Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB – Ein Grundlagenbeitrag
Als eine vom Grundsatz pacta sunt servanda abweichende Regelung betrifft die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB den Fall, dass Umstände von vornherein fehlen oder nachträglich wegfallen, die für eine Vertragspartei so wesentlich sind, dass der Vertrag geändert oder aufgehoben werden muss, weil ein Festhalten am unveränderten Vertrag sich als unzumutbar darstellen würde. Dabei sind gerade Umstände maßgeblich, die die Vertragsgrundlage darstellen – die aber nicht Vertragsinhalt geworden sind. Aber welche konkreten Situationen sind hiermit gemeint? Dass die Norm den Rechtsanwender vor Probleme stellt, liegt schon im Wortlaut begründet, der „sowohl auf Tatbestands- wie auch Rechtsfolgenseite eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe oder wertungsbedürftiger Gesichtspunkte“ (so MüKoBGB/Finkenauer, 7. Aufl. 2016, § 313 Rn. 7) aufweist. Der vorliegende Beitrag soll die Grundzüge der Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB darstellen und typische Fallkonstellationen aufzeigen, um die Norm besser handhabbar zu machen.
A. Anwendbarkeit
§ 313 BGB erstreckt sich auf alle schuldrechtlichen Verträge (Palandt/Grüneberg, 77. Aufl. 2018, § 313 Rn. 7). Dabei kommt die Norm erst dann in Betracht, wenn keine spezielleren Regelungen vorliegen. Solche können sich ergeben aus
- vertraglichen Vereinbarungen (die auch im Wege der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB offenbar werden können); es ist hier insbesondere zu prüfen, ob ein Rücktritt oder eine auflösende Bedingung gemäß § 158 II BGB vereinbart wurde.
- gesetzlichen Sonderregelungen, z. B. § 490 BGB oder §§ 530, 531 BGB, ebenso Rücktritts- und Kündigungsvorschriften sowie die Vorschriften über die Mängelhaftung (§§ 434 ff. BGB). § 313 BGB wird auch durch die Vorschriften der Unmöglichkeit verdrängt, denn Unmöglichkeit gemäß § 275 BGB führt automatisch zum Ausschluss der Leistungspflicht, sodass für eine Vertragsanpassung kein Raum mehr bleibt (zur Abgrenzung zur praktischen Unmöglichkeit i.S.v. § 275 II BGB s. u.). Auch vorrangig sind die Regeln der Anfechtung wegen Irrtums gemäß §§ 119 f. BGB.
Anmerkung: Sofern es sich um einen beiderseitigen Motivirrtum handelt, der ohnehin nicht zur Anfechtung nach §§ 119 f. BGB berechtigt, ist der Anwendungsbereich des § 313 BGB eröffnet. Umstritten ist, wie der Fall eines beiderseitigen Irrtums zu behandeln ist, der zur Anfechtung berechtigt. Da es dann vom Zufall abhinge, wer anficht und dem Vertragspartner die Ersatzpflicht nach § 122 BGB aufbürdet, wird teilweise dafür plädiert, auch hier auf § 313 BGB zurückzugreifen (zum Streitstand s. etwa MüKoBGB/Finkenauer, 7. Aufl. 2016, § 313 Rn. 146 ff.).
B. Voraussetzungen
I. Reales Element
Zunächst ist erforderlich, dass es sich um die Geschäftsgrundlage handelt, mithin um einen Umstand, dessen (Fort-)Bestand von jedenfalls einer Vertragspartei vorausgesetzt wurde – der zwar nicht Vertragsinhalt geworden ist, aber der nach der Intention zumindest einer Partei erforderlich ist, um den Vertrag als sinnvolle Regelung aufrechtzuerhalten (Palandt/Grüneberg, 77. Aufl. 2018, § 313 Rn. 4). Dies muss für den Vertragspartner auch erkennbar gewesen sein; einseitige Motive genügen nicht. Zur Bestimmung des Begriffs der Geschäftsgrundlage greift die Rechtsprechung auf subjektive Kriterien zurück (s. etwa BGH v. 5.1.1995 – IX ZR 85/94, DNotZ 1995, 399, 401); möglich ist es aber auch, eine Bestimmung anhand objektiver Faktoren vorzunehmen, wenn die Parteien keine konkreten Vorstellungen hatten (hierzu s. Palandt/Grüneberg, 77. Aufl. 2018, § 313 Rn. 4).
