenden Verfahrenskonstellationen zugrunde:

  • § 80 a Abs. 1 VwGO

§ 80 a Abs 1 VwGO betrifft die Verfahrenssituation, in der ein Dritter mittels Widerspruch oder Anfechtungsklage gegen den einen anderen begünstigenden Verwaltungsakt vorgeht.
Nach § 80 a Abs. 1 Nr. 1 VwGO kann der Begünstigte (z.B. einer Gaststättenerlaubnis oder einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Windkraftanlage) den Eintritt der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs (Regelfall des § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO)  dadurch verhindern, dass er bei der Behörde einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung stellt (die Anordnung der sofortigen Vollziehung ergeht dann auf Grundlage des bereits bekannten § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) – diese Konstellation lag etwa der Entscheidung des VG Darmstadt vom 27.06.2011 (6 L 425/11.DA) zugrunde.
Instrumentell stellt § 80 a Abs. 1 Nr. 1 VwGO im Gleichordnungsverhältnis zwischen dem privaten Begünstigten und dem privaten Dritten das notwendige Gegengewicht zu § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO dar. Nach richtiger (wenn auch umstrittener) Ansicht, kann die Behörde die sofortige Vollziehung (genau wie bei § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) auch von sich aus anordnen (diese Befugnis wird in § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO vorausgesetzt, dazu sogleich).
Den für Klausuren vermutlich bedeutsameren Fall regelt § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Danach kann nämlich der Dritte (also vor allem der Nachbar) in Fällen, in denen die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt (also insbesondere die Baugenehmigung) entfällt, bei der Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (nach § 80 Abs. 4 VwGO) stellen.
Die Vorschrift ist deshalb von so herausragender Bedeutung, weil sie § 212 a BauGB ins Spiel bringt. Die aufschiebende Wirkung des Nachbarrechtsbehelfs kann nämlich genau wie im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO nach einer der Varianten des § 80 Abs. 2 VwGO entfallen sein. Hier ist § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 von Bedeutung. Danach entfällt die aufschiebende Wirkung in (anderen) durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Bundesgesetzlich vorgesehen ist dies in § 212 a Abs. 1 BauGB für Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens (wozu insbesondere die Baugenehmigung zählt). Die Vorschrift bezweckt schlicht die Ermöglichung eines schnellen Baubeginns.
Lesenswert zu §§ 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO, 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 212 a Abs. 1 BauGB ist etwa der Beschluss des VG Augsburg vom 29.02.2012 (Au 4 S 12.224).
Natürlich kommt im Rahmen des § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO auch die vorausgegangene Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zum Tragen.

  • § 80 a Abs. 2 VwGO

§ 80 a Abs. 2 VwGO betrifft die (für die Ausbildung wohl weniger relevante) Rechtsschutzkonstellation, in der der Adressat sich mit Widerspruch oder Anfechtungsklage gegen einen belastenden Verwaltungsakts währt, der zugleich einen Dritten begünstigt. Hier kann der Dritte die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs (Regelfall des § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO) überwinden, indem er bei der Behörde einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) stellt. Beispielhaft für den Anwendungsbereich der Vorschrift lässt sich folgende Passage aus einem Beschluss des VG Würzburg vom 25.08.2011 (W 5 E 11.576 Rz. 46 – juris) heranziehen:

§ 80 a Abs. 2 VwGO greift insbesondere für die Situation, dass die Bauaufsichtsbehörde eine Nutzungsuntersagung (Anm.: im Hinblick auf die Nutzung eines Grundstücks als Parkplatz) erlassen, der Pflichtige hiergegen aber Anfechtungsklage erhoben hat. Hat die Bauaufsichtsbehörde nicht den Sofortvollzug dieser Maßnahme angeordnet, kommt der Klage nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu; die Anordnung ist suspendiert und muss (vorerst) nicht befolgt werden. Der Nachbar (Anm.: der von der Nutzungsuntersagung begünstigt wird) kann in einem solchen Fall jedoch den Sofortvollzug erreichen (…).

I. Die Zulässigkeit eines Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO.
Da sich die Zulässigkeitsprüfung grds. an der des § 80 Abs. 5 VwGO (auf den ja auch § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO verweist) orientiert, wird im Folgenden nur auf die Besonderheiten des Verfahrens nach § 80 a Abs. 3 VwGO eingegangen.
1.) Statthaftigkeit

  • Herausarbeitung des Rechtsschutzziels

In der Statthaftigkeit ist herauszuarbeiten, welche der oben genannten Verfahrenssituationen dem gerichtlichen Eilantrag zugrunde liegt. Auch hier ist wegen des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht die konkrete Formulierung, sondern das in der Sache verfolgte Rechtsschutzziel maßgebend. Notfalls ist dieses durch Auslegung zu ermitteln. §§ 88, 122 VwGO können herangezogen werden. Auch ist eine „Umdeutung“ (nach dem Rechtsgedanken des § 140 BGB) eines Antrags nach §123 Abs. 1 VwGO in einen Antrag nach § 80 a Abs. 3 VwGO möglich (das gilt natürlich auch für § 80 Abs. 5 VwGO).
Bei dieser Gelegenheit sei auch noch einmal darauf hingewiesen, dass auch von anwaltlich beratenen Antragstellern gestellte Eilanträge ausgelegt und umgedeutet werden können (lesenswert hierzu BVerwG, NVwZ 2012, 375 f.). Eine Ausnahme soll in diesem Fall aber dann gelten, wenn der Antragsteller ausdrücklich auf seinem geäußerten Begehren beharrt (siehe etwa Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier § 80 VwGO Rn. 458).

  • Bestimmung der einschlägigen Norm

Wie sich aus der alternativen Aufzählung des § 80 a Abs. 3 Satz 1 VwGO ergibt, kann das Gericht Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern, aufheben oder selbst treffen.
Sofern das Gericht selbst eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 2 trifft, gewährt es denjenigen vorläufigen Rechtsschutz, der an sich der Verwaltung obliegt (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier § 80 a VwGO Rn. 46). Für die Statthaftigkeit gilt das oben zum behördlichen Verfahren Gesagte entsprechend. Ob der Antragsteller sich zuvor an die Behörde wenden muss, ist eine Frage, die nach herkömmlicher Sichtweise im Rahmen des Rechtsschutzinteresses zu beantworten ist.
Eine immer wieder erörterte Frage (Standardproblem) ergibt sich vor allem im Anwendungsbereich des § 80 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 3, Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Hat der Rechtsbehelf des Dritten gegen die Baugenehmigung des Begünstigten wegen § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung (oder hat die Behörde von sich aus die sofortige Vollziehung, etwa einer Gaststättenerlaubnis, angeordnet), ist umstritten, ob sich sein gerichtlicher Eilrechtsschutz nach § 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO (entsprechend dem Wortlaut: gerichtet auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung) oder nach §§ 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO (gerichtet auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung) richtet. Bedeutung hat die Entscheidung dieser Streitfrage wohl ohnehin nur im zweiten Examen (weil sie in der Anwaltsklausur für die Stellung des Antrags und im Übrigen für die Formulierung des Tenors maßgebend ist). Dogmatisch lässt sich für § 80 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 3, Abs. 1 Nr. 2 VwGO das Argument der Spezialität heranziehen (wer sich für eine methodisch anschauliche Argumentation interessiert, dem sei der Beitrag von Budroweit/Wuttke, JuS 2006, 876, 878 empfohlen). Häufig wird empfohlen, sich in der Klausur einfach an die Rechtsprechung des für einen selbst maßgebenden OVG bzw. VGH zu halten (das OVG Münster etwa wendet § 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO an, zuletzt in einem Beschluss vom 23.05.2012 – 7 B 548/12).
Sofern dem Antrag eine Maßnahmen der Behörde vorausgegangen sein sollte, geht es regelmäßig um § 80 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 VwGO, nämlich die Aufhebung der behördlichen Maßnahme (die Änderung nach Alt. 1 zielt auf eine Modifikation der behördlichen Maßnahme ab, etwa durch Auflagen, soll aber hier nicht weiter verfolgt werden, da die Relevanz, jedenfalls für das erste Examen, eher gering sein dürfte).
Exemplarisch soll hier zum einen der Antrag auf Aufhebung der behördlichen Vollziehbarkeitsanordnung nach § 80 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 (siehe oben) durch das Gericht genannt werden (auch hier ist es natürlich wieder denkbar, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung statt über § 80 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 VwGO über § 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO zu erreichen). Jedenfalls kann der belastete Dritte auf diesem Weg den sog. status quo ante erreichen (die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelfs).
Hat die Behörde auf Antrag des Dritten die Vollziehung (z.B. der Baugenehmigung) ausgesetzt (§ 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO), kann zum anderen der Begünstigte seinerseits beim Verwaltungsgericht einen Antrag nach § 80 a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 VwGO auf Aufhebung der Aussetzung der Vollziehung stellen und so den status quo ante (keine aufschiebende Wirkung wegen z.B. § 212 a Abs. 1 BauGB) wiederherstellen.
2.) Antragsbefugnis
Die nächste Eigenart des Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO liegt naturgemäß in der Antragsbefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Besonderheiten gegenüber dem Hauptsacheverfahren in Drittanfechtungsfällen ergeben sich freilich nicht. Die Antragsbefugnis kann nur auf eine mögliche Beeinträchtigung drittschützender Normen gestützt werden. Als Hauptanwendungsfall ist natürlich auch hier wieder das Baunachbarrecht zu nennen. Zur Wiederholung sei auf den hier veröffentlichten Beitrag zum Nachbarschutz im Baurecht verwiesen.
3.) Rechtsschutzbedürfnis
Im Rahmen der Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses gilt es einige Besonderheiten des Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO zu beachten.

  • Rechtsbehelf des Antragstellers

Genau wie beim Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO setzt das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 a Abs. 3 VwGO aber zunächst grundsätzlich voraus, dass der Antragsteller bereits Widerspruch gegen den Verwaltungsakt eingelegt hat (nicht schon Anfechtungsklage, dies ergibt sich aus § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO, auf den § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO verweist). Das gilt wegen der eindeutigen Anordnung in § 80 a Abs. 1 VwGO („Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf (…) ein“) auch für die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO (an sich sieht § 80 Abs. 4 VwGO, auf den in § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO verwiesen wird, diese Voraussetzung nämlich gerade nicht vor).

