Sachverhalt der 1. ÖffRecht Examensklausur – Juni 2011 – 1. Staatsexamen NRW und HH
Im Folgenden findet sich ein Gedächtnisprotokoll zur ersten ÖffRecht-Klausur im 1. Staatsexamen im Juni 2011 in NRW und Hamburg. Aufgrund des Umfangs des Sachverhalts sind Ergänzungen gerne erwünscht.
Sachverhalt
Die Stadt Köln ordnet am 10.01.2010 für die E-Straße an, dass Radfahrer sich in Zukunft den Gehweg mit Fußgängern teilen müssen (Zeichen 240). Die E-Straße liegt zwischen der M- Straße und der D-Straße. Eine Verkehrszählung am 1.08.2010 hat ergeben, dass Radfahrer überwiegend trotzdem auf der Straße anstatt auf dem Radweg fahren. Die E-Straße ist kurvenarm und Nachts durch Straßenlaternen ausreichend beleuchtet. Die Höchstgeschwindigkeit für Kfz beträgt 60km/h (Zeichen 274). Auf der Strecke verkehren die Omnibuslinien 2 und 4 im 20-Minuten-Takt. Die Fahrbahnbreite beträgt 5.xx m, der Gehweg ist 2.55m breit. Hinter der M-Straße Richtung D-Straße gibt es eine Fahrbahnverengung, sodass dort die Straße nur noch 5m, der Radweg nur noch 2m breit sind.
J ist begeisterter Fahrradfahrer und benutzte die E-Straße ab Juli 2010, um mit dem Rad zu seiner Arbeitsstelle zu kommen. J ist mit der Anordnung nicht einverstanden, da er wegen der deutlich langsameren, anderen Radfahrer nicht schnell genug fahren kann. Deswegen erhebt er am 1.2.2011 beim zuständigen Verwaltungsgericht Klage und verlangt die Beseitigung des Verkehrszeichens. Die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 45 Abs.1, Abs.9 S.2 StVO iVm. den einschlägigen Verwaltungsvorschriften zur StVO (VwV-StVO) seien nicht erfüllt. Insbesondere fehle es schon an der Erforderlichkeit der Maßnahme aus Gründen der Verkehrssicherheit. Im Jahr 2010 hätte es an der betreffenden Stelle so gut wie gar keine Unfälle mit Radfahrern gegeben. Übertretungen hinsichtlich der Höchstgeschwindigkeit begründen auch keine besondere Gefahrenlage, da jeder Verkehrsteilnehmer auf langsamere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen müsse. Die Anordnung belaste die Radfahrer unzulässig und verstoße gegen den restriktiv anzuwendenen § 45 Abs.9 S.2 StVO.
Die zuständige Behörde hält die Klage für verfristet. Überdies fehle es auch an einer Klagebefugnis, da Popularklagen gerade ausgeschlossen werden müssten. J habe seit Februar 2011 keinen Wohnsitz mehr in Köln und benutzte die Straße nur noch gelegentlich um Freunde zu besuchen. Für eine Klagebefugnis müsse aber sein persönlicher Lebensbereich mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Nachhaltigkeit beeinträchtigt sein. Außerdem könne nicht einfach jeder Bürger wegen jedes in der Bundesrepublik Deutschland erlassenen Verkehrszeichens einfach so klagen.
Die Behörde sieht daneben die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 I StVO als erfüllt an. Die Anordnung sei rechtmäßig und diene der Entmischung und Entflechtung der Verkehrssituation nach § 45 I StVO zum Schutze der Radfahrer als schwächere Verkehrsteilnehmer. Die Beachtung von Verwaltungsvorschriften könne J mangels Außenwirkung nicht verlangen. Die Maßnahme sei nicht an § 45 Abs.9 S.2 StVO zu messen, da hiernach nur Beschränkungen oder Verbote im Sinne von Anlage 2 zu § 41 Abs.1 StVO erfasst seien. Ein Radweg unterfalle dem aber nicht, sondern sei ein Sonderweg. Sollte § 45 Abs.9 S.2 StVO anwendbar sein, so habe jedenfalls eine besondere Gefährdungslage vorgelegen. Die Erfahrung habe – was zutrifft – gezeigt, dass die geltende Höchstgeschwindigkeit regelmäßig überschritten werde. Durch auf der Straße fahrende Radfahrer werde auf Höhe der Engstelle zudem das Überholen unmöglich gemacht, da sonst kein Platz mehr für den Gegenverkehr gegeben sei.
