Wie am vergangenen Mittwoch und Donnerstag in diversen Medien zu lesen war, machte die Mutter von Beate Zschäpe im NSU-Prozess von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch (ließ z.B. auf SPON oder FAZ.NET) – ggf. ein willkommener Aufhänger, um in der mündlichen Prüfung mal wieder den Klassiker der Verwertbarkeit von Zeugenaussagen und die Stellung des Zeugnisverweigerungsrechts abzuprüfen. Im Einzelnen:
1. Warum kann Frau Zschäpe in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigern?
Dazu § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO: Danach kann das Zeugnis verweigern, wer mit dem Beschuldigten in gerade Linie Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war (!). Woher weiß man jetzt, dass die Mutter von Beate Zschäpe zu dem genannten Personenkreis gehört? Dazu muss man einen kleinen Exkurs ins Zivilrecht unternehmen, und zwar zu den Vorschriften der §§ 1589 und 1590 BGB: Während letztere Norm die Schwägerschaft legal definiert, behandelt § 1589 Abs. 1 BGB die Verwandtschaft. Nach S. 1 sind Personen, deren eine von der anderen abstammt, in gerader Linie verwandt, während nach S. 2 Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, in der Seitenlinie verwandt sind. Somit ergibt sich, dass Frau Zschäpe senior als Mutter mit ihrer Tochter in gerader Linie verwandt ist. Im Hinblick auf den Wortlaut des § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO ist außerdem zu beachten, dass die Vorschrift zwar vom „Beschuldigten“ spricht, aber natürlich auch in der Hauptverhandlung, in der es um die Verwandtschaft/Schwägerschaft zum „Angeklagten“ geht, Anwendung findet, was sich systematisch bereits daraus ergibt, dass sie sich im ersten Buch der StPO („allgemeine Vorschriften“) findet. Zuletzt vielleicht noch ein Hinweis zur Abgrenzung Zeugnisverweigerungsrecht – Auskunftsverweigerungsrecht: Während Frau Zschäpe als Mutter und Zeugnisverweigerungsberechtigte gar nichts sagen muss, könnten Personen, denen lediglich ein Auskunftsverweigerungsrecht zur Seite steht, lediglich die Beantwortung bestimmter Fragen verweigern – letzteres würde etwa für einen Bekannten der Angeklagten gelten, der sich durch die Beantwortung bestimmter Fragen der Gefahr aussetzt, sich selbst zu belasten (vgl. § 55 Abs. 1 StPO).
2. Wie steht es mit der Verlesung einer früheren Zeugenaussage in der Hauptverhandlung?
Eine Konstellation, die ausweislich der Berichterstattung in o.g. Medien offenbar auch im Fall der Mutter von Beate Zschäpe potentiell im Raum stand, da sie sich in einer früheren Vernehmung durch die Polizei im November 2011 trotz ihres Rechts zum Schweigen geäußert hatte. Dass Zeugnisverweigerungsrecht würde jedoch erheblich entwertet, wenn eine frühere Aussage des Zeugen bei späterer Verweigerung des Zeugnisses verlesen werden könnte. Insofern ist zu beachten, dass das Zeugnisverweigerungsrecht nach h.M. maßgeblich dazu dient, dem Zeugen Gewissenskonflikte zu ersparen, die sich durch die Pflicht zur Aussage ergeben würden. Diese Konfliktlage besteht aber ebenso, wenn die Aussage eines Zeugen, der nunmehr von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, „durch die Hintertür“, nämlich die Verlesung einer vormaligen Äußerung, doch noch verwertet werden könnte. Dem schiebt indes sowohl die Regelung des § 250 StPO als auch § 252 StPO einen Riegel vor: Nach erstgenannter Vorschrift darf die Vernehmung eines Zeugen nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden (sog. Unmittelbarkeitsgrundsatz). Und § 252 StPO bestimmt sogar explizit, dass die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht, nicht verlesen werden darf. Demgemäß ist die Verlesung einer früheren Vernehmung kein gangbarer Weg, um das Schweigerecht eines Zeugen zu umgehen.