  • Rechtsbehelf nicht offensichtlich unzulässig

Zudem darf der zugrunde liegende Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig (ein Rechtsbehelf hiergegen also nicht offensichtlich unzulässig) sein. Wie bei § 80 Abs. 5 VwGO geht es hier um Fristenprobleme.
Der Klassiker dürfte die fehlende Bekanntgabe des Verwaltungsaktes gegenüber dem Dritten darstellen. In diesem Fall erlangt der Dritte (etwa der Nachbar) von dem Verwaltungsakt regelmäßig lediglich rein tatsächlich Kenntnis von dem Verwaltungsakt (nämlich z.B. infolge des Baubeginns) und stellt dann einen – vermeintlich verspäteten – Eilantrag. Hier konnte indessen mangels amtlicher Bekanntgabe gegenüber dem Nachbarn überhaupt keine Rechtsmittelfrist (auch nicht die des § 58 Abs. 2 VwGO) in Gang gesetzt werden. Der Verwaltungsakt ist folglich für den Dritten nicht durch Ablauf der Rechtsmittelfrist bestandskräftig geworden (zu beachten ist allenfalls noch, dass die Rechtsprechung dem Widerspruchsrecht des Antragstellers nach Treu und Glauben den Einwand der Verwirkung entgegenhält, wenn dieser zuverlässig Kenntnis von dem Verwaltungsakt erlangt hat oder hätte erlangen können und müssen. Das für eine Verwirkung erforderliche schutzwürdige Vertrauen des Antragsgegners soll allerdings in der Regel erst nach Ablauf der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO eintreten können. Die Leitentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts stammt vom 25.01.1974 – IV C 2.72).

  • Entfallen des Suspensiveffekts

Der Wegfall der aufschiebenden Wirkung ist wie im Rahmen der Prüfung des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO positiv festzustellen. Hier sei insbesondere noch einmal auf §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 212 a Abs. 1 BauGB verwiesen.

  • Vorheriger Antrag bei der Behörde

Ein weiteres Standardproblem des § 80 a Abs. 3 VwGO betrifft die Frage, ob das Rechtsschutzbedürfnis entfällt, wenn der Dritte vor Stellung eines gerichtlichen Eilantrags nicht ein behördliches Aussetzungsverfahren betrieben hat. Anders als bei § 80 Abs. 5 VwGO lässt sich das Erfordernis eines vorherigen Antrags bei der Behörde nicht mit einem Verweis auf die eindeutige Regelung des § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO (Umkehrschluss) ablehnen. § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO verweist nämlich auf § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO (also insbesondere auch Abs. 6). Sieht man in diesem Verweis eine bloße Rechtsfolgenverweisung, kann man ein behördliches Aussetzungsverfahren stets als Zugangsvoraussetzung für einen Antrag nach § 80 a Abs. 3 VwGO verstehen. Für diese Ansicht lässt sich anführen, dass andernfalls der Verweis auf Abs. 6 leer liefe, da Verwaltungsakte mit Drittwirkung wohl so gut wie nie Kosten und Abgaben zum Gegenstand haben. Dies ist aber eigentlich sogleich schon das Hauptargument für die Gegenansicht, die in dem Verweis eine Rechtsgrundverweisung (und in der Einbeziehung des Abs. 6 ein Redaktionsversehen) erblickt. Denn das gesetzgeberische Konzept der §§ 80, 80 a VwGO verträgt sich, sofern es um die Herstellung der aufschiebenden Wirkung geht, nicht mit dem Erfordernis eines vorherigen behördlichen Verfahrens (für eine methodisch anschauliche Argumentation sei auf Schoch, in Schoch/Schneider/Bier § 80 a VwGO Rn. 74 ff. verwiesen).
In der Klausur ist es allerdings überaus ratsam, wenn möglich, von einer Streitentscheidung abzusehen. Dies dürfte meist über §§ 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO gelingen. Danach ist ein vorheriger Antrag bei der Behörde jedenfalls nicht erforderlich, wenn die Vollstreckung droht. Dies ist mit Baubeginn der Fall (und typischerweise erfährt der Nachbar ja durch den Baubeginn überhaupt erst von der Existenz der Baugenehmigung, siehe oben).

  • Erlangung eines rechtlichen Vorteils noch möglich

Für gerichtliche Eilanträge eines Nachbarn, die auf Aussetzung der Vollziehung (der Baugenehmigung) gerichtet sind, besteht schließlich auch dann kein Rechtsschutzbedürfnis, wenn das Bauvorhaben bereits weitgehend fertig gestellt ist und die Aussetzung der Vollziehung dem Nachbarn keinen rechtlichen Vorteil mehr verschaffen würde (es geht hier freilich nicht um vollständig fertiggestellte Wohnhäuser – dass die Aussetzung der Vollziehung insoweit nicht zielführend ist, dürfte jedem einleuchten; vielmehr betrifft diese Fallgruppe Grenzfälle, in denen zum Beispiel ein Rohbau bereits errichtet ist und nur noch der Innenausbau verhindert werden soll – siehe dazu etwa den Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 23.03.2006 – OVG 10 S 21.05).
II. Die Begründetheit eines Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO.
Mangels gesetzlich normierter Kriterien für die Entscheidung des Gerichts, kann auch die Begründetheit des Antrags nach § 80 a Abs. 3 VwGO nur das Ergebnis einer Interessenabwägung sein. Dabei sind, je nach Verfahrenssituation, kleinere Besonderheiten zu beachten.
1.) Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§§ 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO) bzw. Aussetzung der Vollziehung (§ 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO) 
Unabhängig von dem (oben) eingeschlagenen Weg, hat man hier den Rechtsgedanken des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu beachten. Die Norm wird nämlich von § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwGO ausdrücklich in Bezug genommen und ist damit wegen des Verweises in § 80 a Abs. 3 Satz 1 VwGO auch von dem Gericht zu beachten. Der Eilantrag des Dritten gegen die sofortige Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts ist danach dann begründet, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen.
Maßgebend sind also zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Man hat das bekannte Prüfungsschema (Ermächtigungsgrundlage, formelle Rechtmäßigkeit, materielle Rechtmäßigkeit) abzuarbeiten. Zu beachten ist dabei freilich, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit – etwa einer Baugenehmigung – allein nicht den Erfolg des Antrags begründen können. Vielmehr müssen sich diese Zweifel gerade aus einem Verstoß gegen drittschützende Normen ergeben.
Für die Klausur bedeutet das Folgendes: Ist der Verwaltungsakt wegen Verstoßes gegen drittschützende Normen rechtswidrig, ist der Antrag begründet (es reicht – wegen der Terminologie „ernstliche Zweifel“ theoretisch schon die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Rechtswidrigkeit aus). Ist der Verwaltungsakt dagegen rechtmäßig, bleibt es bei seiner Vollziehbarkeit. Einer besonderen Dringlichkeit der Vollziehung bedarf es nicht.
Sollte einmal der Fall eintreten, dass die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache offen sind, bedarf es einer Einzelfallentscheidung. Im Baurecht sollte man aber nicht voreilig auf die Interessen des Dritten an der Vermeidung vollendeter  Tatsachen (durch den Baubeginn) abstellen. Instruktiv dazu etwa folgende Passage aus einem Beschluss des OVG Lüneburg (vom 9. 9. 2004 – 1 ME 194/04):

Nicht nur auf Seiten des Nachbarn drohen vollendete, weil unumkehrbare Tatsachen einzutreten, wenn das Vorhaben verwirklicht wird. Auch auf der Seite des Bauherrn können solche nicht mehr wieder gut zu machende Folgen eintreten. Diese bestehen im Falle einer Antragsstattgabe darin, dass die durch den Aufschub verlorene Zeit nicht nachgeholt werden kann und die in dieser Zeit erzielbaren Gewinne nicht mehr realisiert werden können.

Teilweise wird auch vertreten, der Gesetzgeber habe im Baurecht mit der Regelung des § 212 a Abs. 1 BauGB eine Grundentscheidung getroffen, die (bei offenem Ausgang der Hauptsache) für das Überwiegen des Vollzugsineresses des Begünstigten spreche. Diese Auffassung widerspricht indessen der oben beschriebenen Ausgangslage, die dem Verfahren nach § 80 a VwGO zugrunde liegt, nämlich ein Gleichordnungsverhältnis zwischen Privaten. Danach kommt § 212 a Abs. 1 BauGB, genau wie § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO lediglich die Funktion der Zuordnung einer Verfahrenslast zu.
Anhand der genannten Parameter muss man sich dann unter gründlicher Auswertung der angebotenen Fakten entscheiden. Wahrscheinlich wird letztlich doch die Schutzposition des Dritten, die etwa durch den Baubeginn beeinträchtigt würde, schwerer wiegen.
2.) Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung
Einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung kann entweder der Adressat eines begünstigenden Verwaltungsaktes, wie zum Beispiel einer Gaststättenerlaubnis (gegen den ein Dritter einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat), selbst gestellt haben (dann nach § 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Es kann aber auch ein Dritter, der durch den Verwaltungsakt begünstigt ist, den Antrag stellen, um die in Folge eines Rechtsbehelfs des Adressaten (zum Beispiel einer Beseitigungsverfügung) eingetretene aufschiebende Wirkung zu überwinden (dann nach § 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 VwGO – zum behördlichen Verfahren siehe oben).
Das Gericht kann hier selbst über die Anordnung der sofortigen Vollziehung entscheiden.

  • § 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 1 VwGO

Maßgebend sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs des Dritten, der die aufschiebende Wirkung ausgelöst hat.
Ist die Gaststättenerlaubnis rechtmäßig, ordnet das Gericht die sofortige Vollziehung an. Ist sie dagegen rechtswidrig, wird der Antrag abgelehnt, wenn die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung drittschützender Normen beruht. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs offen, bedarf es wieder einer Interessenabwägung im Einzelfall anhand aller angebotenen Tatsachen.

  • § 80 a Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 VwGO

Auch hier ist Ausgangspunkt die Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs, der die aufschiebende Wirkung ausgelöst hat. Ist die Beseitigungsverfügung rechtswidrig, lehnt das Gericht den Antrag des Dritten ab.
Ist die Beseitigungsverfügung rechtmäßig, ist Voraussetzung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch das Gericht, dass der Dritte einen Anspruch auf das behördliche Einschreiten, also den Erlass der Beseitigungsverfügung hat. Zudem muss der Dritte darlegen, dass der Sofortvollzug in seinem überwiegenden Interesse, das über jenes Interesse hinausgeht, welches den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt, geboten ist.
Dass diese Voraussetzung sicher selten vorliegen werden, kommt etwa in folgender Passage aus einem Beschluss des OVG Münster (vom 10.02.2010 – 7 B 1368/09) zum Ausdruck:

Wie das Verwaltungsgericht zutreffend herausgestellt hat, rechtfertigt sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer bauordnungsrechtlichen Verfügung, welche wie hier die Beseitigung von Bausubstanz fordert, nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen. In Anknüpfung an die gewichtigen Auswirkungen eines solchen Eingriffs ist es regelmäßig schon Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes geschuldet, dem Interesse des Ordnungspflichtigen an dem Erhalt der aufschiebenden Wirkung seiner Klage den Vorrang einzuräumen.