Wie wird das Verwaltungsgericht über die Klage des J entscheiden?
Bearbeitervermerk
1. Es ist davon auszugehen, dass die Anordnung formell rechtmäßig ist.
2. Die im nachfolgenden nicht abgedruckten Verwaltungsvorschriften sind für die Anfertigung der Aufsichtsarbeit nicht von Belang
3. Es ist davon auszugehen, dass der Radweg gemäß § 2 Abs.4 StVO iVm Ziff II 2 a) VwV-StVO benutzbar ist
4. Es ist davon auszugehen, dass die Anwendung der VwV-StVO der gängigen Verwaltungspraxis entspricht
Das war abgedruckt:
Verwaltungsvorschrift (VwV) zur StVO
Zu Absatz 4 Satz 2
…
Benutzungspflichtige Radwege dürfen nur angeordnet werden, wenn ausreichende Flächen für den Fußgängerverkehr zur Verfügung stehen. Sie dürfen nur dort angeordnet werden, wo es die Verkehrssicherheit oder der Verkehrsablauf erfordern. Innerorts kann dies insbesondere für Vorfahrtstraßen mit starkem Kraftfahrzeugverkehr gelten.
…
II. Radwegebenutzungspflicht
Ist aus Verkehrssicherheitsgründen die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht mit den Zeichen 237, 240 oder 241 erforderlich, so ist sie, wenn nachfolgende Voraussetzungen erfüllt sind, vorzunehmen.
Voraussetzung für die Kennzeichnung ist, dass
2. die Benutzung des Radweges nach der Beschaffenheit und dem Zustand zumutbar sowie die Linienführung eindeutig, stetig und sicher ist. Das ist der Fall, wenn
a) er unter Berücksichtigung der gewünschten Verkehrsbedürfnisse ausreichend breit, befestigt und einschließlich eines Sicherheitsraums frei von Hindernissen beschaffen ist. Dies bestimmt sich im allgemeinen unter Berücksichtigung insbesondere der Verkehrssicherheit, der Verkehrsbelastung, der Verkehrsbedeutung, der Verkehrsstruktur, des Verkehrsablaufs, der Flächenverfügbarkeit und der Art und Intensität der Umfeldnutzung. Die lichte Breite (befestigter Verkehrsraum mit Sicherheitsraum) soll in der Regel dabei durchgehend betragen:
…
bb) Zeichen 240
– gemeinsamer Fuß- und Radweg
innerorts mindestens 2,50 m
außerorts mindestens 2,00 m
Ausnahmsweise und nach sorgfältiger Überprüfung kann von den Mindestmaßen dann, wenn es aufgrund der örtlichen oder verkehrlichen Verhältnisse erforderlich und verhältnismäßig ist, an kurzen Abschnitten (z. B. kurze Engstelle) unter Wahrung der Verkehrssicherheit abgewichen werden.
Diesselbe lief heute auch in Hamburg.
Jep,
exakt der selbe Fall wie heute in Hamburg…
Da waren die ja mal kreativ drauf, die Leute. -.-
Was habt ihr in der Begründetheit geprüft?
Vor allen Dingen falsches! I.RGL: 45 IX s.2 Stvo II.Voraussetzungen: a) formell: Z V F (+) b) Materiell: dann habe ich aus unglaublicher Dummheit den Gefahrentatbestand relativ unproblematisch bejaht!!! Was wohl leider der Schwerpunkt des Falles war. III. Ermessen: Im Fehlgebrauch hab ich geprüft ob die Erwägungen der Behörde ordnungsgemäß waren. Was ich dann bejaht hab. Mir blieb gar nichts anderes übrig nachdem ich die Gefahrenlage bejaht habe. Denke der Sachverhalt war darauf ausgelegt, dass die materiellen Voraussetzungen des 45 IX S.2 StVO schlicht nicht vorlagen. Naja hoffe morgen auf Grundrechte.
wenn ich mal laut denken darf:
Probleme:
(1)Statthafte Klageart: VA? Allgemeinverfügung; auch wirksam? Bekanntgabe? eigener Bekanntgabebegriff der StVO! evtl. Wandel der Rspr. darstellen?