3. Und wie wäre es in der letztgenannten Konstellation mit der Vernehmung des Vernehmenden?
Diese Variante ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Weder § 250 StPO noch § 252 StPO beziehen sich auf Personen, die eine frühere Vernehmung vorgenommen haben, da in den vorgenannten Normen nur Verlesungs-, aber keine Vernehmungsverbote (im Hinblick auf alternative, mittelbare Zeugen) niedergelegt sind. Dennoch bejaht der BGH in der Regel auch in diesem Fall ein Einführungs- und Verwertungsverbot der Aussage, was aus der bereits benannten Vorschrift des § 252 StPO hergeleitet wird: Insofern kann darauf verwiesen werden, dass die eigentliche Aussage dieser Vorschrift nicht allein den Konflikt zwischen aktueller Aussage und Verlesung einer früheren Aufzeichnung betreffen kann, da dieser bereits durch § 250 StPO grundsätzlich zugunsten der Zeugenvernehmung entschieden ist. Demgemäß muss § 252 StPO eine zusätzliche, tiefergehende Ratio aufweisen, die eben darin gesehen werden kann, dass unter allen Umständen eine auch nachträgliche Konfliktsituation der zeugnisverweigerungsberechtigten Person vermieden werden soll. Diese Konfliktsituation besteht aber unabhängig davon, ob das Protokoll des Vernehmenden oder aber der Vernehmende selbst zur Äußerung herangezogen wird, zumal es nach h.M. zulässig ist, eine Personenvernehmung durch „Vorhalt“ einer schriftlichen Aufzeichnung zu unterstützen („Sie haben hier aufgeschrieben, die Zeugin hätte dies und jenes gesagt; stimmt das?“ – „Ja, wenn ich das so aufgeschrieben habe, stimmt das wohl.“). Allerdings wird von diesem „verdeckten“ Verbot des § 252 StPO von der Rechtsprechung eine ebenfalls verdeckte Ausnahme zugelassen: Sofern nämlich die vorherige Vernehmung durch einen Richter durchgeführt wurde, der den Zeugen, der bereits zuvor über das Zeugnisverweigerungsrecht verfügte, hierüber ordnungsgemäß belehrt hat, ist eine Verwertung der Aussage des Richters in der Hauptverhandlung doch wieder zugelassen (dazu BGH, Urteil vom 15. 1. 1952 – 1 StR 341/ 51 = BGHSt 2, 99). Für die Herleitung dieser Ausnahme stellt die Rspr. heutzutage vor allem auf die Vorschrift des § 251 StPO ab, die in ihren Abs. 1 und 2 im Hinblick auf die Verlesung von Protokollen zwischen Richtern (Abs. 2) und sonstigen Verhörspersonen (Abs. 1) differenziert und bei letzteren viel weitergehende Ausnahmen der Verlesung zulässt. Eine Argumentation mit dieser Vorschrift erscheint indes insofern fragwürdig, da auch § 251 StPO nur das Konfliktfeld zwischen Verlesung eines Protokolls und Zeugenvernehmung betrifft. Sieht man in der Regelung dieses Problems aber gerade nicht den Sinn des § 252 StPO, sondern betrachtet die Norm eher als „verlängerten Arm“ des § 52 StPO, um Gewissenskonflikte des schweigeberechtigten Zeugen auch in sonstiger Hinsicht zu vermeiden, läuft der vom BGH insoweit gebrachte Verweis ins Leere.
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Der BGH äußert sich in einer aktuellen Entscheidung grundlegend zum Tatbestand des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO und dessen Verhältnis zum Unmittelbarkeitsgrundsatz (Beschl. v. 21.11.2011 – 1 StR 367/11, www.bundesgerichtshof.de).
1. Sachverhalt
Der Angeklagte sprach das weiblichen Opfer vor einer Disko an. Das Opfer ignorierte den Angeklagten. Dieser bedrängte das Opfer, stieß es in ein Dornengebüsch und zwang es zu sexuellen Handlungen. Das Tatgericht verlas im Rahmen der Beweiserhebung ein ärztliches Attest nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Darin stellte der Arzt fest, dass sich in der Haut des Opfers Dornen befanden. Der Angeklagte rügte mit der Revision neben einer Verletzung materiellen Rechts auch eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO). Das Tatgericht habe mit der Verlesung des Attests auch Beweis über den Sachverhalt erhoben, der dem Vorwurf der sexuellen Nötigung zugrunde lag.
2. Einordnung
Um die Rüge und die Entscheidung des BGH zu verstehen, muss man sich die Systematik der StPO bewusst machen. § 250 StPO normiert den sog. Unmittelbarkeitsgrundsatz. Das bedeutet, dass über Tatsachen, die Gegenstand der Wahrnehmung einer Person waren, durch das Beweismittel des Zeugen Beweis zu erheben ist. Von diesem Grundsatz machen die nachfolgenden Vorschriften Ausnahmen, so auch § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Danach können ärztliche Atteste über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren gehören (maßgeblich ist insoweit die Anklageschrift), verlesen werden. Die Norm dient der Beschleunigung des Verfahrens. Um zu verhindern, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz ausgehöhlt wird, legt der BGH die Vorschrift aber restriktiv aus: Das Attest darf nur verlesen werden, um Beweis über die Körperverletzung zu erheben. Es darf auf diesem Weg nicht indirekt Beweis über andere Anklagepunkte erhoben werden. Gerade dies rügte der Angeklagte.