 
 
 
 
 

06.11.2012/4 Kommentare/von Dr. Jan Winzen
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Jan Winzen https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Jan Winzen2012-11-06 09:00:412012-11-06 09:00:41Einstweiliger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren Teil 2 – Der Antrag nach § 80 a Abs. 3 VwGO
Gastautor

Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht

Baurecht, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns, heute erneut einen Gastbeitrag von David Ullenboom veröffentlichen zu können. David ist zur Zeit Rechtsreferendar am LG Münster und hat auch schon sehr erfolgreich (2. Platz) an unserem Aufsatzwettbewerb teilgenommen.
Hinweis: Wie ihr seht, handelt es sich um einen sehr langen Beitrag, der das Problem des Nachbarschutzes sehr ausführlich und unter allen Aspekten behandelt. Natürlich müsst ihr den Beitrag nicht am Monitor lesen, denn wir haben – wie ihr vielleicht schon wisst – ganz am Ende die print-Funktion durch die ihr den Eintrag als pdf speichern und auch eine entsprechende Version drucken könnt.
I. Einführung
Öffentliches Baurecht, insbesondere das Bauplanungsrecht nach dem BauGB, spielt in den Klausuren zum Ersten und Zweiten Staatsexamen eine große Rolle. Ein Großteil der Examensklausuren im öffentlichen Recht sind Klausuren aus dem Bereich des Bau(planungs)rechts. Hintergrund des hohen Anteils an Baurechtsrechtsklausuren in den Staatsprüfungen mag u. a. sein, dass das Bauplanungsrecht im BauGB bundeseinheitlich geregelt ist und deshalb die Möglichkeit eröffnet, die Klausuren bundesweit als Aufsichtsarbeiten zu stellen. Dadurch unterscheidet sich dieses Rechtsgebiet insbesondere von den anderen Bereichen des besonderen Verwaltungsrechts in den Staatsexamina, welches überwiegend in die Zuständigkeit der Länder fällt (Polizei- und Ordnungsrecht, Kommunalrecht). Obwohl im Ersten und Zweiten Staatsexamen in NRW das Baurecht vom Prüfling nur „im Überblick“, d. h. in seinen gesetzlichen Grundstrukturen ohne vertieftes Wissen von Rechtsprechung und Literatur, beherrscht werden muss (§§ 11 II Nr.13 c), IV, 52 I 1 Nr.1 JAG NRW), verlangt eine typische Examensklausur aus dem Baurecht dem Kandidaten in der Examenswirklichkeit doch einiges an „Detailwissen“ ab. Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht ist vor diesem Hintergrund seit jeher ein absoluter Examens-Klassiker. Die Rechtsprechung des BVerwG wurde in diesem Bereich in den letzten Jahrzenten zunehmend ausdifferenziert. Dabei lässt sich ein Trend „hin zu einem Mehr an Nachbarschutz“ ausmachen. Während das BVerwG das Bauplanungsrecht zunächst als rein objektives Städtebaurecht einordnete, das allein dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung diene, hat das höchste deutsche Verwaltungsgericht diese Rechtsauffassung sukzessive aufgegeben und in der Folge immer mehr Vorschriften des BauGB drittschützende Wirkung zuerkannt (vgl. etwa Gaentzsch, ZfBR 2009, 321).
II. Klausurkonstellationen
Die Frage des Drittschutzes im öffentlichen Baurecht stellt sich in Examensklausuren insbesondere in zwei Konstellationen:
– Der Bauherr B erhält antragsgemäß von der Bauaufsichtsbehörde eine Baugenehmigung. Der Nachbar N erhebt Anfechtungsklage gegen die dem Bauherrn erteilte Baugenehmigung. Die Anfechtungsklage ist nur zulässig, wenn N geltend machen kann, möglicherweise in einem subjektiven öffentlichen Recht verletzt zu sein (§ 42 II VwGO). Die Anfechtungsklage des N ist gem. § 113 I 1 VwGO nur begründet, wenn die Erteilung der Baugenehmigung gegen den Schutz des Nachbarn bezweckende Baurechtsnormen verstößt.
– Der Bauherr B baut ohne Baugenehmigung oder außerhalb einer erteilten Baugenehmigung („Schwarzbau“). Der Nachbar N erhebt Verpflichtungsklage gegen die Bauaufsichtsbehörde auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Schwarzbau. Die Verpflichtungsklage ist nur zulässig, wenn der N geltend macht, einen Anspruch auf behördliches Einschreiten aus einer drittschützenden EGL der Behörde zu haben (§ 42 II VwGO). Die Klage ist nur begründet, wenn dieser Anspruch tatsächlich besteht (§ 113 V VwGO).
III. Drittschützende Normen im Baurecht
Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Arten von drittschützenden Normen unterscheiden. Zum einen gibt es drittschützende Normen, die den Nachbarn unabhängig von einer tatsächlichen persönlichen Betroffenheit schützen (generell-typisierender Drittschutz). Zum anderen gibt es solche drittschützenden Normen, die erst im Falle einer tatsächlichen (unzumutbaren) persönlichen Betroffenheit tangiert sind (einzelfallbezogener Drittschutz). Zur ersten Gruppe gehört insbesondere der sog. „Gebietserhaltungsanspruch“ hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung im Bebauungsplangebiet, unter die zweite Gruppe fallen insbesondere die einfachgesetzlichen Ausprägungen des sog. „Rücksichtnahmegebots“. Davon wird noch genauer die Rede sein.
1. generell-typisierender Drittschutz
Einige Normen des öffentlichen Baurechts vermitteln Drittschutz unabhängig von einer tatsächlichen persönlichen Betroffenheit. Der Hintergrund eines derartigen generell-typisierenden Drittschutzes wird überwiegend in Folgendem gesehen: Das Eigentum an einem Grundstück wird grds. nicht grenzenlos gewährt. Vielmehr ist der Gesetzgeber ermächtigt, Inhalt und Schranken des Eigentums durch einfachgesetzliche Bestimmungen festzulegen (Art. 14 I 2 GG). Wenn nun aber der Eigentümer eines Grundstücks in einem bestimmten Baugebiet in der Nutzung seines Grundstücks durch öffentlich-rechtliche Vorschriften beschränkt wird, dann soll er die Einhaltung derartiger (beschränkender) Vorschriften wenigstens auch von den anderen Grundstückseigentümern im selben Baugebiet verlangen können. Insofern bilden alle Grundstückseigentümer in einem Baugebiet eine „Schicksalsgemeinschaft“. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom „nachbarschaftlichen Austauschverhältnis“ (vgl. zum Ganzen BVerwG NJW 1994, 1548).
a) „Gebietserhaltungsanspruch“
1. Durch die Festsetzung der in § 1 II BauNVO genannten Baugebiete (z. B. allgemeines Wohngebiet [WA], Mischgebiet [MI] oder Gewerbegebiet [GE]) in einem Bebauungsplan, werden die diesbezüglichen Vorschriften der §§ 2 ff. BauNVO kraft Gesetzes gem. § 1 III 2 BauNVO Bestandteil des B-Plans. Die § 2 ff. BauNVO sind dabei überwiegend jeweils gleich strukturiert. Im jeweiligen Absatz 1 wird der Zweck bzw. Charakter des jeweiligen Baugebiets festgelegt. Im jeweiligen Absatz 2 findet sich die allgemein zulässige Bebauung (sog. „Regelbebauung“). Im jeweiligen Absatz 3 schließlich regelt die BauNVO die ausnahmsweise zulässige Bebauung (sog. „Ausnahmebebauung“). Wenn § 30 I BauGB nun davon spricht, dass ein Bauvorhaben zulässig ist, wenn es „den Festsetzungen des B-Plans nicht widerspricht“, so bedeutet dies, dass das Vorhaben nach der Art der baulichen Nutzung zulässig ist, wenn es dem Absatz 2 des einschlägigen Baugebiets nach den §§ 2 ff. BauNVO entspricht, also einem der dort aufgeführten Gebäude und Anlagen zugeordnet werden kann (z. B. Zulässigkeit eines Wohngebäudes im allgemeinen Wohngebiet gem. § 4 II Nr.1 BauNVO). Denn der jeweilige Absatz 2 der §§ 2 ff. BauNVO ist ja, wie oben bereits ausgeführt, kraft Gesetzes Bestandteil des B-Plans geworden.
Wenn demgegenüber § 31 I BauGB davon spricht, dass von den Festsetzungen des B-Plans solche Ausnahmen zugelassen werden können, welche „in dem B-Plan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind“, so ist dies ein Verweis auf die Ausnahmebebauung der jeweiligen Absätze 3 der §§ 2 ff. BauNVO. Denn da die BauNVO kraft Gesetzes Bestandteil des B-Plans geworden ist, ist die in den Absätzen 3 der BauNVO vorgesehene Ausnahmebebauung eben eine solche, die der B-Plan ausdrücklich vorsieht.
Vorhaben hingegen, die weder unter die Tatbestände der Regelbebauung noch unter die der Ausnahmebebauung subsumiert werden können, können nur unter den sehr strengen Voraussetzungen des § 31 II BauGB zugelassen werden (sog. „Dispens“).
2. Das BVerwG hat nun jedem Grundstückseigentümer ausdrücklich das Recht zuerkannt, sich innerhalb des von ihm bewohnten Baugebiets gegen jede artfremde Bebauung zu wehren, unabhängig davon, ob sie ihn tatsächlich beeinträchtigt (sog. „Gebietserhaltungsanspruch“). Seine Grundlage hat der Gebietserhaltungsanspruch im „nachbarlichen Austauschverhältnis“ und im Gedanken der „Schicksalsgemeinschaft“ (vgl. bereits oben). Der Nachbar eines Baugebiets kann sich also gegen jedes Vorhaben in seinem Baugebiet zur Wehr setzen, das weder Regel- noch Ausnahmebebauung nach der BauNVO ist. Der Gebietserhaltungsanspruch ist aber begrenzt auf das jeweilige Baugebiet, gebietsübergreifenden Rechtsschutz auch in Bezug auf benachbarte Baugebiete vermittelt er hingegen nicht.
b) „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“
1. Vom „Gebietserhaltungsanspruch“ streng zu unterscheiden ist der sog. „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“. Der Gebietsprägungserhaltungsanspruch ist ein noch vergleichsweise junges Rechtsinstitut, welches vom BVerwG insbesondere in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2002 und 2008 entwickelt wurde (NVwZ 2002, 118; NVwZ 2008, 786). Im Unterschied zum Gebietserhaltungsanspruch beschreibt der Gebietsprägungserhaltungsanspruch folgendes Phänomen: Ein Vorhaben, dass an sich unter die Regel- oder Ausnahmebebauung der §§ 2 ff. BauNVO subsumiert werden kann (deshalb greift der Gebietserhaltungsanspruch nicht ein!) ist bei generell-typisierender Betrachtungsweise in dem einschlägigen Baugebiet gebietsunverträglich, weil es den prägenden Charakter des Baugebiets konterkariert. Bei oberflächlicher Betrachtungsweise könnte man versucht sein, den Gebietsprägungserhaltungsanspruch mit der Regelung in § 15 I 1 BauNVO gleichzusetzen, die ebenfalls davon spricht, dass ein nach den §§ 2 ff. BauNVO grundsätzlich zulässiges Vorhaben im Einzelfall unzulässig ist, wenn es der Eigenart des Baugebiets widerspricht. Der Gebietsprägungserhaltungsanspruch muss aber auch zu § 15 I 1 BauNVO abgegrenzt werden, keinesfalls sind beide Regelungskomplexe gleichzusetzen. Während nämlich der Gebietsprägungserhaltungsanspruch ein Vorhaben betrifft, dass bereits nach genereller und typisierender Betrachtungsweise in dem jeweiligen Baugebiet gebietsunverträglich ist, meint § 15 I 1 BauNVO den Fall, dass ein Bauvorhaben zwar nach abstrakt-typisierender Anschauung dem Gebietscharakter nicht widerspricht (deshalb greift der Gebietsprägungserhaltungsanspruch nicht ein!), aber dennoch im konkreten Einzelfall gebietsunverträglich ist. Der Gebietsprägungserhaltungsanspruch ist der Regelung des § 15 I 1 BauNVO also logisch vorgeschaltet (sehr ausführlich z. B. Decker, JA 2007, 55).
2. Hinter dem „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ steht folgende Idee: Bei den in den Absätzen 2 und 3 der §§ 2 ff. BauNVO aufgeführten Gebäuden und Anlagen handelt es sich um in hohem Maße unbestimmte Rechtsbegriffe. Z. B. umfasst der Begriff der „Anlage zu gesundheitlichen Zwecken“ in § 4 II Nr.3 BauNVO nach seinem Wortlaut sowohl die kleine Praxisgemeinschaft niedergelassener Ärzte als auch das Krankenhaus mit 100 Krankenhausbetten. Zudem wird der Begriff der „Anlage zu gesundheitlichen Zwecken“ auch noch in den Vorschriften anderer Baugebiete aufgegriffen (z. B. § 6 II Nr.5 für „Mischgebiete“ und § 8 III Nr.2 für „Gewerbegebiete“) und kann wegen der erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Baugebieten unmöglich überall im gleichen Sinne verstanden werden. Da allein der „Feinfilter“ des § 15 I 1 BauNVO, der immer erst bei einzelfallbezogener Gebietsunverträglichkeit eingreift, dem Interesse der Bewohner des Baugebiets an einer Wahrung des prägenden Gebietscharakters nicht gerecht wird, hat das BVerwG einen „Grobfilter“ in Form des Gebietsprägungserhaltungsanspruchs vorgeschaltet.
Hierbei werden die in den Absätzen 2 und 3 der §§ 2 ff. BauNVO jeweils genannten Gebäude und Anlagen in Beziehung zu dem jeweiligen Absatz 1 der Vorschrift gesetzt, welcher eine allgemeine Charakterisierung bzw. Zweckrichtung des Baugebiets enthält. Beispielsweise dienen allgemeine Wohngebiete gem. § 4 I BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Bauvorhaben, die bereits nach generell-typisierender Betrachtungsweise geeignet sind, die Wohnruhe im allgemeinen Wohngebiet erheblich zu stören und deshalb gebietsunverträglich sind, können also mit dem Gebietsprägungserhaltungsanspruch von den Bewohnern dieses Baugebiets abgewehrt werden. Ein Dialysezentrum mit 33 Behandlungsplätzen, Zwei-Schicht-Betrieb und regem An- und Abfahrtsverkehr, welches eine erhebliche Unruhe in das Wohngebiet hineinträgt, ist deshalb beispielsweise in einem allgemeinen Wohngebiet (obwohl gem. § 4 II Nr.3 BauNVO grds. zulässig) gebietsunverträglich (BVerwG NVwZ 2008, 786).
c) § 15 I 1 BauNVO
§ 15 I 1 vermittelt allen Bewohnern eines Baugebiets einen Anspruch auf Erhalt des prägenden Gebietscharakters. Vorhaben, die zwar an sich nach den §§ 2 ff. BauNVO regelhaft oder ausnahmsweise zulässig sind, können von den Baugebietsnachbarn abgewehrt werden, wenn sie im Einzelfall nach Lage, Umfang, Anzahl oder Zweckbestimmung dem prägenden Gebietscharakter widersprechen. § 15 I 1 BauNVO ist insofern weiter als § 15 I 2 BauNVO, als er keine unzumutbare persönliche Betroffenheit voraussetzt. Er ist auf der anderen Seite enger, weil er nur die Bewohner des betroffenen Baugebiets schützt, nicht aber die Bewohner benachbarter Baugebiete (kein plangebietsübergreifender Nachbarschutz; vgl. Stuer, Der B.Plan, Rn. 917). § 15 I 1 BauNVO kommt aber erst zum Zuge, wenn das Vorhaben nicht bereits nach generell-typisierender Betrachtungsweise gebietsunverträglich ist (dann greift vorrangig der „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ ein, s. oben).