II. Wegfall oder Fehlen dieses Umstandes
Dieser Umstand muss entweder nachträglich weggefallen sein bzw. sich schwerwiegend verändert haben (§ 313 I BGB) oder von vornherein fehlen (§ 313 II BGB).
Anmerkung: Die Störung der Geschäftsgrundlage kann entweder aus Faktoren resultieren, die lediglich für den konkreten Vertrag Bedeutung haben (kleine Geschäftsgrundlage), oder aber auf grundlegenden Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Rahmenbedingungen beruhen (große Geschäftsgrundlage) (Palandt/Grüneberg, 77. Aufl. 2018, § 313 Rn. 5).
III. Hypothetisches Element
Weiterhin muss der Umstand, der von der Vertragspartei vorausgesetzt wurde, so wesentlich sein, dass sie ohne ihn den Vertrag nicht bzw. zu anderen Konditionen abgeschlossen hätte. Hier muss also die Frage gestellt werden, ob die Partei den Vertrag ggf. mit anderem Inhalt abgeschlossen hätte, wenn sie die wesentliche Veränderung des Umstands vorhergesehen hätte.
IV. Normatives Element
Schließlich ist zu prüfen, ob der Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag zugemutet werden kann. Hierbei handelt es sich um eine normative Wertungsentscheidung, die eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erfordert. Wie § 313 I BGB vorgibt, fließen hierbei insbesondere vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilungen ein. Unzumutbarkeit ist folglich nicht gegeben, wenn es sich um einen Umstand handelt, der dem Risikobereich der Vertragspartei zuzuordnen ist.
Beispiel: Ein Bürge kann sich nicht vom Bürgschaftsvertrag über § 313 I BGB lösen, wenn er nachträglich erfährt, dass der Hauptschuldner zahlungsunfähig ist – das gehört ja gerade zum Risiko des Bürgschaftsvertrags.
C. Typische Fallkonstellationen
Da, wie eingangs erwähnt, die Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe die Handhabung des Instituts erschwert, haben sich verschiedene – nicht abschließende – Fallgruppen herausgebildet, in denen § 313 BGB als einschlägig erachtet wird:
- Äquivalenzstörung: Hierbei führt die nachträgliche Veränderung dazu, dass das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung erheblich und unvorhersehbar gestört wird, was dem allgemeinen Gedanken der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung widerspricht, z.B. im Falle einer Inflation.
- Wirtschaftliche Unmöglichkeit: Hierunter fallen nachträgliche Erschwerungen des Schuldners aufgrund unerwartet hoher Kosten, die zu einem unzumutbar hohen Aufwand für ihn führen, zur Abgrenzung zu § 275 II BGB s.u.
- Zweckstörung: Eine solche ist gegeben, wenn die Herbeiführung des Leistungserfolgs zwar noch möglich ist, der Gläubiger aber aufgrund erheblich veränderter Bedingungen kein Interesse mehr an der Leistung hat. Zu beachten ist, dass grundsätzlich den Gläubiger das Risiko der Verwendung der Leistung trifft; demnach kann eine relevante Zweckstörung nur vorliegen, wenn der Vertragspartner sich den Verwendungszweck ebenfalls so zu Eigen gemacht hat, dass das Verlangen nach Vertragserfüllung Treu und Glauben widerspräche (s. etwa Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, Rn. 533).
- Beiderseitiger Motivirrtum, der nicht zur Anfechtung berechtigt; nach e.A. ebenso beiderseitige Irrtümer, die zur Anfechtung berechtigen (str.), s.o.
- Unbenannte Zuwendungen: Hierbei geht es um die Erbringung nicht äquivalenter Leistungen im Rahmen eines Kooperationsvertrags sui generis zur Verwirklichung oder Aufrechterhaltung von Lebensgemeinschaften, z.B. Schenkungen zwischen Ehegatten, weil von der dauerhaften Stabilität der Beziehung ausgegangen wird (str.). Auch hier ist der Anwendungsbereich sehr begrenzt: Die Zuwendungen müssen „die Grenze überschreiten, jenseits derer sie nicht mehr als Ausgleich für geleistete Mitarbeit oder als angemessene Beteiligung an den Früchten des ehelichen oder gemeinschaftlichen Zusammenwirkens und Wirtschaftens angesehen werden können“ (MüKoBGB/Finkenauer, 7. Aufl. 2016, § 313 Rn. 287).