3. Entscheidung
Der BGH weist die Revision als unbegründet zurück. Eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liege nicht vor. Zwar dürfe durch eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht über andere Fragen Beweis erhoben werden als über die Feststellung der (einfachen) Körperverletzung. Das Tatgericht habe insoweit aber kein Verfahrensrecht verletzt. Wörtlich führt der 1. Senat aus:
aa) Dies wird regelmäßig angenommen, wenn Gewalt nicht nur zu einer Körperverletzung geführt hat, sondern zugleich auch ein Tatbestandsmerkmal für ein anderes Delikt darstellt, etwa bei einem räuberischen Diebstahl (BGH, Beschluss vom 11. Juli 1996 – 1 StR 392/96, StV 1996, 649), oder, in der fo-rensischen Praxis nicht selten, bei Sexualdelikten (vgl. nur BGH, Urteil vom 7. November 1979 – 3 StR 16/79, NJW 1980, 651; BGH, Beschluss vom 24. Juli 1984 – 5 StR 478/84, bei Pfeiffer NStZ 1985, 204, 206 <Nr. 17>; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474). Regelmäßig liegt dann neben Tateinheit auch eine Indizwirkung der Körperverletzung für das andere Delikt vor.
bb) Tateinheit zwischen der Körperverletzung und dem anderen Delikt schließt die Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht zwingend aus, wie der Bundesgerichtshof im Blick auf „generelle Umschreibungen der Unzuläs-sigkeit einer Verlesung nach § 256 StPO, (die) über die jeweils zugrunde liegenden Fallgestaltungen hinaus (gehen)“ präzisierend klargestellt hat (BGH, Urteil vom 27. November 1985 – 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 392). Erforder-lich ist vielmehr ein „überzeugender Grund“ (BGHSt, aaO, 393) für die Annah-me, nach Sinn und Zweck des Gesetzes (BGHSt, aaO, 391, 393) reiche eine Verlesung des Attests nicht aus.
Dies gilt nach Auffassung des Senats auch dann, wenn es um die Ver-nehmung des Arztes im Blick auf Schlussfolgerungen geht, die aus den Verlet-zungen hinsichtlich des anderen Delikts gezogen werden können. Eine Ver-nehmung ist nur dann erforderlich, wenn der unmittelbare Eindruck eine zuver-lässigere Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann als die Verlesung des Attestes (BGH, Urteil vom 9. April 1953 – 5 StR 824/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1984, 209, 211 <Nr. 21>; BGH, Beschluss vom 4. März 2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474), etwa dazu, ob Verletzun-gen im Bereich des Unterleibs auf ein gewaltsam begangenes Sexualdelikt hin-deuten. Kann die ärztliche Sicht zu Schlussfolgerungen dieser Art über die bloße Feststellung der attestierten Verletzung hinaus dagegen nichts beitragen, so besteht regelmäßig auch kein überzeugender Grund für eine Vernehmung des Arztes. Im Kern kommt es also darauf an, ob eine solche Vernehmung Gebot der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist, die (auch sonst) von § 256 StPO unberührt bleibt (vgl. schon BGH, Urteil vom 4. April 1951 – 1 StR 54/51, BGHSt 1, 94, 96; BGH, Urteil vom 16. März 1993 – 1 StR 829/92, BGHR, StPO § 256 Abs. 1 Aufklärungspflicht 1; BGH, Beschluss vom 24. April 1979 – 5 StR 513/78, bei Pfeiffer NStZ 1981, 93, 95 <zu § 244 Abs. 2 StPO>; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 2 mit Hinweis auf Nr. 111 Abs. 3 Satz 2 RiStBV).
cc) Im vorliegenden Fall kann die ärztliche Sicht zur Beantwortung der Frage, ob die attestierten Verletzungen durch die Dornen die Verletzte nachfol-gend aus Furcht vor erneuter Misshandlung zu Manipulationen am Ge-schlechtsteil des Verletzers veranlasst haben könnten, offensichtlich nichts bei-tragen. Anderes ist auch dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen. Die Verlesung des Attestes überschreitet daher die Grenzen der Anwendbarkeit von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht.
4. Examensrelevanz
Der Beschluss ist zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen und vor allem für Referendare sowie im Schwerpunkt im Strafrecht von Interesse.