d) „faktisches Baugebiet“, § 34 II BauGB
Im „faktischen Baugebiet“ nach § 34 II BauGB besteht hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung genau derselbe Drittschutz wie im Bebauungsplangebiet (BVerwG NJW 1994, 1546). D. h. entspricht die nähere Umgebung eines Bauvorhabens im Innenbereich einem der Baugebiete nach der BauNVO, so stehen dem Nachbar ebenso wie im beplanten Innenbereich der „Gebietserhaltungsanspruch“, der „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ und § 15 I BauNVO zur Seite.
e) Maß der baulichen Nutzung, Bauweise, überbaubare Grundstücksflächen
Während es oben um die Festsetzungen des B-Plans über die Art der baulichen Nutzung ging, stellt sich die Frage, ob auch die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (§§ 16 ff. BauNVO), die Bauweise und die überbaubaren Grundstücksflächen (§§ 22 ff. BauNVO) Drittschutz entfalten können.
1. Nach h. M. entfalten die Festsetzungen des B-Plans über das Maß der baulichen Nutzung grds. keine drittschützende Wirkung zugunsten des Nachbarn, da sie ausschließlich dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung dienen sollen. Ausnahmsweise haben aber auch Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung drittschützende Wirkung, wenn der Drittschutz im B-Plan von der planenden Gemeinde ausdrücklich festgeschrieben wird (vgl. Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 68 f.). Möglich ist eine Geltendmachung der drittschützenden Wirkung des Maßes der baulichen Nutzung – trotz Einhaltung der Abtsandsflächen nach § 6 BauO NW- auch in denjenigen Ausnahmefällen, in denen dem Bauvorhaben eine „erdrückende Wirkung“ zukommt und dem Nachbarn ein Gefühl des „Eingemauertseins“ vermittelt und ihm die „Luft zum Atmen nimmt“ (sog. „Gefängnishofsituation“; Thiel, AL 2012, 179). Diese sehr enge Ausnahme ist dann wiederum Ausdruck des Rücksichtnahmegebots. In derartigen Ausnahmefällen dient dann im Bebauungsplangebiet ausnahmsweise § 15 I 1 BauNVO (der an sich nur für die Art der baulichen Nutzung gilt!) als Einfallstor für das Gebot der Rücksichtnahme (vgl. dort Merkmal „Umfang“ des Vorhabens). Denn die Rechtsprechung geht davon aus, dass in derartigen Fällen „Quantität in Qualität umschlägt“, d. h. dass ausnahmsweise die Größe einer Anlage die Art der baulichen Nutzung tangiert (vgl. zum Ganzen BVerwG, NVwZ 1995, 900). Im unbeplanten Innenbereich kann die „erdrückende Wirkung“ rücksichtsloser Vorhaben über § 34 I 1 BauGB („Einfügen“) im Außenbereich über § 35 III 1 (ungeschriebener „öffentlicher Belang“!) geltend gemacht werden.
2. Die Festsetzung einer offenen Bauweise wird überwiegend als drittschützend angesehen, der Festsetzung einer geschlossenen Bauweise wird Drittschutz hingegen überwiegend versagt (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 70 f.). Die Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen gem. § 23 BauNVO (Baulinien, Baugrenzen, Bautiefen) sind nur dann nachbarschützend, wenn sie (ähnlich wie die Abstandsflächenregelung des § 6 BauO NRW) die ausreichende Licht- und Luftzufuhr zum Nachbargrundstück bezwecken (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 72). Allerdings sollte man hier Vorsicht walten lassen: Die Tatsache, dass z. B. seitliche und hintere Baugrenzen in rein tatsächlicher Hinsicht eine ähnliche Wirkung wie die Abstandsflächenregelungen in den Landesbauordnungen der Länder haben, lässt noch keinen Rückschluss auf deren nachbarschützende Wirkung zu. Insofern handelt es sich dann nämlich zunächst um einen reinen Rechtsreflex. Entscheidend ist, ob der Gesetzgeber diese tatsächlichen Wirkungen der Festsetzungen auch bezweckt hat.
f) Bauordnungsrecht: insbesondere Abstandsflächenregelung
Im Bauordnungsrecht entfalten insbesondere die Abstandsflächenregelungen in den jeweiligen Bauordnungen der Länder drittschützende Wirkung (z. B. § 6 BauO NRW). Die Abstandsflächenregelungen haben nämlich insbesondere den Zweck, das Nachbargrundstück vor einer Verschattung zu schützen und die Zufuhr mit Licht und Luft sicherzustellen. Zudem soll einem zu schnellen Übergreifen von Bränden auf Nachbarhäuser vorgebeugt werden (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 103. Ergänzungslieferung 2012, § 22 BauNVO Rn. 37). Die Abständsflächenregelungen schützen den Nachbarn wiederum unabhängig von einer tatsächlichen Beeinträchtigung. D. h. der Nachbar kann die Einhaltung der Abstandsflächen im Verhältnis zum Angrenzer unabhängig davon verlangen, ob es z. B. tatsächlich zu einer Verschattung seines Grundstücks kommt. Hintergrund ist hier aber nicht das nachbarschaftliche Austauschverhältnis und der Gedanke der Schicksalsgemeinschaft, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Gesetzgeber die abstrakte Gefahr eines Nutzungskonflikts der benachbarten Grundstücke im Rahmen einer generellen Interessenabwägung einer gesetzlichen Lösung zugeführt hat.
2. einzelfallbezogener Drittschutz
Es gibt des Weiteren drittschützende Normen des öffentlichen Baurechts, die immer erst dann tangiert sind, wenn der rechtsschutzsuchende Nachbar tatsächlich und unzumutbar in seinen Rechten betroffen ist. Derartiger einzelfallbezogener Drittschutz begegnet insbesondere in Form einfachgesetzlicher Ausprägungen des sog. „Rücksichtnahmegebots“.