(2)Klagebefugnis: möglichkeit der rechtsverletzung besteht ja immer noch! (Freunde gelegentlich besuchen); für weitergehende Anforderungen gibt es keine Anhaltspunkte bei §42 II
(3) klagefrist: wann beginnt Frist zu laufen? §58 abs. 2 berücksichtigen
begründetheit:
ermächtigungsgrundlage: §§39, 45 StVO
formell: (+) zuständig, verfahren (Anhörung entfällt), form
materiell: zwingend geboten? erhöhte gefahrenlage wg. örtlicher besonderheiten? (satz2) wohl nicht; Rückgriff auf Verwaltungsvorschriften entbehrlich
argument der behörde kann nicht fruchten: mit der allgemeinen entflechtung könnte man ja jeden Radweg begründen; das dreht aber gerade das Regel Ausnahem Verhältnis des § 2 IV StVO um
aber andere bewertung vllt bei der Fahrbahnverengung: da vllt erhöhte Gefahr; rückgriff auf verwaltungsvorschriften? keine außenwirkung; aber selbstbindung der verwaltung, vgl. Bearbeitervermerk
hier ist er aber nicht ausreichend breit (2meter) (falls ich den SV richtig verstanden habe)
„hinter der M Straße Richtung D Straße“ kann ich mir bildlich nicht vorstellen, wenn dazwischen die E straße ist
klage wäre also begründet
ich habe die arbeit nicht mitgeschrieben; würde mich aber interessieren, was ihr geschrieben habt
ergänzung: verbot liegt auch vor (entgegen Begründung der Behörde), da die Fahrbahn nicht mehr benutzen darf
ich habe die klausur selbst nicht mitgeschrieben, aber ich glaube, dass ein Problem auch in der Zulässigkiet lag, und zwar in der Klagefrist, die ja eigentlich schon abgelaufen war – denn Verkehrszeichen im Januar 2010 aufgestellt und auch wirksam gewesen- aber Klage erst Februart 2011. Gab es dazu nicht erst neulich eine Entscheidung des BverwG wonach Bekanntgabe eines Verkehrszeichens gegenüber dem Einzelnen erst dann erfolgt, wenn man in den räumlichen Bereich des Verkehrszeichens gelangt ist? Demnach hier also erst ab Juli – daher wäre die Klagefrist eingehalten?
Jamilia, genau so ist es auch!!Die Klagefrist endet erst im Juli 2011
zulässigkeitsprobleme dürften soweit zutreffend erkannt sein
in der begründetheit kommt es insbesondere auf
BVerwG, 18.11.2010 – 3 C 42.09 an:
„Eine Radwegebenutzungspflicht darf nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung erheblich übersteigt (§ 45 Abs. 9 Satz 2 der Straßenverkehrs-Ordnung – StVO).“
der sachverhalt gibt an:
„Die Erfahrung habe – was zutrifft – gezeigt, dass die geltende Höchstgeschwindigkeit regelmäßig überschritten werde. Durch auf der Straße fahrende Radfahrer werde auf Höhe der Engstelle zudem das Überholen unmöglich gemacht, da sonst kein Platz mehr für den Gegenverkehr gegeben sei.“
aber:
Die E-Straße ist kurvenarm und Nachts durch Straßenlaternen ausreichend beleuchtet.
Im Jahr 2010 hätte es an der betreffenden Stelle so gut wie gar keine Unfälle mit Radfahrern gegeben. Übertretungen hinsichtlich der Höchstgeschwindigkeit begründen auch keine besondere Gefahrenlage, da jeder Verkehrsteilnehmer auf langsamere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen müsse.
An welcher Stelle habt ihr die Verwaltungsvorschrift geprüft?
Seid ihr auf die Rechtmäßigkeit eingegangen?