Zivilrecht Klassiker – Flugreisefall
Nach langer Zeit bringen wir mit dem Flugreisefall (BGH-Urteil vom 7. Januar 1971 – VII ZR 9/70, BGHZ 55, 128 = NJW 1971, 609) mal wieder ein BGH-Klassiker aus dem Zivilrecht.
Sachverhalt:
Der Beklagte flog wenige Tage vor Vollendung seines 18. Lebensjahres nach Erwerb eines entsprechenden Flugscheins mit einer Linienmaschine der Klägerin von München nach Hamburg. Dort gelang es ihm, mit den Transitpassagieren das Flugzeug wieder zu besteigen und an dem Weiterflug nach New York teilzunehmen, ohne dass er im Besitz eines Flugscheins für diese Strecke gewesen wäre. In New York wurde ihm die Einreise in die USA verweigert, weil er kein Visum hatte. Die Klägerin beförderte ihn daraufhin noch am selben Tag zurück nach München. Sie verlangt von ihm unter anderem die Zahlung des tariflichen Flugpreises für die Strecke Hamburg/New York.
Lösung:
1. Vertragliche Ansprüche aus Werkvertrag gemäß §§ 631, 632 II BGB bzw. gemischttypischen Vertrag bestehen nicht, da schon überhaupt kein Vertragsverhältnis zustande gekommen ist. Auch ein konkludenter Vertragsschluss oder ein faktischer Vertrag kommen nicht in Frage, da die Fluggesellschaft von vornherein nur Personen mit Flugschein befördern will, und nicht jeden, der das Flugzeug mit besteigt. Außerdem ist M minderjährig, so dass ohne Genehmigung der Eltern auch von daher kein Vertragsschluss zustande kommt.
2. Ansprüche aus c.i.c. gemäß §§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB scheiden ebenfalls aus, da es zum einen an einem vorvertraglichen Schuldverhältnis i.S.d. § 311 II Nr. 1 BGB fehlt und des Weiteren der Minderjährigenschutz vorgeht.
3. Deliktische Ansprüche (§ 823 I BGB, § 823 II BGB i.V.m. § 265a StGB) kommen mangels Schaden nicht in Betracht, weil die Maschine nicht ausgebucht war und der Lufthansa damit kein Schaden entstanden war.
4. Begründet ist jedoch ein Anspruch in Form der Nichtleistungskondiktion nach § 812 I 1 Alt. 2 BGB, sogenannte Eingriffskondiktion.
Fraglich ist jedoch, ob sich der Beklagte, der sich keine Aufwendungen erspart hatte, gem. § 818 III auf den Wegfall der Bereicherung berufen kann. Das kann er nicht, wenn er bösgläubig war (§§ 819 I, 818 IV BGB). Zu entscheiden war dabei die Frage, ob und unter welchen Umständen die Kenntnis des Minderjährigen selbst ausreichend ist. Der BGH stellt hier zumindest für die Fälle, in welchen sich der Minderjährige das Erlangte durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung verschafft, wegen der Nähe der Eingriffskondiktion zum Deliktsrecht auf die Einsichtsfähigkeit des Minderjährigen nach § 828 Abs. 3 BGB ab.
Im Folgenden die amtlichen Leitsätze der BGH-Entscheidung:
a) Wer ohne Rechtsgrund eine geldwerte Leistung in Anspruch nimmt (hier: eine Flugreise), die er sich anderweitig nicht verschafft hätte und durch die auch sonst sein Vermögen nicht vermehrt worden ist, muss sich gleichwohl so behandeln lassen, als hätte er die dafür übliche bzw. angemessene Vergütung erspart, wenn er den Mangel des rechtlichen Grundes beim Empfang der Leistung kannte.
b) Handelt es sich um einen kurz vor der Vollendung seines 18. Lebensjahres stehenden Minderjährigen, so kommt es auf dessen Kenntnis (und nicht die seines gesetzlichen Vertreters) jedenfalls dann an, wenn er sich in den Genuß der Leistung durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung gebracht hat und die erforderliche Einsicht in die Erkenntnis hatte, zur unentgeltlichen Inanspruchnahme der Leistung nicht berechtigt zu sein.
Dies ist allerdings mit dem Gedanken des Minderjährigenschutzes nur schwer vereinbar, weshalb die wohl h.L. die §§ 104 ff analog anwendet. Eine andere Ansicht unterscheidet zwischen der (rechtsgeschäftsähnlichen) Leistungskondiktion, wo sie analog §§ 104 ff. analog auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters abstellt, und der deliktsähnlichen Eingriffskondiktion, wo sie die §§ 827, 828 analog anwendet.
Examensrelevanz:
Schwerpunkt dieses Zivilrecht Klassikers ist die Problematik des Wegfalls der Bereicherung nach § 818 III und des Ausschlusses der Berufung auf § 818 III im Falle der Bösgläubigkeit nach §§ 818 III, IV, 819 I bei Minderjährigen.
Der Flugreisefall gehört zum absoluten Standardrepetoire bei der Examensvorbereitung. Er eignet sich, um das komplette zivilrechtliche Prüfungsschema einmal abzufragen und die systematischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen zivilrechtlichen Rechtsgebieten zu überprüfen.