a) Das Gebot der Rücksichtnahme
1. Auch das Rücksichtnahmegebot ist ein „Kind des Bundesverwaltungsgerichts“. Das Rücksichtnahmegebot ist dabei zunächst ein objektiv-rechtliches Rechtsinstitut. Als so verstandener objektiv-rechtlicher Rechtssatz ist das Rücksichtnahmegebot an sich eine Selbstverständlichkeit: Die Baufaufsichtsbehörde ist bei der Entscheidung über die Erteilung einer Bauerlaubnis verpflichtet, die Interessen des Bauherrn und des Nachbarn gerecht gegeneinander abzuwägen. Da die Exekutive im Verhältnis zum Bauherrn und zum Nachbarn an die Grundrechte gebunden ist (Art. 1 III GG, 20 III GG) und durch die Erteilung oder Versagung einer Bauerlaubnis in das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn oder des Bauherrn aus Art. 14 I 1 GG eingegreift, muss die Bauaufsichtsbehörde diese widerstreitenden Interessen grundsätzlich zu einem möglichst schonenden Ausgleich bringen. Insofern ist das Rücksichtnahmegebot eine spezielle Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. etwa Battis/Krautzberger/Löhr, § 1 Rn. 122).
2. Das Rücksichtnahmegebot hat aber auch eine subjektiv-rechtliche Komponente. Das Rücksichtnahmegebot darf dabei zunächst nicht als übergesetzliches, losgelöst von gesetzlichen Vorschriften existierendes Prinzip missverstanden werden. Es folgt insbesondere nicht aus Art. 14 I GG. Der Gesetzgeber hat in den §§ 29 ff. BauGB Inhalt und Schranken des Eigentums iSv Art. 14 I 2 GG abschließend festgelegt (Inhalts- und Schrankenbestimmung). Durch den Rückgriff des Tatrichters auf vermeintliche vor-rechtliche Prinzipien, würde die Werteentscheidung des Gesetzgebers unterlaufen und das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 III GG) verletzt. Das Gebot der Rücksichtnahme ist vielmehr immer nur insoweit von Bedeutung, als es Ausdruck in einer konkreten einfach-gesetzlichen Rechtsnorm gefunden hat.  Drittschutz folgt also nicht aus dem Rücksichtnahmegebot, sondern aus einer einfach-rechtlichen Norm, mag diese auch eine Ausprägung des Rücksichtnahmegebots sein. Insofern ist das Rücksichtnahmegebot eine Art „Einfallstor“ für den Drittschutz baurechtlicher Normen, vergleichbar den zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 134, 138 BGB. Hinter dem „Rücksichtnahmegebot“ verbirgt sich letztlich nichts anderes als eine Art „Auslegungshilfe“ bzw. „Auslegungsregel“ in Bezug auf einfach-gesetzliche Normen des Baurechts (vgl. zum Ganzen Gaentzsch, ZfBR 2009, 324). Auslegungshilfe ist es dabei sowohl im Hinblick auf das „Ob“ des Drittschutzes als auch hinsichtlich des „Wie“ des Drittschutzes:
– „Ob“ des Drittschutzes: Zunächst wird das Rücksichtnahmegebot für die Frage herangezogen, ob eine bestimmte Baurechtsvorschrift überhaupt Drittschutz vermittelt. Das BVerwG hat dabei mehrfach entschieden, dass eine Vorschrift des öffentlichen Baurechts nur dann drittschützende Wirkung entfaltet, wenn sie deutlich macht, „dass in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schützwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist“ (zuletzt etwa BVerwG JuS 2004, 173). Mit anderen Worten: Eine Norm ist dann drittschützend, wenn die Auslegung ergibt, dass auf einen abgrenzbaren Personenkreis in besonderer Weise Rücksicht genommen werden soll. In dieser Funktion ist das Rücksichtnahmegebot nichts anderes als eine spezielle Ausprägung der „Schutznormtheorie“ im Baurecht.
– „Wie“ des Drittschutzes: Sodann wird das Rücksichtnahmegebot weiterhin herangezogen, um das Maß des Drittschutzes zu ermitteln. Dabei reicht für die Verletzung von Baurechtsnormen, deren drittschützende Wirkung anhand der „Lehre vom Rücksichtnahmegebot“ festgestellt wurde, nicht bereits jede Beeinträchtigung nachbarlicher Interessen, erforderlich ist vielmehr eine unzumutbare Beeinträchtigung. Das BVerwG hat das so formuliert: „Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung dessen ist, auf den Rücksicht zu nehmen ist, umso mehr kann an Rücksicht verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht der Bauherr Rücksicht zu nehmen“ (BVerwG NVwZ 1993, 1185).  Der Sache nach handelt es sich dabei um eine umfassende Interessenabwägung zwischen den Interessen des Bauherrn an der Bebauung seines Grundstücks und den Interessen des Nachbarn an der ungestörten Nutzung seines Eigentums. Zu berücksichtigen sind bei der Interessenabwägung insbesondere bereits bestehende Vorbelastungen (z. B. bereits vorhandene Lärmquellen).
b) § 15 I 2 BauNVO
Eine wichtige einfachgesetzliche Ausprägung des Rücksichtnahmegebots ist die Regelung des § 15 I BauNVO (sog. „Feinfilter“). Hierbei sollte man grds. zwischen der Regelung des § 15 I 1 BauNVO (dazu bereits oben) und des § 15 I 2 BauNVO unterscheiden. Beide Regelungen setzen ein Bauvorhaben im Bebauungsplangebiet oder im faktischen Baugebiet (§ 34 II BauGB) voraus, welches an sich den §§ 2 ff. BauNVO entspricht, aber im Einzefall gebietsunverträglich ist. § 15 I 1 BauNVO greift wie bereits oben erläutert nicht erst bei unzumutbarer persönlicher Betroffenheit, sondern gibt den Bewohnern eines Baugebiets im Zusammenspiel mit dem sog. „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ einen allgemeinen Anspruch auf Erhalt des prägenden Charakters eines Baugebiets.
Durch das Tatbestandsmerkmal der „unzumutbaren Störungen und Belästigungen“ in § 15 I 2 BauNVO macht die Regelung deutlich, dass auf die Interessen der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet oder in benachbarten Baugebieten besondere Rücksicht zu nehmen ist. Unterscheiden muss man bei § 15 I 2 die 1. Alternative (= Bauvorhaben wird Störer) und die 2. Alternative (= Bauvorhaben wird störanfällig). Durch die Wendung „im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung“ macht das Gesetz deutlich, dass nicht nur die Grundstückseigentümer des betroffenen Baugebiets, sondern auch die Nachbarn benachbarter Baugebiete in den Schutzbereich des § 15 I 2 BauNVO einbezogen sind. § 15 I 2 BauNVO eröffnet damit insbesondere die Möglichkeit plangebietsübergreifenden Drittschutzes! Soweit die Störungen und Belästigungen des Vorhabens über das Baugebiet hinaus in benachbarte Baugebiete ausstrahlen, können sich auch die Plangebietsnachbarn zur Wehr setzen. Andererseits ist § 15 I 2 BauNVO erst dann verletzt, wenn die Belästigungen die Zumutbarkeitsschwelle überschreiten. Dies ist insbesondere anhand der Abwägungsformel des BVerwG zu bestimmen (vgl. oben). § 15 I 2 BauNVO stellt damit insgesamt recht hohe Hürden auf.
c) Dispens gem. § 31 II BauGB
Beim bauplanungsrechtlichen Dispens gem. § 31 II BauGB muss man unbedingt zwei Fälle unterscheiden. Bei einer Befreiung von nachbarschützenden Vorschriften, insbesondere von den Vorgaben für die Art der baulichen Nutzung gem. §§ 2 ff. BauNVO, vermittelt § 31 II BauGB immer und uneingeschränkt Drittschutz. Denn insbesondere bei einem Dispens von den §§ 2 ff. BauNVO wird der „Gebietserhaltungsanspruch“ des Nachbarn tangiert, der sich unabhängig von einer persönlichen Betroffenheit gegen jede artfremde Bebauung wehren kann.
Bei einem Dispens von nicht nachbarschützenden Vorschriften bietet § 31 II BauGB nur Drittschutz nach Maßgabe des Rücksichtnahmegebots. Das Tatbestandsmerkmal der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ gem. § 31 II a. E. BauGB macht hierbei deutlich, dass die betroffenen Baugebietsnachbarn in besonderer Weise geschützt werden sollen. Eine Verletzung drittschützender Vorschriften ist in diesen Fällen erst gegeben, wenn die nachbarlichen Interessen in unzumtbarer Weise beeinträchtigt werden. Auch dies bemisst sich wiederum anhand der Abwägungsformel des BVerwG (s. oben.).
d) Merkmal „Einfügen“ iSv § 34 I 1 BauGB
Das BVerwG hat im Merkmal des „Einfügens“ iSv § 34 I 1 BauGB mithilfe der Auslegungsregel des Rücksichtnahmegebots die drittschützende Wirkung dieser Vorschrift erkannt. Ein Bauvorhaben „fügt“ sich danach nur dann in die vorhandene Umgebungsbebauung ein, wenn es die gebotene Rücksicht auf die bereits vorhandene Nachbarbebauung nimmt (Battis/Krautzberger/Löhr, § 34 Rn. 17). Das wird auch durch die Regelung über den Dispens von dem Erfordernis des „Einfügens“ in § 34 IIIa Nr.3 BauGB deutlich, der von der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ spricht.
e) „Schädliche Umwelteinwirkungen“ iSv § 35 III 1 Nr.3
Der drittschützende Charakter des § 35 BauGB kann mithilfe des Rücksichtnahmegebots insbesondere aus § 35 III 1 Nr.3 anhand des Merkmals der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ entnommen werden (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 80). Denn gem. § 3 I BImschG sind schädliche Umwelteinwirkungen Immissionen, die geeignet sind, erhebliche Nachteile oder Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen (Rechtsgedanke des § 3 BImschG). Früher hat das BVerwG das Rücksichtnahmegebot z. T. als ungeschriebenen „öffentlichen Belang“ iSv § 35 III 1 BauGB eingeordnet (BVerwG NJW 1978, 62; sog. „Schweinemäster-Fall“). Das ist aber zum einen missverständlich, weil das Rücksichtnahmegebot eben kein selbständiges rechtliches Prinzip ist, sondern eine bloße Auslegungshilfe für das „Ob“ und „Wie“ des drittschützenden Charakters baurechtlicher Normen. Zum anderen spricht der Wortlaut „öffentlich“ gerade eher gegen den drittschützenden Charakter und macht eine besondere Schutzbedürftigkeit eines abgrenzbaren Personenkreises gerade nicht deutlich.
Auch auf privilegierte Vorhaben iSv § 35 I BauGB ist in besonderer Weise Rücksicht zu nehmen, weil die gesetzliche Systematik des § 35 I und II BauGB deutlich macht, dass privilegierte Vorhaben im Außenbereich in besonderem Maße schützenswert sind. Privilegierte Grundstückseigentümer können sich deshalb insbesondere gegen eine heranrückende störende Außenbereichsbebauung wehren (Battis/Krautzberger/Löhr, § 31 Rn. 80).
IV.Klausurtipps
Zum Abschluss noch ein paar Tipps für Klausuren, die häufig zu beobachtende Fehlerquellen betreffen.
1. Da das „Rücksichtnahmegebot“ kein eigenständiges, übergesetzliches Prinzip ist, darf im Rahmen der Klagebefugnis nach § 42 II VwGO und im Rahmen der Rechtsverletzung iSv § 113 I 1 VwGO nicht auf eine (mögliche) „Verletzung des Rücksichtnahmegebots“ abgestellt werden. Richtig ist vielmehr die Prüfung einer (möglichen) Verletzung einer drittschützenden einfachrechtlichen Norm in Verbindung mit dem Rücksichtnahmegebot (z. B.: „X kann geltend machen, möglicherweise in seinem subjektiven Recht aus dem Merkmal des „Einfügens“ iSv § 34 I 1 BauGB iVm dem Rücksichtnahmegebot verletzt zu sein.“).
2. Auch wenn § 113 I 1 VwGO eine zweistufige Prüfung nach objektiver Rechtswidrigkeit und Rechtsverletzung vorgibt, prüft man bei Baunachbarstreitigkeiten von vornherein nur, ob nachbarschützende Vorschriften verletzt sind. Die Baunachbaranfechtungsklage ist also begründet, „wenn der VA nachbarschützende Vorschriften verletzt“(!). Die Prüfung der objektiven Rechtswidrigkeit nicht nachbarschützender Normen ist nicht nur überflüssig, sondern sogar falsch. Es bietet sich deshalb an, im Rahmen der Klagebefugnis gem. § 42 II VwGO zu diskutieren, welche der gerügten Vorschriften nachbarschützend sind und welche nicht und sodann die mögliche Verletzung dieser drittschützenden Vorschriften festzustellen. In der Begründetheit wird dann nur noch die tatsächliche Verletzung der (übrig gebliebenen) nachbarschützenden Normen geprüft.