D. Abgrenzungsprobleme
I. Praktische (auch: faktische) Unmöglichkeit gemäß § 275 II BGB
Insbesondere problematisch erscheint die Abgrenzung der praktischen Unmöglichkeit gemäß § 275 II BGB zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit, die über § 313 BGB gelöst wird. Bei der praktischen Unmöglichkeit i.S.v. § 275 II BGB handelt es sich um „Leistungshindernisse, die nur mit völlig unverhältnismäßigem Aufwand überwunden werden können“ (Looschelders, Schuldrecht AT, Rn. 474) – oftmals erläutert anhand des verkauften Ringes, der bei der Übergabe ins Meer fällt. Theoretisch ist es zwar möglich, diesen wieder vom Meeresgrund zu holen; gleichwohl steht hier der für die Leistung erforderliche Aufwand in einem groben Missverhältnis zum Gläubigerinteresse. Der Unterschied zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit besteht darin, dass i.R.v. § 275 II BGB ausschließlich das Interesse des Gläubigers am Erhalt der Leistung maßgeblich ist, während i.R.v. § 313 BGB auf den Aufwand des Schuldners, der in einem Missverhältnis zur Gegenleistung steht, abgestellt wird (BT-Drucks. 14/6040, S. 130). Das heißt: Praktische Unmöglichkeit liegt vor, wenn „die Behebung des Leistungshindernisses zwar theoretisch möglich wäre, aber von keinem vernünftigen Gläubiger ernsthaft erwartet“ werden kann. Wirtschaftliche Unmöglichkeit liegt vor, wenn der Aufwand des Schuldners die Opfergrenze überschreitet, sodass er nach Treu und Glauben nicht mehr zur Erbringung der Leistung verpflichtet ist (Canaris, JZ 2001, 499, 501).
II. Zweckverfehlungskondiktion gemäß § 812 I 2 Alt. 2 BGB
Auch die Abgrenzung zur condictio ob rem erscheint auf den ersten Blick schwierig. Im Rahmen des § 313 BGB wird aber ein Umstand vorausgesetzt, wohingegen der verfehlte Zweck im Rahmen von § 812 I 2 Alt. 2 BGB ein vereinbarter ist. Bei der Zweckverfehlungskondiktion ist also eine Zweckabrede erforderlich, die allerdings auch konkludent zustande kommen kann (MüKoBGB/Finkenauer, 7. Aufl. 2016, § 313 Rn. 179).
E. Rechtsfolge
Wenn die Voraussetzungen des § 313 BGB vorliegen, kann primär die Anpassung des Vertrags verlangt werden. Ist dies nicht möglich oder der anderen Partei nicht zumutbar, kann die benachteiligte Vertragspartei gemäß § 313 III BGB zurücktreten oder – bei Dauerschuldverhältnissen – kündigen.
F. Fazit
Mag die Norm aufgrund der Vielzahl unbestimmter Begriffe den Rechtsanwender vor Probleme stellen, so sollte insbesondere im Hinterkopf behalten werden, dass sie nur in evidenten Sonderkonstellationen einschlägig ist; da ein von einer Vertragspartei vorausgesetzter Umstand oftmals dem Risikobereich ebendieser Partei zuzuordnen ist, wird ein Festhalten am unveränderten Vertrag regelmäßig zumutbar erscheinen – der Grundsatz ist eben pacta sunt servanda.
Aus den §§ 242, 280 BGB soll ein Schutzanspruch folgen. Bei Störung der Geschäftsgrundlage kann damit eventuell ein Anspruch zu verhältnismäßiger Vertragsanpassung oder Vertragsauflösung folgen. Dies sofern die Gegenseite insoweit keine Riskotragung erkennbar obliegt. § 313 BGB kann solch Verständnis enger konkretisieren. Solch engerer Konkretisierung kann dabei grundsätzlich weniger ein weitergehendes Regelinteresse entsprechen.
Sofern Konstellationen der Geschäftsgrundlage als Vertragspflichtfälle aufzufassen sind, können bisher schwierige (Abgrenz-)Probleme wenigstens teils als über Vertragspflichtregeln mit erfasst zu verstehen sein, wie über Unmöglichkeitsregeln etwa bei Zweckstörung etc.
Eine problematik der Abgrenzung zu wirtschaftlicher Unmöglichkeit kann an Bedeuutng vermindert scheinen. Motivirrumfälle können als Zweckkstörungsfälle zu behandeln sein etc.
Ein speziel nötiger Anwendungsfall für § 313 BGB sollte zumindest von minderer Bedeutung erscheinen können.