Wie sähe es denn für den Hinflug mit GoA-Ansprüchen aus: der Minderjährige und die Fluggesellschaft könnten jeweils unerlaubt ein Geschäft für einander geführt haben und daher einander grundsätzlich zum Schadensersatz, oder zur Herausgabe des Erlangten o.ä. verpflichtet sein? Nach teils anerkannter Rspr. sollen ja auf unwirksame Verträge GoA-Vorschriften anwendbar sein. Für den Hinflug könnten danach eventuell alle gegenseitig bestehenden Ansprüche einander aufheben?
Der Rückflug, bzw. die Rückflugkosten könnten dann weiter grundsätzlich im Rahmen von Naturalrestitution geschuldet sein (und daher keine GoA mehr sein). Jedoch könnte hier, je nach Einsichtsfähigkeit und danach Schuldfähigkeit des Minderjährigen im Einzelfall, ein Mitverschulden (eventuell hälftig o.ä.) mit zu berücksichtigen sein und daher insoweit ein Ersatzanspruch bestehen.
Problematisch wäre iRe GoA aber der Fremdgeschäftsführungswille der Airline. Zwar kann der FGW auch dann bejaht werden, wenn der Geschäftsführer (hier die Airline) eigene (vermeintliche) Verbindlichkeiten erfüllen will, jedoch dürfen diese nicht gegenüber dem Geschäftsherrn bestehen. Würde man dies zulassen, so wäre die Leistungskondiktion nach § 812 I 1 Alt. 1 überflüssig. Der Geschäftsführer würde dann nämlich iRd GoA bewusst und zweckgerichtet das Vermögen des Geschäftsherrn mehren, also iSd § 812 I 1 Alt. 1 leisten. Liegt eine berechtigte GoA vor, ist diese jedoch Rechtsgrund iRd § 812 I 1 Alt. 1. Die Leistungskondiktion wäre damit obsolet.
Obwohl man das Problem der GoA natürlich ansprechen sollte. 😉
Die Fluggesellschaft hat den Minderjährigen faktisch an einen anderen Ort bewegt und somit ohne Berechtigung ein fremdes Geschäft des Minderjährigen geführt. Ein Fremdgeschäftsführungswille soll doch (nach der Rspr.) grds. widerleglich zu vermuten sein.
Fraglich könnte sein, ob man der Fluggesellschaft hier den Einwand durchgehen lassen kann, sie habe von dem Minderjährigen nichts gewusst.
Immerhin musste sie gewusst haben, dass sie im Fall eines „blinden Passagieres“ diesen an einen anderen Ort bewegt und somit für diesen unberechtigt faktisch ein fremdes Geschäft besorgt. M.E. könnte dies hier gegen eine Widerlegung des Fremdgeschäftsführungswillens gegenüber dem unberechtigten Minderjährigen an Bord sprechen.
I.Ü. könnte die Fluggesellschaft andernfalls noch für den Hinflug, unter Berücksichtigung eines evtl. Mitverschuldens auf Seiten des „blinden Passagiers“, zumindest hälftig für ein eigenes Verschulden (im Hinblick auf ein vorvertragliches Schuldverhältnis) haften. Dass sie den Minderjährigen mit an Bord gelassen und befördert hat, könnte jedenfalls ein diesbezüglich eigenes Verschulden der Fluggesellschaft nahelegen.
Die Anwendbarkeit von GoA-Regeln bei unwirksamen Verträgen ist ja recht umstr. Hier sollen nicht alle gängigen Argumente nochmals nachgekaut werden. Bin da im Detail auch weniger bewandert. Meine nur, mich zu erinnern, dass man hier in der Rspr. ansosten die Anwendbarkeit von GoA-Regeln grds. verbreitet für möglich halten will.
Aus einer Anwendbarkeit von GoA-Regeln muss hier ohnehin nicht zwangsläufig folgen, dass eine Leistungskondiktion völlig überflüssig wäre: denn nicht jede GoA muss beispielsweise eine „berechtigte“ sein. Vielmehr kann dies, meine ich, erst aus einer Willens-/ und Interessenabwägung folgen. Dabei könnte bei Leistungsaustausch etwa das Gesamtinteresse mit bedeutsam sein. Im Flugreisefall könnte eine berechtige GoA danach etwa fraglich sein, weil eine Fluggesellschaft grds. kein Interesse haben könnte, mit ungewissen Ansprüchen einen minderjährigen blinden Passagier mit zu befördern o.ä. Auch könnte hier bei Minderjährigen problematisch sein, inwieweit der Wille und das Interesse von gesetzlichen Vertertern mit zu bedeutsam sein müssten usw.
Schließlich könnte eine Leistungskondiktion ja eventuell noch zumindest bei der Rückabwicklung in Mehrpersonen-verhältnissen einige Berechtigung haben usw.
Bgzl. des Rückfluges hat die Fluggesellschaft einen GoA Anspruch (hab ich aus einem Fallbuch). D.h. dass der Minderjährige die Kosten von seinem Vermögen ersetzen muss??? Und wenn das Kind kein Vermögen hat? Müssen dann doch noch die Eltern zahlen? Und wenn ja, woraus folgt diese Pflicht? Aus §§ 1626 I, 1629 ???
Also der Anspruch aus GoA ist auf das Zurückbringen des Jungen von New York nach Deutschland gerichtet. Das ist ja unweigerlich eine Geschäftsführung ohne Auftrag, nämlich für die Eltern des Jungen. Der Anspruch richtet sich direkt gegen die Eltern. Das wird auch nicht bestritten.
Anders sieht es bei dem Hinflug nach New York aus. Da ist mMn schon kein fremdes Geschäft zu erkennen.