29.06.2012/9 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2012-06-29 08:00:462012-06-29 08:00:46Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht
Zaid Mansour

VG Hamburg: Zur Zulässigkeit des Antrags eines Privaten auf Untersagung eines aus seiner Sicht blasphemischen Theaterstücks

Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung, Startseite, Verwaltungsrecht

Das VG Hamburg hat entschieden (Beschluss vom 23.01.2012, Az. 15 E 211/12), dass einem Privaten kein subjektiv-öffentliches Recht hinsichtlich der Untersagung des aus seiner Sicht blasphemischen Theaterstücks „Gólgota Picnic“ zukommt und verneinte demgemäß die Antragsbefugnis.
Der Antragssteller machte im Rahmen eines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend, dass die Aufführung des Theaterstücks den Tatbestand des § 166 Abs. 1 StGB verwirkliche und ihn darüber hinaus in seiner Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG verletze, da sie zu einer „Atmosphäre der Feindseligkeit und des Spottes“ beitrage, welche ihm „das Leben als praktizierender Christ in unserer Gesellschaft zunehmend erschwert“. Alle getauften Christen seien deshalb „subjektiv und qualifiziert betroffen“.
Die verwaltungsprozessuale Antragsbefugnis ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO gegeben, wenn der Antragssteller geltend machen kann in einem ihm zukommenden Recht möglicherweise verletzt oder gefährdet zu sein  (Möglichkeit des Bestehens eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds; § 42 Abs. 2 VwGO analog). Will der Antragssteller keine Begünstigung für sich selbst erreichen, sondern die Belastung eines Dritten erwirken, so richtet sich das Vorliegen der Antragsbefugnis nach den Grundsätzen der sog. Schutznormtheorie, die voraussetzt, dass die (vermeintlich durch den Dritten verletzte) Norm zumindest auch den Schutz eines abgrenzbaren Personenkreises bezweckt und der Antragssteller Teil dieses Personenkreises ist (Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Auflage, § 14 Rn. 71 ff.). Handelt es sich dabei, wie im vorliegenden Fall, um eine Ermessensnorm, so beschränkt sich der Anspruch des Einzelnen auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, da das subjektiv-öffentliche Recht nicht weiter reichen kann als der objektive Gehalt der Norm. Ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung kommt daneben auch in Betracht, wenn der Antragssteller sich auf grundrechtlich geschützte Positionen (einschließlich des Gleichheitssatzes) berufen kann.
Aus der polizeilichen Generalklausel des § 3 Abs. 1 HbgSOG (Hamburger Gesetz zum Schutz der Sicherheit und Ordnung, die polizeilichen Generalklauseln der übrigen Länder sind hinsichtlich der Einschreitungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen nahezu identisch) folgt zunächst, dass die zuständige Behörde im Rahmen ihres Geschäftsbereichs nach pflichtgemäßen Ermessen die im Einzelfall zum Schutz der Allgemeinheit oder des Einzelnen erforderlichen Maßnahmen trifft, um bevorstehende Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren oder zu beseitigen. Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit sind die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, die Unverletzlichkeit individueller Rechte und Rechtsgüter sowie der Bestand, die Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und anderer Träger von Hoheitsgewalt (zum Ganzen: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Auflage, 2 Kap. Rn. 65 ff.). Die polizeilichen Generalklauseln können grundsätzlich drittschützenden Charakter haben. Soweit eine Gefahr jedenfalls auch für subjektiv-öffentliche Rechte des Einzelnen besteht, besitzt dieser nach mittlerweile ganz h.M. zumindest einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hinsichtlich des polizeilichen Einschreitens gegen diese Gefahr (vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Auflage, § 10 Rn. 45 i. V. m. § 5 Rn. 50 ff. m. w. N.).
Es kam vorliegend also zunächst auf die Frage an, ob § 166 Abs. 1 StGB als Teil der objektiven Rechtsordnung auch den Schutz des Einzelnen bezweckt, sodass im Falle eines möglicherweise in Betracht kommenden Verstoßes gegen § 166 Abs. 1 StGB zugleich eine Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts des Antragsstellers vorliegt, die im Ergebnis zur Bejahung der Antragsbefugnis führen würde. Dabei ist gemäß der üblichen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Teleologie, Systematik und historische Entstehungsgeschichte) zu ermitteln, ob § 166 Abs. 1 StGB drittschützenden Charakter aufweist. Dazu stellt das VG Hamburg fest:

„Soweit der Antragsteller vorträgt, die Aufführung des Stückes stelle eine Verwirklichung des § 166 Abs. 1 StGB dar, so kann er daraus kein subjektiv-öffentliches Recht herleiten. Nach dieser Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Geschütztes Rechtsgut des § 166 Abs. 1 StGB ist jedoch allein der öffentliche Frieden und nicht das religiöse Empfinden Einzelner. Trägerin des Rechtsguts des „öffentlichen Friedens“ ist ausschließlich die staatliche Gemeinschaft (vgl. im Zusammenhang mit der Verneinung der Befugnis von Mitgliedern einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft oder eines sonstigen Mitglieds der Bevölkerung, das Klageerzwingungsverfahren nach § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO zu betreiben, OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23.6.1993, 3 Ws 99/93, juris Rn. 2; OLG München, Beschl. v. 6.3.1995, 2 Ws 1369/93, juris), so dass sich der Antragsteller im Rahmen der polizeilichen Generalklausel von vornherein nicht auf dessen Verletzung berufen kann.“

Im Anschluss daran prüft das VG Hamburg, ob ein subjektiv-öffentliches Recht des Antragstellers auf das begehrte polizeiliche Einschreiten im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 GG besteht, wonach die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind (zum Gewährleistungsgehalt von Art. 4 Abs. 1 GG allgemein: Dreier/M. Morlok, Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 2. Auflage, Art. 4 Rn. 41 ff.). Die Grundrechte des Einzelnen strahlen insoweit in das einfache (Polizei-) Recht ein und nehmen so das einfache Recht als Medium zur Verwirklichung des grundgesetzlichen Schutzauftrags in Anspruch (vgl. Dietlein/Burgi/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, 4. Auflage, § 3 Rn. 51).

„Art. 4 Abs. 1 GG schützt den gläubigen Menschen vor einer Einmischung des Staates in seine Glaubensüberzeugungen und -aktivitäten und verpflichtet den Staat, ihm einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann, und sie insbesondere vor Angriffen oder Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen. Art. 4 Abs. 1 GG verleiht dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften aber grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen (so BVerfG, Beschl. v. 16.5.1995, 1 BvR 1087/91, juris Rn. 35).“

Weiter heißt es:

„Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, wie diese grundrechtliche Gewährleistung hinsichtlich des Antragstellers durch die Aufführung des Stückes „Gólgota Picnic“ betroffen sein könnte. Denn dieses wird in einem geschlossenen Theaterraum aufgeführt, so dass der Antragsteller der Aufführung fernbleiben kann und zu ihrer Kenntnisnahme nicht gezwungen wird (vgl. gegen die Berührung der Religionsfreiheit in diesem Zusammenhang Hufen, JuS 1999, 911 [912]; ders., Staatsrecht II, Grundrechte, 2007, § 33 Rn. 51; anders u. U. wegen des „Überraschungseffekts“ bei nicht erwarteten Fernsehbeiträgen, vgl. OVG Münster, Urt. v. 27.8.1996, 5 A 3485/94, juris Rn. 9, jedoch auch Rn. 11 ff.). Der Antragsteller hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass er auf andere Weise durch die Aufführung des Theaterstücks in der Ausübung seiner Religionsfreiheit beeinträchtigt würde. Insbesondere mit der von ihm geäußerten allgemeinen Befürchtung, die Aufführung trage zu einer „Atmosphäre der Feindseligkeit und des Spottes“ bei, die „das Leben als praktizierender Christ in unserer Gesellschaft“ erschweren könnte, hat er nicht hinreichend substantiiert dargelegt, inwieweit seine individuelle Freiheit der Religionsausübung durch die Aufführung konkret beschränkt sein soll. Soweit er sich lediglich allgemein auf die Wirkung des Stückes im religionsbezogenen gesellschaftlichen Diskurs bezieht, so steht es Religionsgemeinschaften und ihren Mitgliedern frei, selbst an diesem Diskurs teilzunehmen, indem sie sich kommunikativ mit aus ihrer Sicht zu kritisierenden Theaterstücken auseinandersetzen (vgl. Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, 2007, § 33 Rn. 51).“

Die vorliegende Entscheidung eignet sich vorzüglich als Thema einer mündlichen Prüfung. Zur europarechtlich gebotenen Modifikation der verwaltungsprozessualen Klagebefugnis wird auf folgenden Beitrag hingewiesen.

18.06.2012/0 Kommentare/von Zaid Mansour
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Zaid Mansour https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Zaid Mansour2012-06-18 16:53:482012-06-18 16:53:48VG Hamburg: Zur Zulässigkeit des Antrags eines Privaten auf Untersagung eines aus seiner Sicht blasphemischen Theaterstücks
Dr. Johannes Traut

Haftung für fehlende Krippenplätze?!

Öffentliches Recht, Staatshaftung, Tagesgeschehen, Verwaltungsrecht

In der Presse wird über die drohende Klagewelle wegen fehlender Krippenplätze diskutiert. Die Aufregung ist durchaus nicht völlig aus der Luft gegriffen: Gibt es nicht genug Krippenplätze, steht den Eltern, die für ihr Kind keinen erhalten, ein Schadensersatzsanspruch aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG) zu.
I. Der gesetzliche Anspruch auf einen Krippenplatz: § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F.
Geschaffen wurde der Anspruch auf eine durch das sogenannte „Kinderförderungsgesetz (KiföG, unter diesem Namen auch bei beck-online zu finden)“ v. 10.12.2008 (BGBl. I S. 2403; Gesetzgebungsmaterialien BT-Drs. 16/9299, 16/10173). Bisher enthält das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) nur einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz. Geregelt ist dieser in § 24 Abs. 1 S. 1. Für jüngere Kinder besteht nur der gesetzliche Auftrag, sie durch Betreuung zu fördern, aber kein Rechtsanspruch (§ 23 Abs. 3 SGB VIII). Es handelt sich lediglich um eine objektiv-rechtliche Verpflichtung (vgl. auch BT-Drs. 16/9299, S. 15). Die gesamte Norm lautet wie folgt:

§ 24 Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege
(1)     Ein Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen oder ergänzend Förderung in Kindertagespflege zur Verfügung steht.
(2)     Für Kinder im Alter unter drei Jahren und im schulpflichtigen Alter ist ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzuhalten.
(3)     Ein Kind, das das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege zu fördern, wenn

  1. diese Leistung für seine Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit geboten ist oder
  2. die Erziehungsberechtigten

a)      einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder Arbeit suchend sind,
b)      sich in einer beruflichen Bildungsmaßnahme, in der Schulausbildung oder Hochschulausbildung befinden oder
c)      Leistungen zur Eingliederung in Arbeit im Sinne des Zweiten Buches erhalten.
Lebt das Kind nur mit einem Erziehungsberechtigten zusammen, so tritt diese Person an die Stelle der Erziehungsberechtigten. Der Umfang der täglichen Förderung richtet sich nach dem individuellen Bedarf.
(4)     Die Träger der Öffentlichen Jugendhilfe oder die von ihnen beauftragten Stellen sind verpflichtet, Eltern oder Elternteile, die Leistungen nach Absatz 1 oder 2 in Anspruch nehmen wollen, über das Platzangebot im örtlichen Einzugsbereich und die pädagogische Konzeption der Einrichtungen zu informieren und sie bei der Auswahl zu beraten. Landesrecht kann bestimmen, dass Eltern den Träger der Öffentlichen Jugendhilfe oder die beauftragte Stelle innerhalb einer bestimmten Frist vor der beabsichtigten Inanspruchnahme der Leistung in Kenntnis setzen.
(5)     Geeignete Tagespflegepersonen im Sinne von § 23 Abs  3 können auch vermittelt werden, wenn die Voraussetzungen nach Absatz 3 nicht vorliegen. In diesem Fall besteht die Pflicht zur Gewährung einer laufenden Geldleistung nach § 23 Abs  1 nicht; Aufwendungen nach § 23 Abs  2 Satz 1 Nr  3 können erstattet werden.
(6)     Weitergehendes Landesrecht bleibt unberührt.

Das KiFöG hat mit § 24a SGB VIII zunächst Übergangsrecht geschaffen, das für eine ausreichende Zahl von Krippenplätzen zum Stichtag sorgen soll. Nach Art. 10 Abs. 3 KiFöG tritt zum 1.8.2013 § 24a SGB VIII in Kraft und § 24 SGB VIII erthält gleichzeitig folgende Fassung:

 § 24 Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege n.F.
(1)    Ein Kind, das das erste Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist in einer Einrichtung oder in Kindertagespflege zu fördern, wenn

  1. durch diese Leistung seine Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gestärkt wird oder
  2. die Erziehungsberechtigten

a)      einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder Arbeit suchend sind,
b)      sich in einer beruflichen Bildungsmaßnahme, in der Schulausbildung oder Hochschulausbildung befinden oder
c)      Leistungen zur Eingliederung in Arbeit im Sinne des Zweiten Buches erhalten.
Lebt das Kind nur mit einem Erziehungsberechtigten zusammen, so tritt diese Person an die Stelle der Erziehungsberechtigten. Der Umfang der täglichen Förderung richtet sich nach dem individuellen Bedarf.
(2)    Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend.
(3)    Ein Kind, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, hat bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht. Das Kind kann bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden.
(4)    Für Kinder im schulpflichtigen Alter ist ein bedarfsgerechtes Angebot in Tageseinrichtungen vorzuhalten. Absatz 1 Satz 3 und Absatz 3 Satz 3 gelten entsprechend.
(5)    Die Träger der öffentliche Jugendhilfe oder die von ihnen beauftragten Stellen sind verpflichtet, Eltern oder Elternteile, die Leistungen nach den Absätzen 1 bis 4 in Anspruch nehmen wollen, über das Platzangebot im örtlichen Einzugsbereich und die pädagogische Konzeption der Einrichtungen zu informieren und sie bei der Auswahl zu beraten. Landesrecht kann bestimmen, dass die erziehungsberechtigten Personen den zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe oder die beauftragte Stelle innerhalb einer bestimmten Frist vor der beabsichtigten Inanspruchnahme der Leistung in Kenntnis setzen.
(6)    Weitergehendes Landesrecht bleibt unberührt.

Dann enthält das Gesetz damit nicht nur einen unmittelbaren Anspruch auf einen Kindergartenplatz (so schon bisher nach § 24 Abs. 1 SGB VIII a.F.; ab 1.8.2013 dann § 24 Abs. 3 SGB VIII n.F.), sondern auch auf einen Krippenplatz (§ 24 Abs. 2 SGB VIII n.F.). Die Gesetzesbegründung ist ganz eindeutig: Es geht um einen „Rechtsanspruch“, der ausdrücklich in Gegensatz zu lediglich objektiv-rechtlichen Verpflichtungen (vgl. § 24 Abs. 1 SGB VIII n.F.) gesetzt wird. Er ist also ein subjektives Recht und damit einklagbar (vgl. auch BT-Drs. 16/9299, S. 15).
Inhaber des Anspruchs ist zunächst das Kind – wie sich aus dem Wortlaut eindeutig ergibt.
II. Einklagbarer Anspruch
Der Anspruch auf einen Krippenplatz kann damit – nach Antrag und ggf. erfolglosem Widerspruchsverfahren – im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durchgesetzt werden. Man kann auf die umfangreiche Literatur und Rechtsprechung zum Anspruch auf einen Kindergartenplatz zurückgreifen (vgl. etwa OVG Lüneburg v. 24.1.2003 – 4 ME 596/02, NJW 2003, 1826; VG Göttingen v. 21.8.1998 – 2 B 2297–98, NVwZ-RR 1999, 130; Wiesner/Struck, SGB VIII, 4. Auflage 2011, § 24 Rn. 7ff. m.w.N.; wirklich gute Darstellung bei Gregorii, NJW 1996, 686).
Der Anspruch richtet sich gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe (vgl. § 24 Abs. 3 S. 2 SGB VIII n.F.). Dieser wird durch Landesrecht bestimmt (§ 69 Abs. 1 SGB VIII). Soweit sie keine Regelung getroffen haben, gilt die alte Rechtslage vor der Förderalismusreform fort, wonach die kommunalen Gebietskörperschaften zuständig waren.
Erfüllt werden kann der Anspruch nur durch ein bedarfsgerechtes Angebot; bei Berufstätigen Eltern bedarf es also eines Platzes in der Vormittagsgruppe (OVG Lüneburg v. 24.1.2003 – 4 ME 596/02, NJW 2003, 1826, 1827). Erforderlich ist wohl eine Mindestbetreuungszeit von etwa sechs Stunden (so zu Kindergartenplätzen Gregorii, NJW 1996, 686, 688) Allerdings haben die Eltern keinen Anspruch auf einen ganz bestimmten Platz. Noch etwas unklar ist, inwieweit der Träger sich auf Unmöglichkeit (allgemeiner Rechtsgedanke des § 275 Abs. 1 BGB) berufen kann, weil die Kapzitäten nicht ausreichen.
Das OVG Lüneburg (OVG Lüneburg v. 24.1.2003 – 4 ME 596/02, NJW 2003, 1826, 1827) führte dazu aus:

 „Dem somit glaubhaft gemachten Anspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes in einer Vormittagsgruppe eines ortsnahen Kindergartens kann der Ag. nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Kapazität der in Betracht kommenden Kindergärten sei erschöpft. Dies kann nur dann gelten, wenn alle tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten erschöpft sind, das Kind in eine Vormittagsgruppe eines Kindergartens aufzunehmen (vgl. Rechtsprechung des BVerfG zur Zulassungsbeschränkung im Hochschulrecht: BVerfGE 33, 303 = NJW 1972, 1561; BVerfGE 51, 130 = NJW 1979, 1541).“

Dieser Rechtsansicht wird man wohl nicht folgen können. Bei Studienplätzen besteht nur eine Verpflichtung dazu, angemessene Kapazitäten vorzuhalten. Innerhalb dieser darf dann ein Zulassungsanspruch abgelehnt werden, soweit ermessenfehlerfrei (Art. 3 Abs. 1 GG) ausgewählt wurde. Hier jedoch besteht ausdrücklich ein Anspruch JEDES Kindes auf einen Krippenplatz. § 24 SGB Abs. 2 SGB VIII n.F. (und die Übergangsvorschrift des § 24a SGB VIII) zielen gerade darauf ab, entsprechende Kapazitäten zu schaffen. Einzig relevanter Einwand kann daher sein, dass es nicht möglich ist, schnell genug ausreichende Kapazitäten zu schaffen (vgl. auch Gregorii, NJW 1996, 686, 689 zu Kindergartenplätzen). Allgemein die Berufung auf unzureichende Kapazitäten zuzulassen, würde dagegen die dauerhafte Vereitelung des Gesetzeszweckes ermöglichen. Das kann man nicht zulassen.

 Anmerkung: A.A. natürlich vertretbar, insbesondere mit dem Hinweis auf das scharfe Schwert des dann bestehenden Staatshaftungsanspruchs – s. dazu sogleich.

Zur prozessualen Durchsetzung (für die mündliche Prüfung insb.):

  •  Verwaltungsrechtsweg: § 40 Abs. 1 VwGO (eine abdrängende Zuweisung zu den Sozialgerichten besteht nach § 51 SGG nicht).
  •  Klageart: Üblicherweise Verpflichtungsklage; auch soweit die Gemeinde ihre Kinderkrippen privatrechtlich organisiert hat. Hier gilt die Zwei-Stufen-Theorie. Genauer dazu den Beitrag zur Nutzung gemeindlicher Einrichtungen .
  •  Einstweiliger Rechtsschutz (Beispiel: VG Göttingen v. 21.8.1998 – 2 B 2297–98, NVwZ-RR 1999, 130): Hier geht es um einen Fall des § 123 Abs. 1 VwGO (Argumente wie bekannt: Verpflichtungsklage in Hauptsache bzw. Wiederherstellung aufschiebender Wirkung würde nicht genügen). Auch eine Vorwegnahme der Hauptsache ist wegen Art. 19 Abs. 4 GG hinzunehmen, auch wenn dies eigentlich Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes widerspricht (vgl. Gregorii, NJW 1996, 686, 689).

III. Sekundäransprüche
 1. Schadensersatz nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG
Bereits für den Kindergartenplatz war anerkannt, dass das Versäumnis, ausreichende Kapazitäten zu schaffen eine Amtspflichtverletzung für die Behördenspitze des jeweils zuständigen Verwaltungsträgers (meist der Gemeinden) darstellt. Der Bürgermeister einer Gemeinde muss also für ausreichende Kapazitäten sorgen, ansonsten hat er seine durch § 24 SGB VIII begründete Pflichten verletzt. Da der sich abzeichende Kapazitätsengpass zu erkennen war, ist die Verletzung auch schuldhaft (zumindest fahrlässig). Zu all dem für die Kindergartenplätze Gregorii, NJW 1996, 686, 689f. Im Einzelnen kann man argumentieren:
Aus § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. und davor aus § 24a SGB VIII folgt ganz eindeutig die Rechtspflicht, angemessene Betreuungskapazitäten zu schaffen. Diese trifft die zuständigen Amtsträger. Nach den Gemeindeordnungen sind der Bürgermeister der Gemeinde und der Rat gemeinsam zuständig. Der Bürgermeister ist verantwortlich für die Leitung und Beaufsichtigung des Geschäftsganges der gesamten Verwaltung (§ 62 GO NRW); der Rat kann alle Angelegenheiten an sich ziehen, § 41 GO NRW. Deshalb trifft sie jedenfalls zusammen die Pflicht, für ausreichende Kapazitäten zu sorgen. Dass eine genaue Schuldzuweisung zwischen Rat und Bürgermeister nicht gelingt, ist unerheblich. Der Bürger kann nicht mit dem internen Aufbau der Verwaltung belastet werden.
Allerdings ist die Schaffung entsprechender Krippenplätze zunächst eine objektiv-rechtliche Pflicht, deren Verletzung nicht ohne weiteres „dem Bürger gegenüber obliegt“ (vgl. § 839 Abs. 1 BGB). Aus der Formulierung folgt, dass die verletzte Amtspflicht eine Pflicht sein muss, die nicht nur gegenüber der Allgemeinheit besteht, sondern den Zweck hat, mindestens auch die Interessen gerade des Geschädigten wahrzunehmen. Das ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Amtspflichtverstoß wie hier zugleich eine Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte des Geschädigten darstellt (BGH NJW 1983, 215). Dies ist hier erst der Fall, wenn am 1.8.2013 der neue § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F. einen subjektiven Leistungsanspruch begründet. Dann entsteht eine drittbezogene Amtspflicht, die der zuständige Amtsträger durch ungenügenden Vorbereitung verletzten konnte. Die Verletzung ist auch schuldhaft (s.oben). Der Anspruch besteht auch gegenüber den Eltern; zwar sind die Kinder Anspruchsberechtigte des § 24 Abs. 2 SGB VIII n.F., aber die Norm ist auch den Eltern zu dienen bestimmt (vgl. auch Gregroii, NJW 1996, 686, 689f.; hier kann man auch A.A. sein, so wohl Wiesner/Struck, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 24 Rn. 26f.). Letztlich kommt es darauf ab nicht unbedingt an, da die Eltern auch im Namen des Kindes entsprechende Leistungen „erwerben können“.
Ersatzfähig sind damit alle kausalen Schäden, allerdings kann nur Geldersatz gefordert werden (es geht ja im dogmatischen Ausgangspunkt um die Haftung des Beamten selbst, nicht um die des Staates). Es kann sich um erhebliche Summe handeln: Es sind alle finanziellen Nachteile, die durch die Versagung des Kindergartenplatzes entstanden sind, auszugleichen. Hierzu zählen insbesondere die Aufwendungen, die der Geschädigte zur Abwendung des Schadenseintrittes oder zur Geringhaltung des Schadens gemacht hat und die er nach Lage der Dinge für erforderlich halten durfte (vgl. Wiesner/Struck, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 24 Rn. 26f). Wenn Eltern zur Ermöglichung der eigenen Erwerbstätigkeit etwa eine Kindertagesmutter einstellen, können sie den die Kindergartenbeiträge überschießenden finanziellen Aufwand ersetzt verlangen. Ist die Verpflichtung einer Tagesmutter nicht möglich und muß deswegen ein Elternteil den Beruf aufgeben, so kann als Schaden der Verdienstausfall geltend gemacht werden (dazu Gregorii, NJW 1996, 686, 690).
Allerdings gilt nach § 839 Abs. 3 BGB: Kein Dulde und Liqudiere! Daher muss das Kind bzw. seine Eltern (je nachdem, wer den Anspruch stellt) vorher erfolglos den Verwaltungsrechtsweg beschritten haben!
2. Aufwendungsersatzanspruch nach §§ 670, 683, 677 BGB
In Betracht kommt auch ein Aufwendungsersatzanspruch nach §§ 670, 683, 677 BGB aus öffentlich-rechtlicher GoA. Führung eines fremden Geschäfts ist dann die Selbsterfüllung der Amtspflicht aus § 24 Abs. 3 SGB VIII. Gregroii bejahte für den Kindergartenplatz diesen Anspruch recht freihändig (NJW 1990, 686, 690ff.). Hier kann man ausführlich diskutieren. Ich würde ihn ablehnen. Die öffentliche Hand wird kaum derartige Fremdgeschäftsführung wollen. Sie ist wohl auch nicht ohne weiters nach § 679 BGB unbeachtlich. Nur weil eine entsprechende Amtspflicht besteht, muss die Erfüllung nicht zwingend im öffentlichen Interesse sein. Vielmehr droht die Umgehung des § 839 Abs. 3 BGB. Hinzu kommt noch, dass der Gesetzgeber selbst durch § 24a SGB VIII dafür sorgen wollte, dass die öffentliche Hand den Anspruch selbst erfüllen kann. Deshalb also M.E. kein öffentliches Interesse daran, dass gerade die Eltern selbst den Krippenplatz schaffen.
In jedem Fall ist in der Praxis die Erforderlichkeit (§ 670 BGB) kaum nachzuweisen, weil ohne entsprechenden Prozess nicht gezeigt ist, dass die öffentliche Hand den Anspruch wirklich nicht hätte erfüllen können.

31.05.2012/1 Kommentar/von Dr. Johannes Traut
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Johannes Traut https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Johannes Traut2012-05-31 08:04:292012-05-31 08:04:29Haftung für fehlende Krippenplätze?!
Tom Stiebert

VG Stuttgart zu Klagebefugnis im Verwaltungsrecht (speziell Schulrecht)

Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verwaltungsrecht

An einem gestern vom beck-Ticker veröffentlichten Urteil des VG Stuttgart (Az. 12 K 2286/11) wird die Bedeutung der Klagebefugnis in der verwaltungsrechtlichen Klausur gut verdeutlicht.
Das Gericht hatte zu entscheiden, ob ein Schüler Anspruch darauf hat, dass ein anderer Schüler, mit dem es in der Vergangenheit zu wiederholten streitigkeiten gekommen ist, nicht in dessen Schule aufgenommen wird.
Bereits die Zulässigkeit eines solchen Verlangens wurde vom Gericht unter Hinweis auf die fehlende Klagebefugnis vereint.
Das Gericht legt dazu dar:

„[Der Schüler] könne nicht geltend machen, durch dessen Aufnahme in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein. Die Befugnis des Schulleiters zur Aufnahme eines Grundschülers nach den maßgebenden Vorschriften des Schulgesetzes diene alleine dem öffentlichen Interesse (und dabei durchaus auch dem Schutz der Schule und ihrer Schüler insgesamt) und nicht auch dem Schutz konkreter einzelner Mitschüler.“

Diese Argumentation vollzieht die Voraussetzungen der erforderlichen Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO sehr gut nach. Demnach muss eine Verletzung in eigenen Rechten möglich sein.

  • Dies liegt dann vor, wenn der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes ist (sog. Adressatentheorie).

Problematisch ist das Vorliegen der Klagebefugnis aber dann, wenn der Verwaltungsakt nicht unmittelbar an den Kläger gerichtet ist. Auch hier muss eine Verletzung eigener Rechte möglich sein.

  • Dies ist nur dann erfüllt, wenn die maßgebliche Norm nicht allein die Allgemeinheit schützen will, sondern zumindest auch den Schutz Dritter (d.h. konkret des Klägers) bezweckt. Im Zweifel ist die Norm auszulegen, um zu ermitteln, ob ein Drittschutz intendiert ist. Nur dann liegt die Klagebefugnis vor.

Im konkreten Fall lag dies nach der Ansicht des VG Stuttgart nicht vor, sodass die Zulässigkeit der Klage zu verneinen war.

13.12.2011/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2011-12-13 09:52:542011-12-13 09:52:54VG Stuttgart zu Klagebefugnis im Verwaltungsrecht (speziell Schulrecht)

Über Juraexamen.info

Deine Zeitschrift für Jurastudium, Staatsexamen und Referendariat. Als gemeinnütziges Projekt aus Bonn sind wir auf eure Untersützung angewiesen, sei es als Mitglied oder durch eure Gastbeiträge. Über Zusendungen und eure Nachrichten freuen wir uns daher sehr!

Werbung

Anzeige

Neueste Beiträge

  • BGH zu Urheberrechtsstreit zwischen Grafikdesigner und FC Bayern
  • Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
  • Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Weitere Artikel

Auch diese Artikel könnten für dich interessant sein.

Gastautor

BGH zu Urheberrechtsstreit zwischen Grafikdesigner und FC Bayern

Rechtsgebiete, Startseite, Tagesgeschehen, Zivilrecht, ZPO

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. Darf der FC Bayern […]

Weiterlesen
06.02.2023/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-06 14:08:362023-02-06 14:09:39BGH zu Urheberrechtsstreit zwischen Grafikdesigner und FC Bayern
Gastautor

Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf. Ist das Betäubungsmittelstrafrecht – zumindest als Lehrmaterie – im […]

Weiterlesen
01.02.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-01 10:00:002023-01-25 11:49:57Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
Gastautor

Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. Ein nach §§ 823 […]

Weiterlesen
16.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-16 15:42:082023-01-25 11:42:19Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Support

Unterstütze uns und spende mit PayPal

Jetzt spenden
  • Über JE
  • Das Team
  • Spendenprojekt
  • Gastautor werden
  • Mitglied werden
  • Alumni
  • Häufige Fragen
  • Impressum
  • Kontakt
  • Datenschutz

© 2022 juraexamen.info

Nach oben scrollen